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Franz Mehring (1846-1919) entwickelte sich von einem Kritiker der Sozialdemokratie zu einem ihrer wichtigsten Historiker und Theoretiker auf dem linken Flügel. Ursprünglich im liberalen Spektrum tätig, schloss er sich später der Sozialdemokratie an und engagierte sich in der Spartakusgruppe. Seine historischen Studien und seine Beteiligung an der marxistischen Theoriebildung, insbesondere durch seine Marx-Biografie, machten ihn zu einer Schlüsselfigur der Arbeiterbewegung. Mehring setzte sich für die kulturelle Bildung der Arbeiterklasse ein und blieb trotz seiner zunehmend kritischen Haltung gegenüber der parlamentarischen Demokratie ein einflussreicher Denker innerhalb der sozialistischen Bewegung.
Hören Sie den Eintrag zu Franz Mehring auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:36 Minuten)
Franz Mehring (* 27.2.1846 · † 28.1.1919) sah sich Anfang der 1890er-Jahre zwischen allen Stühlen:
»Wir leben hier sehr einsam, da unsere Bourgeoisbekannten sich nach und nach zurückgezogen haben und unser Verkehr mit Parteigenossen durch mein unheilbares Zerwürfnis mit [Paul] Singer sehr erschwert ist«,
schrieb er im November 1892 an Karl Kautsky (S. 166-172) (in Ratz 1997: 254).
Vor 1890 wäre auch kaum jemand auf die Idee gekommen, Franz Mehring in die Reihe der »Vordenker der sozialen Demokratie« einzureihen. Antisemitische Äußerungen sowie eine scharfe Kritik an der Sozialdemokratie hatten seine Publizistik in den 1870er- und 1880er-Jahren geprägt; eine erste, frühe Annäherung an die deutsche Arbeiterbewegung in den späten 1860er-Jahren war dadurch wieder abgebrochen. In Broschüren- und Buchform sowie in Aufsätzen für die »Gartenlaube« hatte er um 1880 versucht, um den »Socialismus, diese große Krankheit des neunzehnten Jahrhunderts«, »feste Gräben« zu ziehen (1877 in Beutin/Hoppe [Hg.] 1997: 49 f.).
Geboren wurde Mehring als Sohn eines preußischen Beamten und Offiziers. Er studierte wohl eher sporadisch in Leipzig und Berlin, war Mitglied einer Burschenschaft und wurde 1882 an der Universität Leipzig – ohne Examen – mit seiner Schrift »Die deutsche Sozialdemokratie. Ihre Geschichte und ihre Lehre« promoviert. Pläne für eine akademische Laufbahn gab Mehring auf (Lambrecht 1985: 230 ff.), sodass er als Journalist, Redakteur und Autor für verschiedene (national-)liberale Blätter arbeitete. Diese Tätigkeiten setzte Mehring nach 1890 auch in der Sozialdemokratie fort – er schrieb vor allem für die »Neue Zeit« und von 1902 bis 1907 war er Chefredakteur bei der »Leipziger Volkszeitung«. Er leitete Mitte der 1890er-Jahre den »Verein Freie Volksbühne« und war als Lehrer an der 1906 gegründeten Parteischule tätig.
Mehring blieb eine widersprüchliche Persönlichkeit. Im Spektrum der Sozialdemokratie ließ er sich auf dem linken Flügel verorten, lehnte revisionistische Bestrebungen ab und hatte Sympathien für die Idee des Massenstreiks (Weber/Herbst 2008: 588). Auf kulturpolitischem Gebiet sah er jedoch seine Mission vor allem darin, das bürgerliche Erbe, die Großen der deutschen Geistesgeschichte – Lessing, Herder, Goethe, Schiller und Heine – der Arbeiterschaft näher zu bringen. Dem modernen Naturalismus stand er – wie viele andere Sozialdemokraten – distanziert gegenüber. Leicht machte es die Sozialdemokratie ihrem bedeutenden Historiker nie. 1903 auf dem Parteitag in Dresden wurde Mehring – mehr als 20 Jahre nach seinem Parteibeitritt und mehr als dreißig Jahre nach seinen antisozialdemokratischen Schriften – seine Nähe zur bürgerlichen Publizistik immer noch zum Vorwurf gemacht. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges entfernte er sich erneut von der Sozialdemokratie, schloss sich Rosa Luxemburg (S. 214-220) an und war im Januar 1916 Teilnehmer jener Konferenz, auf der sich die Spartakusgruppe gründete. Mehring starb am 29. Januar 1919.
