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Willi Eichler (1896-1971) Schlüsselfigur der SPD und geistiger Vater des Godesberger Programms, prägte die Neuausrichtung der Partei maßgeblich. Der in Berlin geborene Eichler fand über die Philosophie Leonard Nelsons zu seinem politischen Engagement und leitete den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). Seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verstärkten sein Streben nach einer gerechten und freien Gesellschaft. Nach dem Krieg förderte Eichler die Neuausrichtung der SPD zur Volkspartei und betonte in der Programmarbeit die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Eichler setzte sich zeitlebens für Bildung und politische Partizipation ein und war eine Schlüsselfigur der deutschen Sozialdemokratie.
Hören Sie den Eintrag zu Willi Eichler auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:00 Minuten)
Als Sohn eines Postbeamten wuchs Willi Eichler (* 7.1.1896 · † 17.10.1971) in Berlin auf. Die einfachen Lebensumstände seiner Familie führten dazu, dass er schon neben der Schule arbeitete und unmittelbar nach der Volksschule eine Lehre in einem Bekleidungsgeschäft begann. Es war ein Lehrer, der Eichler mit den Ideen des Göttinger Philosophen Leonard Nelson (S. 256-262) bekannt machte, die Eichlers Leben und Werk maßgeblich prägten. Die Vorstellung, dass jeder durch vernunftorientiertes und logisches Denken die Prinzipien eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens erkennen könne, besaß zeitlebens absolute Überzeugungskraft für Eichler.
Die Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg machten seine Suche nach Prinzipien für ein friedliches Miteinander umso dringender und führten ihn stärker an Nelson heran. 1924 wurde Eichler Privatsekretär Nelsons. Damit war er im Zentrum einer kleinen, aber langfristig wirkmächtigen Organisation tätig. Der Internationale Jugendbund (IJB; später Internationaler Sozialistischer Kampfbund, ISK) war eine von Nelson initiierte und straff hierarchisch organisierte politische Gruppe, in der nicht nur die ethischen Grundlagen einer an gleicher Freiheit orientierten Gesellschaft in den Blick genommen wurden, sondern in der auch junge Menschen ausgebildet wurden, die mit diesen Ideen ernst machten und sie in Gesellschaft und Politik, vor allem in die Organisationen der Arbeiterbewegung, trugen. Eichler sprach zu Recht von einem »Orden«, denn gleich einer Ordensgemeinschaft forderte der IJB/ISK absoluten Einsatz für die gemeinsame Sache (vgl. Klär 1982).
Nach Nelsons Tod 1927 wurde Eichler der Leiter des ISK. Seine bemerkenswerten journalistischen Fähigkeiten und sein enormes Arbeitspensum richteten sich in den folgenden Jahren zunehmend auf die Bekämpfung des Nationalsozialismus. In zahlreichen Artikeln setzte sich Eichler kritisch mit den Positionen der SPD und ihrem – aus Eichlers Sicht nicht ausreichenden – Widerstand gegen die Nationalsozialisten auseinander (vgl. Lindner 2006). Die Tageszeitung »Der Funke«, die der ISK ab 1932 herausgab, sprach sich auch für ein stärkeres Zusammengehen von SPD und KPD im Kampf gegen die Nationalsozialisten aus.
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten ging Eichler 1933 zunächst ins französische Exil. Auch von Paris aus versuchte er, publizistisch den Nationalsozialismus zu bekämpfen und die bemerkenswerten Widerstandsaktivitäten des ISK in Deutschland zu koordinieren. Im Londoner Exil ab 1939 lernte Eichler Susanne Miller (S. 235-241) kennen – mit der ihn fortan eine enge Lebens- und Arbeitsgemeinschaft verband. Hier traf er auf Exilanten anderer sozialistischer Splittergruppen aber auch der SPD wie Erich Ollenhauer, Hans Vogel oder Fritz Heine.
