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Als die frühesten in diesem Band berücksichtigten Vordenker geboren wurden – Karl Marx 1818 und Friedrich Engels 1820 – waren wesentliche Impulse für den Ausgang der Idee der Sozialen Demokratie bereits gegeben.
Die Französische Revolution von 1789 war der sichtbare Beginn eines Epochenwandelns. Die absolutistische Herrschaftsform und die ständische Ordnung der Gesellschaft waren erschüttert. Neben der Forderung nach politischer und sozialer Gleichheit brachen sich neue Produktionsverhältnisse ihre Bahnen. Bauernbefreiung, Lohnarbeit, Gewerbefreiheit und wachsende Marktkonkurrenz begründeten im Zusammenspiel mit technischen Innovationen die Industrialisierung. In vielen Teilen Europas entwickelte sich früher oder später eine neue gesellschaftliche Formation – die Arbeiter und Arbeiterinnen. So unterschiedlich ihre konkreten Lebens- und Arbeitssituationen auch waren – sie alle hatten schwierigste Verhältnisse zu bewältigen: Hunger, Armut, fehlende Absicherung im Fall von Krankheit oder Alter sowie politische Unfreiheit.
Teilweise wurden die Interessen dieser rasch wachsenden Bevölkerungsschicht im politischen Raum von liberalen Kräften vertreten.
Immer stärker bildeten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts aber eigenständige Organisationsformen der Arbeiterbewegung. Der kommunistisch geprägte Bund der Gerechten (1836) zählte dazu, aber auch die Arbeiterverbrüderung (1848) (vgl. Grebing 2007: 19). Unterschiedliche Motive prägten diese Gruppen. Oft ging es um konkrete Selbsthilfe, um Bildung. Auch christliche Gedanken spielten eine Rolle. Die Philosophie der Aufklärung inspirierte Teile dieser jungen Bewegung. Immanuel Kants wirkungsmächtiger Bezug zur gleichen Würde und zur gleichen Freiheit der Menschen, die nur in der Freiheit anderer Menschen eine Begrenzung findet, war hochattraktiv in einer Zeit vielfacher Ungleichheiten.
Karl Marx (S. 221-227) und Friedrich Engels (S. 105-111) waren von unterschiedlichen Philosophen beeinflusst, insbesondere von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Idee eines zielgerichteten Verlaufs der Geschichte. Im Unterschied zu Hegel identifizierten sie aber nicht Ideen als treibende Kräfte in diesem Prozess, sondern materielle Verhältnisse. Aus der Abfolge unterschiedlicher Produktionsverhältnisse ergab sich mit der vermeintlich zwingenden Logik objektiver ökonomischer Entwicklungsgesetze ein Weg hin zu einer schließlich klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft. Wie genau diese aussah und wodurch sie gekennzeichnet war, das blieb freilich relativ vage (vgl. Krell/Woyke 2015: 99).
Dennoch: In einer Zeit, in der die Naturwissenschaften ungemein populär waren, verliehen sie einem politischen Programm und den Interessen einer gesellschaftlichen Gruppe eine wissenschaftliche Fundierung. Die Arbeiter und Arbeiterinnen kämpften nicht nur um die eigene Emanzipation, sondern sie dürften sich auch als Vollstrecker einer zwingenden Entwicklung fühlen.
Marx und Engels war es wichtig, mit ihren Schriften in der wachsenden Arbeiterbewegung wirksam zu werden. Tatsächlich entfalteten ihre Gedanken – oft in popularisierter Form – eine erhebliche Wirkung, insbesondere im ausgehenden 19. Jahrhundert auf fast alle zu diesem Zeitpunkt bestehenden sozialdemokratischen Parteien.
Die Herausbildung der deutschen Sozialdemokratie als eigenständige politische Kraft ist vor allem verbunden mit dem Publizisten Ferdinand Lassalle (S. 185-191). Unter seiner Führung entstand 1863 in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV). Eine der markantesten Forderungen im ADAV-Programm war die nach einem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht. Hier zeigte sich früh die enge Verbindung zwischen sozialen und demokratischen Fragen, die für die Soziale Demokratie charakteristisch werden sollten.
