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Peter von Oertzen (1924-2008), ein SPD-Politiker und Professor für Politikwissenschaft, war ein bedeutender Denker des demokratischen Sozialismus. Trotz adeliger Herkunft wandte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg dem Marxismus und den Idealen Rosa Luxemburgs zu. In seiner akademischen und politischen Laufbahn setzte er sich intensiv mit Fragen der sozialistischen Demokratie auseinander und engagierte sich in der Programmarbeit der SPD, um die Partei nach links offen zu halten. Von Oertzen, der auch das Scheitern des real existierenden Sozialismus vorhersah, blieb ein kritischer, aber engagierter Sozialist, der die SPD als Plattform für sozialistische Politik sah und die Notwendigkeit betonte, Theorie und Praxis in Einklang zu bringen.
Hören Sie den Eintrag zu Peter von Oertzen auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:20 Minuten)
Peter von Oertzen (* 2.9.1924 · † 16.3.2008), stammte väterlicherseits aus einem mecklenburgischen Adelsgeschlecht. Sein Vater war Redakteur der »Vossischen Zeitung« in Berlin und gehörte nach 1918 zur »Konservativen Revolution«. Mit nicht ganz 18 Jahren wurde Peter von Oertzen Soldat, zuletzt Leutnant, mehrmals schwer verwundet und glaubte bis zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur an den »Endsieg«.
Als Autodidakt gelang es ihm 1945/46, sein Weltbild zu korrigieren, und im November 1946 trat er in die SPD und in den SDS ein. In den nächsten Jahren entwickelte er sich zu einem »sozialistischen Demokraten«, folgte den Theorien von Karl Marx (S. 221- 227) und Rosa Luxemburg (S. 214-220). Er wurde 1953 über das Thema »Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus« promoviert und 1955 mit 31 Jahren für eine Legislaturperiode in den Niedersächsischen Landtag gewählt. 1963 erhielt er eine ordentliche Professur für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Hannover und gehörte damals schon zu den führenden Köpfen der Linkssozialisten in der Bundesrepublik. Bekannt wurde er durch seine Ablehnung des Godesberger Programms der SPD von 1959.
Parallel zur antiautoritären Bewegung in der Bundesrepublik begann von Oertzens Aufstieg in der SPD: 1967 bis 1978 Mitglied des Niedersächsischen Landtags, 1970 bis 1983 Vorsitzender des SPD-Bezirks Hannover, 1970 bis 1974 Kultusminister, 1973 bis 1993 Mitglied des SPD-Parteivorstandes, Mitglied der Grundwertekommission beim SPD-Parteivorstand und führend in der Programmarbeit der SPD (Orientierungsrahmen ’85, Berliner Programm 1989).
In den 1980er-Jahren kehrte von Oertzen an die Universität zurück. Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit war zum Beispiel eine Klassenanalyse zu den sozialen Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik Deutschland, um klare Voraussetzungen für die künftige programmatische Arbeit der SPD zu ergründen. Im März 2005 trat er tief enttäuscht und durch einen Schlaganfall gezeichnet aus der SPD aus. Mit der damals aktuellen SPD, unternehmerfreundlich und kapitalismushörig, wie er sie sah, wollte er nichts mehr zu tun haben. Er wurde Mitglied der WASG, von der er sich wieder trennte, bevor diese sich der PDS anschloss. Am 16. März 2008 starb Peter von Oertzen in Hannover.
Von Oertzens Weg zum demokratischen Sozialismus war der eines »radikalen Einzelgängers«. Das blieb er zeitlebens. Für ihn war der demokratische Sozialismus eine historische Möglichkeit für die Zukunft, deren reale Bedingungen im Zentrum seiner konzeptionellen Arbeit standen. Den »real existierenden Sozialismus« kritisierte er mit einer Schärfe, zu der sich die meisten Linkssozialisten in und außerhalb der SPD nicht durchringen konnten. Er war ein Gratwanderer und Einzelkämpfer – auch zwischen Wissenschaft und politischer Praxis.
Eine authentische Definition von Sozialismus führte für von Oertzen zurück zu Karl Marx und zu »einem Sozialismus in seiner vollen, d. h. durch Marx geprägten Bedeutung«. Das bedeutete im Ergebnis für ihn: »Der Sozialismus ist nur als vollendete Demokratie denkbar«. Zu dessen unverrückbaren Grundideen gehörten Freiheit, Gleichheit, Solidarität. »Aber das Herz des Sozialismus ist die Freiheit.« Peter von Oertzen blieb als demokratischer Sozialist bzw. sozialistischer Demokrat frei von jedem Dogmatismus. Im Marxismus-Leninismus sah er eine Verfälschung der Ursprungsideen von Marx.
Auf diesen Grundüberzeugungen beruhte seine vernichtende Kritik des sowjetischen Kommunismus. Unter Berufung auf Rosa Luxemburg begann von Oertzen mit seiner Kritik schon bei Lenin und nicht erst bei Stalin. Der Leninismus »ist nichts anderes als die deformierte Gestalt, die der Marxismus unter den Bedingungen eines unterentwickelten Landes angenommen hat«. Deshalb musste der »real existierende Sozialismus« scheitern, »und zwar endgültig und prinzipiell«. Doch der real existierende Kapitalismus hatte damit nicht gesiegt.