In diesem Umfeld wurden in zweifacher Hinsicht Entwicklungen eingeleitet, die für die Nachkriegsgeschichte der SPD wichtig werden sollten. Erstens kam es mit dem Zusammenschluss von ISK, SPD und anderen Gruppierungen zur »Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien« 1941 zu einer organisatorischen Annäherung linker politischer Vereinigungen, die eine Voraussetzung für die spätere Volksparteiwerdung der SPD war. Zweitens wurden zahlreiche ideelle Grundlagen der Nachkriegs-SPD im Exil entwickelt, etwa in der von der »Union« veröffentlichten Schrift »Zur Politik deutscher Sozialisten« (vgl. Lompe/ Neumann 1979: 14). Vor dem Hintergrund dieser wachsenden Nähe zur SPD war es nicht überraschend, dass Eichler 1945 die Teile des ISK, die den Nationalsozialismus überstanden hatten, in die SPD eingliederte und den ISK als eigenständige Organisation aufl öste (vgl. Lemke-Müller 1988: 190 f.). Große Herausforderungen – so Eichlers Überzeugung – bedürften auch großer politischer und gesellschaftlicher Bündnisse (vgl. Harder 2013: 94).
1946 nach Deutschland zurückgekehrt, übernahm Eichler zunächst die Leitung der Rheinischen Zeitung. Er wurde Mitglied im Parteivorstand der SPD, zunächst als Repräsentant des ISK.
Schon 1946 hatte Eichler von der SPD die Klärung von zentralen programmatischen Begriffen gefordert. Neue gesellschaftliche Situationen erforderten neue Ordnungsvorstellungen. Nachdem eine Wahlniederlage auf die andere folgte, wurde die Notwendigkeit einer weitreichenden organisatorischen und inhaltlichen Neuausrichtung immer deutlicher.
Willi Eichler wurde 1954 von Erich Ollenhauer die Verantwortung für die Vorbereitung der programmatischen Erneuerung der Partei übertragen. Die von ihm geleitete »Kommission zur Weiterführung der Parteidiskussion« war plural besetzt. Neben anderen Nelsonianern wie Gerhard Weisser waren auch marxistisch geprägte Theoretiker wie Wolfgang Abendroth (S. 33-39) und Empiriker wie Otto Stammer in der Kommission vertreten. Eichler selbst war keinem Parteiflügel eindeutig zuzuordnen, was sich in den Programmdiskussionen als Vorteil erwies.
Mit dem 1959 in der Godesberger Stadthalle verabschiedeten Programm war in vielfacher Hinsicht ein Meilenstein gelungen. Die marxistische inspirierte Geschichtsmetaphysik, die noch das Heidelberger Programm der SPD von 1925 geprägt hatte, wurde aufgegeben. Nicht mehr eine naturnotwendige Entwicklung werde zwangsläufig zum Zusammenbruch des Kapitalismus und damit zu einer revolutionären Entwicklung führen. Die Verwirklichung des Sozialismus sei – so das neue Programm – eine dauernde Aufgabe, bei der es immer wieder darauf ankomme, Interessen friedlich auszuhandeln mit dem Ziel maximaler Freiheit für alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen. In diesem Gedanken der gleichen Freiheit war das Kant’sche Motive der Nelsonianer klar erkennbar.
Ethische Grundlage des Programms bildete die Orientierung an den drei Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Sie waren schon in den Anfängen der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert gegenwärtig, dann aber von der marxistisch geprägten Klassenanalyse überlagert (vgl. Krell/Woyke 2015: S. 93 ff.). Mit dem wieder stärkeren Bezug auf ethische Prinzipien war nicht nur für die innerparteiliche Willensbildung ein wichtiges Signal gesetzt, sondern auch für die Offenheit der Sozialdemokratie nach außen. Letztbegründungen wie Weltanschauungen oder Religionen liegt immer ein Wahrheits- und Ausschließlichkeitsanspruch zugrunde. Sie wirken trennend. Sie zu diskutieren war aus Perspektive Eichlers nicht weiterführend. Werte allerdings können die verbindende Grundlage für gemeinsames Handeln sein, egal ob man sie aus religiösen, aus philosophischen oder anderen Motiven ableitet.
