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Viktor Agartz (1897-1964) war ein einflussreicher Staatswissenschaftler und Gewerkschafter, der für seine Beiträge zur Wirtschaftspolitik in der Nachkriegszeit bekannt wurde. Aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie, engagierte er sich früh in sozialistischen Gruppen und wirkte in der Genossenschafts- und Gewerkschaftsbewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zu einem einflussreichen politischen Berater, der eine sozialistische Politik mit Fokus auf wirtschaftliche Freiheit und Mitarbeitermitbestimmung befürwortete. Als Direktor des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB prägte er mit seiner Theorie der "Expansiven Lohnpolitik" die Gewerkschaftsarbeit. Trotz späterer politischer Isolation hinterließ Agartz bedeutende Impulse für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.
Hören Sie den Eintrag zu Viktor Agartz auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:01 Minuten)
Viktor Agartz (* 15.11.1897 · † 9.12.1964) wurde in Remscheid als Kind einer Metallarbeiterfamilie geboren. Während des Studiums der Staatswissenschaften in Marburg und Köln arbeitete er in den örtlichen sozialistischen Studentengruppen mit. Nach dem Studium führte sein beruflicher Weg ihn in verschiedenen Funktionen in der Genossenschaftsbewegung. Daneben betätigte er sich als Dozent in der Gewerkschaftsbewegung. Die NS-Diktatur konnte Agartz in Deutschland überstehen, wo er als Wirtschaftsprüfer sowie als Treuhänder u. a. für von der Konfiskation bedrohte kirchliche Vermögen wirkte.
Mit dem Zusammenbruch der Diktatur stieg Agartz politisch schnell auf: Als enger wirtschaftspolitischer Berater von Kurt Schumacher (S. 303-310) und dem ersten DGB-Vorsitzenden Hans Böckler entwickelte er sich zum führenden wirtschaftspolitischen Kopf der westdeutschen Arbeiterbewegung. Agartz hielt Referate und Vorträge auf Partei- sowie Gewerkschaftstagen und fungierte als gefragter Gesprächspartner nicht nur von SPD und Gewerkschaften, sondern pflegte auch intensive Kontakte zu Unternehmensführern. Durch eigenes Vermögen finanziell weitgehend unabhängig, stürzte Agartz sich mit vollem Elan in die politische Arbeit. Im Jahr 1946 übernahm er die Leitung des Zentralamts für Wirtschaft in der britischen Besatzungszone in Minden, und damit so etwas wie das Wirtschaftsministerium der britischen Zone. Zudem gehörte Agartz dem Landtag von Nordrhein-Westfalen an. Agartz teilte die Hoffnung vieler Sozialdemokraten und Gewerkschafter sowie mancher Christdemokraten, nach dem Krieg u. a. durch Sozialisierung von Groß- und Schlüsselindustrien den Umbau der deutschen Wirtschaft zumindest hin zu einer gemischten Wirtschaft aus Privat- und Gesellschaftseigentum mit einem starken Genossenschaftswesen zu betreiben.
Auf dem SPD-Bundesparteitag 1946 in Hannover hielt Agartz die wirtschaftspolitische Hauptrede. Unter der Überschrift »Sozialistische Wirtschaftspolitik« führt er aus:
»Die bürgerlichen Revolutionen haben mit der Erklärung der Grundrechte und staatsrechtlichen Befreiung des Individuums aus einer feudalistischen Hörigkeit geendet. Die wirtschaftliche Unfreiheit blieb aber bestehen, weil der rechtlich freie, aber besitzlose Arbeiter allein auf die Verwertung der eigenen Arbeitskraft angewiesen war. […] Es ist die Aufgabe der sozialistischen Epoche, neben der rechtlichen auch die wirtschaftliche Freiheit durchzusetzen.« (Agartz 1946 [1982]: 134)
Agartz trat für weitgehende Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten im Betrieb ein. Die Sozialdemokratie sei nicht gegen unternehmerische Initiative an sich. Zusammenballung privater Macht wie in den Monopolunternehmen lehne die SPD aber ab. Über die Richtung und Verteilung der Produktion dürfe künftig nur noch der demokratische Rechtsstaat entscheiden. Es könne nicht angehen, den Betrieb als eine privatwirtschaftliche Wirkungsstätte zu betrachten. Der Betrieb sei vielmehr eine volkswirtschaftliche Angelegenheit. Agartz schaltete sich zudem in die Diskussionen um Art und Umfang der deutschen Reparationen ein. Ziel dürfe nicht die Zerstörung der deutschen Wirtschaft sein, sondern müsse der Aufbau einer neuen, arbeitsteiligen europäischen Wirtschaft sein.
