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Susanne Miller

So würde ich noch einmal leben. Susanne Miller

Kurzbiografie

Susanne Miller (1915-2008) wuchs in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus auf und war geprägt vom ethischen Sozialismus Leonard Nelsons, weshalb sie ihr Leben dem Kampf gegen soziale Ungleichheit widmete. Während des Nationalsozialismus emigrierte Miller nach England und war im Widerstand aktiv. Nach Kriegsende kehrte sie nach Deutschland zurück und arbeitete in der SPD, wo sie am Godesberger Programm mitwirkte und ihre akademische Laufbahn fortsetzte. Miller leistete bedeutende Beiträge zur SPD-Programmentwicklung und prägte mit ihrer kritischen, aber kompromissbereiten Haltung die Partei.

Hörbuch

Hören Sie den Eintrag zu Susanne Miller auch als Hörbuch. (Hörzeit 10:53 Minuten)


Susanne Miller – Nelsonianerin ein Leben lang

von Thomas Meyer

Biografische Skizze

Susanne Miller (* 14.5.1915 · † 1.7.2008) wurde in Sofia, Bulgarien als Tochter einer Familie des gehobenen jüdischen Bürgertums geboren. Bald nach ihrer Geburt zog Susanne Miller mit ihrer Familie nach Wien, wo sie den größten Teil ihrer Kindheit verbrachte. Erst mit 14 Jahren kehrte sie in ihre Geburtsstadt zurück und besuchte dort bis zum Abitur (Matura) das deutsche Gymnasium. Sie lebte in dieser Zeit im Wesentlichen in der deutschsprachigen Welt ihrer Familie und Schule mit nur geringen Kontakten zur bulgarischen Umwelt. Sehr früh schon störten sie zwei Dingen am Leben ihrer großbürgerlichen Familie: der Umgang mit den als niedrig stehend behandelten Bediensteten und eine gewisse Leere inmitten der äußerlichen Sorgenfreiheit. Die Kindheitserfahrung eines krassen menschlichen Unterschieds zwischen den hochgestellten, befehlenden Reichen und dem verachteten, arbeitenden Teil der Gesellschaft beschäftigte sie stark und ließ sie nie mehr los. Dabei ging es ihr nicht nur um die Frage der Armut, sondern vor allem um die entwürdigende Behandlung. Dagegen regte sich bei ihr, sobald sie dieser Verhältnisse gewahr wurde, starker Protest. Für beide Herausforderungen begann sie Lösungen zu suchen, die sie überzeugen konnten: den Inhalt eines sinnvolleren, von wertvollen Zielen geprägten Lebens für sich selbst und Wege für die Überwindung der sozialen Klassenteilung.

Im deutschsprachigen Gymnasium in Sofia fand sie in Gestalt ihres Philosophielehrers Zeko Torbov eine einheitliche Antwort auf ihre beiden Lebensfragen. Torbov war nämlich ein äußerst kundiger und hingebungsvoller, aber auch gänzlich unkritischer Anhänger der philosophischen Lehre und sozialistischen Doktrin des Göttinger Philosophen und Mathematikers Leonard Nelson (S. 256-262). Die Welt dieses Denkens und die mit ihr verbundene Praxis, in der sich ein überzeugendes Sinnangebot für die eigne Lebensführung und ein großes Projekt für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verbanden, schlugen sie sofort in ihren Bann. Nelsons klare Ethik mit ihrem kategorischen Imperativ, die Interessen eines jeden Menschen stets gleich zu achten und das dazu gehörige aufopferungsvolle politische Engagement bestimmten fortan ihr Leben und ihre Arbeit.

Nelson zufolge erweist sich im Selbstvertrauen der Vernunft in ihre eigene Erkenntnisfähigkeit die Geltung des allgemeinen Sittengesetzes: »Handle jederzeit so, dass Du die Interessen aller von Deinem Handeln Betroffenen als in Deiner eigenen Person vereinigt denken kannst.« Diese Abwägungsregel, schon in der Konzeption der Empirie näher als die kantische Vorläufervariante, konnte nun Nelson zufolge nicht auf den individuellen Handlungskreis beschränkt bleiben, wenn sie wirkliche Geltung erlangen sollte. Sie musste zum Rechtsgrundsatz für die Organisation des ganzen staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens werden. Und sie verpflichtet den einzelnen Menschen, der das erkannt hatte, in diesem Sinne entschieden zu handeln.

