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Willy Brandt

Der Sozialismus, der demokratische Sozialismus versteht sich als der Weg der Freiheit. Willy Brandt

Kurzbiografie

Willy Brandt (1913-1992), Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger, prägte die deutsche Politik mit seinem Einsatz für Freiheit, Demokratie und Sozialismus. Als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und später als politische Führungspersönlichkeit verfolgte er eine Politik, die von persönlichen Erfahrungen in Krisenzeiten beeinflusst war. Brandt, bekannt für sein Bekenntnis zu mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, setzte sich für ein erweitertes Verständnis von Demokratie über das parlamentarische System hinaus ein. Seine Politik, die insbesondere während seiner Kanzlerschaft unter dem Motto „mehr Demokratie wagen“ stand, suchte die Freiheit des Einzelnen zu maximieren und die soziale Gerechtigkeit zu fördern. Brandt sah im Sozialismus eine Kraft für Freiheit und Demokratie und kämpfte für ein sozialdemokratisches Ideal, das Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit vereint.

Hörbuch

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Willy Brandt – Freiheit, Demokratie und Sozialismus

von Klaus Schönhoven

Vom Arbeiterkind zum Kanzler

Willy Brandt (* 18.12.1913 · † 8.10.1992) gehörte zu einer Generation von Sozialdemokraten, die seit ihrer frühesten Kindheit einschneidende Umbrüche erlebten. In seinem Gedächtnis waren die Kriege und Katastrophen des 20. Jahrhunderts ebenso fest verankert wie die politischen Regimewechsel und gesellschaftlichen Reformen, die im Laufe der Zeit in vielen Ländern der Welt nach und nach auch den Weg zur Demokratie ebneten. Seine programmatischen Perspektiven orientierten sich stets an Einsichten, die er persönlich gewonnen hatte: während der Krisenjahre der Weimarer Republik als Arbeiterkind in seiner Geburtsstadt Lübeck, in der Zeit der NS-Herrschaft ab 1933 als Widerstandskämpfer im Exil in Norwegen und Schweden, von 1947 an auf politischem Vorposten im geteilten Berlin und schließlich seit den 1960er-Jahren als Parteivorsitzender der SPD, als Außenminister und als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Fragt man nach den richtungsweisenden Koordinaten im Politikverständnis Brandts, so stößt man immer wieder auf die Schlüsselbegriffe Freiheit, Demokratie und Sozialismus. Sie prägten seine Rückblicke auf die Vergangenheit, seine Ortsbestimmung in der Gegenwart und seine Hoffnungen für die Zukunft. Er hatte »ein außergewöhnliches Gespür für Zeitströmungen« (Grebing 2008: 13) und wusste aus eigenem Erleben, wie er im Dezember 1971 in Oslo nach der Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis in seiner Dankesrede betonte, »was Überzeugungstreue, Standhaftigkeit und Solidarität bedeuten können«. (Brandt 1971: 164)

Die in den letzten Jahren breit angeschwollene biografi sche Literatur zu Brandt hat dessen Denken und Handeln aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet und mit einer Fülle von plakativen Begriffen charakterisiert. Dass er »eine vielschichtige, keineswegs von Widersprüchen freie Persönlichkeit war« (Faulenbach 2013: 9), ist unbestritten. Ebenso unbestritten ist auch, dass er seine programmatischen Zielsetzungen im politischen Alltag stets im Auge behielt. Dieser Befund lässt sich für die drei genannten Schlüsselbegriffe für alle Phasen seines Lebens untermauern.

 

»Im Zweifel für die Freiheit«

In seinen Reden hob Brandt immer wieder die Freiheit als das vorrangige Leitprinzip seines politischen Handelns hervor. Besonders eindringlich hat er dieses Bekenntnis zur Freiheit in seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender der SPD im Juni 1987 betont, als er seine Grundüberzeugungen, an denen er sich als Politiker sein Leben lang orientiert hatte, nochmals zusammenfasste:

»Wenn ich sagen soll, was mir neben Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und von Furcht«. (Brandt 1987: 13)

Individuelle Bürgerrechte, gleiche Lebenschancen und gesellschaftliche Solidarität waren in Brandts Freiheitskonzeption untrennbar miteinander verbunden.

