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Kurt Schumacher

Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen. [...] Wenn wir irgendetwas beim Nationalsozialismus erkennen, dann ist es die Tatsache, dass ihm zum ersten Mal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist. [...] Sie können tun und lassen was Sie wollen, an den Grad unserer Verachtung werden sie niemals heranreichen. Kurt Schumacher

Kurzbiografie

Kurt Schumacher (1895-1952) prägte als Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus die Nachkriegspolitik Deutschlands. Trotz schwerer Verwundung im Ersten Weltkrieg und jahrelanger Haft unter den Nazis blieb er unbeugsam in seinem Einsatz für Demokratie und Sozialismus. Nach 1945 führte er den Wiederaufbau der SPD an, lehnte die Vereinigung mit der KPD ab und kämpfte für ein sozial gerechtes Deutschland und die europäische Einigung. Sein entschiedenes Eintreten für Freiheit und Gleichheit machte ihn zu einem wichtigen Wegbereiter der Sozialen Demokratie in der Bundesrepublik.

Hörbuch

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Kurt Schumacher – Demokratischer Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg

von Thilo Scholle

Kurt Schumacher (* 13.10.1895 · † 20.8.1952) wurde am 13. Oktober 1895 in Culm, dem heutigen Chełmno an der Weichsel als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem Notabitur ab 1914 als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg wurde er bereits nach wenigen Monaten schwer verwundet und verlor seinen rechten Arm. Aus dem Militärdienst entlassen, studierte er bis 1919 Rechtswissenschaften in Halle, Leipzig und Berlin.

 

Kampf um den Staatsgedanken in der Sozialdemokratie

Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte mit dem Buch »Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie« im Jahr 1926 bei dem Soziologen Johann Plenge an der Universität Münster. Sie wurde allerdings zu Schumachers Lebzeiten nie veröffentlicht, sondern erschien erst 1973, mehr als 20 Jahre nach Schumachers Tod.

Kernthese Schumachers ist, dass weder die Marxisten noch die Revisionisten in der Sozialdemokratie eine brauchbare eigene Theorie des Staates entwickelt hätten. Schumachers eigene Überlegungen zur Staatlichkeit beginnen mit der Feststellung, Staat und Gesellschaft seien weder Gegensätze noch deckungsgleich. Für Schumacher geht es darum, den Staat auf soziale Ziele und Zwecke auszurichten und für diese dienstbar zu machen. Dies gilt für ihn umso mehr, als nach seiner Auffassung die Sozialdemokratie seit 1914 zunehmend als Vertreterin des Allgemeininteresses wahrgenommen worden, sie mithin zur eigentlichen Staatspartei geworden sei. Nach 1917 habe man sich sozialistisches Werden nur »für, mit und durch den Staat« vorstellen können (Schumacher 1973: 126).

 

Anfänge in der württembergischen Sozialdemokratie

Im Januar 1918 war Schumacher in die Mehrheitssozialdemokratie eingetreten. Von 1918 bis 1919 war er als Vertreter des Reichsbundes der Kriegsbeschädigten Mitglied des Soldaten- und Matrosenrats von Groß-Berlin. Nach einer kurzen Tätigkeit im Arbeitsministerium übernahm er Ende 1920 eine Stelle als politischer Redakteur bei der »Schwäbischen Tagwacht«, der Zeitung der württembergischen Sozialdemokratie. Im selben Jahr erfolgte die Wahl in den württembergischen Landtag, dem er bis 1931, zeitweise auch als Mitglied des Fraktionsvorstands, angehörte.

 

Abgeordneter des Reichstags

Im Jahr 1930 wurde Schumacher erstmals in den Reichstag gewählt. In der Fraktion orientierte er sich politisch an jüngeren Abgeordneten wie Carl Mierendorff und Theodor Haubach, die als »militante Sozialisten« für einen aktiven Schutz der Republik eintraten. Für die sozialdemokratische Partei- und Fraktionsführung war die Gruppe um Schumacher und Mierendorff zu umtriebig. Im Reichstag durfte Schumacher daher auch nur ein einziges Mal reden. In seiner Rede am 23. Februar 1932 legte er sich aufs Schärfste mit den Nazis an. Dieser Wortbeitrag gehört, wie das Eingangszitat zeigt, zu den beeindruckendsten Zeugnissen einer parlamentarischen Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten.

 

Gefangener der Diktatur

Den offenen Protest gegen führende Nazis musste Schumacher bitter bezahlen: Am 6. Juli 1933 erstmals verhaftet, verbrachte er die nächsten zehn Jahre bis 1943 in verschiedenen Gefängnissen und Konzentrationslagern, zunächst im Württembergischen und dann später vor allem in Dachau. Angebote, durch Distanzierung von seiner sozialdemokratischen Gesinnung vorzeitig freizukommen, lehnte er ab. Im Gegenteil, Schumacher wird von ehemaligen Mithäftlingen als ausgesprochen provokant und unbeugsam seinen Wächtern gegenüber beschrieben. Im Jahr 1943 zunächst entlassen und zu Verwandten nach Hannover gezogen, wurde er im Spätsommer 1944 noch einmal für mehrere Wochen im KZ Neuengamme interniert. Die langen Haftaufenthalte zerstörten seine durch die Kriegsverletzung ohnehin eingeschränkte Gesundheit weiter.

