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Oswald von Nell-Breuning (1890-1991), Jesuitenpater und bedeutender Vertreter der katholischen Soziallehre, wirkte lebenslang an der Schnittstelle von Katholizismus und Arbeiterbewegung. Er studierte Wirtschaft und Theologie und verfasste wesentliche Teile der Sozialenzyklika "Quadragesimo anno". Von Nell-Breuning engagierte sich für die Mitbestimmung, eine gerechte Vermögensverteilung und das Prinzip der Einheitsgewerkschaft. Er beriet Parteien und Gewerkschaften, prägte das Godesberger Programm der SPD mit und trug maßgeblich zur Annäherung von Kirche und Arbeiterschaft bei. Sein Werk umfasst über 1.800 Publikationen, die sich konkreten sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen widmen.
Hören Sie den Eintrag zu Oswald von Nell-Breuning auch als Hörbuch. (Hörzeit 10:09 Minuten)
Geboren wurde Oswald von Nell-Breuning (* 8.3.1890 · † 21.8.1991) als Spross einer begüterten Familie in Trier. Im Geburtsjahr des späteren Jesuitenpaters trat Bismarck zurück und dessen Gesetz »gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« lief aus. Der gern als »Nestor der katholischen Soziallehre« bezeichnete Nell-Breuning erblickte ein Jahr vor Leo XIII. Enzyklika »Rerum Novarum«, dem lehramtlichen Ursprungsdokument der katholischen Soziallehre, das Licht der Welt. Als er im biblischen Alter von 101 Jahren starb, umfasste sein Leben die Zeitspanne von Bismarck bis hin zum abermals vereinigten Deutschland.
Die Versöhnung von Katholizismus und Arbeiterbewegung war das große Lebensthema des Jesuiten. Nell-Breuning besuchte nicht nur das gleiche Gymnasium wie Karl Marx (S. 221-227), sondern beschäftigte sich in seinem Werk sehr intensiv mit der Arbeiterfrage und infolgedessen auch mit Marx. »So stehen wir doch auf den Schultern von Karl Marx«, formulierte Nell-Breuning und forderte dazu auf, sich ernsthaft mit dem Marx’schen Gedankengut auseinanderzusetzen, weil
»Karl Marx für die Katholische Soziallehre der große Gegner ist, dem sie ihren Respekt erweist, indem sie sich mit allem Ernst und in aller Härte mit ihm auseinandersetzt« (Nell-Breuning 1984: 91).
Nell-Breuning studiert zunächst Mathematik, Volkswirtschaft, Sozialwissenschaften und Theologie in Kiel, München, Straßburg, Berlin und Innsbruck. 1911 tritt er in den Niederlanden in den Jesuitenorden ein, der in Deutschland als Folge des Bismarck’schen Kulturkampfes bis 1917 verboten blieb. 1921 wird er in Innsbruck zum Priester geweiht. Nach seiner Promotion wird er 1928 zum Professor für Ethik, Moraltheologie und christliche Gesellschaftslehre an die Philosophisch-Theologische Hochschule der Jesuiten in Sankt Georgen bei Frankfurt berufen.
1930 wird Nell-Breuning beauftragt, den Entwurf der Sozialenzyklika »Quadragesimo anno« (lat.: »Im vierzigsten Jahr«) zu verfassen. Er berät sich dabei mit einer losen Vereinigung von katholischen Intellektuellen, dem sogenannten »Königswinterer Kreis«. Diese zweite große Sozialenzyklika wird von Pius XI. am 15. Mai 1931 veröffentlicht. Beide Enzykliken bilden das Fundament der katholischen Soziallehre, deren herausragender Interpret Nell-Breuning war.
Der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Zeit seines großen gesellschaftspolitischen Wirkens. Sein Anliegen ist es, die Vermögens- und Eigentumsverteilung gerechter zu gestalten, die soziale Sicherung und betriebliche Mitbestimmung auszubauen und so die Arbeiter nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial an Aufschwung und Aufstieg teilhaben zu lassen. Nell- Breuning wird ein gesuchter Berater und Gesprächspartner für zahlreiche Parteien, Verbände, Unternehmen und Ministerien für vielfältige Fragen aus dem sozial-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Bereich.