Unterstützung für dieses Programm erhoffte man sich vor allem von der englischen Besatzungsmacht, die nach 1945 von der Labour Party regiert wurde. Letztlich scheiterten solche Überlegungen, die u. a. auch Eingang in die Landesverfassungen von Nordrhein-Westfalen und Hessen gefunden hatten, aber v. a. am Widerstand der US-amerikanischen Regierung.
Im Jahr 1947 musste er sich entkräftet von seinem Amt in Minden zurückziehen. Agartz arbeitete die folgenden beiden Jahre im gewerkschaftlichen Kontext und kehrte 1949 als Direktor des neu gegründeten Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB (WWI) auf die politische Bühne zurück. Agartz verband wissenschaftliche Arbeit mit dem Ehrgeiz, auch öffentliche Debatten zu beeinfl ussen. Das WWI wurde so eine der ersten wirtschaftspolitischen »Denkfabriken « der jungen Bundesrepublik. Agartz versuchte dabei eine Brücke zu schlagen vom einzelwirtschaftlichen Kampf der Gewerkschaften für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen hin zur gesamtgesellschaftlichen und auch ökonomischen Funktion von Gewerkschaften, insbesondere mittels der Lohnpolitik.
Für Agartz waren Lohnfragen Machtfragen zwischen Unternehmen und Beschäftigten. Jede Lohnforderung sei daher immer auch ein Angriff auf den unternehmerischen Mehrwert. Zugleich betonte Agartz aber auch die gesamtwirtschaftliche Funktion der Lohnpolitik. In wirtschafts- und lohnpolitischen Debatten bis heute präsent ist das von Agartz in einem gleichnamigen Aufsatz im Jahr 1953 vorgestellte Konzept der »Expansiven Lohnpolitik«. Die Gewerkschaften seien ausschließlich Interessenvertretungen ihrer Mitglieder. Hinweise auf mögliche Preissteigerungen oder gar infl atorische Wirkungen aktiver Lohnpolitik seien unberechtigt. Es sei Sache der Regierung, Preissteigerungen durch aktive Preispolitik zu verhüten. Die gegenwärtige Lage der westdeutschen Wirtschaft mache eine dynamische Lohnpolitik zur zwingenden Notwendigkeit. Sowohl für eine aktive Konjunktur- wie auch Strukturpolitik sei die Lohnpolitik das wichtigste Instrument. Entscheidend aber sei:
»Die Lohnpolitik darf nicht allein dynamisch, sie muss auch expansiv sein. Sie darf sich nicht damit begnügen, den Reallohn an die volkswirtschaftliche Entwicklung nachträglich heranzubringen. Sie muss versuchen, die wirtschaftliche Expansion von sich aus zu forcieren, um durch bewusste Kaufkraftsteigerung eine Ausweitung der Produktion herauszufordern.« (S. 154)
Agartz geriet damit zusehends in Konfl ikt mit dem christlich-sozialen Teil der Einheitsgewerkschaften. Die über das unmittelbare Verhältnis von Unternehmen und Beschäftigten hinausgehende Dimension von Agartz’ gewerkschaftspolitischen Überlegungen drohte den politisch-ideologischen Rahmen der Einheitsgewerkschaft zu sprengen. Insbesondere der Vordenker der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning (S. 249-255), griff Agartz hart an und drohte mit der Gründung eigener christlicher Gewerkschaften. Viktor Agartz’ Position innerhalb der Gewerkschaftsbewegung war damit stark angeschlagen.