Lassalle stand in einem wechselhaften Verhältnis zu Engels und Marx. Man kannte sich aus gemeinsamen Zeiten im Düsseldorfer Volksklub, doch entstand auch rasch ein Konkurrenzverhältnis. Lassalle stand den revolutionären Ideen von Marx skeptisch gegenüber, aber auch bei ihm gab es einen Anknüpfungspunkt an die Philosophie Hegels, nämlich an dessen Staatstheorie. Im Unterschied zum frühen Marx und zu Engels sah Lassalle im Staat nicht nur ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klassen, sondern auch die Chance, den Staat im Interesse der Arbeiterinnen und Arbeiter zu nutzen. Mithilfe des allgemeinen Wahlrechts könne der Staat seine gesetzgebende Funktion nutzen, um ein größtmögliches Maß an Bildung, Freiheit und Macht für den Einzelnen zu erreichen. Damit war der reformorientierte Weg der deutschen Sozialdemokratie angedeutet, der im Unterschied zu einem revolutionären Weg auf eine schrittweise Verbesserung der Lage der Arbeiter in den bestehenden Verhältnissen setzte, um diese langfristig zu überwinden.
Im Jahr 1869 gründete sich in Eisenach die zweite Partei der deutschen Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). Sie wurde organisiert und geleitet von Wilhelm Liebknecht (S. 199-205) und August Bebel (S. 54-59). Beide legten Wert darauf, dass ihr politisches Programm in verschiedene Richtungen anschlussfähig war, und griffen so Forderungen und Formulierungen der Lassalleaner, aber auch marxistisch inspirierte Wendungen auf. Stärker als dem ADAV gelang es der SDAP, auch Handwerker anzusprechen. Sie waren eine wichtige Trägerschicht der Arbeiterbewegung.
Das Gothaer Programm, das 1875 anlässlich des Zusammenschlusses von ADAV und SDAP zur Sozialistischen Arbeiterpartei im Wesentlichen von Wilhelm Liebknecht geschrieben wurde, umfasste eine Reihe konkreter Forderungen, die allesamt auf die Beseitigung der sozialen und politischen Ungleichheiten abzielten. Wiederum wurde hier die Demokratisierung des Staates als Voraussetzung für eine sozial emanzipatorische Politik gewertet. Demokratie und Sozialismus waren also zwingend aufeinander verwiesen.
Liebknecht betonte in seinen Reden und Schriften, aber auch in seinem unmittelbaren Engagement in den Arbeiterbildungsvereinen, den engen Zusammenhang zwischen der politischen Emanzipation der Arbeiterinnen und Arbeiter und der Bildungsfrage. »Wissen ist Macht, Macht ist Wissen.« Das war seine einprägsame Formel. Sie stand paradigmatisch für den Wissenshunger der nach Selbstbestimmung strebenden Bewegung.
August Bebel entfaltete mit seiner Vorstellung eines »Volksstaates« eine attraktive Gegenfolie zum absolutistischen wilhelminischen Staat und damit eine Zielvorstellung für die wachsende Partei. In diesem Volksstaat würden keine Klassenprivilegien mehr bestehen, sondern gleiche Rechte und gleiche Pflichten herrschen. Zunehmend griff Bebel dabei marxistisches Gedankengut auf. Sein vielfach aufgelegter Bestseller »Die Frau und der Sozialismus« übernahm weite Teile der Marx’schen Analyse und bereitet sie anschaulich für eine breite Leserschaft auf.
Damit stand Bebel, obwohl selbst kein Intellektueller im eigentlichen Sinn, Pate für eine ganze Generation Parteiintellektueller, die sich an Marx und Engels orientierten, teilweise in engem persönlichen Austausch mit ihnen standen und mit ihrem Wirken zu einer immer stärkeren Durchsetzung marxistisch geprägter Vorstellungen in der Sozialdemokratie beitrugen. Zu nennen sind neben Eduard Bernstein (S. 60-66) oder Karl Kautsky (S. 166-172) auch der Historiker Franz Mehring (S. 228-234), der die materialistische Auffassung auf die Geschichtswissenschaft übertrug. Das Erfurter Programm von 1891, das in seinem ersten Teil eine verdichtete und paraphrasierte Fassung des 24. Kapitels aus Marx »Kapital« war, kann als Ausdruck des Wirkens dieser Vordenker gedeutet werden.
Es war sicher auch der motivierende Charakter der so verbreiteten Marx’schen Erzählung – der Sieg der Arbeiterklasse schien gewiss –, der die Attraktivität der Sozialdemokratie im ausgehenden 19. Jahrhundert ausmachte. Trotz des Verbots während des Bismarck’schen Sozialistengesetzes (1878–1890) wuchs die Partei beständig.