 

Wiederaufbau der SPD

Bereits ab dem 19. April 1945 und damit vor der deutschen Kapitulation begann Schumacher mit dem Wiederaufbau der SPD in Hannover. In einer Rede auf einer Parteiversammlung am 6. Mai 1945 machte er deutlich, worin die Verantwortung der deutschen Bevölkerung für das Leid durch die NS-Diktatur bestand. Zugleich postulierte er einen moralischen und politischen Führungsanspruch für die im Widerstand aktive Sozialdemokratie: Der deutsche Großbesitz habe genau gewusst, was er tat. Wer sich jetzt dahinter verstecke, dass es sich um ein Verschulden des gesamten Volkes handele, lüge. Die demokratischen Sozialisten, die gegen die Nazis gekämpft hätten, wollten nicht mit allen in einen Topf geworfen werden (Rede vom 6. Mai 1945 in Hannover, S. 17).

Obwohl Parteien in den vier Besatzungszonen in unterschiedlichem Maße wieder zugelassen wurden und reichsweite Verbindungen noch bis 1946 untersagt bleiben sollten, begann Schumacher, intensive Kontakte in alle Landesteile zu knüpfen. Sein »Büro Dr. Schumacher« wurde so schon bald zur treibenden Kraft beim Wiederaufbau der Sozialdemokratie in den Westzonen. Ausgestattet mit einem Mandat des Exilvorstands in London sowie der sozialdemokratischen Strukturen der drei Westzonen, führte er heftige Auseinandersetzungen mit der im Berliner »Zentralausschuss« organisierten Führung der Sozialdemokratie in der sowjetischen Besatzungszone.

 

Sozialdemokratie in West und Ost

Für viele Sozialdemokraten gehörte die Überwindung der Spaltung der Arbeiterbewegung zu den Lehren aus dem verlorenen Abwehrkampf gegen die Nationalsozialisten. Schumacher hatte eine andere Perspektive. Für ihn war die Politik der KPD vor allem totalitär und undemokratisch. Schon in der Weimarer Republik hatte Schumacher eine KPD erlebt, die in der Sozialdemokratie den Hauptfeind erblickte, der fast erbitterter zu bekämpfen war als die Nazis. Nachdem Krieg nahm er eine von der sowjetischen Besatzungsmacht gesteuerte KPD wahr, die jegliche demokratische Entwicklungsprozesse unterdrücken wollte. Der »Zentralausschuss« der SPD im Osten stand demgegenüber zumindest in seiner Führung um Otto Grotewohl für einen Zusammenschluss von SPD und KPD.

Schumachers klare Abgrenzung zu den Kommunisten fußte auf einer anderen Vorstellung, wie eine sozialistische Gesellschaft aussehen sollte, nämlich auf einer entschiedenen Abgrenzung der Herrschaftsmethoden: Es gebe nur eine Demokratie, und die sei weder kapitalistisch noch proletarisch.

Unabhängig von dieser Kritik berief sich Schumacher auf das Erbe des Marxismus zumindest als Methode, auch wenn er die Orientierung an marxistischer Theorie nicht zur Bedingung einer Mitarbeit in der Sozialdemokratie machte, sondern hier auch christliche und humanistische Beweggründe gleichberechtigt gelten ließ. Wirtschaftspolitisch stand Schumacher in der Tradition der Weimarer Sozialdemokratie: Planung sei Voraussetzung zur Vermeidung von Katastrophen in der Wirtschaft. Deutschland müsse in seiner Ökonomie sozialistisch, in seiner Politik demokratisch geformt werden (Parteitag 1945: 86), »[d]ie Deutschen müssen die Hoffnung haben, über einen Zustand hinwegzukommen, wo sie nicht mehr Objekt der kapitalistischen Ausbeutung, sondern Subjekt sozialistischer Gestaltung sind.« (Parteitag 1945: 87) Als Strategie zur Überwindung der kommunistischen Vorherrschaft im Osten plädierte Schumacher für die Entwicklung einer sozialen Demokratie im Westen: Die westliche Welt könne den Kommunismus nicht mithilfe antibolschewistischer Propaganda überwinden, sondern nur durch den Vergleich sozialer Verhältnisse. Auch trat er für eine wirtschaftliche Integration in Europa ein. Die europäische Demokratie werde auf Dauer ohne Sozialismus nicht möglich sein.

Im Bereich der Klassentheorie trat Schumacher für ein Weiterdenken ein: Schon die Weimarer Sozialdemokratie sei keine Klassenpartei mehr gewesen. Auf den Begriff des Klassenkampfes solle man daher verzichten. Die SPD sei die Partei für den politischen Kampf aller Schaffenden, die auf ihre eigene Arbeit angewiesen sind.

