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Anna Siemsen (1882-1951) war eine wegweisende Bildungspolitikerin und Pädagogin der Weimarer Republik, deren Einsatz einem integrativen Bildungssystem galt, das allen Menschen Entfaltungsmöglichkeiten bieten sollte. Ihre Arbeit war geprägt von der Überzeugung, dass Bildung und Kultur zentrale Rollen in der gesellschaftlichen Entwicklung spielen. Siemsen förderte integrative Schulmodelle und Chancengleichheit. Trotz politischer Rückschläge blieb sie ihrer Vision einer demokratischen und sozial gerechten Bildung treu, auch im Exil während der NS-Zeit.
Hören Sie den Eintrag zu Anna Siemsen auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:00 Minuten)
Anna Siemsen (* 18.1.1882 · † 22.1.1951) gehört zu den profiliertesten Bildungspolitikerinnen der Weimarer Republik. Lebensinhalt der Pädagogin war der Kampf für ein Bildungssystem, das jedem Menschen die persönliche Entwicklung als Mitglied einer solidarischen Gesellschaft ermöglichen sollte. Getragen war sie von der Begeisterung für die gesellschaftsverändernde Kraft von Literatur und Kunst und von der tiefen Überzeugung einer gemeinsamen, emanzipatorischen Kultur der Menschheit.
Geboren wurde Siemsen in dem heute zu Hamm in Westfalen gehörenden Dorf Mark. Als Tochter eines evangelischen Pfarrers in einem bildungsbewussten Elternhaus aufgewachsen, gelang ihr 1905 das Abitur als Externe an einem Gymnasium in Hameln. Das Lehramtsstudium der Germanistik, Philosophie und lateinischen Philologie schloss sie mit der Promotion ab und erlangte später zusätzlich die Lehrberechtigung im Fach Religion.
Bei Kriegsausbruch 1914 als Lehrerin in Bremen noch von der Richtigkeit des deutschen Kriegseintritts als Verteidigungskrieg überzeugt, entwickelte sich Siemsens politisches Denken zusehends nach links. Seit 1915 als Lehrerin in Düsseldorf tätig, wurde sie im Jahr 1917 Mitglied des pazifistischen »Bund neues Vaterland«. Parteipolitisch optierte sie für die in Düsseldorf starke Unabhängige Sozialdemokratie (USPD), für die sie auch kurze Zeit in der örtlichen Stadtverordnetenversammlung saß. Ihr eigentlicher Schwerpunkt blieb aber die Bildungspolitik. Gemeinsam mit ihrem politisch ebenfalls sehr aktiven Bruder August gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern des parteiübergreifenden »Verbandes sozialistischer Lehrer und Lehrerinnen«, engagierte sich im »Bund Entschiedener Schulreformer« und arbeitete von 1919 bis 1920 im preußischen Kultusministerium. Dieses verließ sie allerdings nach kurzer Zeit desillusioniert über das Beharrungsvermögen der alten kaiserlichen Beamten wieder, um zunächst in Düsseldorf und dann in Berlin Leitungsfunktionen in der kommunalen Schulverwaltung auszufüllen.
Ihre größte bildungspolitische Aufgabe erhielt sie im Jahr 1923, als sie von der sozialdemokratischen Landesregierung nach Thüringen berufen wurde. Dort sollte sie innerhalb der Landesverwaltung Reformen des Schulwesens hin zu mehr integrativen Schulmodellen und für mehr Chancengleichheit von Arbeiterkindern vorantreiben. Gleichzeitig wirkte sie als Honorarprofessorin an der Universität Jena. Im selben Jahr beendete eine Reichsexekution das Experiment der inzwischen geschlossenen Koalition von SPD und KPD. Die darauf folgenden Landtagswahlen erbrachten eine rechte Mehrheit, die Siemsen ihre schulpolitischen Zuständigkeiten wieder entzog.
