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Herbert Wehner (1906–1990) war eine Schlüsselfigur der SPD, der bekannt war für seinen Einsatz für die ideologische Modernisierung der Partei und die Übernahme der Regierungsverantwortung. Seine politische Laufbahn begann er als Anarchist, wandte sich dann dem Kommunismus zu, bevor er in den politischen Untergrund ging und schließlich 1946 in die SPD eintrat. Wehner prägte als streitbarer Politiker und Stratege maßgeblich die Große Koalition von 1966 und die sozialliberale Koalition. Trotz seiner umstrittenen Vergangenheit und seines oft polarisierenden Auftretens erwarb Wehner großen Respekt für seine politischen Leistungen.
Hören Sie den Eintrag zu Herbert Wehner auch als Hörbuch. (Hörzeit 12:18 Minuten)
Herbert Wehner (* 11.7.1906 · † 19.1.1990) war sicher einer der umstrittensten und geheimnisvollsten Politiker der Bundesrepublik, ein Mann, der die Menschen polarisierte wie kaum ein anderer. Wehner ist nicht nur durch die Klugheit in Erinnerung geblieben, mit der er die SPD ins bürgerliche Lager führte, sondern auch durch seine Ausbrüche im Bundestag. Mit 58 Verwarnungen war er der Politiker mit den meisten Ordnungsrufen.
Der in Dresden geborene Politiker hatte viele Facetten: Die einen nannten ihn – oft in angemaßter Vertraulichkeit – »Onkel«. Andere fürchteten die harte Hand, mit der er die Fraktion führte und gestandene Abgeordnete demütigte. Selbst politische Gegner aber bewunderten seine Lebensleistung und vertrauten ihm. Die »Süddeutsche Zeitung« nannte ihn einst einen »mitfühlenden Vulkan«.
Man muss zurückgehen in seine jungen Jahre, um verstehen zu können, wie aus Herbert Wehner trotz seiner kurvenreichen Biografie einer der einflussreichsten Politiker innerhalb der SPD werden konnte. Er wuchs auf in einer zerfallenden Familie mit einem alkoholkranken Vater. Um Bildung und Ausbildung musste er kämpfen. Schon als Jugendlicher suchte er eine politische Heimat. Er verachtete die in seinen Augen kleinbürgerliche, zaghafte SPD der Weimarer Republik und landete zunächst bei den Anarchisten um den Schriftsteller Erich Mühsam. Doch enttäuscht wandte er sich bald ab, das war ihm alles zu verspielt, zu chaotisch. Warum er sich den Kommunisten anschloss, hat er später einmal so erklärt:
»Mich hat es damals gedrängt, etwas zu tun und nicht nur zu reden und nicht nur zu deklarieren. Und ich fand, das war die Möglichkeit, organisiert etwas zu tun.« (Meyer 2006: 39)
Mit 24 Jahren schon saß er für die Kommunisten im sächsischen Landtag und kassierte dort innerhalb eines halben Jahres 27 Ordnungsrufe!
1933 tauchte er ab in den politischen Untergrund. Es waren gefahrvolle Jahre, in denen er zusammen mit vielen anderen Genossen versuchte, die Partei zusammenzuhalten. Aus diesen Jahren datiert auch seine Freundschaft zu Erich Honecker und seine Bekanntschaft mit Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. 1937 wurde Wehner, inzwischen Mitglied des Zentralkomitees der KPD, nach Moskau beordert. Unter seinem Decknamen Kurt Funk wohnte er im berühmt-berüchtigten Hotel Lux, in dem linke Emigranten aus vielen europäischen, von den Deutschen besetzten Ländern lebten. Es war die Zeit des stalinistischen Terrors, und die Gerüchte verstummten nie, Wehner habe Genossen denunziert. Langjährige politische Weggenossen wussten, wie die Verletzungen dieser Schreckenszeit – und vielleicht auch seine Schuldgefühle – ihn geprägt haben, ihn unduldsam, schroff, misstrauisch machten.
In Schweden wurde er wegen Spionageverdachts verhaftet und verurteilt. In dieser Zeit, so sagte er selbst später, vollzog sich sein Wandel vom Kommunisten zum Sozialdemokraten. Er wurde noch während der Haftzeit aus der KPD ausgeschlossen und trat 1946 nach seiner Rückkehr nach Deutschland sofort in die SPD ein.
Und damit begann eine beispiellose politische Karriere: 1949 bis 1983 Mitglied des Bundestages, 1958 bis 1973 stellvertretender SPDVorsitzender, 1966 bis 1969 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, 1969 bis 1983 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.
