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Karl Schiller (1911-1994) war ein prägender SPD-Wirtschaftspolitiker, dessen Denken durch die Synthese aus freiheitlichem Sozialismus, Keynesianismus und ordoliberalen Ansätzen gekennzeichnet ist. Schiller entwickelte sich als Bundeswirtschaftsminister und "Superminister" nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem führenden Kopf einer modernen und sozial gerechten Wirtschaftspolitik. Schillers Betonung von Chancengerechtigkeit, sein Plädoyer für einen pragmatischen Sozialismus und die Überzeugung, dass Politik wissenschaftlich fundiert sein muss, bleiben zentrale Aspekte seines Wirkens.
Hören Sie den Eintrag zu Karl Schiller auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:00 Minuten)
Karl Schiller (* 24.4.1911 · † 26.12.1994) wurde in Breslau geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen in Kiel auf. 1931 absolvierte er sein Abitur und nahm sein Studium der Nationalökonomie auf, zunächst bei Adolph Löwe in Kiel, dem er nach Frankfurt folgte, dann schließlich in Berlin bei Emil Lederer. Schiller kam damit bereits während seines Studiums in Berührung mit den Ideen des freiheitlichen Sozialismus. (Lütjen 2007)
1935 erfolgte die Promotion in Heidelberg. Er war bereits 1933 der SA beigetreten, 1937 erfolgte schließlich der Eintritt in die NSDAP. Die Motive waren opportunistischer Natur, da nur auf diese Weise die Berufung auf eine Professur realistisch erschien; ein überzeugter Nationalsozialist war Schiller nicht.
Nach der Promotion wechselte Schiller an das Institut für Weltwirtschaft (IfW) nach Kiel, wo er 1939 habilitierte. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges leitete Schiller eine eigene Forschungsgruppe am IfW, die für das Oberkommando der Wehrmacht wirtschaftliche Analysen über fremde und feindliche Länder erstellte. 1942 wurde Schiller zur Wehrmacht eingezogen und kämpfte bis 1945 am Nordabschnitt der Ostfront.
Nachdem er 1946 mit dem sogenannten Schiller-Plan zum Wiederaufbau Hamburgs von sich Reden gemacht hatte, wurde er 1948 zum Wirtschaftssenator der Hansestadt ernannt. Zu dieser Zeit beginnt auch Schillers Engagement als Vordenker und Reformator sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik (Lütjen 2007).
1961 folgte Schiller dem Ruf Willy Brandts (S. 67-72) nach Berlin und wurde dort Wirtschaftssenator. 1965 wechselte er gemeinsam mit Brandt nach Bonn und wurde Mitglied des Deutschen Bundestages, wo er sich bald als rhetorisch wirksamster sozialdemokratischer Wirtschaftspolitiker profilierte. 1966 wurde Schiller Wirtschaftsminister im Kabinett Kiesinger. Gemeinsam mit Finanzminister Franz Josef Strauß überwand er die erste wirtschaftliche Krise in der noch jungen Geschichte der Bundesrepublik mithilfe antizyklischer, keynesianisch inspirierter Nachfragepolitik. Es folgte sein steiler Aufstieg zum zeitweise beliebtesten deutschen Politiker und regelrechten Politstar. Folglich galt die Bundestagewahl 1969 als »Schiller-Wahl«, in der es vor allem um die konträre Position zwischen SPD und CDU/CSU zur Frage der Aufwertung der Deutschen Mark ging.
Auch im ersten Kabinett Brandt bekleidete Schiller zunächst die Rolle des Wirtschaftsministers. Nach dem Rücktritt Alex Möllers im Mai 1971 übernahm er zusätzlich noch die Verantwortung für das Finanzressort und wurde somit zum ersten »Superminister« in der Geschichte der Bundesrepublik. Allerdings häuften sich die Streitigkeiten sowohl im Kabinett als auch mit der eigenen Partei. Schiller rückte dabei vor allem in das Zielfeld der Parteilinken, die ihn für einen strukturkonservativen Reformbremser hielten, während Schiller seinerseits zu der Überzeugung gelangt war, dass die Republik mit ihrer Politik der »inneren Reformen« begann, über ihre Verhältnisse zu leben. Auch im Kabinett kam es wiederholt zu schweren, teils sehr persönlichen Zusammenstößen, insbesondere mit dem Verteidigungsminister Helmut Schmidt. Den letzten Anlass für Schillers Rücktritt im Juni 1972 bot ein Streit um die Währungspolitik. Schiller vollzog in den Monaten danach eine bemerkenswerte Volte: Er trat aus der SPD aus und unterstützte bei der folgenden Bundestagwahl 1972 zusammen mit Ludwig Erhard die CDU/CSU.