Siemsen blieb Professorin in Jena, begann aber vor allem mit einer breiten Publikations- und Vortragstätigkeit innerhalb der Sozialdemokratie. So war sie regelmäßig Referentin auf Schulungsveranstaltungen der Sozialistischen Arbeiterjugend und der Jungsozialisten, in deren Verbandszeitschriften sie auch publizierte. Zudem wirkte sie zusammen mit Max Adler und Georg Engelbert Graf als Herausgeberin der »Jungsozialistischen Schriftenreihe«, für die sie die Broschüren »Politische Kunst und Kunstpolitik« sowie »Religion, Kirche und Sozialismus« beisteuerte.
Daneben beschäftigte sie sich intensiv mit der Bedeutung von Literatur für die Entwicklung junger Menschen. Siemsen war davon überzeugt, dass Literatur Menschen prägen und damit letztlich auch das Bild beeinflussen könne, das sich Menschen von der Gesellschaft und den gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten machten. So fungierte sie als Herausgeberin bzw. Autorin mehrerer Anthologien zur deutschen und europäischen Literatur (wie etwa »Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft«, Jena 1925). Über die als Alternative zur Konfirmation entwickelte Jugendweihe verfasste sie mehrere Texte und gab u. a. einen Sammelband mit Texten, Liedern und Gedichten heraus (»Der Weg zur Gemeinschaft«, Leipzig 1926). Außerdem setzte sie sich intensiv für die Teilhabe und politische Emanzipation von jungen Frauen ein (»Frauenleben in drei Jahrtausenden«, Düsseldorf 1948).
Anna Siemsen gehörte zu den führenden Schulreformerinnen während der Weimarer Republik. Intensiv arbeitete sie vor allem an einer Verbindung von geistiger und praktischer Bildung. In ihrer programmatischen Schrift »Beruf und Erziehung« (Berlin 1926) entwickelte sie ihre Vorstellungen einer Schule, die den jungen Menschen sowohl beruflich qualifizieren, ihm vor allem aber das Rüstzeug für ein selbstbestimmtes Leben in einer solidarischen Gesellschaft geben sollte:
»Aus dieser als Regelfall und als Kennzeichen der modernen Gesellschaft anzusehenden Tatsache, dass der Beruf die gesellschaftliche Lage bestimmt, dass durch den Beruf die Eingliederung des Einzelnen in die Gesellschaft erfolgt, ergibt sich […] das Problem: Wie lässt sich die freie Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit mit den Forderungen des Berufs in Einklang bringen? Anders formuliert: Wie sind äußerer und innerer Beruf des Menschen zu vereinigen? [...] Wie sind menschliche Gesellschaft und menschliche Freiheit vereinbar?« (Siemsen 1926: 18 f.)
Gerade die Erfahrung im modernen Industriebetrieb lehre den Arbeitern die Bedeutung von Gemeinschaft. Ohne ihre Einzelpersönlichkeit aufgeben zu müssen, werde den Menschen ihre Angewiesenheit auf Gemeinschaft klar. Die Schule müsse sich diesen neuen Erfahrungen von gesellschaftlichem Verantwortungsgefühl öffnen:
»Erziehung zur Gesellschaft kann nur aus gesellschaftlichem Bewusstsein geschehen. Das heißt, die Erzieher müssen Kenntnis der Gesellschaft und gesellschaftliches Verantwortungsgefühl besitzen und ihre Aufgabe erkennen, junge Menschen zur Wirkung in der Gesellschaft willig und fähig zu machen.« (Siemsen 1926: 216 f.)
»Die Schule wird an dieser Neugestaltung teilhaben, sofern und soweit sie sich dem Einfluß der entstehenden Gemeinschaften öffnet – sich demokratisiert – und ihre Lehrer aus Fachspezialisten sich umwandeln in Menschen, die an gesellschaftlicher Ordnung verantwortlichen und bewussten Anteil nehmen.« (Siemsen 1926: 217)
Im Mai 1928 wurde Anna Siemsen für den Wahlkreis Leipzig in den Reichstag gewählt, ihrem Bruder August gelang Gleiches in einem Thüringer Wahlkreis. In der SPD-Reichstagsfraktion konnten beide jedoch nur wenig Wirkung entfalten. 1930 schied Siemsen aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus dem Parlament aus. Die Auseinandersetzungen um den Stand der innerparteilichen Demokratie sowie die politische Strategie gegen die Gefahr des Faschismus führte sie letztlich an den Rand der Partei. So verteidigte sie die von der Auflösung bedrohten Jungsozialisten genauso wie die gegen die Fortsetzung der Tolerierungspolitik der Präsidialkabinette eingestellte Minderheit auf dem Leipziger Parteitag (Parteidisziplin und sozialistische Überzeugung, Berlin 1931).
Gemeinsam mit ihrem Bruder gehörte sie zum Gründerkreis der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), die sie aus Frust über den kommunistischen Parteiflügel allerdings noch im Frühjahr 1933 wieder verließ. Für deren »Marxistische Büchergemeinde« schrieb sie 1932 einen Überblick über die Entwicklung der sozialdemokratischen Parteiprogramme, in welchem sie sich auch mit der Frage des heraufziehenden Faschismus in Deutschland auseinandersetzte und vor einer Machtübernahme der Nazis auf parlamentarischem Wege warnte. (Auf dem Wege zum Sozialismus. Kritik der sozialdemokratischen Programme von Erfurt bis Heidelberg, Berlin 1932).
Die NS-Diktatur überstand Siemsen im Exil in der Schweiz. Durch die Scheinehe mit dem Sekretär der Schweizer Arbeiterjugend Walter Vollenweider mit einer Arbeitserlaubnis ausgestattet, spann sie ein weites publizistisches Netzwerk, in dem sie neben ihren bildungspolitischen Kernthemen vor allem auch zur Lage in Nazideutschland veröffentlichte (zusammengefasst in: »Zehn Jahre Weltkrieg«, Olten 1946). In dieser Zeit entstanden auch das »Spanische Bilderbuch« (Düsseldorf 1947) sowie »Die Briefe aus der Schweiz« (Hamburg 1948). Nach Ende der Diktatur sollte es noch zwei Jahre dauern, bis Siemsen wieder nach Deutschland zurückkehren konnte. In Hamburg wirkte sie an der Reform der Lehrerausbildung mit, wurde aber auch hier bald durch die alten Seilschaften in der Bürokratie ausgebremst. Ihre Hoffnung auf einen Lehrstuhl für europäische Literatur erfüllte sich nicht. Entkräftet und schwer krank starb Anna Siemsen am 22. Januar 1951 in Hamburg.
Einschlägige nationale und internationale Studien bescheinigen dem bundesdeutschen Schulsystem nach wie vor eine vor allem soziale Selektivität. Anna Siemsen war überzeugte Verfechterin eines integrierten Schulsystems, lange bevor dies in der bildungspolitischen Diskussion der Bundesrepublik ab den 1970er-Jahren wieder aufgegriffen wurde. Die Trennung in Berufsausbildung für Arbeiterkinder und in humanistische Bildung für den Nachwuchs höherer Schichten lehnte sie ab. Die Idee einer Verbindung von Lernen für das Erwerbsleben mit Lernen für ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft ist weiterhin innovativ. Ihre Vorstellung von der Schule als einem Ort, der über gesellschaftlichen Status und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten entscheidet und der deshalb die Schüler dazu anleiten muss, ein eigenes Bewusstsein für die gesellschaftlichen Verhältnisse zu entwickeln und durch die eigene interne Organisation zu demokratischem Bewusstsein beizutragen, ist gleichfalls ein noch bis heute gültiges und nicht konsequent umgesetztes pädagogisches Programm.