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Elisabeth Selbert (1896-1986) prägte als Sozialdemokratin und Juristin entscheidend die Gleichberechtigung im deutschen Grundgesetz. Trotz beruflicher und familiärer Herausforderungen setzte sie sich vehement für Frauenrechte ein und wurde maßgeblich im Parlamentarischen Rat aktiv. Ihr Einsatz führte 1949 zur Verankerung des Gleichberechtigungsgrundsatzes in der Verfassung. Als eine der "Mütter des Grundgesetzes" bleibt sie eine zentrale Figur in der Geschichte der deutschen Frauenrechte.
Hören Sie den Eintrag zu Elisabeth Selbert auch als Hörbuch. (Hörzeit 8:19 Minuten)
Elisabeth Selbert (* 22.9.1896 · † 9.6.1986), geb. Rohde, wurde in Kassel in einfachen Verhältnissen geboren. Nach Volksschule und Mädchenmittelschule besuchte sie die Gewerbe- und Handelsschule des Kasseler Frauenbildungsvereins. Sie wurde Auslandskorrespondentin und später Postgehilfin im Telegrafendienst. 1918 fand sie durch ihren späteren Ehemann Albert Selbert in die politische Arbeit und trat in die SPD ein. Nach der Heirat bekam sie zwei Söhne. Ihre Mutter und eine unverheiratete Schwester unterstützten die Familie. So war es Elisabeth Selbert möglich, ihr Abitur nachzuholen und 1926 im Alter von 30 Jahren ein Jurastudium in Marburg und Göttingen zu beginnen. Ihr Spezialgebiet war das Familienrecht. Kurz nach dem ersten Staatsexamen promovierte sie an der Universität Göttingen. In ihrer Dissertation »Ehezerrüttung als Scheidungsgrund« griff sie die aktuelle Diskussion unter Sozialdemokratinnen um das Scheidungsrecht auf. 1933 kandidierte Selbert bei der Reichstagswahl auf einem hinteren Platz der Landesliste der hessischen SPD. Ihr Mann wurde 1933 für einige Wochen im KZ Breitenau inhaftiert und gefoltert. Selbert dagegen erhielt 1934 als eine der letzten Frauen die Zulassung als Anwältin und übernahm die renommierte Kanzlei zweier jüdischer Anwälte am Königsplatz in Kassel – ein Vorgang, den die Juristin auch später nie kritisch reflektiert hat (vgl. Drummer/Zwilling 1999: 52 ff.).
Nach Kriegsende beteiligte sich Selbert aktiv am Wiederaufbau der SPD im Bezirk Kassel. Auf dem ersten Parteitag der SPD nach Kriegsende wurde sie als eine von zwei Frauen in den erweiterten Parteivorstand gewählt, ab 1947 gehörte sie zum zentralen Frauenausschuss der Partei. 1945/46 arbeitete sie an der hessischen Verfassung mit. Von 1946 bis 1958 war sie Mitglied des Hessischen Landtags. 1948 erhielt sie ein Mandat für den Parlamentarischen Rat, dort gehörte sie dem Ausschuss für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege an und war gleichzeitig Stellvertreterin im Ausschuss für Grundsatzfragen und im Hauptausschuss. 1956 wurde ihr das große Bundesverdienstkreuz verliehen, seit 1983 wird ihre politische Arbeit durch die Vergabe des Elisabeth-Selbert-Preises gewürdigt. 1984, zwei Jahre vor ihrem Tod, wurde sie zur Kasseler Ehrenbürgerin ernannt. Ein Filmporträt aus dem Jahr 1981, ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 1981 und ein Spielfilm aus dem Jahr 2014 mit Iris Berben in der Hauptrolle sind Elisabeth Selbert gewidmet.