Mehring schrieb umfangreiche Studien zur Geschichte Preußens und der Sozialdemokratie. Aber ein geschlossenes theoretisches Werk, in dem er seine politisch-ideologischen Vorstellungen entwickelt hätte, verfasste er nie. Aus seiner mehr als vierzig Jahre dauernden journalistischen Arbeit für die verschiedensten Medien lassen sich jedoch einige zentrale Gesichtspunkte herauskristallisieren.
Zugespitzt lässt sich formulieren, dass Mehring dem heutigen antirevolutionären Verständnis von sozialer Demokratie am nächsten kam, als er noch abseits der Sozialdemokratie stand. Es ging ihm in seiner liberalen Phase in den 1870er- und 1880er-Jahren um eine »Reform des Kapitalismus: die Verhinderung der Verelendung, die Offenhaltung von Aufstiegschancen« (Kramme 1980: 40). Noch stellte er die Demokratisierung der Gesellschaft hinten an. Erst am Ende dieser Phase schwebte ihm eine »Sozialreform von unten« vor, die »den arbeitenden Klassen die politische Freiheit gewährt und ihnen dadurch die Möglichkeit eröffnet, selbst die Beseitigung ihrer berechtigten Beschwerden zu erstreben und – zu erreichen« (1884 in Höhle 1958: 415). Nach seinem Beitritt zur Sozialdemokratie entfernte er sich von Reformmodellen und schrieb revolutionärradikale Analysen: »Nur die proletarische Welt kann die kapitalistische aus den Angeln heben« (1892/93 in Kramme 1980: 100).
Auch die parlamentarische Demokratie bzw. den »bürgerlichen Parlamentarismus« beurteilte Mehring in seinem Leben sehr unterschiedlich. Das klang in seiner liberalen Phase emphatisch, in seiner sozialdemokratischen Zeit kritisch bis höchst skeptisch. Zur Zeit der preußischen Monarchie hatte er als 22-Jähriger in der Zeitschrift »Zukunft« mutig geschrieben, dass man »die Republik als einen ganz vortrefflichen, gewissermaßen höheren Zustand des Gemeinwesens zu betrachten« habe (1868 in Höhle 1958: 299), und 1897 hatte er – wie eingangs zitiert – den »bürgerlichen Parlamentarismus« als einen »historische[n] Fortschritt« charakterisiert. Doch daneben traten auch düstere Prophezeiungen über dessen Ende, etwa wenn er 1893 schrieb: »Erst wenn der Glaube der Massen an den bürgerlichen Parlamentarismus ganz erstorben ist, öffnet sich der Weg in die Zukunft« (1893 in Kramme 1980: 105). Eine der Ursachen dieser Ablehnung lag in Mehrings Skepsis begründet, die Sozialdemokratie im Kaiserreich könne nur über die Eroberung von Reichstagsmandaten die Gesellschaft umgestalten.
Schließlich blieb für Mehring das Leitbild des emanzipierten Arbeiters bestimmend, das in klassischer sozialdemokratischer Tradition davon ausging, dass der Kampf um die gesellschaftliche und politische Anerkennung der Arbeiter nur durch sie selbst erfolgen könne. Daher hielt er – trotz Rückschlägen – an der »›Arbeit des Aufklärens und Belehrens‹« fest (1906/07 in Kramme 1980: 183). Dies fügte sich in seine Arbeit an der Berliner Parteischule als Dozent für Geschichte.