Leicht hatte er es nie (und er hat es anderen nicht leicht gemacht): Er blieb stets der leidenschaftliche, laute, verletzende und verletzte Herbert Wehner, der zwar von vielen geachtet, aber gleichzeitig auch gefürchtet wurde. Für die einstigen KP-Genossen war er der Abtrünnige, der Verräter, für viele Konservative und manche Sozialdemokraten blieb er zeitlebens der von Moskau gesteuerte Kommunist, dem nicht zu trauen war.
Sein Ziel war es, die SPD für das Bürgertum salonfähig und damit regierungsfähig zu machen. Und dafür musste sie zunächst ideologischen Ballast abwerfen. Das geschah mit dem Godesberger Programm: Die damals noch in Teilen marxistisch orientierte SPD, kirchenfern und pazifistisch, formte er entscheidend mit um zu einer linksbürgerlichen Partei. Und das geschah außerdem mit seiner Grundsatzrede vor dem Deutschen Bundestag am 30. Juni 1960, mit der er den außenpolitischen Kurswechsel der SPD einläutete: hin zur Westbindung und Anerkennung der Mitgliedschaft in der NATO.
Ohne Godesberg und ohne den außenpolitischen Kurswechsel hätte es die Große Koalition von 1966 nicht gegeben. Sie war vor allem sein Werk und, zwar gegen heftigen Widerstand aus der eigenen Fraktion und aus der gesamten Partei. Der richtete sich vor allem gegen die Absicht der Union, Franz Josef Strauß zum Bundesfinanzminister zu machen. Undenkbar für viele Politiker und Bürger innerhalb und außerhalb der SPD, denn es war jener Strauß, der wenige Jahre zuvor die »Spiegel«-Affäre losgetreten und damit einen Proteststurm im Land hervorgerufen hatte. Strauß war die Kröte, die viele Abgeordnete keinesfalls schlucken wollten – und dann doch schlucken mussten. Annemarie Renger schätzte, dass die Hälfte der Fraktion zunächst mit Nein stimmen wollte.
Hinzu kam: Man wollte 21 Jahre nach Kriegsende nicht in einer Regierung mit einem Bundeskanzler Kiesinger sitzen, der schon im Mai 1933 in die NSDAP eingetreten war – bei einem Mann vom Jahrgang 1904 konnte das nicht als Jugendsünde durchgehen. Für viele Sozialdemokraten war das eine unerträgliche Vorstellung, vor allem für die Älteren, die selbst Opfer der Nazis gewesen waren. Es gab damals viele Demonstrationen im Land gegen diese Zumutungen, heftig war auch der Protest der Gewerkschaften. Wehner, der Regisseur der Verhandlungen, taktierte deshalb zunächst ruhig, abwartend und vorsichtig, um sein Ziel, die Regierungsfähigkeit der SPD zu beweisen, nicht zu gefährden. Er beruhigte seine Partei mit den Sätzen:
»Die SPD ist nicht bereit, in ein solch zerwühltes, ungemachtes Bett zu steigen, wenn ich mich dieses nicht ganz passenden Bildes bedienen darf. Die SPD wird von jedem, der auf sie zukommen wird, wissen wollen, wohin die Reise gehen soll, damit sie sich Punkt für Punkt dazu äußern und ihre eigene Auffassung dazu sagen kann.«
Er setzte sich durch, und diese erste Große Koalition erwies sich als Glücksfall der Geschichte, für die SPD, aber auch für das Land. Außenminister Willy Brandt (S. 67-72) warb für eine neue Ostpolitik, die Justizminister Heinemann und Ehmke bliesen mit ihren gesellschaftspolitischen Reformen den Mief aus dem Land. Wehner kümmerte sich als gesamtdeutscher Minister vor allem um Erleichterungen für DDR-Bürger, die ausreisen wollten oder in DDR-Gefängnissen saßen. Viele politische Häftlinge in der DDR hatten Grund, ihm dankbar zu sein.
Wehner wollte die Große Koalition nach den Wahlen von 1969 fortsetzen. Er traute Willy Brandt die Kanzlerschaft nicht zu und misstraute den Liberalen. Als er die sozialliberale Koalition nicht verhindern konnte, entschied er sich für den Fraktionsvorsitz, unter Brandt wollte er nicht Minister sein. Viele Wegbegleiter von damals sind bis heute der Meinung, dass diese Koalition ohne Wehner nicht 13 Jahre gehalten hätte, denn er hielt trotz aller Vorbehalte den immer wieder auseinanderstrebenden Laden zusammen.