Seine Partei rief er in dieser Rede dazu auf, stets »im Zweifel für die Freiheit« einzutreten (Brandt 1987: 19). Damit wollte er sie an die ideelle Herkunftstreue der Sozialdemokratie erinnern. Das Ringen um Freiheit und um ihre Bewahrung war für ihn der programmatische Eckpfeiler der Arbeiterbewegung seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert gewesen. Die SPD hatte, wie Brandt in einer Rede über Otto Wels (S. 357-362) als Beweis anführte, bei der Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes ihre besondere Bedeutung als »Partei der Freiheit« mit »Hingabe und Unbeugsamkeit« dokumentiert (Fetscher 1981: 155 f.).

Brandt fühlte sich auch deshalb persönlich angegriffen, als CDU und CSU in den Wahlkämpfen der 1970er-Jahre mit der Parole »Freiheit oder Sozialismus« auf Stimmenfang gingen. Schon als Jugendlicher war der Kampf für die Freiheit eine Maxime seines politischen Handelns gewesen, während die Mehrheit seiner Landsleute gleichzeitig dem nationalsozialistischen Totalitarismus ihren Tribut zollte. Für Brandt gehörte die Freiheit »zur sozialistischen Erbmasse« (Brandt 2000: 104). Diesen Standpunkt betonte er in den Jahrzehnten nach 1945 zunächst im engen Schulterschluss mit Ernst Reuter und dann als dessen politischer Erbe im geteilten Berlin mit besonderem Nachdruck, als er diese Frontstadt des Kalten Krieges als Symbol der freien Welt charakterisierte und den Stalinismus als System der Unfreiheit geißelte.

 

»Wir wollen mehr Demokratie wagen«

Mit dieser spektakulären Ankündigung in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler brachte Brandt im Oktober 1969 sein dynamisch geprägtes Demokratieverständnis auf den Begriff. Hiermit formulierte er einen Anspruch, der über den Rahmen des parlamentarischen Repräsentativsystems hinausreichte und eine breitere Legitimation des demokratischen und sozialen Rechtsstaates jenseits des genormten Institutionengefüges in das Blickfeld rückte. »Demokratie« war in der Konzeption Brandts mehr als ein verfassungsrechtlich sorgfältig austariertes Ensemble von Parlament, Parteien und staatlicher Exekutive. Sie war ein fundamentales Lebensprinzip.

Bereits in seinem Abituraufsatz hatte Brandt 1932 festgestellt: »Politische Demokratie allein gibt es aber nicht. Soziale und kulturelle Demokratie gehören zur wirklichen Demokratie hinzu.« (Brandt 2002: 108) Mit diesem expansiven Demokratiekonzept bezog Brandt in der Folgezeit immer wieder eine Gegenposition zum etatistischen Staatsverständnis des Konservativismus, dem er »eine museale Position« (Brandt 1984: 100) bescheinigte. Seine knappe Feststellung »Wir alle sind der Staat« (ebd.: 101) war zugleich aber auch eine kompromisslose Absage an das Herrschaftsverständnis der Kommunisten, für die die eigene Partei immer Recht hatte.

Brandt wollte den Gedanken der Volkssouveränität als Verfassungsgebot so fest und so tief wie möglich verankern, um damit allen Bürgern im sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen. Wie kaum ein anderer führender Sozialdemokrat reflektierte er in den 1960er- Jahren die sich vielerorts in der Bundesrepublik bemerkbar machende Aufbruchsstimmung und Reformbereitschaft und schrieb der SPD »eine demokratiegeschichtliche Mission« (Faulenbach 2013: 59) in einer pluralistisch organisierten Zivilgesellschaft zu.