Schiller war fraglos ein brillanter Ökonom und glänzender Verkäufer wie Erklärer von Wirtschaftspolitik gewesen. Gleichzeitig galt er jedoch als ebenso eitel wie empfindlich gegenüber jedweder Kritik. Die Ereignisse von 1972 machten ihn für lange Zeit zur Judasfigur der Deutschen Sozialdemokratie. Gleichwohl trat er 1980 – auf Initiative Oskar Lafontaines – wieder in die SPD ein. Partei- oder Regierungsämter übte er jedoch nicht mehr aus. Karl Schiller verstarb 1994 in Hamburg.
Schillers wirtschaftspolitisches Selbstverständnis speiste sich aus vier Quellen, mit deren Hilfe er eine für die Sozialdemokratie zeitweise äußerst erfolgreiche intellektuelle Synthese herstellte.
Zum einen verstand sich Schiller als freiheitlicher Sozialist. Orientiert an den Lehren Adolf Löwes, Emil Lederers und Eduard Heimanns trat Schiller nach 1945 für ein flexibles Sozialismusverständnis ein. Die Idee eines einzigen Sozialismus sei, so Schiller, ein naiver »Märchenglaube« (Schiller 1958b: 250). Der einzige Wert, der sich angesichts der totalitären Experimente der Zwischenkriegszeit noch nicht erledigt habe, war für Schiller jener der Freiheit. Ansonsten bedeute Sozialismus für ihn vor allem eine Gesellschaft, die sich durch ein »entprivilegiertes Aufstiegssystem« auszeichne und die ein »Höchstmaß an sozialer Kapillarität« garantiere. Nur auf diese Weise, so Schiller, sei der Aufstieg der »hellen Köpfe« garantiert (Schiller 1958: 253). Unter »Gerechtigkeit« verstand Schiller daher bereits sehr früh und noch vor allen Theoretikern eines dritten Weges vor allem Chancengerechtigkeit. Umverteilungsfragen hingegen spielten in dieser Sozialismusdefinition, wenn überhaupt, nur eine sehr geringe Rolle (Grebing 2000: 415 ff.). Auch die Frage nach Plan oder Markt war für Schiller keine dogmatische: Beides seien schließlich nur komplementäre Instrumente aus dem Werkzeugkasten aufgeklärter Ökonomen. In seiner Rede auf einer wirtschaftspolitischen Tagung der SPD in Bochum fand er dafür die griffige Parole: »Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig.« (Schiller 1953)
Zweitens war Schiller Keynesianer. Dabei waren sowohl Art als auch Zeitpunkt der Aneignung der Lehren des britischen Ökonomen ungewöhnlich: Schiller wurde im Grunde in der Zeit des Nationalsozialismus Keynesianer. In seiner Dissertation hatte Schiller als einer der ersten Deutschen Ökonomen das nationalsozialistische System der Arbeitsbeschaffung mit der keynesianischen Lehre theoretisch amalgamiert. Nicht zufällig lobte Schiller daher in jenen Jahren auch den »New Deal« Franklin D. Roosevelts: Beide waren in seinen Augen nur die nationalen Spielarten des globalen Siegeszuges einer neuen antizyklischen Konjunkturpolitik und signalisierten zugleich das Abrücken von rein wirtschaftsliberalen Prinzipien. Auch die Sozialdemokratie brachte er seit den 1950er- Jahren zur Adaption keynesianischer Wirtschaftsprinzipien. Schiller wollte durch eine gesetzlich kodifizierte antizyklische Wirtschaftssteuerung die Ziele des sogenannten magischen Vierecks (Preisstabilität, Vollbeschäftigung, Wachstum, außenwirtschaftliches Gleichgewicht) erreichen. Diese Schiller’sche Variante des Keynesianismus ging unter dem Begriff der »Globalsteuerung« in die bundesrepublikanische Wirtschaftsgeschichte ein.
