100 Jahre FES! Mehr erfahren

Hermann Heller

Sozialismus ist nicht Aufhebung, sondern Veredelung des Staates. Der Arbeiter kommt dem Sozialismus um so näher, je näher er dem Staate kommt. Hermann Heller

Kurzbiografie

Hermann Heller (1891-1933), ein führender Weimarer Rechtsgelehrter und Sozialdemokrat, setzte sich für den demokratischen Verfassungsstaat ein, mit dem Ziel, eine sozialistische Gesellschaft zu formen. Er prägte das Konzept des "sozialen Rechtsstaats", das auf die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung abzielte und die Bedeutung der nationalen Kultur betonte. Trotz seiner Flucht vor den Nazis und seinem frühen Tod in Madrid hinterließ Heller einflussreiche Werke, die bis heute demokratische und soziale Gerechtigkeitsdebatten beeinflussen.

Hörbuch

Hören Sie den Eintrag zu Hermann Heller auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:24 Minuten)


Hermann Heller und der soziale Rechtsstaat

von Thilo Scholle

Hermann Heller (* 17.7.1891 · † 5.11.1933) zählt zu den bedeutendsten Rechtsgelehrten der Weimarer Republik. Der demokratische Verfassungsstaat bildete für ihn den politischen Boden, auf dem für eine gesellschaftliche Entwicklung hin zum Sozialismus gekämpft werden sollte. Sozialismus verstand Heller dabei nicht als fest defi niertes Gesellschaftsbild, sondern als ein »zeitloses Ideal der Gerechtigkeit« (Schluchter 1983: 120). In den Debatten über die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung innerhalb der Sozialdemokratie und innerhalb der Rechtswissenschaft gehörte Heller zu den entschiedensten Verteidigern der Republik.

Zugleich wies er stets auf die negativen Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung für die demokratische Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger hin. Die vom Sozialismus erstrebte Ordnung ziele nicht nur auf das »juristisch gleich vergesellschaftete«, sondern auch auf das »ökonomisch vergemeinschaftete Volk.« (Heller 1971, GS I: 375) Die Begriffe Sozialismus und Soziale Demokratie hätten daher letztlich die gleiche Bedeutung.

Geboren wurde Heller in der damals zu Österreich-Ungarn und heute zu Polen gehörenden Stadt Teschen in ein bürgerliches, jüdisches Elternhaus. Nach dem Abitur studierte er in Kiel, Leipzig, Berlin und Frankfurt am Main Rechtswissenschaften. Als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg zog er sich an der österreichisch-russischen Front ein schweres Herzleiden zu, das ihn zeitlebens gesundheitlich belastete.

Nach der Promotion in Graz habilitierte er sich im März 1920 in Kiel. Einen Tag vor seiner Habilitation war er in die SPD eingetreten, behielt sich aber ausdrücklich die Ablehnung der von ihm als Parteidogmen wahrgenommenen Konzepte des Historischen Materialismus und des Internationalismus vor. Gemeinsam mit Gustav Radbruch (S. 269-275) leistete er während des Kapp-Putsches in Kiel Widerstand und geriet kurzzeitig in Gefangenschaft.

Der Beginn seiner akademischen Karriere verlief schleppend. Zwar konnte er als Privatdozent in Kiel und dann in Leipzig tätig sein, musste seinen Schwerpunkt aber zunächst auf das neu erblühende Volkshochschulwesen legen. So amtierte er u. a. als Leiter des Amtes für Volksbildung in Leipzig und engagierte sich intensiv in der Arbeiterbildung. Nachdem er 1926 an das renommierte Kaiser-Wilhelm-Institut für Völkerrecht in Berlin wechseln konnte, erhielt er an der dortigen Universität 1928 seine erste außerordentliche Professur. Erst 1932 gelang es, ihn – gegen harte Widerstände reaktionärer Kreise in der Fakultät – auf einen ordentlichen Lehrstuhl in Frankfurt am Main zu berufen.

Im Jahr 1932 vertrat Heller die abgesetzte Regierung des Landes Preußen – allerdings erfolglos – vor dem Reichsgericht in der Klage gegen den »Preußenschlag«. Als Jude und Sozialdemokrat doppelt gefährdet, kehrte Heller im Frühjahr 1933 von einer Vortragsreise nach Großbritannien nicht mehr nach Deutschland zurück, sondern nahm eine Gastprofessur in Madrid an. Intensiv arbeitete er dort an der Ausarbeitung seiner »Staatslehre«, die er nicht mehr vollständig fertigstellen konnte. Am 5. November 1933 starb Heller in Madrid an den Spätfolgen seines Kriegsleidens.

Die wissenschaftliche Schaffenszeit Hermann Hellers umfasst nur wenig mehr als ein gutes Dutzend Jahre. Trotzdem war er in dieser Zeit enorm produktiv. Neben etlichen Aufsätzen und Vorträgen entstanden dabei auch einige Monografi en, so der für die innerparteiliche Debatte geschriebene Text »Sozialismus und Nation« (Heller 1971, GS I: 437 ff.) sowie als Ergebnis eines sechsmonatigen Studienaufenthalts in Italien »Europa und der Fascismus« (Heller 1971, GS II: 463), ferner die posthum erschienene »Staatslehre« (Heller 1971, GS III: 79 ff.).

 

Staatslehre

Hellers verfassungstheoretische Positionierungen fanden in unterschiedlichen politischen Arenen statt: zunächst innerhalb der zeitgenössischen rechtswissenschaftlichen Debatten, wo er entschieden für die rechtsstaatliche Verfassung eintrat, die er als positives Endergebnis eines gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses verstand. Darüber hinaus beteiligte sich Heller intensiv an den Debatten innerhalb der Sozialdemokratie. Hier argumentierte Heller gegen revolutionäre Vorstellungen politischer Veränderung und für eine Weiterentwicklung des bestehenden liberalen Rechtsstaats hin zu einem »sozialen Rechtsstaat« (Heller 1971, GS II: 450).

Verfassung war für Heller zunächst ein Ausdruck der tatsächlichen Machtverhältnisse (vgl. Heller 1971, GS II: 373). Wirklich gut sei eine Verfassung aber nur dann, wenn sie ausreichend Raum für zukünftige politische Gestaltung lasse (a. a. O.: 373). Heller entwickelte damit ein Verständnis von Staatslehre als Gesellschaftslehre. Ein rein positivistisches, also die bestehenden Normen logisch ordnendes Verfassungsverständnis lehnte er ab (Heller 1971, GS II: 9). In den Blick genommen werden sollte die »Totalität der gesellschaftlichen Strukturen«, und damit sowohl ökonomische wie nicht ökonomische Fragen (Heller 1983: 121 f.).

Eine gesellschaftliche Ordnung ohne staatliche Strukturen konnte sich Heller nicht vorstellen. Ein Absterben des Staates sei nur möglich bei völliger Homogenisierung der Gesellschaft, was aber unwahrscheinlich sei (vgl. Heller 1983: 194). Der gesellschaftliche Mensch brauche eine politische Ordnung. Die Vorstellung von absoluter Freiheit sei eine religiöse, keine politisch-gesellschaftliche Idee (Heller 1971, GS I: 496).

 

Sozialismus und Nation

Innerhalb der Sozialdemokratie beteiligte sich Heller intensiv an innerparteilichen Debatten. Politisch stand er dabei den jüngeren Vertretern eines ethischen Sozialismus nahe, wie sie sich im Hofgeismarer Kreis der Jungsozialisten trafen. Mit ihnen teilte er auch eine positive Bezugnahme auf die deutsche Nation als Fixpunkt des eigenen politischen Denkens und Handelns. Die Hofgeismarer boten ihn denn auch als intellektuellen Vordenker auf, als auf der 3. Reichskonferenz der Jungsozialisten 1925 in Jena die Kontroverse über Nationalismus und Internationalismus im Verband entschieden werden sollte. Für den konkurrierenden marxistischen Flügel um den »Hannoveraner Kreis« ergriff der Austromarxist Max Adler Partei. Adler wandte sich vor allem dagegen, den Staat im Kapitalismus als Boden für gesellschaftliche Veränderung zu begreifen. Nach intensiven Debatten folgten die Jungsozialisten mehrheitlich der Position Adlers (vgl. Heller 1971, GS I: 527 ff.).

Heller dagegen konnte sich den Sozialismus nur auf dem Boden des Nationalstaats und vor dem kulturellen Hintergrund einer Nation vorstellen:

»So sicher uns die sittliche Vernunftidee des Sozialismus aufgegeben ist, so sicher wird sie nur an und in Gemeinschaftskörpern verwirklicht werden, die durch feste, Jahrtausende alte Lebensordnungen zusammengehalten sind.« (Heller 1926, GS I: 481).

Dabei grenzt sich Heller von einem völkischen Begriff der Nation ab und definiert Nation in erster Linie als Kulturgemeinschaft, die allerdings eine »endgültige Lebensform« sei, die durch den Sozialismus weder beseitigt werden könne noch beseitigt werden solle. Sozialismus bedeute nicht Ende, sondern die Vollendung der nationalen Gemeinschaft. Letztlich gehe es nicht um die Vernichtung der nationalen Volksgemeinschaft durch die Klasse, sondern die Aufhebung der Klasse durch eine »wahrhaft nationale Volksgemeinschaft« (Heller 1971, GS I: 468).

 

Der soziale Rechtsstaat

Leitbegriff in Hellers Staatstheorie war der Begriff des »sozialen Rechtsstaats«. Mit dieser Idee verband Heller die Ausdehnung des Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeits- und Wirtschaftsordnung, die »rechtsstaatliche Vergesetzlichung der Wirtschaft« (Heller 1971, GS II: 461), mithin eine demokratische Beeinflussung und Steuerung der Entwicklung der Produktionsverhältnisse. Die Zukunft der abendländischen Kultur sei nicht durch die Ausdehnung des Gesetzes auf die Wirtschaft, sondern durch die Diktatur und die »anarchische Raserei unserer kapitalistischen Produktion« – die keine Zeit für kulturschöpferische Tätigkeiten mehr lasse – bedroht (a. a. O.: 461 f.). Mit dieser Argumentation war für Heller die Entscheidung zwischen faschistischer Diktatur und sozialem Rechtsstaat auch für gesellschaftliche Gruppen jenseits der Arbeiterbewegung eigentlich überzeugend begründet (Heller 1971, GS II: 462).

Letztlich konnte Heller mit dieser Argumentation zu Lebzeiten keine große politische Wirkung erzielen. Es ist auch zu fragen, ob diese auf Konsens und Überzeugung basierende Politikkonzeption bei sich zuspitzenden gesellschaftlichen und ökonomischen Konflikten gegen Ende der Weimarer Republik überhaupt Erfolg versprechend sein konnte. Dies umso mehr, als er vom Bürgertum mit der Idee des sozialen Rechtsstaats die Zustimmung zu einer Gesellschaftsordnung erhoffte, die die materiellen Grundlagen der eigenen Privilegien jedenfalls zumindest infrage stellen, wenn nicht gar überwinden wollte.

 

Nachwirkungen

Hellers Vorstellung von Staat und Verfassung als Rahmen für die Austragung gesellschaftlicher Kämpfe wurde nach dem Ende der NS-Diktatur wieder aufgegriffen. Insbesondere der Marxist Wolfgang Abendroth (S. 33-39) bezog sich auf Heller, um die grundsätzliche Offenheit des Grundgesetzes für Veränderungen bis hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu begründen. An dieser Stelle lässt sich auch aktuell noch ansetzen, denn es bleibt nach wie vor ein sinnvoller und Erfolg versprechender Ansatz, die Verfassungsordnung als Rahmen für die Austragung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Richtungsentscheidungen zu verstehen, als ein sich immer wieder erneuernder Kompromiss unterschiedlicher Interessen und Zielvorstellungen.

Hellers Vorstellungen von der Nation sind überholt. Spätestens mit der Realität eines Einwanderungslandes sind wesentlich dynamischere Vorstellungen von Identität und Pluralität in einer Gesellschaft nötig, als sie Hellers Definition von Nation als Kulturgemeinschaft ermöglicht. Hinzu kommt, dass der nationalstaatliche Rahmen – unter anderem im Kontext der europäischen Einigung – nicht mehr alleiniger Ort staatlicher Willensbildung und Entscheidung ist.

Was Heller letztlich unterschätzte, war das fehlende Interesse der Kapitalseite sowie großer Teile des Bürgertums an wirklich umfassenden und durchgreifenden demokratischen Gesellschaftsstrukturen. Gerade deshalb bleibt eine der Denkaufgaben im Anschluss an Heller die Lösung der Frage, wie sich die Verfassungsordnung der sozialen Demokratie so gestalten lässt, dass wirtschaftliche Macht demokratische Beteiligungs- und Entscheidungsmöglichkeiten nicht mehr aushebeln oder untergraben kann.


Werk

  • Heller, Hermann (1971), Gesammelte Schriften, Bde. 1-3, Leiden.
  • Heller, Hermann (1983), Staatslehre, Tübingen.

Literatur

  • Blau, Joachim (1980), Sozialdemokratische Staatslehre in der Weimarer Republik, Marburg.
  • Llanque, Marcus (Hg.) (2010), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden-Baden.
  • Luthardt, Wolfgang (1986), Sozialdemokratische Verfassungstheorie in der Weimarer Republik, Opladen.
  • Müller, Christoph/Staff, Ilse (Hg.) (1985), Staatslehre in der Weimarer Republik. Hermann Heller zu Ehren, Frankfurt a. M.
  • Schluchter, Wolfgang (1983), Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, Baden-Baden.
  • Waser, Ruedi (1985), Die sozialistische Idee im Denken Hermann Hellers, Basel.

nach oben