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Wolfgang Abendroth (1906-1985), von Jürgen Habermas als "Partisanen-Professor im Land der Mitläufer" bezeichnet, war ein bedeutender Jurist und Politikwissenschaftler. Abendroth wuchs in einem sozialdemokratischen Haushalt auf und engagierte sich früh politisch. Aufgrund seiner Aktivitäten im Widerstand gegen das NS-Regime wurde er verfolgt und später inhaftiert. Nach dem Krieg trat er der SPD bei, doch seine kritische Haltung führte schließlich zu seinem Ausschluss. Als Professor prägte er die "Marburger Schule" der Politikwissenschaft und etablierte sich als ein führender Kopf der politischen Linken in Deutschland. Abendroth war besonders für seine Verfassungstheorie bekannt, die das Grundgesetz als Basis für eine sozialistische Politik und Soziale Demokratie interpretierte.
Hören Sie den Eintrag zu Wolfgang Abendroth auch als Hörbuch. (Hörzeit 9:46 Minuten)
Der Jurist und Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth (* 2.5.1906 · † 15.9.1985) wurde in einem sozialdemokratischen Elternhaus im heutigen Wuppertal-Elberfeld geboren. Nach der Schulzeit in Frankfurt am Main studierte er dort Jura. Bereits als Schüler hatte Abendroth sich der »Freien Sozialistischen Jugend«, einem der KPD nahestehenden Jugendverband, angeschlossen. Später engagierte er sich u. a. im Umfeld der von der KPD abgespaltenen Kommunistischen Opposition (KPO). Aufgrund seiner politischen Haltung kurz vor Abschluss des Referendariats im Frühjahr 1933 entlassen, konnte er auch seine Dissertation beim bekannten sozialdemokratischen Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer (S. 324-329) nicht beenden. Erst 1936 konnte er ein erneutes Dissertationsprojekt in der Schweiz abschließen.
Infolge seiner Widerstandstätigkeit während der NS-Diktatur wurde er im Jahr 1937 wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Kaum wieder in Freiheit wurde er 1943 zum Strafbataillon 999 einberufen und auf der griechischen Insel Lémnos eingesetzt. Dort desertierte er im Spätsommer 1944 zur kommunistischen griechischen Widerstandsorganisation ELAS.
In britischer Kriegsgefangenschaft trat er der SPD bei. Im Jahr 1946 kehrte Abendroth nach Deutschland zurück, ging zunächst in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ), da sich nur dort die Möglichkeit zur schnellen Beendigung seines Referendariats bot. Gleichzeitig habilitierte er sich und arbeitete für die Justizverwaltung der SBZ. Im Herbst 1948 wurde er auf eine Professur an der Universität Jena berufen, die er aber nicht lange halten konnte. Als Mitglied der SPD unter Druck floh er bereits im Dezember 1948 in den Westen.
Hier erhielt er zunächst einen Ruf nach Wilhelmshaven und 1950 als Professor für Politische Wissenschaft an die Universität Marburg. In den 1950er-Jahren war Abendroth auf Vorschlag der SPD Mitglied der Verfassungsgerichte von Bremen und Hessen.
Innerhalb der SPD betätigte sich Abendroth vor allem publizistisch und arbeitete in Kommissionen zur Vorbereitung des Godesberger Programms 1959 mit. Den auf dem Parteitag angenommenen Entwurf lehnte Abendroth jedoch ab – sein eigener Programmentwurf mit dem Ziel, auf Basis des marxistischen Erbes Politik und Theorie der Sozialdemokratie weiterzuentwickeln, blieb erfolglos. Im Jahr 1961 erfolgte sein Ausschluss aus der SPD, als Abendroth zur Unterstützung des gerade von der SPD abgestoßenen Studentenverbandes SDS eine Fördergesellschaft mitgründete. Einer Partei schloss Abendroth sich nicht mehr an, näherte sich aber zeitweise der DKP. Auch ohne klare parteipolitische Affi liation gehörte Abendroth als herausragende Gestalt der »Marburger Schule« der Politikwissenschaft zu den wichtigsten Intellektuellen der politischen Linken im Nachkriegsdeutschland und prägte zahlreiche Funktionäre, auch in SPD und Gewerkschaften.
Wolfgang Abendroth starb am 15.09.1985 in Frankfurt am Main.
Seine größte Wirkung erzielte Wolfgang Abendroth als Verfassungstheoretiker. Für Abendroth stellte das Grundgesetz von 1949 das Ergebnis eines Klassenkompromisses zwischen bürgerlichen Parteien und der Arbeiterbewegung dar. Weil keine der Seiten über eine ausreichende Mehrheit verfügte, habe sich auch keine Seite in der Verfassungsdiskussion durchsetzen können. Abendroth argumentierte vor allem unter Bezugnahme auf den sozialdemokratischen Staatstheoretiker Hermann Heller (S. 145-151) für ein Verfassungsverständnis, das einen politischen Rahmen auch für eine Veränderung der Wirtschafts- und Sozialordnung im Sinne einer sozialistischen Politik bot. Für Abendroth war klar, dass eine nicht nur formale Demokratie ohne »soziale« Demokratie, das heißt ohne den gesellschaftlichen Einfl uss auf die Produktionsverhältnisse, nicht denkbar sei.