Drittens verstand sich Schiller selbst als Adepten der Freiburger Schule des Ordoliberalismus. In seinen eigenen Worten versuchte er damit, den »Freiburger Imperativ« mit der »Keynesianischen Botschaft« zu versöhnen (Schiller 1962). Für Schiller bedeutete das vor allem, dass der Staat zwar über die Globalsteuerung in die makrowirtschaftlichen Abläufe intervenierte, sich aus den Beziehungen zwischen den Wirtschaftssubjekten aber so gut es ging heraushalten beziehungsweise nur dann intervenieren sollte, wenn es hier zu Störungen der Wettbewerbsordnung kam. Gleichwohl: Schon seine akademischen Lehrer Heimann, Löwe und Lederer hatten vor der marktbeherrschenden Macht von Kartellen und Monopolen gewarnt; auch für sie blieb der Kampf gegen monopolistische Strukturen ein Wesensmerkmal eines freiheitlichen Sozialismus. So lässt sich im Grunde darüber streiten, wie konstitutiv die Ansichten Walter Euckens für sein Denken wirklich waren.
Ein vierter und zu allen vorher genannten Aspekten quer stehender Aspekt ist Schillers technokratisches Credo: Er war davon überzeugt, dass die Verwissenschaftlichung von Politik ein entscheidendes Merkmal moderner Gesellschaften sei und somit in Zukunft Experten und Fachmänner über die Geschicke des Staates entscheiden würden (Schiller 1955; Lütjen 2007). Eine besondere Rolle erfüllte dabei laut Schiller der Ökonom, der schließlich in seinem methodischen Rüstzeug und der Exaktheit und Präzision seiner Vorhersagen anderen Sozialwissenschaftlern weit überlegen sei, wodurch die Ökonomik zu einer »anwendbaren Funktionswissenschaft« geworden sei (Schiller 1962: 226). Im Kontext der 1960er-Jahre verbanden sich damit dezidierte Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt, die von der SPD genutzt wurden, sie als »Partei der optimistischen Technokratie« (Walter 2002: 162) weiter in die Mitte vorrücken zu lassen und ihr zu einem Image von Modernität und Kompetenz zu verhelfen. Überdies war Schillers technokratischer Impetus anschlussfähig an die Planungseuphorie der 1960er-Jahre. Allerdings führte eben dieser überbordende Glaube an die Möglichkeiten einer rationalen Beherrschung der Unwägbarkeiten wirtschaftlicher Abläufe später zu einer Entzauberung des Wirtschaftsfachmannes – insbesondere nach dem Nichteintreten vieler seiner Prognosen.
Schillers Bedeutung für die Theorie der Sozialen Demokratie ist für die Gegenwart nur schwer einzuordnen. Durch seine politische Odyssee nach 1972 galt er vielen Sozialdemokraten bis zum Ende als Persona non grata, was seine Rezeption erheblich erschwert haben dürfte. Schillers eigenes Werk erscheint äußerst komplex, im Grunde sogar widersprüchlich. Wegen seines Synthesecharakters bleibt es auch offen für die Instrumentalisierung verschiedener Interessen und Standpunkte. So dient Schiller heute vielen eher »rechten« Sozialdemokraten als früher Warner vor einem aus dem Ruder laufenden Anspruchsdenken und für die Mahnung, dass dem Markt vor dem Staat im Zweifelsfall der Vorrang gebühren müsse. Dabei war Schillers eigentliche wirtschaftshistorische Leistung ja eine ganz andere: die Popularisierung und Durchsetzung einer keynesianischen Wirtschaftspolitik. Eine solche Politik jedoch genießt heute in der SPD nur noch erstaunlich wenige und nur sehr leise Befürworter.