Trotzdem wurde Agartz auf dem DGB-Bundeskongress 1954 noch einmal mit dem wirtschaftspolitischen Hauptreferat beauftragt. Agartz legte seine bekannten Positionen dar und erhielt dafür große Zustimmung. Seinen immer schneller werdenden Fall innerhalb des um die Einheit der Gewerkschaftsbewegung bemühten DGB konnte dies trotzdem nicht aufhalten. Eine bis heute nicht ganz aufgeklärte Intrige führte schließlich im Jahr 1955 zu seiner Absetzung als Direktor des WWI.
Viktor Agartz suchte und fand bald ein neues Betätigungs- und Publikationsfeld in der kleinen linken Szene der frühen Bundesrepublik, in der sich linke Sozialdemokraten, Parteiunabhängige und Trotzkisten begegneten. Agartz publizierte in der Monatszeitschrift »Sozialistische Politik« (SoPo), an der u. a. auch Wolfgang Abendroth (S. 33-39) und Peter von Oertzen (S. 263-268) mitarbeiteten, in »Die Andere Zeitung« der ehemaligen Vorwärts- Redakteure Gerhard Gleißberg und Kurt Gottschalk sowie im von Fritz Lang herausgegeben »Funken«. Zentrales Organ seiner Tätigkeit wurde aber die von ihm selbst ab 1956 herausgegebene Zeitschrift »Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften« (WISO). Zudem versuchte er mit der Herausgabe der Zeitschrift auch, drei ebenfalls beim WWI entlassene ehemalige Mitarbeiter zu unterstützen.
Nach der Festnahme eines Geldkuriers der KPD an der deutschdeutschen Zonengrenze wurde in der Öffentlichkeit bekannt, dass die Finanzierung der WISO auch durch Pauschalabonnements des ostdeutschen Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes FDGB erfolgt war. Viktor Agartz wurde daraufhin festgenommen, und der »Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung« – gemeint war die Trägergesellschaft der WISO –, des Verstoßes gegen das KPD-Verbotsurteil sowie der verfassungsverräterischen Verbindung zum FDGB beschuldigt. Nach mehrwöchiger Untersuchungshaft blieb als einziger Tatvorwurf der Anklage gegen Agartz der Vorwurf der verfassungsverräterischen Verbindung zum FDGB, übrig. Seine Rechtsanwälte, der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann und der spätere nordrhein-westfälische Justiz- und Finanzminister Diether Posser, konnten zwar einen Freispruch für Agartz erreichen, politisch war dieser aber trotzdem stark isoliert, wurde aus der SPD ausgeschlossen und blieb ohne Wirkungsmöglichkeiten in den Gewerkschaften. Bald scheiterte auch die WISO. Viktor Agartz starb am 9. Dezember 1964.
Viktor Agartz gehörte zu den prägnantesten Köpfen der wirtschaftspolitischen Debatten des ersten Jahrzehnts der Nachkriegszeit. Zugleich stand er – ähnlich wie Kurt Schumacher – noch auf dem Boden der klassischen Arbeiterbewegung. Dabei war seine Argumentation wirtschaftspolitisch durchaus modern. Mit der Betonung der gesamtwirtschaftlichen Dimension der Lohnpolitik lieferte er wichtige Stichpunkte nicht nur für gewerkschaftsinterne Debatten. Verteilungsverhältnisse in der Wirtschaft nicht einfach als Fragen des Einzelunternehmens zu begreifen, sondern die eminent wichtige volkswirtschaftliche Funktion des Lohns und der Lohnpolitik anzuerkennen, ist ein wichtiger Schritt. Löhne sind eben nicht einfach nur Kosten der Unternehmer, sondern ein bedeutender gesamtwirtschaftlicher Faktor. Viktor Agartz steht damit auch heute noch für eine ganze Reihe von gewerkschaftsnahen Sozialwissenschaftlern als intellektueller Pate für das eigene wissenschaftspolitische Selbstverständnis.