Die Konsequenz für die Rechtspraxis fasste Abendroth so zusammen:
»Das entscheidende Moment des Gedankens der Sozialstaatlichkeit im Zusammenhang des Rechtsgrundsatzes des Grundgesetzes besteht also darin, dass der Glaube an die immanente Gerechtigkeit der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufgehoben ist und dass deshalb die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Gestaltung durch diejenigen Staatsorgane unterworfen wird, in denen sich die demokratische Selbstbestimmung des Volkes repräsentiert.« (Abendroth 1954 [2008]: 341)
Für die Arbeiterbewegung und ihre politischen Parteien stellte sich damit die Aufgabe,
»das Grundgesetz gegen seine Aushöhlung durch Wissenschaft, Rechtsprechung und Verwaltung zu schützen, die Freiheitsrechte und den Rechtsgrundsatz der sozialen Demokratie durch immer neue Vorstöße aus bloßen juristischen Fiktionen in soziale Realität zu verwandeln, um dadurch bei gleichzeitigem Festhalten an einer energischen Politik zur Wiedervereinigung Deutschlands die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass gemäß dem Willen von Art. 146 des Grundgesetzes das deutsche Volk nach Wiederherstellung seiner nationalen Einheit sich in freier Entscheidung eine Verfassung geben kann, die die positiven Werte des Grundgesetzes enthält, aber von seinen Mängeln und allen Einfallstoren restaurativer Tendenzen frei ist.« (Abendroth 1957 [1972]: 61)
Dieses von Abendroth beschriebene emanzipatorische Potenzial des Grundgesetzes ist nie eingelöst worden. Die restaurativen Kräfte gewannen in der frühen Bundesrepublik schnell an Boden, die Studentenbewegung der 1960er-Jahre konnte zwar den Grundstein für eine gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung der Republik legen, auf die Interpretation und Anwendung des Grundgesetzes hatte die Bewegung jedoch nur wenig Einfluss.
Einen weiterer Schwerpunkt von Abendroths Arbeit bildeten die Geschichte und Theorie der Arbeiterbewegung. So regte er an seinem Lehrstuhl eine Reihe von grundlegenden Arbeiten zur Entwicklung der Arbeiterbewegung, insbesondere der »Zwischengruppen« von Sozialistischer Arbeiterpartei (SAP) und KPO an. Wolfgang Abendroth, der »Partisanenprofessor im Land der Mitläufer« (Jürgen Habermas), war damit maßgeblich für die Etablierung eines kleinen Zweigs marxistisch orientierter Politikwissenschaft in Deutschland. Für mehrere Generationen innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie gehörte er zu den zentralen intellektuellen Inspirationsquellen. Seine Texte sind vor allem in einigen Sammelbänden zusammengefasst: Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung (Frankfurt a. M. 1965), Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Aufsätze zur politischen Soziologie (Neuwied 1968). Breit rezipiert wurde zudem sein kleines Büchlein »Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie« (Mainz 1964). Sehr wichtig war Abendroth der Bezug auf die Gewerkschaften. Hier fungierte er insbesondere bei der IG Metall als politischer Bildner sowie als Rechtsberater, verfasste aber auch Texte zur Gewerkschaftstheorie (Die deutschen Gewerkschaften. Weg demokratischer Integration, Heidelberg 1955). Zu seinem eigenen persönlichen und intellektuellen Werdegang gab Abendroth in einem Interviewband Auskunft (Dietrich/Perels [Hg.] [1976]).
In Bezug auf die frühe Bundesrepublik hat Wolfgang Abendroth exemplarisch aufgezeigt, wie sich emanzipative Potenziale im Recht nutzen lassen könnten. Es bleibt zu diskutieren, inwieweit eine Anknüpfung an Abendroth für die aktuellen Debatten um den Prozess der europäischen Konstitutionalisierung fruchtbar sein könnte. Auch bei der Interpretation und Anwendung des Rechts prallen unterschiedliche gesellschaftliche und ökonomische Interessen aufeinander. Die Diskussionen um die Ausgestaltung des Vertrages über eine Verfassung für Europa oder die Debatten um die verschiedenen Richtlinien der EU in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragestellungen machen dies deutlich. Doch werden Diskussionen über soziale Funktion und Mechanismen des Rechts weder in der aktuellen rechtswissenschaftlichen Debatte noch in politischen Diskussionen ausreichend geführt.
Es bleibt das Verdienst Abendroths, die Traditionslinien der sozialen und demokratischen Verfassungstheorien der Weimarer Republik in die Bundesrepublik hinübergerettet zu haben. Abendroths Mut, für eine Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche zu streiten und damit Vorstellungen von »sozialer Demokratie« zu konkretisieren, ist beispielhaft.
Zudem wäre allein durch die Erkenntnis, dass Recht und Rechtsordnungen nicht als ein »neutrales« Konstrukt, sondern als ein sich stetig änderndes Ergebnis gesellschaftlicher Interessenlagen und Auseinandersetzungen zu begreifen sind, ein deutlicher Erkenntnisfortschritt auch für die aktuelle politische Debatte zu verzeichnen.