Nell-Breuning ist ein starker Verfechter der Einheitsgewerkschaft und kritischer Freund des DGB. Er hatte deutlich die Konsequenzen des sogenannten Gewerkschaftsstreits vor Augen, als sich um die Jahrhundertwende die katholischen Bischöfe geweigert hatten, die von der Generalversammlung der Katholiken beschlossene Unterstützung der christlichen Gewerkschaften zu billigen. Diese Bevormundung der Arbeiter durch die Kirche, die zu einer starken Entfremdung und letztendlich Entzweiung von Arbeiterschaft und Kirche führte, hat Nell-Breuning als großes Unrecht aufgefasst, dass es wiedergutzumachen gelte.
Nell-Breuning ging es neben der gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums vorrangig um die gerechte Verteilung wirtschaftlicher Macht. Die (Unternehmens-)Mitbestimmung sah er als einen wichtigen Hebel dafür an (Hengsbach 1990: 176), wobei sich im Laufe der Zeit sein Verständnis von Mitbestimmung veränderte. Anfänglich ging Nell-Breuning von
»der herkömmlichen Vorstellung aus, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf dem Weg über die Vermögensbeteiligung am Unternehmen herbeizuführen. Erst später ist mir die Erkenntnis aufgegangen, dass damit das wahre Anliegen verfehlt wird. Seinen Anspruch auf Mitbestimmung leitet der arbeitende Mensch aus seiner Arbeit her; nicht als kleiner Anteilseigner (»Kapitalist«) will er mitbestimmen, sondern ausgesprochenermaßen und betont aufgrund seiner Arbeitsbeteiligung […] Wir erkannten, dass sinnvollerweise nicht das gegenständliche Unternehmen, das ist das in ein Rechtsgewand gekleidete, unternehmerisch genutzte Vermögen, Gegenstand der Mitbestimmung ist, sondern das personal verstandene Unternehmen […]« (Nell-Breuning 1984: 93 f.).
Nicht immer ging er mit den Positionen und Forderungen der Gewerkschaften konform. So kritisierte er deren – aus seiner Sicht – expansive Lohnpolitik und setzte sich zwar für die 35-Stunden-Woche ein, aber nicht bei vollem Lohnausgleich.
»Anstatt dass die in Beschäftigung Stehenden über Steuern, Versicherungsbeiträge u. a. m. einen Teil ihres Arbeitsertrages abgeben, könnten sie unmittelbar von ihrer Arbeit einen entsprechenden Teil abgeben – selbstverständlich mit der abgegebenen Arbeit auch den zugehörigen Arbeitslohn« (Nell-Breuning 1984: 58).
Hauptanliegen Nell-Breunings war es, Katholizismus und Arbeiterbewegung zu versöhnen. Aufgrund seiner Einsicht, dass die marxistische nicht die einzige Form des Sozialismus ist und die angebliche Unvereinbarkeit von Katholizismus und Sozialismus daher so nicht gerechtfertigt ist, leistete Nell-Breuning einen großen Beitrag dazu, dass sich die Katholiken der SPD zuwandten und die SPD sich religiösen Wertebegründungen öffnete. Höhepunkte dieses Öffnungs- und Annäherungsprozesses war das Godesberger Programm der SPD von 1959. Nell-Breunings Einfluss auf das Programm war groß, aber indirekter Art:
»[D]ass auf das Godesberger Grundsatzprogramm starker Einfluss von mir ausgeübt worden ist, obwohl ich niemals daran beteiligt war, niemals darum gefragt worden bin, das ist mir evident. Ich halte meinen Einfl uss für sehr erheblich […].« (Nell-Breuning, in: Grein 2011: 82).»Der gesellschaftspolitische Teil des Godesberger Grundsatzprogramms der SPD [ist] nicht mehr und nicht weniger als ein kurz gefasstes Repertorium der katholischen Soziallehre« (Nell-Breuning 1972: 95).