Mit diesem Programm gelang die gesellschaftliche Öffnung der SPD zu anderen Teilen der Gesellschaft. Exemplarisch sind die Kirchen zu nennen. Von Wahl zu Wahl konnte die SPD auf Grundlage dieses zeitgemäßen Programms immer mehr Zustimmung gewinnen und 1969 mit Willy Brandt (S. 67-72) den Bundeskanzler stellen.
Vielleicht war es Willi Eichlers eigene Biografie, die ihn für die besondere Bedeutung von Bildung sensibilisierte. Als »schon zu seiner Zeit selten gewordene[r] Fall eines hochgebildeten Autodidakten« (Grebing 2005: 427) war ihm bewusst, dass Bildung nicht nur für die individuelle Entfaltung einer eigenen Persönlichkeit, sondern auch für politische Bewegungen insgesamt entscheidend ist.
Besondere Bedeutung kam aus seiner Sicht einer richtig verstandenen Erwachsenenbildung zu, die zum kritischen Denken befähigt:
»Erwachsenenbildung ist mehr als Wissens- und Fertigkeitsvermittlung. Sie kann nur geleistet werden, wenn die ihr gewidmeten Heime und Schulen Stätten der Begegnung werden, die Gelegenheit geben zu wirklichen Gesprächen, in den Vorurteile überwunden werden und die Möglichkeit eröffnet wird, in Arbeits- und Lebensgemeinschaften wirkliche Selbstverständigung und Verständigung mit anderen zu erleben […].« (Eichler 1953 in Lompe/Neumann 1979: 153).
Für seine Arbeit als programmatischer Vordenker hat er einen umfassenden Diskussionsprozess in der gesamten Partei und darüber hinaus initiiert. Er selbst war auf allen Ebenen der Partei in Hunderten von Diskussionsveranstaltungen engagiert und nahm sich bewusst Zeit dafür. Aber er schuf auch Strukturen, die den offenen Dialog nachhaltig ermöglichen und befördern sollten.
So sollte die Einrichtung einer Heimvolkshochschule der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bergneustadt (1956) den Weg nach Godesberg ebenso vorbereiten wie die Gründung einer wertorientierten, aber geistig offenen Zeitschrift. »Die Neue Gesellschaft« (heute »Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte«) sollte ab 1954 zwar von »Genossen herausgegeben, aber […] nicht das Sprachrohr des Parteivorstands« sein (Eichler 1954, zit. n. Meyer 2004: 10).
Als Abschluss seines politischen Wirkens übernahm er folgerichtig das Amt des hauptamtlichen Vorstandsmitglieds der Friedrich-Ebert-Stiftung (1968 bis 1971). Willi Eichler starb am 17. Oktober 1971.
Das von Eichler geprägte und 1959 vorgelegte Grundwerteverständnis wurde mehrfach weiterentwickelt und auf veränderte Zeiten bezogen, jedoch nie grundsätzlich infrage gestellt. Aber nicht nur dieser Beitrag zum programmatischen Kern der SPD ist es, was von Eichler bleibt. Es ist auch die Methode seines Denkens und Handelns, die von ungebrochener Aktualität ist. Geistige Offenheit und Bereitschaft zum echten Dialog bei gleichzeitig klarer Wertorientierung sind eine vielversprechende Haltung in einem Zeitalter, in dem zu Recht umfassende Partizipation eingefordert und verbindende Werte in einer auseinanderstrebenden Gesellschaft immer nötiger werden.
Eine Gesamtedition des umfangreichen Werks von Willi Eichler liegt nicht vor. Ausgewählte Publikationen finden sich in: