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Leonard Nelson (1882-1927) prägte mit seiner Philosophie des ethischen Sozialismus maßgeblich die moderne Sozialdemokratie. Als akademischer Außenseiter und politischer Aktivist verband er kantische Ethik mit sozialistischen Idealen, wobei er vor allem durch das Engagement seiner Schüler politisch und gesellschaftlich wirkte. Nelson forderte eine Gesellschaft, die auf der gleichen Würde aller Menschen und gerechter Selbstbestimmung beruht, und lehnte dogmatische Ideologien ab. Seine Theorien mündeten in die Forderung nach einer Verbindung von persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, die insbesondere in der Nachkriegs-SPD Resonanz fand und bis heute für sozialdemokratisches Denken richtungsweisend ist.
Hören Sie den Eintrag zu Leonard Nelson auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:32 Minuten)
Leonard Nelson (* 11.7.1882 · † 29.10.1927) war sicher kein einfacher Charakter. Rigoros, mitunter rechthaberisch, scharf im Denken und streng in der Lebensführung, leidenschaftlich engagiert für seine Erkenntnisse und ein Idol für seine Schülerinnen und Schüler – so wird der Göttinger Philosoph und Mathematiker beschrieben. Die moderne Sozialdemokratie ist mit ihrer an Grundwerten ausgerichteten Programmatik ohne Nelson nur schwer vorstellbar.
1882 in eine liberale, jüdische Kaufmannsfamilie in Berlin geboren, empfand er seine Schulzeit als intellektuell einengend. Die Werke des Neukantianers Jakob Friedrich Fries eröffneten ihm einen neuen Horizont. Es entstand eine regelrechte Fries-Verehrung, die auch durch den Fries’schen Antisemitismus nicht erschüttert wurde. Zeitlebens blieb dessen Form der Kant’schen kritischen Philosophie sein eigener Ausgangspunkt. Nelsons erster Habilitationsversuch an der Göttinger Universität scheiterte. Die Kommission warf ihm »Selbstüberschätzung« vor (vgl. Vorholt 1998: 26). 1909 wurde er schließlich habilitiert und erhielt in Göttingen eine außerordentliche Professur.
Denken und Handeln bildeten für Nelson einen zwingenden Zusammenhang. »Ist es uns ernst mit unserem Idealismus, so werden wir nicht ruhen, bis wir Mittel und Wege finden, um unsere Ideale zu verwirklichen« (1921 in Heydorn 1974: 266). Er verwandte daher erhebliche Energien darauf, nicht nur ein in sich schlüssiges, streng logisches Gedankengebäude mit Maßstäben für das Zusammenleben der Menschen zu entwickeln; es sollte auch wirken.
Politisch engagierte sich Nelson zunächst für den Liberalismus, im Verlauf des Ersten Weltkriegs fand er zur sozialistischen Arbeiterbewegung. 1917 trat er in die USPD ein, später wurde er Mitglied der SPD und 1925 aus dieser ausgeschlossen. Wirkung entfalteten seine Ideen besonders über seine Schülerinnen und Schüler. Sie bildeten einen untereinander oft eng verbundenen Kreis, der Nelsons Ideen auch nach seinem Tod 1927 verbreitete.
Nelsons Werk ist trotz seines frühen Todes umfangreich. Im Anschluss an Kants kritische Philosophie ging es ihm darum, streng logisch und mitunter mit mathematischer Genauigkeit Maßstäbe für das Zusammenleben der Menschen zu entwickeln. Aus der Perspektive Sozialer Demokratie sind Nelsons Werke »Kritik der Praktischen Vernunft« (1917) und »System der philosophischen Rechtslehre und Politik« (1924) von besonderem Interesse.
In der »Kritik der Praktischen Vernunft« war es sein Anliegen, für die Beziehung der Menschen untereinander ein Sittengesetz zu beschreiben. Sein Ausgangspunkt und wesentlicher Gegenstand war dabei die gleiche Würde der Menschen, die wiederum in der Fähigkeit aller Menschen zur vernünftigen Selbstbestimmung begründet ist. Wenn in einer Gesellschaft diese freie Selbstbestimmung durch die Interessen anderer berührt wird, gilt es abzuwägen: »Handle nie so, daß du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.« (Nelson 1970 [1917]: 133). Wenige Seiten später leitet er daraus ab: »Wahre die Gleichheit der persönlichen Würde oder: handle gerecht.« (Nelson 1970 [1917]: 136). Dieses Gebot hat für Nelson verpflichtenden Charakter, ein Versagen hierbei sei nicht zu entschuldigen.