Privat lebte Schumacher bescheiden. Lebensgefährtin und politische Gefährtin wurde 1945 die spätere Präsidentin des Deutschen Bundestags, Annemarie Renger.

 

Gründung der Bundesrepublik

Der erste Parteitag der SPD in den Westzonen wählte Kurt Schumacher im Jahr 1946 mit 244 von 245 Stimmen zum ersten Nachkriegsvorsitzenden der Partei. Immer wieder wurde Schumacher von Krankheit zurückgeworfen. So musste im September 1948 sein linkes Bein amputiert werden. Der Entwicklung einer Verfassung für einen westdeutschen Teilstaat stand Schumacher lange skeptisch gegenüber. Einen verfassunggebenden Prozess vor einer Wiedervereinigung der vier Zonen – und vor Klärung der Frage des Status der Polen zugeschlagenen Ostgebiete – lehnte er ab. Dem Grundgesetz stimmte er unter der Voraussetzung zu, dass es eine provisorische Satzung für den neuen westdeutschen Teilstaat sein sollte und nicht eine endgültige Verfassung.

Viel diskutiert wurde Schumachers Verhältnis zum Begriff der Nation. Dabei wird Schumacher aber meist aus der Rückschau verzerrt interpretiert. Zwar stand er für die Gleichberechtigung Deutschlands in den internationalen Beziehungen ein. Die Welt könne beim Wiederaufbau auf die deutsche Mitarbeit nicht verzichten. Hinter diesem Anspruch stand aber die Vorstellung eines demokratischen und sozialen Deutschlands, das aus einer demokratisch-sozialistischen Tradition heraus entwickelt werden musste. Es ging ihm nicht um Nationalismus an sich. Wer ein guter Deutscher sein wolle, der könne kein Nationalist sein. Die SPD kämpfe für die Freiheit und Gleichheit der einzelnen Menschen genauso wie die der Völker.

Bei der ersten Bundestagswahl 1949 als Spitzenkandidat angetreten, verlor er gegen Konrad Adenauer und wurde anschließend Fraktionsvorsitzender der SPD. Am 12. September 1949 musste er sich bei der Wahl zum Bundespräsidenten Theodor Heuss (FDP) geschlagen geben.

Am 20. August 1952 starb Kurt Schumacher. Der Weg des Trauerzugs von Bonn nach Hannover war von mehreren Hunderttausend Menschen gesäumt.

 

Was bleibt?

Der Blick auf Kurt Schumacher ist oft eher eng geführt und durch die Brille des Kalten Krieges geprägt. Betont werden sein Bekenntnis zur deutschen Nation und sein entschiedener Antikommunismus. Diese beiden Dimensionen seines politischen Denkens dürfen nicht verkürzt werden um sein klares Bekenntnis zu einem demokratisch verfassten Sozialismus.

Direkte Anschlüsse an das Denken Kurt Schumachers sind heute, fast siebzig Jahre nach Kriegsende, nicht ohne historische Reflexion möglich. Schumacher versuchte behutsam, tagespolitische Herausforderungen und weitergehende politische Forderungen in der Balance zu halten. Die Erwartung der Entwicklung einer ernsthaften sozialistischen Transformationsstrategie nach dem Krieg übersieht die zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen, nämlich den völligen Zusammenbruch staatlicher und ökonomischer Strukturen 1945, die Besetzung des Landes sowie die anschließende Teilung. Kurt Schumachers Lebensweg und Lebensleistung stellen ein beeindruckendes Zeugnis dar für die Beharrlichkeit und Unbeugsamkeit politischer Überzeugung. »Die Sozialdemokratie steht und fällt mit der Idee von der Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt.« (Rede auf dem SPD-Parteitag 1946: 131) Kurt Schumacher steht damit beispielhaft für die Überzeugungskraft und die Glaubwürdigkeit der Idee der sozialen Demokratie.


Werk

  • Schumacher, Kurt (1973), Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie, Stuttgart.
  • Schumacher, Kurt (1972), Bundestagsreden, hg. v. Annemarie Renger, Bonn.
  • Schumacher, Kurt/Ollenhauer, Erich/Brandt, Willy (1972), Der Auftrag des demokratischen Sozialismus, Bonn.
  • Schumacher, Kurt (1948), Nach dem Zusammenbruch, Hamburg.
  • Schumacher, Kurt (1962), Reden und Schriften, hg. v. Arno Scholz u. Walther G. Oschilewski, Berlin.

Literatur

  • Merseburger, Peter (1995), Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher, Stuttgart.
  • Stamm, Christoph (2013), Kurt Schumacher – charismatischer Parteiführer in schwieriger Zeit, in: Faulenbach, Bernd/Helle, Andreas (Hg.), Menschen, Ideen, Wegmarken. Aus 150 Jahren deutscher Sozialdemokratie, Berlin, S. 153-161.

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