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Otto Wels (1873–1939) prägte als SPD-Vorsitzender und Reichstagsmitglied die politische Landschaft der Weimarer Republik. Bekannt wurde Wels für seine entschiedene Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes 1933 und seinen Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Nach der Machtübernahme durch die Nazis floh er ins Exil, wo er bis zu seinem Tod 1939 weiter gegen das NS-Regime kämpfte. Sein mutiges Eintreten für die parlamentarische Demokratie und seine Warnungen vor den Gefahren der nationalsozialistischen Diktatur bleiben unvergessen und wirken als Mahnung, die Werte von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen.
Hören Sie den Eintrag zu Otto Wels auch als Hörbuch. (Hörzeit 10:12 Minuten)
Mit diesem mutigen Satz lehnte Otto Wels das nationalsozialistische »Ermächtigungsgesetz« in der Reichstagssitzung vom 23. März 1933 ab.
Otto Wels (* 15.9.1873 · † 16.9.1939), als Sohn eines Gastwirts in Berlin geboren, machte nach dem Volksschulbesuch als gelernter Tapezierer unter anderem Station in Regensburg und München. In der väterlichen Gastwirtschaft kam er in Kontakt mit August Bebel (S. 54-59), Wilhelm Liebknecht (S. 199-205) und weiteren Führungspersönlichkeiten der Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich. Als Folge dieser intellektuell anregenden Gespräche trat er 1891 – nach dem Auslaufen des Bismarck’schen »Sozialistengesetzes« – der SPD bei und wurde nicht nur kommunalpolitisch, sondern im Verband der Tapezierer auch gewerkschaftlich aktiv. Im Jahr 1906 begann seine hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit, seit 1907 war er sozialdemokratischer Parteisekretär für die Provinz Brandenburg. In dieser Funktion unternahm er zahlreiche Agitationsreisen in ländliche Gebiete. Für den Wahlkreis Calau-Luckau zog Wels 1912 erstmals in den Reichstag ein, und im Folgejahr wurde er auf Empfehlung Bebels in den SPD-Vorstand gewählt. Als Vorsitzender der Pressekommission für das Parteiorgan »Vorwärts« und als Büroleiter der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion während des Ersten Weltkriegs stellte er sein Organisationstalent unter Beweis.
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie schloss Wels sich am 9. November 1918 einem Arbeiter- und Soldatenrat an. Seine tags darauf angetretene Tätigkeit als Stadtkommandant von Berlin blieb, zumal in der revolutionären Übergangszeit, eine nur wenige Wochen dauernde Episode. Angesichts seiner relativen Erfolglosigkeit in diesem Amt sah Wels seinen Platz künftig vornehmlich in der SPD, die Übernahme von Staatsämtern und die hiermit verbundene gesteigerte öffentliche Exponiertheit reizten ihn nicht. Im Jahr 1919 wurde er zusammen mit dem späteren Reichskanzler Hermann Müller zum Parteivorsitzenden gewählt. Während Müller im Reichstag durch politische Stellungnahmen hervortrat, konzentrierte Wels sich auf innerparteiliche organisatorische Belange.
Mit Sorge reagierte Wels auf die von rechts wie links ausgehenden Bedrohungen der Weimarer Republik. Im März 1920 organisierte er zur Abwehr des Kapp-Lüttwitz-Putsches zusammen mit Carl Legien, dem Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds, einen mehrtägigen Generalstreik. Als Wels nach der erfolgreichen Vertreibung der reaktionären Putschisten angetragen wurde, die Nachfolge des zurückgetretenen Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) zu übernehmen, lehnte er dies aufgrund seiner ambivalenten Erfahrungen als Stadtkommandant ab. Der für ihn charakteristische Primat des Organisatorischen zeigte sich auch bei der Gründung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold (1924) und der Eisernen Front (1931), für die Wels sich zum Schutz der gefährdeten Republik nachdrücklich einsetzte. Allerdings verabscheute er Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Diese Grundhaltung stand auch hinter seiner ausgeprägten Bereitschaft, die sozialdemokratische Tolerierungspolitik gegenüber dem 1930 eingesetzten Präsidialkabinett von Heinrich Brüning zu unterstützen.
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 verließ Wels sein Haus in Berlin-Köpenick und reiste nach Salzburg, um der politischen Verfolgung zu entgehen; seine Frau und seine beiden Söhne kamen in Dresden unter. Wenige Tage später auf Wunsch seiner Partei in Deutschland zurück, stand Wels vor der Herausforderung, auf die Ermächtigungsgesetzpläne der neuen Machthaber reagieren zu müssen. Mit dem zur Abstimmung stehenden »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich«, so die propagandakonforme offizielle Bezeichnung des Dokuments, strebte Adolf Hitler über die Verfassung hinausreichende Gesetzgebungsrechte an. Die entscheidende Reichstagssitzung war – nach dem Brandanschlag auf das ursprüngliche Parlamentsgebäude – für den 23. März in der Krolloper anberaumt worden. Rudolf Breitscheid, der Vorsitzende der SPD-Reichstagsfraktion, fiel krankheitsbedingt als Debattenredner aus. Gemeinsam mit den profilierten Sozialdemokraten Friedrich Stampfer, Ernst Heilmann und Kurt Schumacher (S. 303-310) verfasste Wels seine berühmt gewordene Rede, die er unter Lebensgefahr in dem von SA- und SS-Männern belagerten und mit einem riesigen Hakenkreuzbanner ausstaffierten Plenum vortrug.