Im »System der philosophischen Rechtslehre und Politik« legte Nelson ein umfassendes rechts- und staatsphilosophisches System vor. Auf die Frage, nach welchen Maßstäben Einschränkungen der Freiheit des Einzelnen im gesellschaftlichen Zusammenleben zu regeln sind, antwortet er klar: »Gerechtigkeit ist Recht. Gerechtigkeit ist die gesuchte Regel für die gegenseitige Beschränkung der Freiheit des einzelnen in ihrer Wechselwirkung«. (Nelson 1976 [1924]: 90) Das bedeutet konkret, Personen seien bei Interessenskonflikten zunächst als Gleiche zu behandeln, sofern kein schwerwiegender Grund vorläge, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertige. Das Rechtsgesetz ist bei Nelson mithin nicht blinde Gleichmacherei, sondern stets vor dem Hintergrund der tatsächlichen Lage abzuwägen.
Damit entwickelte Nelson die Theorie eines liberalen Sozialismus, in dem Elemente aus Liberalismus und Sozialismus produktiv verbunden sind. Aus dem Liberalismus übernahm er die Idee der persönlichen Selbstbestimmung und der Freiheit des Einzelnen vor staatlicher Bevormundung, aus dem Sozialismus übernahm er die Vorstellung eines Eingriffs in das freie Spiel der Kräfte.
Dieser liberale Sozialismus unterschied sich deutlich von dem Parteimarxismus, der spätestens im Erfurter Programm (1891) die offizielle Programmatik der SPD durchdrang. Vor allem die ethische Begründung sozialistischer Politik als sittliche Notwendigkeit markierte eine wesentliche Differenz. Nelson ging ferner nicht davon aus, dass gesellschaftliche Veränderungen nur mit veränderten Produktionsweisen zu erreichen seien und sich gesetzmäßig vollzögen.
Im Gegenteil: Es komme auf das eigenständige Denken und Erkennen der Menschen an. Das vernunftorientierte Streben der Menschen nach Gerechtigkeit berge die Kraft zu gesellschaftlichen Veränderungen. Der Glaube an einen sich zwangsläufig vollziehenden historischen Prozess ist aus der Perspektive Nelsons fatal, nicht nur, da er auf falschen Annahmen beruhe, sondern auch, weil er zur Passivität der Menschen führen könne. Das Sozialismuskonzept Nelsons ist also ethisch begründet, nicht ökonomisch und zugleich prinzipienfest, ohne die vorgefundene Realität dogmatisch zu überformen und entsprechend realistisch.
In seinem Aufsatz zu »Demokratie und Führerschaft« (1920) führt Nelson aus, dass, wenn sich objektiv feststellen lasse, was vernünftig und mithin rechtens ist, dies nicht durch zufällig demokratisch gefundene Mehrheiten zu hinterfragen sei. Um dem Ideal des Rechts zur Geltung zu verhelfen, bleibe nur eine Herrschaft der Weisen. Hinreichende Gebildete und Rechtsliebende sollten die Regentschaft im Staat übernehmen, dann allerdings nicht kraft blinder Autorität herrschen, sondern aufgrund des Vertrauens der Geführten in die höhere Einsicht eines Führers. Auf die Frage, wie diese Führerauswahl gelingen und vor Missbrauch geschützt werden könne, gab Nelson keine befriedigende Antwort.
