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Rudolf Hilferding

[W]ir kennen den Weg, wir kennen das Ziel. Wenn wir kämpfen unter dem Wahlspruch: treu dem sozialistischen Prinzip, unbeirrbar im Ziele der Eroberung der Staatsmacht, aber freie Beweglichkeit für unsere Taktik, dann wird aus der Möglichkeit des Sieges die Wirklichkeit des Sieges werden! Rudolf Hilferding

Kurzbiografie

Rudolf Hilferding (1877-1941) war ein wichtiger SPD-Theoretiker in der Weimarer Republik. Mit seinem Werk "Das Finanzkapital" prägte er die Kapitalismuskritik und sah im "Organisierten Kapitalismus" Ansätze für den Sozialismus. Als Reichsfinanzminister und marxistischer Analytiker befürwortete er Reformen durch den Staat und verteidigte die Demokratie. Nach der NS-Machtübernahme ins Exil geflohen, wurde er 1941 von der Gestapo ermordet. Sein Einfluss auf die Sozialdemokratie und seine kapitalismuskritischen Analysen bleiben prägend und dennoch wird seine historische Rolle kaum entsprechend gewürdigt.

Hörbuch

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Rudolf Hilferding – Zentrist und Analytiker des Kapitalismus

von Michael Reschke

Rudolf Hilferding (* 10.8.1877 · † 11.2.1941) erfuhr stürmischen Beifall nach diesem Schlusspunkt seiner Rede zu den Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927. Nicht der Sieg der Sozialdemokratie jedoch folgte, sondern das Scheitern der Weimarer Republik.

Wie kaum eine zweite repräsentiert die Biografie Hilferdings die Kämpfe, Erfolge und Niederlagen der Sozialdemokratie in, um und für die erste deutsche Demokratie. Im kollektiven Gedächtnis der Sozialdemokratie nimmt er nur einen vergleichsweise geringen Stellenwert ein. Dies obwohl – oder wohlmöglich sogar genau aus diesem Grund – er der führende Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie in der Weimarer Republik war.

 

Austromarxist in Deutschland

Am 10. August 1877 wird Rudolf Hilferding als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Wien geboren. Er entscheidet sich 1896 für ein Studium der Medizin. 1901 promoviert er, als Arzt praktiziert er jedoch nur kurz. Vielmehr interessieren ihn Fragen der Ökonomie. Zu Zeiten seines Studiums engagiert er sich in der sozialdemokratischen Studierendenorganisation »Freie Vereinigung sozialistischer Studenten« und kommt so zur österreichischen Sozialdemokratie. 1902 wird er Mitarbeiter in der von seinem späteren engen Freund und Lehrer Karl Kautsky (S. 166-172) (vgl. Smaldone 2000: 30) herausgegebenen Zeitschrift »Neue Zeit«. 1906 folgt die Berufung als Lehrer an die Parteischule der deutschen Sozialdemokratie nach Berlin. Von 1907 bis 1915 gehört er der Redaktion des Vorwärts an. 1918 übernimmt er die Redaktionsleitung der Parteizeitung »Die Freiheit« der USPD, in die er übertritt. 1919 wird er deutscher Staatsbürger. Er wendet sich strikt gegen die kommunistische Bewegung und kehrt dementsprechend 1922 zur SPD zurück, in deren Parteivorstand er von 1922 bis 1933 Mitglied war. Dem Reichstag gehörte er von 1924 bis 1933 als Abgeordneter an. Zweimal bekleidet er das Amt des Reichsfinanzministers (1923 bzw. 1928/29). 1933 flüchtet er ins Exil. 1941 stirbt Hilferding in Paris in der Haft der Gestapo.

 

Finanzkapitalismus und das Konzept des »Organisierten Kapitalismus«

Hilferdings Hauptwerk erscheint 1910: Das Finanzkapital. Konzipiert als kritische Fortschreibung des Kapitals von Karl Marx (S. 221-227), etabliert es Hilferding als neuen Cheftheoretiker der Sozialdemokratie, der parlamentarische Praxis mit kapitalismusüberwindender Zielstellung versöhnen möchte (Smaldone 2000: 52, 65 f.).