Seit jeher in erster Linie ein Parteiorganisator, hatte Otto Wels bisher keinen nennenswerten intellektuellen Beitrag zur konzeptionellen Entwicklung der Sozialdemokratie geleistet. Mit seiner Rede gegen das nationalsozialistische »Ermächtigungsgesetz« erreichte er jedoch immense Wirkung – unmittelbar als couragiertes Auftreten gegen die NS-Herrschaft und weit darüber hinaus: Bis heute ist seine Rede ein bedeutendes Manifest, ein Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit und zum Parlamentarismus, deren Ausgestaltung und Verteidigung höchsten Einsatz erfordern.
Wels vermied in seiner Reichstagsrede zu scharfe Polemik und kam den Nationalsozialisten in einigen Forderungen sogar entgegen, um sie nicht zu stark zu provozieren und um den Abdruck seiner Erklärung in der Presse und damit eine möglichst große Öffentlichkeit zu erreichen. So war in der Beurteilung des Versailler Vertrags eine gewisse Nähe zu nationalsozialistischen Positionen zu erkennen. Wels bezeichnete den Friedensschluss zur Beendigung des Ersten Weltkriegs als »Gewaltfrieden«, aus dem sich – nicht zuletzt wegen der Deutschland aufgebürdeten Reparationsverpflichtungen – keine wirkliche »Volksgemeinschaft« habe gründen lassen. Auch wenn solche Äußerungen aus heutiger Sicht zu irritieren vermögen: Die Rede, die Wels vor dem Reichstag in Anbetracht des forcierten NS-Terrors unter massiver Bedrohung hielt, war und ist ein beeindruckendes Zeugnis demokratischer Standfestigkeit. Unmissverständlich prangerte der SPD-Vorsitzende die von den Nationalsozialisten verübten Gewalttaten als klaren Bruch der von ihnen nur pro forma noch aufrechterhaltenen Weimarer Reichsverfassung an. Hausdurchsuchungen, Schutzhaft, Einlieferungen in Gefängnisse oder rasch errichtete Konzentrationslager trafen Kommunisten wie Sozialdemokraten hart.
Angesichts dieser Repressionen beklagte Wels, dass staatliches Handeln sich immer mehr der parlamentarischen Kontrolle entziehe. Das von Hitler zuvor in derselben Reichstagssitzung höhnisch begründete »Ermächtigungsgesetz« sei darauf ausgerichtet, diesen Allmachtsanspruch der nationalsozialistisch dominierten Regierung zu verstärken. Wels kritisierte den Verlust der Rechtssicherheit für weite Bevölkerungskreise und äußerte sich besorgt über die Einschränkung der Pressefreiheit, die bis zum Verbot politisch missliebiger Zeitungen durchgesetzt wurde.
»Wir deutschen Sozialdemokraten«, hielt Wels den nationalsozialistischen Machthabern im Bemühen um den Schutz der bedrohten Verfassung entgegen,
»bekennen uns in dieser Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. [...] Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.« (Wels 1934: 34)
All dies konnte die Verabschiedung des »Ermächtigungsgesetzes« nicht verhindern. Bis auf die SPD-Fraktion, von deren 120 Mitgliedern rund ein Viertel der Reichstagssitzung aufgrund von Drangsalierungen oder Sicherheitsbedenken fernblieb, stimmten alle im Parlament vertretenen Parteien für die undemokratische Gesetzesvorlage; die kommunistischen Abgeordneten waren bereits von den Sitzungen ausgeschlossen worden. Wels hatte seine Verfassungstreue und sein Eintreten für Freiheit und Demokratie nachhaltig dokumentiert. Durch seine Kritik am NS-Regime und dessen Herrschaftstechniken wurde das Deutsche Reich für ihn endgültig zu unsicher. Im Mai 1933 flüchtete er auf Beschluss des SPD-Vorstands zunächst ins Saarland und später nach Prag, wo er die Sopade als Exilorganisation der Partei mit aufbaute. Nach dem Münchner Abkommen (1938) reiste Wels nach Paris weiter. Dort erlag er im folgenden Jahr seiner chronischen Herzerkrankung.
Otto Wels hat sich mit seiner berühmten Reichstagsrede um die deutsche Sozialdemokratie und noch viel mehr um die parlamentarische Demokratie verdient gemacht. Er gehörte nicht zu den philosophisch-theoretischen Vordenkern der SPD, führte in seiner Rede jedoch eindringlich vor Augen, wie schutzbedürftig Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus sind. An diese wichtige Einsicht konnten die Mütter und Väter des Grundgesetzes nach dem Zweiten Weltkrieg anknüpfen, als sie die Konstruktionsfehler der nicht zuletzt in sozialpolitischer Hinsicht an sich höchst fortschrittlichen Weimarer Verfassung korrigierten. Unter den im Parlamentarischen Rat 1948/49 diskutierten Schwächen nahm das von den Nationalsozialisten ausgenutzte Recht des Reichstags, mit Zweidrittelmehrheit verfassungsändernde Ermächtigungsgesetze zu verabschieden, breiten Raum ein. Auf keinen Fall sollten künftig solchermaßen Grundrechte abgeschafft oder Kompetenzen der Legislative auf die Exekutive übertragen werden können. Diese Korrekturnotwendigkeit hat Wels erkannt und gegen die nationalsozialistische Politik entschlossen ins Feld geführt. Auch deshalb ist seiner zu gedenken.