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Otto Bauer

Die demokratischen Ideen der Freiheit, der Gleichheit und der Selbstregierung werden also erst völlig verwirklicht, wenn die Staatsbürger frei und gleich sind, nicht mehr nur als Bürger des Staats, sondern auch als Mitglieder der Gesellschaft. Otto Bauer

Kurzbiografie

Otto Bauer (1881-1938) war eine Schlüsselfigur des Austromarxismus und der österreichischen Sozialdemokratie. Sein Werk "Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie" prägte die Diskussion über das Verhältnis von Nationalismus und Sozialismus. Bauer argumentierte aus wirtschaftlichen Gründen gegen die Aufteilung der Welt in kleine Nationalstaaten und für kulturelle Autonomie innerhalb eines Vielvölkerstaates. Durch seine Beiträge zur Verfassung und der Sozialisierung spielte Bauer eine Schlüsselrolle in der politischen Landschaft Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg, obwohl er nie hohe Parteiämter bekleidete. Trotz Kriegsgefangenschaft in Russland und späterer Exilierung blieb sein Engagement für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft ungebrochen.

Hörbuch

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Otto Bauer und der Austromarxismus

von Thilo Scholle

Otto Bauer (* 5.9.1881 · † 5.7.1938) wurde in Wien als Sohn eines jüdischen Fabrikanten geboren. Entgegen dem väterlichen Wunsch entschied sich Bauer nach seinem Jurastudium gegen eine Laufbahn im Betrieb. Bis zu seinem frühen Tod 1938 sollte er die führende Figur der österreichischen Sozialdemokratie und des »Austromarxismus« werden. Obwohl er nie hohe Parteiämter bekleidete, gehörte er nach dem Ersten Weltkrieg zu den international renommiertesten Theoretikern der Sozialdemokratie.

 

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie

Bereits im Jahr 1907 verfasste Bauer ein Buch, das seinen Ruf als ernsthafter marxistischer Theoretiker begründen sollte: In »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« (Wien 1924) breitet Bauer auf mehreren Hundert Seiten die Entwicklung des Nationalstaats im Habsburger Reich aus. Im Mittelpunkt der Charakterisierung von Nationen steht der Nationalcharakter, den Bauer jedoch als ein Stück »geronnene Geschichte« des jeweiligen Nationenzusammenhangs beschreibt – ein soziologischer Zugang, der für Veränderungen offen ist. Im Ergebnis kommt Bauer zu dem Schluss, dass eine Aufteilung der Welt in kleine Nationalstaaten den Voraussetzungen einer modernen kapitalistischen Wirtschaft widerspreche. Neben der Problematik von Zollschranken und anderen Beschränkungen des Wirtschaftsverkehrs führt Bauer in Bezug auf die K. u. k.- Monarchie auch die Überlappung der jeweiligen Siedlungsgebiete an, die eine klare Aufteilung unmöglich machten. So kommt er am Ende zum Vorschlag einer weitgehenden kulturellen Autonomie der Nationen bei gleichzeitiger Beibehaltung des habsburgischen Vielvölkerstaats. Im selben Jahr gehörte Bauer auch zu den Mitgründern der Theoriezeitschrift »Der Kampf«. Zudem begann er, als Parlamentssekretär der Partei zu arbeiten.

 

Krieg und Revolution

Anfangs dem Krieg noch zustimmend, geriet Bauer bereits Ende 1914 in russische Kriegsgefangenschaft und verbrachte die nächsten drei Jahre in Sibirien, weitgehend abgeschnitten von Informationen und politischen Debatten, die zu der Zeit in Europa stattfanden. Erst nach der Oktoberrevolution 1917 gelang es Bauer im September 1918, wieder nach Wien zu kommen.

Von Ende 1918 bis Mitte 1919 amtierte Bauer als Staatssekretär des Äußeren. Die konstituierende Nationalversammlung wählte ihn sodann im März 1919 zum Präsidenten der »Staatskommission für Sozialisierung«, die er bis zum Oktober leitete. Bereits im Februar war er für einen Wiener Wahlkreis als Mitglied des Nationalrats gewählt worden.