Auch hier aber gibt es die andere Seite des rätselhaften Herbert Wehner. Etwa die Kälte, mit der er an der Demontage Willy Brandts arbeitete (»Der Herr badet gern lau«), längst bevor die Guillaume-Affäre hohe Wellen schlug.
Horst Ehmke, bis 1972 Kanzleramtsminister Willy Brandts, hat das in seinem Buch »Mittendrin« so beschrieben:
»Zwischen Brandt und Wehner zugleich Botschafter, Dolmetscher und Blitzableiter zu sein, war in jenen Jahren eine meiner wichtigsten Aufgaben. Denn einerseits war ihre Zusammenarbeit für den Erfolg der Regierung entscheidend, andererseits wurde die Unvereinbarkeit ihrer Seelen in jenen Jahren zum Ereignis. Für Wehner blieb das ehemalige SAP-Mitglied Brandt ein jugendbewegter Sektierer, unseriös und ›lau‹. Für Brandt litt Wehner unter den Neurosen seiner KP-Zeit.« (Ehmke 1994: 197)
Mit Helmut Schmidt arbeitete Wehner nach Brandts Rücktritt bis zum Ende der Koalition 1982 absolut solidarisch zusammen. Seine Auftritte im Bundestag wurden legendär. Etwa seine Ausbrüche gegen Strauß, der nun wieder vom Kabinettskollegen zum Feindbild geworden war, etwa durch seine Sonthofen-Rede Ende 1974, in der er der sozialliberalen Fraktion vorwarf, in ihren Reihen sitze »ein ganzer Haufen von Sympathisanten der Baader-Meinhof-Verbrecher«. Wehners Antwort darauf während einer Bundestagsdebatte 1975 ist Geschichte geworden:
»Ihnen kommt es nicht darauf an, dass Terroristen lahmgelegt und unschädlich gemacht werden, sondern [...] möglichst viele als in ihrem Dunstkreis befindlich zu verdächtigen. Das ist alles, was Sie im Kampf gegen den Terrorismus interessiert, denn Sie sind selbst geistig ein Terrorist. Der Herr Strauß ist geistig ein Terrorist, habe ich gesagt. Geistig!« (Wehner in der Bundestagsdebatte zur Inneren Sicherheit am 13. März 1975)
Herbert Wehner blieb für viele Genossen sein Politikerleben lang undurchschaubar: Er war der Regisseur der Verhandlungen, die dem Land einen Bundeskanzler Kiesinger bescherten und den seit der »Spiegel«-Affäre verfemten Franz Josef Strauß rehabilitierten.
Er zimmerte die sozialliberale Koalition mit, obwohl er von den Liberalen nichts hielt. Er demontierte den Bundeskanzler Willy Brandt, obwohl der in der Partei und weit darüber hinaus geachtet, ja geliebt wurde. Er war konspirativ, misstrauisch, hart, extrem machtbewusst, aber eben auch weich bis zur Sentimentalität, großzügig, ein bedingungsloser Familienmensch.
Und seine Auftritte und Ausbrüche im Bundestag: Waren sie kühl kalkuliert, zeigte sich hier sein Jähzorn oder die nackte Verzweiflung eines Mannes, der sich ewig missverstanden fühlte? Vielleicht gibt seine Rede 1972 am Grab von Leo Bauer, dem geachteten Chefredakteur der Neuen Gesellschaft eine Antwort, vielleicht sprach er damals über sich ebenso wie über Leo Bauer:
»Er hatte bis zuletzt zu ertragen, was ehemalige Kommunisten ihr Leben hindurch zu tragen haben, wenn sie ihre Seele nicht umzuschmelzen imstande oder umschmelzen zu lassen bereit sind – nämlich sich dafür verantworten zu müssen, dass sie es einmal geworden sind, dafür, wie lange sie es waren, und dafür, dass sie unter welchen Umständen es dann mit welchen Aussichten auf das, was danach kommen könne, geändert haben.« (Zitat aus: Ehmke 1994, S. 197 f.)
In den letzten Jahren seines Lebens wurde er zu einem wegen seines Gedächtnisverlustes hilflosen, verängstigten Menschen. Nach dem Tod seiner Frau Lotte hatte er seine Stieftochter Greta geheiratet, die Jahrzehnte lang seine engste Mitarbeiterin gewesen war und über seine Gesundheit gewacht hatte. Sie wurde nun seine Pflegerin, schirmte ihn ab vor der Welt. Er starb 1990 an der Alzheimer Krankheit. Die Wiedervereinigung, auf die er Jahrzehnte seines Lebens hingearbeitet hatte, durfte er bewusst nicht mehr erleben. Auch das ist eine besondere Tragödie in dem an Tragödien reichen Leben Herbert Wehners.