Selbert hat als Sozialdemokratin an der Verfassung des Landes Hessen und an der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland mitgearbeitet. Sie war mehr als zwölf Jahre lang für die SPD im Hessischen Landtag aktiv. Die in der Nachkriegszeit neu- oder wiedergegründeten überparteilichen Frauenausschüsse und -vereine, die verschiedenste soziale und politische Ziele verfolgten, lehnte sie ab. Sie war eine vehemente Gegnerin der sogenannten »Frauenrechtlerei« und warb für die politische Betätigung von Frauen in den demokratischen Parteien. Für die Anwältin waren demokratische Parteien in einem demokratischen Rechtsstaat unerlässlich. Mehrfach wandte sich Selbert auch öffentlich scharf gegen die Frauenausschüsse und rief Frauen dazu auf, in den Parteien mitzuarbeiten und sich den demokratischen Wahlverfahren zu stellen. Sie kritisierte den oft verharmlosenden Umgang mit der NS-Vergangenheit, wie er in einigen Ausschüssen praktiziert wurde. Vor allem aber verfolgte sie andere politische Ziele als die meisten in den Frauenausschüssen organisierten bürgerlichen Frauen: Selbert forderte die Abschaffung des § 218 StGB, die Gleichstellung des unehelichen Kindes und der unehelichen Mutter und die Abschaffung des Schuldprinzips bei Ehescheidungen. Auf der weichenstellenden Frauenkonferenz der SPD 1948 in Wuppertal war die Anwältin als Expertin für die »Rechtsstellung der Frau« eine der Hauptrednerinnen (vgl. Meyer-Schoppa 2004: 130 ff.).
Im Parlamentarischen Rat war Selbert im Ausschuss für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege tätig. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus bezeichnete sie die Errichtung eines Rechtsstaates als eine der dringlichsten politischen Aufgaben der Zeit (vgl. Vogel 1987). Besonders in den Beratungen über die Position der Richter nahm Selbert dezidiert Stellung. Anders als wichtige Verfassungsrechtler aus CDU und FDP betonte Selbert die Verstrickung der Justiz in die Verbrechen des NS-Staates und setzte sich dafür ein, die Eigenverantwortung der Richter für ihr Handeln im Grundgesetz festzulegen.
Als die bürgerlichen Parteien – einschließlich ihrer beiden weiblichen Abgeordneten – im Dezember 1948 im Parlamentarischen Rat den SPD-Antrag »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« ablehnten, erkannten die Sozialdemokratinnen die Chance, daraus politisches Kapital zu schlagen. Die Frauensekretärin der SPD organisierte eine Öffentlichkeitskampagne und rief Sozialdemokratinnen und Gewerkschafterinnen zum Protest auf. Elisabeth Selbert wurde zur Vertreterin der Gleichberechtigungsforderung aufgebaut, sie drohte mit breiten Protesten. Auch einige überparteiliche Frauenvereinigungen griffen das Thema auf, allerdings unterstützten nur wenige die sozialdemokratische Formulierung. Dennoch brachte die Kampagne CDU und FDP zum Einlenken, und das Grundrecht auf Gleichberechtigung erhielt 1949 Verfassungsrang. Bei der ersten Bundestagswahl verfehlte Elisabeth Selbert auf Platz 2 der hessischen Landesliste den Einzug in den Bundestag knapp.
Seit den 1980er- und 1990er-Jahren gilt Elisabeth Selbert als Frauenrechtlerin und Anwältin der Frauen. Sie fungiert in der feministischen Überlieferung als Heldin der Gleichberechtigungskämpfe und als Vorbild für überparteiliche Frauenbündnisse (vgl. Böttger 1990; Drummer/Zwilling 1999; Notz 2003). Sie wird herangezogen, um der nach wie vor männerdominierten Politik ein Beispiel für die Wirkungsmacht politischer Frauensolidarität gegenüberzustellen, das die Dominanz der Kategorie Geschlecht vor anderen Kategorien beweisen soll. Selberts parteipolitische Verortung in der Sozialdemokratie, ihre eindeutige Abgrenzung von überparteilichen Frauenvereinigungen und ihr Einsatz für Rechtsstaatlichkeit auf allen Ebenen werden dagegen vielfach negiert. Nicht nur die CDU spricht heute rückblickend gern von den vier »Müttern des Grundgesetzes« und verdeckt so die damaligen Differenzen. Und auch die SPD, die sich den Vorwurf gefallen lassen muss, sie habe vielen Frauen in ihren eigenen Reihen – auch Elisabeth Selbert – lange Zeit die politische Anerkennung und vor allem die politischen Mandate versagt, tut sich mit der kritischen Sicht auf die Parteiengeschichte als Geschlechtergeschichte noch immer schwer. Dabei ist Elisabeth Selbert nicht die verkannte Frauenrechtlerin, die die Frauen der Nachkriegszeit gegen die Männer einte, sondern eine Sozialdemokratin, die für ihre Überzeugungen eintrat und machtbewusst verschiedene Inszenierungen und Strategien nutzte, um ihre Position zu vertreten.