 

»Der Sozialismus muss auf Freiheit und Demokratie aufbauen«

Diese Position vertrat Brandt im Herbst 1939 nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes in einer Broschüre zur Außenpolitik der Sowjetunion (Brandt 2002: 432 f.). In ihr spiegelte sich die Prägekraft der freiheitlichen und volksverbundenen politischen Kultur der skandinavischen Sozialdemokratie wider, die auf ihn im norwegischen und schwedischen Exil bis 1945 stark einwirkte. Fortan richtete sich sein programmatisches Denken auf das Spannungsverhältnis von Freiheit, Demokratie und Sozialismus. Er entwickelte ein auf Freiheit und Demokratie basierendes Sozialismusverständnis mit einer gesellschaftsgestaltenden Dimension, aber ohne parteidogmatischen Alleinanspruch. Deshalb bezeichnete Brandt den Demokratischen Sozialismus häufig auch als »freiheitlichen Sozialismus«, als einen nicht deterministisch, sondern zukunftszugewandten »Entwurf auf Freiheit hin, der offen bleibt, in Bewegung und damit menschlich ist.« (Brandt 2012: 113)

Immer wieder forderte Brandt seine Partei auf, der diktatorischen Verformung und Verfälschung des Sozialismus durch den Kommunismus entschlossen entgegenzutreten. Dessen totalitäre Begriffsfälschung diskriminiere den Freiheitsbegriff und unterscheide sich fundamental von den programmatischen Prinzipien des Demokratischen Sozialismus, den man als eine emanzipatorische Lebensorientierung bewahren und verteidigen müsse. Mit Blick auf die »Grabgesänge«, die nach der Epochenwende von 1989/90 überall zu hören waren, betonte Brandt im Herbst 1991: Es werde sich

»als geschichtlicher Irrtum erweisen, das dem Demokratischen Sozialismus zugrunde liegende Ideal – die Zusammenfügung von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität – als überholt abtun zu wollen.« (Brandt 2012: 576)

Für dieses Ideal ist Brandt immer wieder weltweit eingetreten, besonders engagiert zwischen 1976 und 1992 als Präsident der Sozialistischen Internationale. Nach wie vor ging es nämlich in vielen Ländern immer noch um die Verwirklichung von mehr demokratischer Freiheit und mehr sozialer Gerechtigkeit. Brandts letzte Botschaft, die er im September 1992, wenige Wochen vor seinem Tod, an den in Berlin tagenden Kongress der Sozialistischen Internationale richtete, endete mit dem Plädoyer:

»Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.« (Brandt 2006: 515 f.)


Werk

  • Brandt, Willy (1971), Frieden. Reden und Schriften des Friedensnobelpreisträgers, Bonn.
  • Brandt, Willy (1984), … auf der Zinne der Partei … Parteitagsreden 1960 bis 1983, hg. u. erläut. v. Werner Krause u. Wolfgang Gröf, Berlin/Bonn.
  • Brandt, Willy (1987), Die Abschiedsrede, Berlin.
  • Brandt, Willy (2000), Auf dem Weg nach vorn. Willy Brandt und die SPD 1947–1972, bearb. v. Daniela Münkel, Bonn.
  • Brandt, Willy (2002), Hitler ist nicht Deutschland. Jugend in Lübeck – Exil in Norwegen 1928–1940, bearb. v. Einhart Lorenz, Bonn.
  • Brandt, Willy (2006), Über Europa hinaus. Dritte Welt und Sozialistische Internationale, bearb. v. Bernd Rother u. Wolfgang Schmidt, Bonn.
  • Brandt, Willy (2012), Im Zweifel für die Freiheit. Reden zur sozialdemokratischen und deutschen Geschichte, hg. u. eingel. v. Klaus Schönhoven, Bonn.

Literatur

  • Faulenbach, Bernd (2013), Willy Brandt, München.
  • Fetscher, Iring (1981), Geschichte als Auftrag. Willy Brandts Reden zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Bonn.
  • Grebing, Helga (2008), Willy Brandt. Der andere Deutsche, München.

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