Wie die sozialistische Alternative aussehen und der Prozess der Transformation ablaufen könnte, hing laut Marx und Luxemburg von den Menschen selbst ab, die den Willen haben müssen, sich zu befreien und sich den Sozialismus als vollendete Demokratie zu erobern. Auch von Oertzen hinterfragte diesen »subjektiven Faktor« im Transformationsprozess. Er war »alles andere als ein romantisch aufgeblasener revolutionärer Schwärmer« (Buckmiller) und sah sehr wohl, dass sich die Gesellschaft ständig veränderte. Zunächst erwartete er, dass die sozialistische Bewegung durch den Kern einer modernen Facharbeiterschaft rekonstruiert werden könne. Er registrierte dann aber, dass sich die Arbeiterklasse im Spätkapitalismus zunehmend aufsplitterte in Arbeiter, Angestellte und Beamte mit unterschiedlichen Qualifikationen und Lebenslagen – nicht mehr vergleichbar war mit der klassisch marxistisch inspirierten Arbeiterbewegung und ihren ideologischen Potenzialen. Schließlich stand für ihn Anfang der 1990er-Jahre fest, dass der historische Zeitpunkt für eine Rekonstruktion der Arbeiterklasse jedenfalls in der Bundesrepublik überschritten war. Nun ging es um soziale und politische Bündnisse zwischen der abgeschmolzenen Industriearbeiterschaft, der neuen, hoch qualifizierten wissenschaftlichen und technischen Intelligenz und den sukzessiv neu sich bildenden habituell geprägten Milieus der deutschen Gesellschaft. Die prinzipiell kapitalistische Klassenstruktur der Gesellschaft würde damit seiner Ansicht nach nicht aufgehoben. Wie aber und wodurch bildet sich nun der neue »subjektive Faktor«? Er entsteht in geschichtlichen Lernprozessen über (Selbst-)Aufklärung, Bildung und Kooperationen. Denn Peter von Oertzen blieb dabei: »Niemand, kein Staat, kein Führer, keine Bürokratie, kann sie [die neuen Arbeiter; H. G.] befreien, wenn sie sich nicht selber befreien wollen.«
Andererseits gab es für Peter von Oertzen notwendige Organisationsformen für die politische Veränderung: die Parteien und die Gewerkschaften. Er war 1946 in die SPD eingetreten, weil er sie für diejenige politische Organisation gehalten hatte, die aus ihrer Geschichte ein großes demokratisches Potenzial mit in den nachfaschistischen Neuanfang bringen konnte. Je stärker er jedoch gedanklich seine Vorstellung von der »sozialistischen Demokratie« entwickelte, desto klarer wurde ihm auch, dass die SPD nicht erst seit 1945, sondern bereits in den Jahren der Weimarer Republik begonnen hatte, sich von der orthodox gewordenen marxistischen Theorie zu lösen. Dennoch blieb von Oertzen in der SPD – und in engem Kontakt zu kleinen, eher sektiererischen linkssozialistischen Gruppierungen außerhalb der SPD. Das änderte sich auch nach der Annahme des von ihm abgelehnten Godesberger Programms nicht. Er stellte fest, dass das neue Programm ohne Zweifel den Ansichten der Mehrheit der Mitglieder entspreche; das Programm bestätige, dass die Partei nun das sei, was sie bereits schon lange gewesen war: »eine demokratische und soziale Reformpartei«. Aber »demokratische und soziale Reformarbeit« sei eben auch die »einzig mögliche praktische Politik« und die SPD die »einzige mögliche politische Vertretung der Arbeitnehmerschaft« und neben den Gewerkschaften »die einzige Organisation, in der ein Sozialist wirken kann«.
Seit Ende der 1960er-Jahre hat sich von Oertzen noch einmal mit Nachdruck in die Grundsatzdiskussion der SPD eingebracht und bemüht, marxistisch inspirierte Positionen (wie er sie vertrat) in der SPD zu halten bzw. wieder zu ermöglichen, was ihm auch weitgehend gelang. Aber auch bei ihm fehlte eine Antwort auf die Frage, ob denn der Sozialismus einer an Marx orientierten Richtung wirklich der Ausstattung des menschlichen Gattungswesens entsprach. Peter von Oertzen wurde 1973 Vorsitzender der Kommission zur Erarbeitung des ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens für die Jahre 1975 bis 1985. 1975, als der Orientierungsrahmen von Parteitag der SPD fast einstimmig beschlossen wurde, konnte von Oertzen erklären, dass noch nie ein programmatisches Dokument der SPD »die Notwendigkeit, aber auch die Grenzen von Marktmechanismus und öffentlicher Planung und Lenkung der Wirtschaft so realistisch und kritisch analysiert« habe. Für ihn war es eine entscheidende Frage, ob und wie der Markt als ökonomisches System der Produktion und Verteilung auch »mit anderen als mit kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen und Rahmenbedingungen vereinbar« sein könne. Auch in den beiden Kommissionen für das Berliner Programm von 1989 arbeitete er mit und konnte abschließend feststellen, dass das Programm »immerhin den Umriss einer seriösen Kapitalismuskritik und eines zusammenhängenden objektiv antikapitalistischen Programms politischer, ökologischer und wirtschaftlicher Strukturreformen« enthalte.
Fragt man nach den langfristigen Wirkungen von Peter von Oertzen, so kann man sagen, dass er durch seine politische Arbeit die SPD innen nach links offen gehalten, dass er die Transformation des Kapitalismus durch den demokratischen Sozialismus nie ausgeschlossen und dass er dabei früh und unbeirrbar den sogenannten real existierenden Sozialismus als mit seinem Sozialismusverständnis unvereinbar abgelehnt hat. Bei allem, was er dachte und tat, bemühte er sich, auf dem Boden der Realität zu bleiben; Theorie und Praxis vermochte er in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis zu halten. In einer seiner späten Veröffentlichungen findet sich ein Satz von Martin Buber: »Es geht nicht an, das als utopistisch zu bezeichnen, woran wir unsere Kraft noch nicht erprobt haben.«