Aber obwohl die SPD ab 1890 wählerstärkste Partei wurde, konnte sie diese Stärke im wilhelminischen Obrigkeitsstaat kaum in direkte politische Gestaltungsmacht umsetzen. Unter diesem Eindruck nahmen die Debatten um die Strategie, aber auch um den programmatischen Kern der Sozialdemokratie wieder zu. Inspirierend für diese Debatten war erneut Immanuel Kant. Im Zuge einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Kant-Renaissance leistete der jüdische Gelehrte Hermann Cohen (S. 73-78) eine Neuinterpretation Kants, die Kant als eigentlichen Begründer des Sozialismus einordnete. Wer Kants Anspruch gleicher Autonomie aller Menschen ernst nahm, der müsse zwingend eine umfassende Demokratisierung aller gesellschaftlichen Institutionen fordern, also auch der wirtschaftlichen. Denn dort sind im Kapitalismus diejenigen, die von einer Entscheidung betroffen sind, überwiegend vom Zustandekommen dieser Entscheidung ausgeschlossen, was nicht mit der Vorstellung gleicher Autonomie aller Menschen einhergeht. Ein umfassender liberaler Sozialismus, der die Einbindung aller in die Entscheidungsverfahren, die sie betreffen, garantiert, sei die Konsequenz des kategorischen Imperativs bei Kant.
Mit diesem Sozialismuskonzept hatte Cohen erheblichen Einfluss auf Bernstein (S. 60-66). Dieser empfahl seiner Partei die Auseinandersetzung mit Kant und zugleich die kritische Durchsicht der an Marx angelehnten Strategie des Übergangs von einer kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft. Schließlich waren noch keine Anzeichen dafür sichtbar, dass der Kapitalismus in Bälde in einem großen »Kladderadatsch« (Bebel) zusammenbrechen werde. Deshalb müsse die Sozialdemokratie zwar an ihren Zielen festhalten, sich diesen aber durch schrittweise Reformen annähern, statt auf die eine alles umwälzende Revolution zu warten.
Dies entsprach weitgehend der Praxis der Sozialdemokratie – Bernstein ging es um die Überwindung der Kluft zwischen Theorie und Praxis –, doch rüttelte seine Vorstellung eines schrittweisen Hineinwachsens in den Sozialismus an den Vorstellungen eines zwangsläufigen Siegs der Arbeiterklasse, die mit dem Parteimarxismus einhergingen, und wurde entschieden zurückgewiesen. Auf der einen Seite der Kritiker standen Bebel und Kautsky als Vertreter des Parteimarxismus, auf der anderen der linksrevolutionäre Marxismus Rosa Luxemburgs (S. 214-220). Während Bernsteins Revisionismus auf mehreren Parteitagen krachende Niederlagen erfuhr, hat sich seine Vorstellung schrittweiser Reformen letztlich – spätestens mit dem Godesberger Programm – vollständig durchgesetzt.
Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Eduard Bernstein verband – trotz ihrer unterschiedlichen Positionen im Revisionismusstreit – die Ablehnung der Kriegskredite 1914. Unter dem Eindruck eines vermeintlichen Verteidigungskriegs gegen das absolutistische Russland, der »Burgfriedenspolitik« von Kaiser Wilhelm II., die der Arbeiterbewegung gewisse Zugeständnisse machte, und sicher auch von dem Wunsch geprägt, das Bild der »vaterlandslosen Gesellen« abzustreifen, stimmte die Mehrheit der SPD-Fraktion den Kriegskrediten zu (vgl. Reschke/Krell/Dahm 2013: 47 ff.). Nationalismus, Imperialismus und Militarismus, vor denen Luxemburg eindringlich gewarnt hatte, setzten sich einstweilen durch, und die Vorstellung eines internationalen Sozialismus, für den Luxemburg stand, war weit entfernt.
In der unmittelbaren Folge der Niederlage des Ersten Weltkriegs wurde die SPD plötzlich zur Regierungspartei. Mit Friedrich Ebert (S. 92-97) stand ab 1919 ein Sozialdemokrat an der Spitze Deutschlands. Er war sicher kein schillernder Intellektueller, wohl aber ein Vordenker der Sozialdemokratie in Bezug auf die Regierungsverantwortung. Für ihn war, im Unterschied zu anderen in der Partei, völlig unbestritten, dass die SPD die Chance zur Gestaltung übernehmen müsse. Sein Ziel war dabei, Chaos zu vermeiden, Stabilität zu gewährleisten und die Funktionsfähigkeit der Republik auch gegen ihre Feinde zu verteidigen. Sozialismus in Reinform – was auch immer das gewesen wäre – konnte nicht durchgesetzt werden. Aber der Kompromiss, als Ausgleich unterschiedlicher Interessen in einer Gesellschaft, ist ein Wesensmerkmal der Demokratie.
In den 1920er-Jahren stand die SPD erstmals in ihrer Geschichte vor der Herausforderung, ihr Sozialismuskonzept in konkrete Politiken zu übersetzen. Was bedeutete der Zusammenhang von Sozialismus und Demokratie genau in den Arbeitsbeziehungen, in der Wirtschaft, im Strafrecht oder in der Verwaltung? Wie konnte die Forderung nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel umgesetzt werden? In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen entstand eine Vielzahl von Konzepten, Ideen und Vorstellungen, die die Soziale Demokratie in Deutschland bis heute prägen.
In Bezug auf wirtschaftspolitische Entwürfe sind etwa Hugo Sinzheimer (S. 324-329), Rudolf Hilferding (S. 152-158) und Fritz Naphtali (S. 242-248) zu nennen. Sinzheimer hat als wesentlicher Begründer der Arbeitsrechtswissenschaft mit dem Konzept der kollektivrechtlichen Tarifverträge Bleibendes hinterlassen. Als Wissenschaftler und Abgeordneter ging es ihm darum, den Widerspruch zwischen abstrakter Gleichheit in der Rechtsordnung und den realen Ungleichheiten in der Sozialordnung zu überwinden. Sein Beispiel verdeutlicht auch die lange personellideelle Linie sozialdemokratischer Vorstellungen. Bei Sinzheimer promovierte Carlo Schmid (S. 296-302), und Wolfgang Abendroth (S. 33-39) begann bei ihm seine Dissertation, konnte sie nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten allerdings dort nicht mehr fertigstellen. Bei Abendroth wiederum begann Jochen Steffen (S. 330-336) eine Promotion. Er gehörte in den 1970er-Jahren der Grundwertekommission der SPD an und stand der SPD in Schleswig-Holstein vor.
Auch Hilferding (S. 152-158) setzte sich als führender Theoretiker der Weimarer SPD mit der Frage auseinander, wie eine gesellschaftliche Steuerung des Kapitalismus gelingen könne. Im Verbund mit Sinzheimer und Naphtali wurde das schließlich unter Naphtalis Namen 1928 veröffentlichte Konzept der Wirtschaftsdemokratie entwickelt. Der Weg zum Sozialismus führe über die ständige Demokratisierung der Wirtschaft. Die politische Demokratie müsse auch zu einer Sozialen Demokratie ausgebaut werden. Der Kapitalismus könne, bevor er gebrochen werde, so das berühmte Diktum Naphtalis, auch gebogen werden. Arbeitszeitpolitik, Arbeitsschutz, aber vor allem die betriebliche Mitbestimmung, waren Instrumente dafür.
Auf Bitten Eberts wirkte der Jurist Gustav Radbruch (S. 269- 275) in verschiedenen Kabinetten der Weimarer Republik als Reichsjustizminister mit. Die Zulassung von Frauen zu Justizämtern und ein mieterfreundliches Mietrecht sind mit ihm verbunden. Viele seiner Vorschläge wie die Stärkung des Gedankens der Resozialisierung im Strafgesetz wurden aber erst in der sozialliberalen Koalition (1969–1982) in praktisches Recht gegossen.
Dass der Ideenvorrat der Vordenkerinnen und Vordenker aus der Weimarer Republik weit reichte, zeigt auch das Beispiel von Anna Siemsen (S. 317-323). In der Tradition von Liebknecht setzte sie sich mit der Bedeutung von Bildung und Erziehung auch für die Demokratisierung der Gesellschaft auseinander und forderte schon in den 1920er-Jahren ein integriertes Schulsystem. Noch heute wartet ihr Entwurf eines gemeinsamen Lernens auf Umsetzung.
Auch die Vorstellung vom Staat wurde differenzierter. Der Austromarxist Otto Bauer (S. 47-53) begriff ihn nicht mehr als Herrschaftsinstrument einer Klasse, sondern sah im Verfassungsstaat einen Rahmen für die Aushandlung unterschiedlicher Interessen. Bleibendes für die Geschichte der Bundesrepublik hat der junge Staatsrechtler Hermann Heller (S. 145-151) hinterlassen. In der Tradition eines positiven Staatsbilds von Hegel und Lassalle war er der Überzeugung, dass der liberale Rechtsstaat hin zu einem sozialen Rechtsstaat weiterentwickelt werden solle. Der Rechtsstaatsgedanke müsse auch auf die Wirtschafts- und Sozialordnung bezogen werden. Die Formulierung, dass die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Rechtsstaat sei, ist über den Freund und Kollegen Hellers, Carlo Schmid, ins Grundgesetz (Art. 20) eingeflossen.
Ein bemerkenswertes Beispiel für die enge Verbindung von persönlicher Lebensführung und ideellem Anspruch lieferte der Göttinger Philosoph und Mathematiker Leonard Nelson (S. 256-262). Zumindest mittelbar beeinflusst von Hermann Cohen und so wie dieser von der Bedeutung Kants für den Sozialismus überzeugt, war ihm daran gelegen, sein philosophisches Erkennen (»Handle stets so, dass Du die Interessen aller von Deinem Handeln betroffenen als in Deiner eigenen Person vereinigt denken kannst«) auch praktisch-politisch wirksam werden zu lassen. Die Schülerinnen und Schüler der von ihm gegründete Bildungsstätte Walkemühle nahmen großen Einfluss auf die weitere programmatische Entwicklung der sozialen Demokratie. Willi Eichler (S. 98-104) ist als herausragendes Beispiel zu nennen. Die produktive Nelson’sche Verbindung von Liberalismus (persönliche Freiheit und Schutz vor Übergriffen des Staates) und Sozialismus (Eingriffe in das freie Spiel der Marktkräfte) schlug sich im Godesberger Programm nieder.
Am Ende der Weimarer Republik gehörte die Sozialdemokratie zu den wenigen Verteidigern der Republik. Dass eine Demokratie auch einen wehrhaften Charakter haben muss, um sich gegen ihre Feinde zu verteidigen, bleibt eines der Vermächtnisse von Otto Wels (S. 357-362). Seine mutige Rede gegen das »Ermächtigungsgesetz« ist einer der denkwürdigsten Momente in der Geschichte der Sozialdemokratie. An ihr hatte ein junger Parlamentarier mitgewirkt, der nach 1945 für die SPD prägend wurde: Kurt Schumacher (S. 303-310).
Während der nationalsozialistischen Diktatur müssen in der Sozialdemokratie mindestens zwei Gruppen unterschieden werden, die sich wiederum beide stark ausdifferenzierten: die ins Exil geflüchteten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und diejenigen, die in Deutschland verblieben. Die Überlebenden aus beiden Gruppen waren nach 1945 gefordert, mit ihren höchst unterschiedlichen Erfahrungen der Idee der Sozialen Demokratie neue Bedeutung zu verschaffen.
Kurt Schumacher – von jahrelanger KZ-Haft gezeichnet – wurde rasch zur unumstrittenen Führungsfigur der Sozialdemokratie im Westen Deutschlands. Für ihn war, ähnlich wie bei Lassalle und Heller, klar, dass der Sozialismus nur mit und durch einen Staat vorstellbar sei, der auf soziale Ziele ausgerichtet war und für diese genutzt wurde. Diese Vorstellungen fanden auch Eingang in die Beratungen des Grundgesetzes und hatten damit erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der zweiten deutschen Demokratie als Sozialer Demokratie. Auf die Festlegung des Rechtsstaates als sozialer Rechtsstaat durch Carlo Schmid wurde bereits verwiesen. Auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist in diesen Zusammenhang einzuordnen. Vor allem der Beharrlichkeit zweier Vordenkerinnen, Herta Gotthelf (S. 139-144) und Elisabeth Selbert (S. 311-316), war es zu verdanken, dass gegen erhebliche Widerstände schließlich im Art. 3 II GG festgeschrieben wurde: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Gotthelf selbst mahnte ihre Partei später, diesen Anspruch auch ernst zu nehmen und in gesetzgeberische Arbeit zu übersetzen.
Auch die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung in Nachkriegsdeutschland beschäftigte in hohem Maß die Vordenkerinnen und Vordenker der Sozialen Demokratie. Richard Löwenthal (S. 206-213) brachte aus dem britischen Exil die Erkenntnis mit, dass der demokratische Staat im Sinne eines knappen Marxismusverständnisses nicht nur den Überbau in einer Welt darstellt, in der die ökonomische Basis das Geschehen lenkt. Im Gegenteil hat ein demokratischer Staat auch Gestaltungskraft über die Ökonomie und kann diese lenken, ohne unmittelbar in sie einzugreifen.
Die Vorstellung einer tief greifenden Umgestaltung der Gesellschaft weg von einer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung war übrigens keineswegs nur auf Parteigänger der SPD beschränkt, sondern Ausdruck eines sozialistischen Zeitgeistes. Es bestand lagerübergreifend die Erwartung eines nun deutlichen »Rucks nach links«, wie beispielsweise Fritz Sternberg (S. 337-342) formulierte. Auch der Mitbegründer der CDU, Jakob Kaiser, stellte fest, »der Sozialismus hat das Wort« und stand damit exemplarisch für den Arbeiternehmerflügel der CDU, der immer wieder Positionen der Sozialen Demokratie vertreten hat.
In der SPD bestand die Überzeugung, dass sich die sozialistische Grundstimmung der unmittelbaren Nachkriegsjahre und der Umstand, dass sie die einzige politische Kraft war, die in der Zeit von 1933 bis 1945 keine schwankende oder zweifelhafte Haltung zur Demokratie eingenommen hatte, bei den ersten Wahlen in einen deutlichen Regierungsauftrag übersetzen würde. Das Gegenteil war der Fall. War die SPD 1949 noch etwa gleichauf mit der CDU/CSU, verlor sie von Wahl zu Wahl an Zustimmung. Langsam, aber immer deutlicher wurde klar, dass die SPD einer umfassenden Erneuerung bedurfte: kulturell, programmatisch und sozialstrukturell.
Schon Schumacher hatte eine Verbreiterung der Wähler- und Mitgliederstruktur der SPD gefordert und vor einem reinen Wiederaufbau der Weimarer Arbeiterpartei gewarnt. Ein neues Grundsatzprogramm lehnte er aber ab. Erst nach seinem Tod setzten sich nach und nach die Kräfte durch, die ein neues Programm zur Ablösung des marxistisch inspirierten Heidelberger Programms (1925) forderten. Heinz Kühn (S. 179-184), der spätere nordrheinwestfälische Ministerpräsident, gehörte dazu, aber auch Waldemar von Knoeringen (S. 173-178) und Fritz Erler (S. 119-124).
Dass das Godesberger Programm (1959) von marxistischen Begründungen des Sozialismus absah und stattdessen mit den drei Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auf eine ethische Fundierung des Sozialismus abzielte, war aufs Engste mit Willi Eichler verbunden. Der Schüler Leonard Nelsons prägte in Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin Susanne Miller (S. 235- 241) – auch sie eine Nelsonianerin – die Arbeit an dem neuen Programm.
Herbert Wehner (S. 350-356) wollte mit seiner Unterstützung des Godesberger Programms die SPD für das Bürgertum salonfähig und damit regierungsfähig machen. Und das geschah auch mit seiner Grundsatzrede vor dem Deutschen Bundestag am 30. Juni 1960, mit der er den außenpolitischen Kurswechsel der SPD einläutete: hin zur Westbindung und Anerkennung der Mitgliedschaft in der NATO. Ohne Godesberg und ohne den außenpolitischen Kurswechsel hätte es die Große Koalition von 1966 nicht gegeben.
Mit Godesberg modernisierte die SPD aber nicht nur ihr Verständnis von den Begründungen für einen zeitgemäßen Sozialismus, sie entwickelte auch in verschiedenen Politikfeldern aktuelle Ansätze. Besonders breit wahrgenommen wurden die Veränderungen in der Wirtschaftspolitik.
Immer wieder hatten ökonomische Vordenker wie Heinrich Deist (S. 79-85) oder Gert von Eynern (S. 125-131) die Frage in den Blick genommen, in welcher Wirtschaftsverfassung Freiheit und Demokratie am besten zu verwirklichen seien, welche Instrumente dafür notwendig seien und wie das Verhältnis von Markt und Staat zu beschreiben sei. Die von Viktor Agartz (S. 40-46) entwickelte Vorstellung einer expansiven Lohnpolitik war dabei bedeutsam, weil sie Löhne nicht nur als Frage des einzelnen Arbeitnehmers oder eines Unternehmens begriff, sondern als gesamtwirtschaftliche Größe beschrieb. Quintessenz der Diskussionen war die Bejahung einer freien, von kapitalistischer Konkurrenz geprägten Wirtschaftsordnung, die allerdings von einer Sozialbindung des Eigentums geprägt ist und durch ordnungspolitische Maßnahmen im Gleichgewicht gehalten werden müsse (vgl. Grebing 2007: 155). Am prägnantesten brachte dies das Godesberger Programm in der Formel »So viel Markt wie möglich, so viel Planung wie nötig« auf den Punkt, die vor allem mit Karl Schiller (S. 289-295) verbunden wurde.
Auf der Godesberger Grundlage konnte die SPD auch eine neue Beziehung zu den Kirchen aufbauen. Zwar hatten schon früh religiöse Sozialisten wie Paul Tillich (S. 343-349) deutlich gemacht, dass man eine sozialistische Überzeugung zweifellos religiös begründen könne oder das man sich als Katholik wie Walter Dirks (S. 86-91) nicht nur der Partei mit dem C entziehen könne, sondern vielleicht sogar müsse, doch blieb das Verhältnis zwischen SPD und Kirchen beziehungsweise Religionen angespannt. Mit dem Godesberger Programm und seinem expliziten Bezug zur christlichen Ethik als einer der Wurzeln der drei Grundwerte wurde eine neue Brücke zu den christlichen Religionen geschlagen. Aufseiten der katholischen Kirche stand vor allem Oswald von Nell-Breuning (S. 249-255) für diese Annäherung.
Aus Perspektive anderer Vordenkerinnen und Vordenker hingegen entwickelte sich die Programmatik der SPD in eine falsche Richtung. Peter von Oertzen (S. 263-268) und Wolfgang Abendroth (S. 33-39) lehnten das Programm aus marxistischer Perspektive ab. In der Summe fand das neue Programm allerdings innerhalb wie außerhalb der Partei breite Beachtung und überwiegend Zustimmung und trug dazu bei, dass die SPD mehr und mehr Wählerinnen und Wähler erreichen und zunehmend Gestaltungsmacht gewinnen konnte.
Die SPD erschien durch ihr Programm und ihre Personen modern. Sie verband ihre unmittelbare parlamentarische Arbeit mit langfristigen Zielorientierungen, Theorie und Praxis der Partei passten zueinander, und mit Willy Brandt (S. 67-72) an der Spitze der Partei – und ab 1969 auch als Bundeskanzler – hatte sie einen glaubwürdigen Repräsentanten für ihre Vorstellung Sozialer Demokratie. Brandts freiheitliches Sozialismusverständnis war zeitlebens davon geprägt, dass es allein politische Demokratie nicht geben könne, wenn sie nicht durch soziale und kulturelle Demokratie ergänzt würde – so schrieb Brandt schon in seinem Abituraufsatz. Seine Zeit als Bundeskanzler zielte außenpolitisch mit der Neuen Ostpolitik auf eine gesamteuropäische Friedensordnung und war innenpolitisch von demokratisierenden Reformen geprägt. Dabei reichte der Bogen von einer Absenkung des Wahlalters über Bildungsreformen bis hin zum Ausbau der Mitbestimmung. In allen diesen Bereichen wurde an oben genannte Vordenkerinnen und Vordenker der Sozialen Demokratie angeknüpft.
Eine moderne Frauen- und Gleichstellungspolitik, die Herta Gotthelf schon früher angemahnt hat, wurde in den 1970er-Jahren u. a. von Renate Lepsius (S. 192-198) vorangetrieben. Fragen, wie die Rentenansprüche von Ehefrauen, die Einführung des Zerrüttungsprinzips anstelle des Schuldprinzips bei Ehescheidungen und die Reform des § 218, die sich erst nach Jahrzehnten durchsetzte, sind in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. Zugleich reflektierte Lepsius aber auch die Möglichkeiten von Frauen, sich politisch zu engagieren. Sie sprach sich deutlich gegen die Vorstellung von unpolitischen Frauen aus und verwies vielmehr auf strukturelle Benachteiligungen, die für die geringere Beteiligung von Frauen in Vereinen, Verbänden und Parteien verantwortlich waren.