»[D]ass auf das Godesberger Grundsatzprogramm starker Einfluss von mir ausgeübt worden ist, obwohl ich niemals daran beteiligt war, niemals darum gefragt worden bin, das ist mir evident. Ich halte meinen Einfl uss für sehr erheblich […].« (Nell-Breuning, in: Grein 2011: 82).
»Der gesellschaftspolitische Teil des Godesberger Grundsatzprogramms der SPD [ist] nicht mehr und nicht weniger als ein kurz gefasstes Repertorium der katholischen Soziallehre« (Nell-Breuning 1972: 95).
Godesberg war ein historischer Durchbruch. In der Folge kam es zu einer Annäherung von Sozialdemokratie und katholischer Kirche, die nun zusehends auf Äquidistanz zu den beiden großen Volksparteien ging.
Als führender Vertreter und Interpret der katholischen Soziallehre war Nell-Breuning ein Lehrmeister des Linkskatholizismus. Er ließ sich von keiner Partei vereinnahmen, engagierte sich gleichwohl als Mitherausgeber der Zeitschrift »Die Neue Gesellschaft« sowie als korrespondierendes Mitglied der Grundwertekommission der SPD. Die Sozialdemokratie wusste sich zum Dank verpflichtet. Willy Brandt (S. 67-72) würdigt ihn als einen Mann,
»der zeitlebens wahrhaft unabhängig geblieben ist, keinem Lager schematisch zuzuordnen, der indes allein durch sein Wort in der Sozialpolitik viel bewegt hat [...]. Als wachsamer Beobachter hat er rechtzeitig erkannt, wie wichtig es war, Sozialismus in seiner vielfältigen Differenzierung zu begreifen und sich dabei gerade auch die gedankliche Weiterentwicklung der deutschen Sozialdemokratie nach dem zweiten Weltkrieg bewußt zu machen. […] Mit seinen bohrenden Fragen hat er immer wieder Denkanstöße gegeben, die der SPD in ihrem Diskussionsprozess geholfen haben, zwischen Weltanschauungs- und Sachfragen klar zu trennen, so wie es seinen Niederschlag im Godesberger Programm gefunden hat« (Brandt 1980: 192).
Als ein herausragender politischer Intellektueller lehnte er eine katholische Sonderwelt ab und war ein unparteilicher Brückenbauer zwischen christlich-sozialer und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung. Sein Verhältnis zu Rom und der deutschen Bischofskirche war dabei oft distanziert, aber stets loyal. Nach seiner Emeritierung bleibt er als politischer Berater aktiv.
Er greift in den 1980er-Jahren massiv in die großen Debatten um Abbau der Massenarbeitslosigkeit, Verkürzung der Arbeitszeit, Reform der sozialen Sicherung und umweltverträgliche Wirtschaft ein. Nell-Breunings Bibliografie umfasst mehr als 1.800 Publikationen. Er war kein Theoretiker, der ein in sich geschlossenes Werk verfasste und neue analytische Kategorien entwickelte, sondern seine Beiträge sind fallbezogen und geprägt von dem Anliegen, auf konkrete Fragen und Problemlagen konkrete Antworten zu finden.
Jenseits von Gewerkschaften und Sozialdemokratie wird kaum jemand so stark mit der Herausbildung des deutschen Sozialstaates in Verbindung gebracht wie Oswald von Nell-Breuning. Er hat das sozial- und wirtschaftspolitische Profil der Bundesrepublik mit geprägt und dazu beigetragen, dass sich Kirche und Arbeiterschaft in Deutschland aussöhnten. Auch wenn der politische Sozialkatholizismus im 21. Jahrhundert nicht mehr über seine einstige Bedeutung und Stärke verfügt und vonseiten der Sozialdemokratie heute kaum noch direkter programmatischer Bezug zu Nell-Breuning hergestellt wird, ist im Zeitalter des Turbokapitalismus und der zu beobachtenden Entsolidarisierungstendenzen die Auseinandersetzung mit dem Werk des großen Sozialethikers nach wie vor sehr lohnenswert.