Dass hinter zahlreichen tagespolitischen Betrachtungen und Analysen in der »Neuen Zeit« Franz Mehring stand, wurde den Lesern jahrelang verheimlicht. Nur mit einem Sigel waren seine Artikel gezeichnet. Wie umstritten und streitbar Mehring war, verdeutlichen zahlreiche öffentliche Debatten. Die berüchtigtste fand auf dem erwähnten Parteitag in Dresden 1903 statt, als ihn der revisionistische Flügel der SPD wegen seines unzuverlässigen »Chamäleon«-Charakters angriff. Anerkennung in der Sozialdemokratie fand Mehring mit Thesen wie: »Alle Kriegsgeschichte wird erst verständlich, wenn man sie auf ihre ökonomischen Grundlagen zurückführt« (Mehring 1960 ff., Bd. 9: 169). Diese These fand sich in seinem Buch über die »Lessing-Legende«, in der er die preußische Geschichte und die Einvernahme Lessings in den Aufstieg Preußens einer kritischen, historisch-materialistischen Uminterpretation unterzog. In den Augen Friedrich Engels’ (S. 105-111) bewies dieses Werk Mehrings, dass die »materialistische Geschichtsauffassung« als »Leitfaden beim Studium der Geschichte« dienen könne (16.3.1892, Marx-Engels-Werke, Bd. 38: 308). Den Erfolg seiner ein Jahr vor seinem Tod veröffentlichten Karl-Marx-Biografie erlebte Mehring nicht mehr. Es war eine im populärwissenschaftlichen Stil gehaltene Lebensbeschreibung, die schon in den 1920er-Jahren in dritter Auflage erschien, in mehrere Sprachen übersetzt wurde und noch 2010 im Begleitmaterial zur ZDF-Sendereihe »Die Deutschen« als »Klassiker mit vielen Auflagen« aufgelistet wurde. Mehrings anschaulich-verklärende Schilderung des ärmlichen, aber harmonischen Alltags der Familie Marx (S. 221-227) im Londoner Exil sollte lange Zeit prägend bleiben und dabei die familiären Spannungen ausblenden.
Wichtig wurde Mehring auch für die Sozialdemokratie, weil er sich für die Vermittlung von Bildung und Wissen an die Arbeiterschaft einsetzte. 1916 dankte Rosa Luxemburg in einem Geburtstagsgruß aus dem Gefängnis Mehring dafür, »das deutsche Proletariat nicht bloß mit der klassischen deutschen Philosophie, sondern auch mit der klassischen Dichtung […] durch unzerreißbare Bande verknüpft« zu haben (Luxemburg 1982 ff., Bd. 5: 104). Mehring gehörte zu jenen Intellektuellen, die die sozialdemokratische Arbeiterbewegung auch als Kulturbewegung sahen, die sich die kritische Aneignung des bürgerlichen kulturellen Erbes zur Aufgabe gemacht hatten. Mehring setzte dies mit seiner publizistischen Arbeit praktisch um.
Nach Franz Mehring sind zahlreiche Straßen und Plätze benannt, doch in einer breiteren Öffentlichkeit spielt der Historiker keine Rolle mehr. Durch seine historischen Arbeiten und Herausgebertätigkeiten bleibt Mehrings Wirken in Form einer Traditionsüberlieferung präsent. Mehrings Auseinandersetzung mit der Lessing-Legende zählt auch heute noch »zu den klassischen Werken der marxistischen Literatur« (Ratz 1997: 257) und wird nach wie vor in grundlegenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Gotthold Ephraim Lessings Werk rezipiert.
Mehrings Kapitalismuskritik wirkt angesichts mancher Entwicklungen in der Gegenwart aktuell, etwa wenn er 1903 schrieb:
»Mit dem Auswachsen der kapitalistischen Gesellschaft hat auch die Pumpwirtschaft enorme Dimensionen angenommen; um die alten Löcher zu stopfen, werden immer neue und immer größere Löcher aufgerissen« (Mehring 1960 ff., Bd. 14: 523).
Doch diese scheinbare Aktualität ist im theoretisch-historischen Kontext zu sehen, in dem Mehring stand: Er ging von der selbstzerstörerischen Kraft des Kapitalismus und dessen Zusammenbruch aus. Dieser Zusammenbruch hat sich trotz aller Kapitalismuskritik und Kapitalismuskrisen auch mehr als hundert Jahre später noch immer nicht ereignet. Die Macht des Kapitalismus einzugrenzen, ihn mit demokratischen Mitteln in seine Schranken zu weisen, scheint eher die Aufgabe: Der »frühe« Mehring steht in dieser Hinsicht der Gegenwart näher als der »sozialistische« Mehring.
Geschichtswissenschaft als aufklärerische Kraft verstanden zu haben ist ein bleibendes Verdienst Mehrings für demokratische Gesellschaften, ebenso wie sein Eintreten für eine freie, engagierte und plurale Meinungsäußerung (1903 in Mehring 1960 ff., Bd. 14: 577). Mehrings eingangs geschildertes Gefühl des Isoliertseins schließlich macht darauf aufmerksam, die Vermittler zwischen verschiedenen politischen Lagern und Blöcken nicht zu unterschätzen und nicht zu ignorieren.