Für die Realisierung seiner Ideale setzte Nelson vor allem auf junge Menschen. Er gründete 1917 den Internationalen Jugend-Bund (IJB). Unter anderem wegen ihrer Ablehnung der Demokratie wurden die Mitglieder des IJB 1925 aus der SPD ausgeschlossen (vgl. Franke 1991: 201 ff.; Vorholt 1998: 178 ff.). 1926 gründete Nelson den Internationale Sozialistischen Kampfbund (ISK). In dem von ihm gegründeten und in seinem Geiste von Minna Specht geführten Landerziehungsheim Walkemühle bei Kassel lernten die Schülerinnen und Schüler unter anderem die von Nelson weiterentwickelte Methode des sokratischen Gesprächs. In angeleiteten Kleingruppen sollten durch verständigungsorientierte und zielgerichtete Diskussionen Wahrheiten gefunden und vernünftige Maßstäbe für das Zusammenleben der Menschen entwickelt werden.
Wer sich Nelson anschloss, der verpflichtete sich nicht nur, seine Erkenntnisse in Gewerkschaften und SPD einzubringen und aktiv zu vertreten, sondern auch in der Lebensführung strengen Prinzipien zu folgen. Alkohol- und Nikotinabstinenz und unbedingte Pünktlichkeit gehörten ebenso dazu wie Vegetarismus – ein Schlachthofbesuch war verpflichtend – und ein zölibatäres Leben. Zusammen mit dem mitunter polemischen, keinen Widerspruch duldenden Auftreten Nelsons verwundert es nicht, dass bei Weitem nicht alle, die den Nelsonianern beitraten, dabei blieben.
Von denjenigen, die verblieben, wurde Nelson aber mitunter in hohem Maß verehrt. Adolf Lowe beschrieb Nelson noch ein Vierteljahrhundert nach dessen Tod als »prothetische Persönlichkeit, […] intellektuellen Bereiniger und […] moralischen Erneuerer.« (Lowe in Specht/Eichler 1953: 149)
In der Philosophie wurde Nelson zeitlebens und auch posthum nur begrenzt wahrgenommen. Auch sein Einfluss auf die Theorie und Praxis der Sozialdemokratie war zunächst bescheiden. Nicht zu unterschätzen ist allerdings die über seine Schülerinnen und Schüler vermittelte Wirkung nach seinem frühen Tod.
Schon während der Zeit des Nationalsozialismus, als der ISK verboten wurde und die Walkemühle nur im dänischen Exil fortgeführt werden konnte, zeigte sich die Schlagkraft der von Nelson gegründeten Organisation. Der ISK war gerade aufgrund seiner kleinen und eng aufeinander bezogenen Organisationsform besser als andere in der Lage, konspirativ zu arbeiten und Widerstand zu leisten.
In den Theoriedebatten der bundesrepublikanischen SPD schließlich entfalteten Nelsons Anhänger große Wirkung. Die Begründung sozialdemokratischer Politik durch ethische Orientierungen im Godesberger Programm von 1959, mitformuliert etwa von Willi Eichler (S. 98-104), Grete Henry-Hermann, aber auch Susanne Miller (S. 235-241) oder Gerhard Weisser, ist ein Beispiel dafür.
Die Demokratiedistanz Nelsons war dabei durch die Erfahrungen der Nelsonianer im Exil der funktionierenden angelsächsischen und skandinavischen Demokratien überholt. Sie war aus Perspektive Willi Eichlers durch das Grundgesetz mit seinem geschützten Grundrechtekatalog auch inhaltlich obsolet (vgl. Eichler 1972: 40). Dadurch wurde der Blick frei auf den wesentlichen Beitrag Nelsons zur Theoriedebatte der Sozialen Demokratie: der Orientierung an klaren, logisch zu begründenden Prinzipien und der Freiheit von dogmatischen Einengungen.
Teile des Nelson’schen Werks wirken heute noch erstaunlich zeitgemäß. Nelsons Theorie der Gerechtigkeit, die die selbstbestimmte Freiheit des Einzelnen in Bezug zur Gleichheit setzt und dabei unterschiedliche reale Bedingungen berücksichtigt, erinnert an moderne Gerechtigkeitstheorien und ist Bestandteil aktueller Konzepte Sozialer Demokratie. Sein Verständnis eines freiheitlichen und zugleich prinzipienfesten Sozialismus schützt vor dogmatischer Engführung einerseits und Beliebigkeit andererseits. In Zeiten andauernder Debatten darum, wofür die Sozialdemokratie steht, bietet Nelson wichtige Orientierungsmarken.