Es kennzeichnete Miller besonders, dass sie trotz ihrer selbstlosen Hingabe an das Nelson’sche Ideal eines ethischen Sozialismus, das weit über eine bloße Parteimitgliedschaft hinaus die Unterordnung der gesamten Lebensführung unter das große Gemeinschaftsziel verlangte, schon seit diesen frühen Anfängen jede dogmatische Enge verabscheute. Später bestanden ihre charakteristischen Beiträge in den großen politischen und theoretischen Diskussionskreisen der deutschen Sozialdemokratie, denen sie angehörte, vor allem in trockenen sokratischen Rückfragen, mit denen sie allzu abstrakte Konstruktionen unter dem Beifall der übrigen Teilnehmer zurück auf den Boden der praktischen Erfahrung holte.

Als Ziel ihrer Abiturreise wählte sie mit 17 Jahren die Kommune der Nelsonianer in Berlin, wo sie vom distanziert-strengen Umgang der Zugehörigen untereinander befremdet war, sich in der Wahl eines Engagements für die von ihnen vertretene Sache eines ethischen Sozialismus aber dennoch vollkommen bestätigt sah. Dabei ist es ohne Schwanken ihr Leben lang geblieben. Ein soziales Praktikum im Arbeitermilieu Wiens und der Kontakt mit sozialistischen Studenten während ihres Studiums der Geschichte, Anglistik und Philosophie, besonders aber die brutale Niederschlagung des Wiener Arbeiteraufstands während ihres Aufenthalts 1934 vertieften diese Prägung. Ursprünglich zum Lernen der englischen Sprache vorgenommene Besuche in London führten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und Österreich bald dazu, dass sie als politische Emigrantin im Kreise britischer und deutscher Nelsonianer und Sozialisten bis zum Ende des Kriegs dort lebte, arbeitete und an der politischen Widerstandsarbeit gegen Hitlerdeutschland teilnahm.

Sie ergriff, gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Willi Eichler (S. 98-104), die erste Möglichkeit zur Rückkehr nach Deutschland 1946, um sich in den Dienst des demokratischen Wiederaufbaus zu stellen, zunächst als Mitarbeiterin Eichlers, der erst Chefredakteur der Rheinischen Zeitung und später SPD-Vorstandmitglied war. An der Entstehung des Godesberger Programms von 1957 hat sie als Sekretärin und Protokollantin mitgewirkt. Nach dessen Verabschiedung setzte sie ihr Geschichtsstudium fort und promovierte über die Programme der SPD vor dem Ersten Weltkrieg. In den Folgejahren legte sie einige grundlegende Forschungsarbeiten zur Geschichte der SPD, insbesondere zu deren Programmen und dem Verhältnis von Theorie und Praxis, vor.

 

Programmentwicklung jenseits aller Dogmen

Für Susanne Miller hatte die Nelson’sche Lehre vor allem drei Konsequenzen, für die es in einer sozialdemokratischen Partei zu werben galt, in der bis in die 1970er-Jahre hinein vor allem die intellektuellen Milieus des Marxismus viele Anhänger hatten. Zum einen gelte es zu erkennen, dass die Ziele und Maßstäbe sozialdemokratischer Politik nur ethische Ideale in der Form politischer Grundwerte sein können, von denen die möglichen Mittel der Politik stets klar zu trennen sind. Es geht immer um die Gleichheit der Freiheit. Zum anderen ist, wie Nelson es formuliert hatte, der Kompromiss die Verwirklichungsform des Ideals auf Erden. Eine Politik des jetzt Möglichen und die Gewinnung möglichst vieler Verbündeter, um diese Politik zu verwirklichen, sind höchste politische Pflicht. Schließlich: Für die Verwirklichung des sozialistischen Ideals kommt alles auf handelnde, verantwortungsvolle Menschen und nicht auf Strukturen oder andere Abstraktionen an. Das waren die wichtigsten Lehren sowohl des Nelson’schen ethischen Sozialismus wie auch der historischen Studien Susanne Millers zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.