Bauers Erklärung, warum die Revolution in Österreich nach 1918 ähnlich wie in Deutschland nur bis zu einer bürgerlichen Republik und nicht bis zur sozialistischen Umwälzung weitergetrieben werden konnte, basierte vor allem auf der unterschiedlichen Unterstützung der Revolution in den Städten und auf dem Land. In seinem Buch »Die österreichische Revolution« (Wien 1923) beschrieb er ausführlich den Gang der Veränderungen im gesamten ehemaligen Habsburger Reich sowie die politischen und strategischen Schlussfolgerungen für die Sozialdemokratie: Die Revolution hatte das alte österreichisch-ungarische Wirtschaftsgebiet aufgelöst, im neuen Österreich verblieben neben Wien nur wenige industrielle Zentren. Während Bauer beim städtischen Industrieproletariat ein weitgehendes Verständnis und Unterstützung für das Ziel einer auch sozialen Revolution erblickte, sah er dies bei der überwiegend kirchlich und traditionell gebundenen ländlichen Bevölkerung nicht. Aufgrund der ausbleibenden Versorgung mit Lebensmitteln vom Lande wäre eine soziale Revolution bald zusammengebrochen.

Im Ergebnis sah Bauer für die ersten Jahre nach Ende der Habsburger Monarchie ein Gleichgewicht zwischen zu sozialen Umwälzungen drängenden proletarischen Schichten und sich dagegen wehrenden bürgerlichen und ländlichen Schichten. Die Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen wurde ein entscheidender Gesichtspunkt für Bauers verfassungstheoretische Überlegungen.

»Ist keine Klasse mehr imstande, die andere niederzuwerfen und niederzuhalten, dann hört die Staatsgewalt auf, ein Herrschaftsinstrument einer Klasse zur Beherrschung der anderen Klassen zu sein. Die Staatsgewalt verselbstständigt sich dann gegenüber den Klassen, sie tritt allen Klassen als selbstständige Macht gegenüber, sie unterwirft sich alle Klassen.« (Bauer 1923 [1976]: 803)

Für Bauer wurde der Verfassungsstaat zum politischen Kampfboden auch für die Arbeiterbewegung.

Bauer rechnete auf absehbare Zeit nicht mit einer alle gesellschaftlichen Verhältnisse auf einmal umwerfenden Revolution: Die Sozialdemokratie müsse sich auf eine unbestimmte Zeit des Übergangs einstellen. Wie bereits auf dem Weg vom Feudalismus zum Kapitalismus eine Reihe einander folgender revolutionärer Prozesse durchlaufen worden seien,

»so wird die Menschheit auch auf dem Wege vom Kapitalismus zum Sozialismus eine lange Reihe revolutionärer Prozesse durchmachen, durch eine ganze Kette staatlicher und gesellschaftlicher Übergangsformen gehen.« (Bauer 1923 [1976]: 864 f.)

 

Sozialdemokratie im Verfassungsstaat

Während der 1920er-Jahre entwickelte sich die Sozialdemokratie vor allem im »Roten Wien« und in den industriellen Zentren des Landes zur dominierenden politischen Kraft. Sozialer Wohnungsbau, Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Ausbau der Volksbildung sind Errungenschaften, die mit dieser Zeit verbunden sind. Zugleich gelang es der Sozialdemokratie nie, auch landesweit eine Mehrheit zu bekommen.

In »Der Kampf um die Macht« (Wien 1924) suchte Bauer nach Wegen zur Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Die gesellschaftlichen Zwischenschichten – kleine Handwerksmeister und Angestellte beispielsweise – seien gespalten und müssten nach und nach von ihrem Bezug auf bürgerliche Parteien gelöst und für die Sozialdemokratie gewonnen werden.

Bauer unterschied zwischen politischer und sozialer Revolution. Während die politische Revolution in Österreich vor allem im Erkämpfen der parlamentarischen Demokratie bestand, ging es ihm bei der sozialen Revolution in erster Linie um eine demokratische Wirtschaftsverfassung. Diese bestünde im Bereich der Wirtschaftssteuerung aus einem Verwaltungsrat aus Bevollmächtigten der Volksvertretung, der Konsumenten und der Arbeiterschaft sowie aus einer Demokratisierung der lokalen Verwaltung des einzelnen Betriebs. Damit entwickelte Bauer originelle Vorschläge zum Umbau der Wirtschaft, die sich deutlich von einer simplen Verstaatlichung unterschieden – und durch die Einbeziehung der Konsumenten geradezu aktuell wirken.

Theorie und Praxis der österreichischen Sozialdemokratie galten mit ihrer Verbindung aus parlamentarischer Arbeit und revolutionärem Umgestaltungswillen für viele Linkssozialisten in der Zwischenkriegszeit als beispielhaft. Das »Linzer Programm« der Partei von 1926, vor allem auf der Basis von Positionen Otto Bauers entwickelt, wurde vor diesem Hintergrund in Europa breit rezipiert. Enthalten war im Linzer Programm auch die Absage an Gewalt als Mittel zur sozialen Revolution. Erst wenn die Gegner selbst zu den Waffen greifen sollten, könne im Sinne von »defensiver Gewalt« reagiert werden, und der Kampf bis zur revolutionären Umwälzung geführt werden.

 

Der integrale Sozialismus

Politisch verschlechterte sich die Situation der Sozialdemokratie immer weiter. Im Februar 1934 übernahmen klerikal-faschistische Kräfte nach heftigen Kämpfen die Macht und ersetzten die republikanische Verfassung durch eine reaktionäre ständestaatliche Verfassung. Der Aufstand des schlecht vorbereiteten sozialdemokratischen Schutzbunds wurde rasch niedergeschlagen. Etliche Mitglieder des Schutzbundes wurden hingerichtet, interniert oder ins Exil gedrängt. Otto Bauer gelang es, sich in die Tschechoslowakei abzusetzen, wo er in Brünn die »Auslandsleitung österreichischer Sozialdemokraten« (ALÖS) aufbaute.

In der Schrift »Zwischen zwei Weltkriegen?« (Bratislava 1936) entwickelte er die Perspektive eines »integralen Sozialismus«, welche die Erfahrungen des reformistischen und des revolutionären Sozialismus verbinden sollte. Der reformistische Sozialismus – der unter anderem Demokratie, Freiheit und Menschlichkeit hochhalte – sei die notwendige Ideologie der Arbeiterbewegung auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung, und zwar dann, wenn sie noch nicht stark genug sei, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu stürzen, aber die demokratischen Institutionen erfolgreich für eine Hebung ihrer Lebenshaltung innerhalb kapitalistischer Gesellschaften ausnützen könne. Die Spannung zwischen reformistischem und revolutionärem Sozialismus müsse unvermeidlich immer wieder entstehen und immer wieder überwunden werden. Im Ergebnis versuchte Bauer so, auch den kommunistischen Teil der Arbeiterbewegung auf demokratische Spielregeln zu verpflichten.

Durch den Anschluss der Tschechoslowakei an Deutschland erneut zur Flucht gezwungen, starb Otto Bauer 1938 in Paris.

Auch wenn die Versuche linker Sozialdemokraten Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre, an Bauer und den Austromarxismus anzuschließen, ohne nachhaltige Wirkung auf die sozialdemokratische Theoriebildung blieben, lohnt ein Blick in die Schriften Bauers nach wie vor. Mit seinen Überlegungen, wie sich der Kampf um Soziale Demokratie im demokratischen Verfassungsstaat führen lässt, hat Bauer der Debatte um eine marxistische Staats- und Verfassungstheorie bleibende Impulse gegeben.


Werk

  • Bauer, Otto (1975–1980), Werkausgabe, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, 9 Bde., Wien.
  • Bauer, Otto (1919), Der Weg zum Sozialismus, Wien (Werkausg. 1976, Bd. 2).
  • Bauer, Otto (1923), Die österreichische Revolution, Wien (Werkausg. 1976, Bd. 2).
  • Bauer, Otto (1924), Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien (Werkausg. 1976, Bd. 1).
  • Bauer, Otto (1924), Der Kampf um die Macht, Wien (Werkausg. 1976, Bd. 2).
  • Bauer, Otto (1936), Zwischen zwei Weltkriegen? Bratislava (Werkausg. 1976, Bd. 4).
  • Bauer, Otto (1939), Die illegale Partei, Paris (Werkausg. 1976, Bd. 4).

Literatur

  • Hanisch, Ernst (2011), Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien.
  • Albers, Detlev/Hindels, Josef/Radice, L. Lombardo u. a. (1978), Otto Bauer und der »dritte« Weg. Die Wiederentdeckung des Austromarxismus durch Linkssozialisten und Eurokommunisten, Frankfurt a. M.
  • Albers, Detlev (1983), Versuch über Otto Bauer und Antonio Gramsci. Zur politischen Theorie des Marxismus, Berlin.
  • Albers, Detlev/Heimann, Horst/Saage, Richard (Hg.) (1985), Otto Bauer, Theorie und Politik, Berlin.
  • Löw, Raimund/Mattl, Siegfried/Pfabigan, Alfred (1986), Der Austromarxismus. Eine Autopsie, Frankfurt a. M.
  • Schöler, Uli (1987), Otto Bauer und Sowjetrussland, Berlin.

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