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Carlo Schmid (1896-1979) war ein bedeutender SPD-Politiker, Jurist und Verfassungsvater, der maßgeblich am Grundgesetz mitwirkte und die Soziale Demokratie in Deutschland prägte. Trotz seiner bildungsbürgerlichen Herkunft und akademischen Laufbahn engagierte er sich in der SPD und trug zur Parteimodernisierung bei. Schmids Visionen eines vereinten Europas und sein Einsatz für europäische Integration und die deutsch-französische Beziehungen zeichnen ihn als leidenschaftlichen Europäer aus. Seine Arbeit legte den Grundstein für ein demokratisches Deutschland und ein vereintes Europa.
Hören Sie den Eintrag zu Carlo Schmid auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:44 Minuten)
Carlo Schmid (* 3.12.1896 · † 11.12.1979) war ein klassischer Vertreter des Bildungsbürgertums. Als hochgebildeter Übersetzer der Werke Baudelaires, als angesehener Jurist, als Professor und Bonvivant war er kein typischer Repräsentant der SPD. Dennoch nahm er in der SPD über lange Jahre Spitzenpositionen ein. Er hat entscheidend daran mitgewirkt, einen verfassungsrechtlichen Rahmen für die konkrete Verwirklichung Sozialer Demokratie in Deutschland zu schaffen.
Charles Jean Martin Henri Schmid wurde in Südfrankreich geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Weil am Rhein und in Tübingen. In einer Zeit wachsenden Nationalismus und zelebrierter Ressentiments gegenüber Frankreich war Schmid Ausgrenzung und Spott ausgesetzt, bewahrte sich aber stets seine Nähe zu Frankreich.
Es mag der Wunsch gewesen sein, die erlittene Ausgrenzungserfahrung zu überwinden, der seine Meldung als Kriegsfreiwilliger 1914 erklärt. Gegen seine zweite Heimat in den Krieg zu ziehen widersprach zweifellos seinen Überzeugungen.
1919 nahm Schmid in Tübingen das Jurastudium auf. 1923 promovierte er bei Hugo Sinzheimer (S. 324-329). Schmids Tätigkeit als Referent am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1927/28) war in zweifacher Hinsicht folgenreich für ihn. Er erwarb hier völkerrechtliche Kenntnisse, die ihm später im Umgang mit den französischen Alliierten hilfreich waren. Außerdem lernte er hier Hermann Heller (S. 145- 151) kennen. Dieser beeinflusste Schmid durch sein unkonventionelles Sozialismuskonzept und durch seine Vorstellung eines sozialen Rechtsstaats. Auf beides griff Schmid später zurück, etwa als er die Modernisierung der SPD in den 1950er-Jahren vorantrieb oder bei den Arbeiten zum Grundgesetz.
Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurde Schmid Kriegsverwaltungsrat in Lille. Er nutzte diese Position, um im Rahmen des Besatzungsregimes mäßigend zu wirken. Gut dokumentiert sind zahlreiche praktische Hilfestellungen Juden gegenüber, Kontakte zur Résistance und zum deutschen Widerstand.
Die Erfahrungen aus der Besatzungszeit waren hilfreich, als er nach 1945 – nun unter umgekehrten Vorzeichen – in Tübingen unter französischer Besatzung die Verwaltung organisierte und später in Württemberg-Hohenzollern verschiedene Regierungsämter innehatte.
In diese Zeit fällt auch sein Eintritt in die SPD, auf den eine rasche Parteikarriere folgte: Er war SPD-Landesvorsitzender Württemberg- Hohenzollerns (1946–52) und Mitglied des Vorstands der SPD (1947–70), Mitglied des Bundestags (1949–72) und Kandidat zum Bundespräsidentenamt (1959). Zugleich verfolgte er weiter seine universitäre Laufbahn. Dass ein Bildungsbürger wie er, der SPD beitrat, war nicht selbstverständlich. Umso mehr ist über seine Motive spekuliert worden.
Trotz seiner Nähe zu sozialistischen Ideen zu Beginn seiner Studienzeit und dem Einfluss seines sozialdemokratischen Freundes Hermann Heller wurden immer wieder taktische Überlegungen unterstellt, etwa in dem Sinne, dass bei der CDU schon alle Führungsämter besetzt gewesen seien, in der SPD dagegen noch Raum dafür sei (vgl. Harm 2009: 370). Klar ist, dass diese taktischen Überlegungen auch aufseiten der aufnehmenden Organisation eine Rolle spielten. Schumacher erkannte schnell, dass Schmid ein wichtiger Brückenbauer ins bürgerliche Lager werden konnte.
Schmid selbst nannte das Motiv des Versagens der intellektuellen Eliten 1933, die die Machtübertragung an die Nationalsozialisten nicht verhindert hatten, weil sie sich selbst nicht engagiert genug in die Politik begeben wollten (Schmid 2008: 217).
Dank seiner staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Kenntnisse sowie seines taktischen Geschicks wirkte Schmid prägend bei wichtigen verfassunggebenden Prozessen in Nachkriegsdeutschland. Am bedeutendsten war seine Rolle bei der Entstehung des Grundgesetzes. Bereits bei den vorbereitenden Beratungen nahm er eine dominante Rolle ein.
Für den Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz schließlich ausarbeitete, war er daher gesetzt. Er saß der SPD-Fraktion vor, leitete den Hauptausschuss des Parlamentarischen Rats und leistete dort mühsame und kleinteilige, konkrete Verfassungsarbeit. Entsprechend sind zahlreiche Elemente des Grundgesetzes und der bundesrepublikanischen Demokratie auf ihn zurückzuführen oder erheblich von ihm beeinflusst.
So ist die Formulierung, dass die Bundesrepublik ein »demokratischer und sozialer Bundesstaat« (Art. 20 Abs. 1 GG) ist, von ihm geprägt und von seiner Auseinandersetzung mit Hellers Vorstellung eines sozialen Rechtsstaats inspiriert. Er hat maßgeblich an der Präambel des Grundgesetzes, dem Grundrechteteil und der Verankerung des konstruktiven Misstrauensvotums im GG mitgewirkt (vgl. Weber 1998: 359).
Er schuf einen verfassungsgemäßen Rahmen, der eine Politik der Sozialen Demokratie überhaupt erst ermöglichte. Dazu zählt sein Engagement für einen Sozialisierungsartikel (Art. 15 GG), aber auch sein konsequentes Eintreten dafür, die Grundrechte auch im Falle eines Notstands nicht außer Kraft setzen zu können.
Schmid gehörte seit seinem Eintritt in die SPD zu denjenigen, die eine programmatische, organisatorische und kulturelle Erneuerung und eine sozialstrukturelle Verbreiterung der SPD einforderten.
Er war der Meinung, dass es nicht Aufgabe einer Partei sei, letzte Gewissheiten zu vermitteln. Für diejenigen, die aus der Weimarer Sozialdemokratie kommend die SPD als Lebens- und Solidar- und vielleicht sogar Glaubensgemeinschaft verstanden, war diese nüchterne Feststellung eine Provokation.
Dabei war ihm zugleich bewusst, dass eine Partei und deren Politik immer klar orientiert sein müssen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen. Die SPD brauche ein
»System von Zielsetzungen und von Methoden, das die Möglichkeit gibt, je und je in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen konstanten und beweglichen Faktoren der Wirklichkeit die konkrete Situation auf ein Koordinatensystem zu beziehen, das uns erlaubt, die angemessenen strategischen und taktischen Konsequenzen so zu ziehen, daß alle Einzelentscheidungen, die die Partei trifft, sich zu einer Linie aufreihen lassen, die vom jeweiligen Standort aus nach dem Ziele weist.« (Schmid in Grebing 2005: 432).
Dieses Ziel müsse an der Würde des Menschen orientiert sein, die SPD müsse dafür demokratisch, sozialistisch, internationalistisch und zugleich patriotisch sein (vgl. Grebing 2005: 432).
Mit jeder Wahlniederlage der SPD wurde die programmatische und elektorale Begrenzung der Partei deutlicher und wurden Personen, die diese Grenzen erweitern konnten, wichtiger. So ist es kein Zufall, dass Schmid Ende der 1950er-Jahre – nach der erneuten Wahlniederlage 1957 – auf dem Höhepunkt seiner Popularität war und 1959 als Bundespräsident kandidierte, ja zeitweilig auch als Kanzlerkandidat gehandelt wurde. Mit ihm schien es möglich, »dem Bürgertum die Gänsehaut vor der Sozialdemokratie« zu nehmen (Wolfrum 1991: 119).
Aus dieser Position heraus konnte Schmid wichtige Beiträge zur Modernisierung der SPD leisten. Ihm war bewusst, dass die Parteireform nur im Verbund mit anderen gelingen konnte. Entsprechend arbeitete er eng mit Fritz Erler (S. 119-124) und Herbert Wehner (S. 350-356) zusammen. Einmal in der Woche wurde eine gemeinsame Line zur Reform der SPD abgestimmt und damit unterschiedliche Positionen in der Partei zusammengeführt (vgl. Weber 1998: 579).
Mit der Stuttgarter Organisationsreform (1958) und dem Godesberger Programm (1959) kam es schließlich zu einer umfassenden Modernisierung der Partei. Schmid trug dabei nicht zur unmittelbaren Formulierung des Programms bei. Dennoch ist seine Rolle als Treiber der Erneuerung der Partei nicht zu unterschätzen.
Die Modernisierung zahlte sich für die SPD aus. Von Wahl zu Wahl konnte sie in den 1960er-Jahren zulegen. Für einen der Väter dieser Erneuerung schien sie sich nicht auszuzahlen. Zwar wurde Schmid in der ersten großen Koalition noch Bundesratsminister, dem sozialliberalen Kabinett unter Brandt (S. 67-72) gehörte er schon nicht mehr an. Mitunter wirkte es, als würde er nicht mehr gebraucht. Die Brücke ins bürgerliche Lager schlug Karl Schiller (S. 289-295), und überall um ihn herum traten jüngere und vielleicht auch ehrgeizigere Menschen auf den Plan.
Ein Thema allerdings wurde zu einem der treibenden Motive des letzten Drittels seines Lebens: die europäische Einigung.
Schon früh entwickelte Schmid konkrete Vorstellungen eines geeinten Europas und eines Systems kollektiver europäischer Sicherheit. Im Parlamentarischen Rat setzte er durch, dass für die Einordnung der Bundesrepublik in europäische und internationale Organisationen ein einfaches Gesetz ausreicht (Weber 1998: 360). In der Nachkriegsphase standen seine Ideen eines sich immer weiter integrierenden Europas, bei dem die Nationalstaaten erhalten blieben, aber zugleich in signifikantem Umfang Souveränitätsrechte auf einen gemeinsamen europäischen Körper übertrugen, mitunter in deutlichem Widerspruch zur Parteiführung.
Dass die SPD ihre Positionen schrittweise weiterentwickelte und schließlich selbst zu einem Treiber der Integration wurde, ist auch Schmids Verdienst. Schon in den 1960er-Jahren entwickelte er die Vorstellung, dass Europa eine gemeinsame Währung brauche, die von einer gemeinsamen Wirtschafts-, Haushalts- und Sozialpolitik begleitet sein müsse.
Insofern war es konsequent, dass das letzte Amt, das er mit Engagement bis zu seinem Tod 1979 ausübte, das Amt des Koordinators der deutsch-französischen Beziehungen war.
Schmid ist in die Reihe der Verfassungsrechtler einzuordnen, die sich der Bedeutung materiellen Rechts bewusst waren, um Soziale Demokratie zu verwirklichen. Er wusste die besondere Gelegenheit zu nutzen, dieses Wissen bleibend dem deutschen Grundgesetz einzuschreiben. Seine Bedeutung für aktuelles politisches Gestalten liegt aber mindestens ebenso sehr in seiner leidenschaftlichen Europapolitik begründet, die in Zeiten, in denen die europäische Einigung massiv gefährdet ist, mehr als zeitgemäß ist.
»Wir alle irren, wenn wir glauben, wir könnten Europa schaffen, wenn wir es halb schaffen. Wenn Europa werden soll, dann muß man aufs Ganze gehen.« (Schmid in Friedrich-Ebert-Stiftung 1997: 34).