Die Ergebnisse ihrer Forschungen brachte sie in der Folgezeit bis kurz vor ihrem Tod unermüdlich in ungezählte programmatische Gremien der Sozialdemokratie und in Bildungsveranstaltungen mit sehr unterschiedlichen Teilnehmern ein: Studenten, Berufstätige, Wissenschaftler, Parteimitglieder. Miller hat keine sozialistische Doktrin entwickelt oder verkündet. Im Gegenteil, ihr Beitrag zur Theorie der Sozialen Demokratie besteht eher in der wirksamen Demontage des Anspruchs alles Doktrinären, theoretisch Abgeschlossenen im sozialdemokratischen Diskurs und im Anspruch, dennoch einen klaren und unbedingt verpflichtenden Zusammenhang zwischen den ethisch gerechtfertigten Grundwerten und einer die notwendigen Kompromisse nicht scheuenden Tagespraxis zu begründen. Ihre historischen Studien und politischen Aufsätze waren in der Hauptsache diesem Ziel gewidmet. Ihre wesentliche Leistung, die auf alle ausstrahlte, die sie kannten, war das praktische Beispiel eines Lebens für eine gerechte Gesellschaft, in der sich der Anspruch der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung verkörperte: die jederzeit glaubhafte Übereinstimmung von Zwecken und Mitteln, Zielen und Handlungen. Das war auch ihre konzeptionelle Botschaft an die Partei beim Schreiben ihrer programmatischen Texte.

 

Godesberg, Berlin, Hamburg

Der Linkskantianismus Leonard Nelsons war mit dem Godesberger Programm eine der wichtigsten Grundlagen sozialdemokratischen Denkens geworden. Miller vertrat diese Position nie als eine geschlossene Lehre, sondern als eine offene Orientierung für Denken und Handeln in den Gesprächen. Im Zentrum aller Erwägungen müsse immer die praktische Erfahrung stehen: das Verständnis der Realität und des Denkens der Menschen, für die Sozialdemokraten eintreten wollten, und das Suchen nach Veränderungen, die das Leben der Menschen konkret verbessern. In diesem Geist hat sie sehr aktiv und oft an zentraler Stelle die Nachgodesberger Programmentwicklung der SPD vom Berliner Programm 1989 bis zum Hamburger Programm 2007 und darüber hinaus stark mitgeprägt, ebenso, als langjähriges Mitglied der SPD-Grundwertekommission, alle wichtigen Orientierungspapiere der Partei, einschließlich des berühmt gewordenen Dokuments von 1987: Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit, das die SPD in der Phase einer als immer bedrohlicher empfundenen Hochrüstung mit atomaren Kurzstreckenraketen in Deutschland gemeinsam mit der SED erarbeitet hat.

 

Kompromiss als Verwirklichung des Ideals auf Erden

Die in ihren historischen Werken, welche auch in der Historikerzunft hoch anerkannt sind, begründete Botschaft für Denken und Handeln der Sozialen Demokratie ist von bleibender Bedeutung. Es gilt vor allem:

  • Die unbedingt geltenden ethischen Grundwerte sind von den jeweils am besten für ihre Verwirklichung geeigneten politischen Mitteln immer klar zu trennen, damit die Ergebnisse der Politik stets aufs Neue im Lichte der eigentlichen Ziele, um die es geht, beurteilt werden können.
  • Nur die politischen Grundwerte können für eine Partei und ihre Mitglieder verbindlich sein, nicht aber die individuellen Motivationen für den Glauben an die Geltung dieser Werte.
  • Gute Kompromisse sind, wie Nelson es sah, die Verwirklichungsform des Ideals auf Erden.
  • Es kommt in der politischen Praxis in der Hauptsache und letztendlich immer auf die handelnden Menschen an. Wer bereit, ist politische Verantwortung zu übernehmen, muss die Fähigkeit erwerben, glaubwürdig vorzuleben, was er vertritt.

Werk

  • Miller, Susanne (2005), So würde ich noch einmal leben. Erinnerungen, aufgezeich. v. Antje Dertinger, Bonn.
  • Miller, Susanne (1963), Das Problem der Freiheit im Sozialismus, Bonn.
  • Miller, Susanne (1978), Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918–1920, Düsseldorf.

Literatur

  • Meyer, Thomas (1994), Ethischer Sozialismus bei Leonard Nelson. In: Holzhey, Helmut (Hg.), Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus, Frankfurt a. M., S. 301-315.
  • Meyer, Thomas (2005), Kant und die Links-Kantianer. Liberale Tradition und Soziale Demokratie, in: Gerhardt, Volker (Hg.), Kant im Streit der Fakultäten, Berlin/New York, S. 171-187.

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