Hilferding untersucht im Finanzkapital Konzentrations- und Monopolisierungsprozesse im Industrie- und Bankenwesen und analysiert dabei aus marxistischer Perspektive den Strukturwandel des Kapitalismus auf nationaler wie internationaler Ebene. Seine Kernthese:

»Das Charakteristische des ›modernen‹ Kapitalismus sind jene Konzentrationsvorgänge, die einerseits in der ›Aufhebung der freien Konkurrenz‹ durch die Bildung von Kartellen und Trusts, andererseits in einer innigeren Beziehung zwischen Bankkapital und industriellem Kapital erscheinen. Durch diese Beziehung nimmt das Kapital [...] die Form des Finanzkapitals an, die seine höchste und abstrakteste Erscheinungsform bildet.« (Zit. n. Smaldone 2000: 53)

Der moderne Imperialismus sei Resultat der Entwicklung des Kapitalismus, da dieser nunmehr vom Finanzkapital und von (Investment-) Banken bestimmt und ein ständiges Expansionsbedürfnis die Folge sei. Die enge Verflechtung staatlicher Organisation und des Wirtschaftsprozesses führe so zu aggressiven und militanten außenpolitischen Zielen. Hilferding entwickelt so eine grundlegende marxistische Imperialismusanalyse. Im Anschluss hieran entwirft Lenin die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (kurz: Stamokap) (vgl. Smaldone 2000: 52 ff.).

Ausgehend von den Konzentrations- und Kartellisierungsprozessen, die Hilferding im Finanzkapital herausarbeitete, entwickelt er im Anschluss sein Konzept des »Organisierten Kapitalismus«. Er vertritt die Position, dass dieser bereits sozialistische Tendenzen aufweise, seine Krisenhaftigkeit im Kern überwunden habe und die Voraussetzung sozialistischer Transformation anhand von Sozialisierungen in sich berge, insbesondere im Bankensektor:

»Organisierter Kapitalismus bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion. Diese planmäßige, mit Bewusstsein geleitete Wirtschaft unterliegt in viel höherem Maße der Möglichkeit der bewußten Einwirkung der Gesellschaft, das heißt nichts anderes, als der Einwirkung durch die einzige bewusste und mit Zwangsgewalt ausgestattete Organisation der Gesellschaft, der Einwirkung durch den Staat.« (Zit. n. Stephan 1982: 218)

Der (parlamentarische) Staat ist bei Hilferding eine neutrale Institution und nicht wie bei Marx per se Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Hieraus erklärt sich Hilferdings Verständnis von Wahlen und Parlamenten als Arenen des Klassenkampfes, da sich in der Parteienkonkurrenz die Klassengegensätze und -interessen manifestierten. Dementsprechend friedlich und ohne Anwendung revolutionärer Gewalt könne der Übergang in den Sozialismus anhand von staatlichen Reformen gelingen (vgl. Smaldone 2000: 133 ff.).

 

Führungsfigur und Vordenker

Hilferding zählte zum Führungskreis der Weimarer Sozialdemokratie und war zudem angesehener Vordenker in der Zweiten Sozialistischen Internationalen. Er prägte die Strömung des Austromarxismus, nicht zuletzt als Herausgeber der Marx-Studien (gemeinsam mit Max Adler von 1904 bis 1925). Von 1924 bis 1933 gibt er die Theoriezeitschrift »Die Gesellschaft« heraus. Er pflegte zeit seines Lebens einen zentristischen Kurs: Auf der einen Seite wendete er sich gegen die revisionistische Strömung und verneinte die Aufgabe revolutionärer Mittel und marxistischer Grundprinzipien. Auf der anderen Seite stellte er sich marxistisch-orthodoxen Positionen und einer einseitigen revolutionären Strategie entgegen und vertraute auf die Eroberung der Macht im Staate und parlamentarische Reformen. Gleichzeitig versuchte er, anhand einer engen Anbindung der politischen Strategie und Praxis an einer im Kern an Marx orientierten Gesellschaftsanalyse eine vermittelnde, integrierende Klammer um die widerstreitenden Flügel der SPD zu setzen (vgl. Smaldone 2000: 11 ff.).