Durch die mit Brandt verbundene Reformpolitik konnten erhebliche Teile des Programms der Sozialen Demokratie politische Wirklichkeit werden. Abgeschlossen waren die Debatten um die Soziale Demokratie damit allerdings keineswegs, schließlich verlangten neue Herausforderungen neues Vordenken.
So wurde angesichts der bunter werdenden Republik 1979 erstmals ein Beauftragter für Ausländerfragen eingesetzt. Heinz Kühn ging in dem nach ihm benannten Memorandum zunächst von einem dauerhaften Bleibewillen der Zugezogenen aus – was heftig umstritten war – und entwarf einen Maßnahmenkatalog zur Integration der Ausländerinnen und Ausländer (integrative Maßnahmen bereits bei frühkindlicher Bildung, kommunales Ausländerwahlrecht, vorbehaltloses Optionsrecht auf Einbürgerung mit 18 Jahren für die hier geborene zweite und dritte Generation etc.), der noch heute maßgeblich ist. Vielleicht ist es mehr als ein Zufall, dass Kühns Nachfolger im Amt des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, Johannes Rau (S. 276-281) ebenfalls einen integrierenden, anteilnehmenden, moderierenden und ausgleichenden Politikstil verfolgte, der sich auch gegen jede Form von Ausländerfeindlichkeit richtete.
Die zunehmende Eingrenzung nationalstaatlicher Steuerungsmöglichkeiten in Zeiten eines global verflochtenen Kapitalismus und die Frage, welche neuen, transnationalen Regulierungsmechanismen zur Gestaltung der einer globalisierten Welt geschaffen werden müssten, bewegte etwa Richard Löwenthal.
Vor allem aber ergriff die Frage nach der Endlichkeit der Ressourcen immer mehr Raum. Erhard Eppler (S. 112-118) hatte schon Mitte der 1970er-Jahre einen bedingungslosen Wachstumsbegriff kritisiert und verdeutlicht, dass nicht jedes Wachstum auch Fortschritt bedeute. Ähnlich wie Jochen Steffen kritisierte er die Atomenergie schon zu einem Zeitpunkt, als sie noch als fortschrittlich galt. Als langjährigem und prägendem Vorsitzenden der Grundwertekommission der SPD gelang es Eppler u. a., die Diskussionen um die Nachhaltigkeit unserer Lebensform auch dem Berliner Programm (1989) der SPD einzuschreiben.
Hermann Scheer (S. 282-288), griff die Diskussion um die Endlichkeit der Ressourcen in seiner Politik auf. In Verknüpfung von konkretem Engagement, weitreichender Vision und energischem Werben für diese Vision prägte er die Wende hin zu erneuerbaren Energien. Verschiedene Gesetze der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder trugen seine Handschrift, und auch international erfuhr Scheer Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Auch das Engagement von Peter Glotz (S. 132-138) bewies enorme Weitsicht. Als Bundesgeschäftsführer bemühte er sich nicht nur um eine organisatorische und inhaltliche Neuaufstellung der SPD in den 1980er-Jahren, er setzte sich auch intensiv mit Fragen der Digitalisierung auseinander. Schon Mitte der 1990er-Jahre deutete er den digitalen Kapitalismus, warnte vor einer damit einhergehenden Zweidrittelgesellschaft und mahnte noch vor der Gründung von Google oder Amazon davor, die wichtigste Branche des 21. Jahrhunderts einer Handvoll internationaler Großkonzerne auszuliefern.
Mitunter wird Peter Glotz als letzter Vordenker der Sozialdemokratie beschrieben. Der Fragenhorizont, den er aufgerissen hat, verweist darauf, dass, wenn diese These richtig wäre, sie auch die Bedeutungslosigkeit der Sozialdemokratie als politische Bewegung bedeuten würde. Der Sozialdemokratie ist es gelungen, die Verwerfungen der Industrialisierung zu bändigen und ihre Innovationskräfte in Wohlstand und Sicherheit für viele zu übersetzen. Die soziale Emanzipation war dabei aufs Engste verbunden mit der politischen Emanzipation des Einzelnen. Schließlich steht ein umfassender Freiheitsbegriff im Kern der Sozialen Demokratie.
Will die Sozialdemokratie diesen Freiheitsbegriff auch im digitalen Zeitalter wirksam werden lassen, dann muss zweifellos weiter vorgedacht werden – und zwar dringend.
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