Hilferdings Einfluss in Fragen von Theorie und Programmatik und auf den parlamentarischen Kurs der SPD zeigten sich nicht nur in ökonomischen, sondern auch in grundlegenden politischen Entscheidungen wie der Tolerierung der Präsidialkabinette Heinrich Brünings (Zentrumspartei) am Ende der Weimarer Republik ab 1930. Hilferding trat entschieden dafür ein, um die demokratischen Institutionen zu erhalten (vgl. Winkler 1994: 133 f.):

»Die Demokratie zu behaupten gegen eine Mehrheit, die die Demokratie verwirft, und das mit den politischen Mitteln einer demokratischen Verfassung, die das Funktionieren des Parlamentarismus voraussetzt, es ist fast die Quadratur des Kreises, die da der Sozialdemokratie als Aufgabe gestellt ist – eine wirklich noch nicht dagewesene Situation.« (Zit. n. Winkler 1994: 135)

Auch im folgenden Exil gehörte er dem Führungskreis der Sopade, der Exil-SPD, an. Das nationalsozialistische Deutschland charakterisierte er als totalen Staat, der sukzessive alle Lebensbereiche durchdringe, Marktkonkurrenz durch Organisation und staatliche Planung ersetze und auf Entpolitisierung und gesellschaftliche Integration durch staatliche Zwangsorganisationen baue (vgl. Smaldone 2000: 233; Wagner 1996: 189).

Im Januar 1934 erscheint das von ihm verfasste »Prager Manifest« als neues Programm der Sozialdemokratie im »Neuen Vorwärts«. Zur Überwindung des Nationalsozialismus schließt es keine revolutionären Mittel mehr aus: »Im Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur gibt es keinen Kompromiss, ist für Reformismus und Legalität keine Stätte« (Dowe/Klotzbach 2004: 205). Nach einem Umsturz plädiert es u. a. für weitreichende Vergesellschaftungen, eine sozialistische Planwirtschaft, die Überwindung des Bildungsprivilegs anhand von Einheitsschulen und für eine – anders als 1918 geschehen – konsequente Ersetzung des Personals in Justiz und Staatsbürokratie (vgl. ebd. 2004: 208 ff.).

 

Hilferding bleibt aktuell

Rudolf Hilferding war nicht der letzte Theoretiker der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Er erscheint jedoch als letzter Repräsentant des marxistischen Partei- und Gesellschaftstheoretikers »alten Typs«, der im Arbeitermilieu verhafteten sozialdemokratischen Arbeiterbewegung des Kaiserreichs und von Weimar. Die Sozialdemokratie erinnert sich zu selten an ihn. Angesichts des Fehlens einer zeitgenössischen sozialdemokratischen Kapitalismuskritik würde sich eine stärkere Hinwendung zu den Ideen und Analysen Hilferdings lohnen. Bei aller Kritik an Hilferding wegen der Unterschätzung der anhaltenden kapitalistischen Krisenanfälligkeit und der Bedeutung des industriellen Kapitals (vgl. Winkler 1994: 152 f.; Smaldone 2000: 63 f.): Die von ihm herausgearbeiteten Charakteristika des Finanzkapitals und dessen Expansionsstreben sowie die enge Verflechtung ökonomischer und staatlicher Macht wirken aktueller denn je.


Werk

  • Dowe, Dieter/Klotzbach, Kurt (Hg.) (2004), Prager Manifest der Sopade 1934: Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus. Die Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, 4. Aufl., Bonn, S. 204-215.
  • Hilferding, Rudolf (1974), Böhm-Bawerks Marx-Kritik, in: Meiner, Horst/Turban, Manfred (Hg.): Etappen bürgerlicher Marx-Kritik I, Gießen/Lollar, S. 133-184. (Erstmals erschienen in: Adler, Max/Hilferding, Rudolf (Hg.) (1904), Marx-Studien. Blätter zur Theorie und Politik des wissenschaftlichen Sozialismus. Bd. 1, Wien 1904, S. 1-61.
  • Hilferding, Rudolf (1968): Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Frankfurt a. M. (erstmals erschienen 1910).
  • Stephan, Cora (Hg.) (1982): Zwischen den Stühlen oder über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis. Schriften Rudolf Hilferdings 1904 bis 1940, Bonn.

Literatur

  • Greitens, Jan (2012), Finanzkapital und Finanzsysteme. »Das Finanzkapital« von Rudolf Hilferding, Marburg.
  • Smaldone, William (2000), Rudolf Hilferding. Tragödie eines deutschen Sozialdemokraten, Bonn.
  • Wagner, F. Peter (1996), Rudolf Hilferding. Theory and Politics of Democratic Socialism, New Jersey.
  • Winkler, Heinrich August (1994), »Eine wirklich noch nicht dagewesene Situation«. Rudolf Hilferding in der Endphase der Weimarer Republik, in: Kocka, Jürgen/Puhle, Hans-Jürgen/Tenfelde, Klaus (Hg.): Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München, S. 131-155.

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