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Fritz Erler

Wenn ich bei einer Entscheidung immer erst frage: Wie haben oder hätten in diesem Falle die Nazis gehandelt?, – und dann gerade das Gegenteil tue, um ja kein Nazi zu sein, dann lasse ich mir von meinem Gegner noch nach seinem Tode die Gegenstände und die Richtung meines Denkens vorschreiben. Fritz Erler

Kurzbiografie

Fritz Erler (1913-1967), SPD-Fraktionsvorsitzender, prägte entscheidend die Entwicklung der Sozialdemokratischen Partei zur Volkspartei. Erlers sozialdemokratische Sozialisierung begann früh. Später engagierte er sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Im Rahmen seiner politischen Arbeit nach 1945 setzte er sich besonders für die Verteidigungs- und Deutschlandpolitik ein. Erler förderte die programmatische und organisatorische Erneuerung der SPD, was die Grundlage für die Regierungsbeteiligung 1969 schuf. Sein Einsatz galt einem demokratischen Sozialismus innerhalb einer parlamentarischen Demokratie.

Hörbuch

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Fritz Erler – Unabhängigkeit im Denken als Voraussetzung guter Politik

von Anja Kruke

Fritz Erler (* 14.7.1913 · † 22.2.1967) war zeit seines Lebens ein streitlustiger und zugleich strategischer Denker, der die SPD mit seiner Arbeit hauptsächlich in der SPD-Bundestagsfraktion dazu trieb, eine mehrheitsfähige Volkspartei zu werden. Ohne ihn wäre die Regierungsübernahme in der Bundesrepublik 1969 nicht denkbar gewesen.

Erler wurde in seinem proletarisch-kleinbürgerlichen Elternhaus in Berlin früh sozialdemokratisch sozialisiert. Der ausgezeichnete Schüler engagierte sich ab 1928 in der Sozialistischen Arbeiter-Jugend, dem Jugendverband der SPD, und sog in ihrem Diskussionszusammenhang die Schriften der sozialistischen Klassiker wie Marx/ Engels (S. 221-227 u. 105-111) und Lassalle (S. 185-191) sowie Otto Bauer (S. 47-53) und Fritz Naphtali (S. 242-248) in sich ein. Die durchaus positiven Erfahrungen der Zusammenarbeit mit der kommunistischen Jugend und die Unzufriedenheit der Parteijugend mit dem Verhalten der SPD auf Reichsebene führten dennoch nicht zu einem Austritt aus der SPD, sondern zu der festen Überzeugung, dass die SPD einen dezidiert linken Flügel benötige. Nach der Machtergreifung engagierte er sich in der Widerstandsarbeit von »Neu Beginnen« als internationaler Vermittler und Organisator. 1938 wurde er verhaftet und verbrachte 6 Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern, bevor er auf dem Todesmarsch kurz vor Kriegsende fliehen konnte. Fritz Erler wurde von den französischen Alliierten 1945 als Landrat in Biberach eingesetzt; ein Jahr später aber landete er erneut in einem Lager, als die Alliierten ihn aufgrund seines ihnen zu selbstständigen Handelns für einige Monate internierten. Auch nach dieser Zeit verblieb Erler im Südwesten Deutschlands. Nach weiteren Tätigkeiten als Landrat und in verschiedenen Hinsichten auf Landesebene wurde er schließlich 1949 in den ersten Deutschen Bundestag gewählt, dem er bis zu seinem Tod im Februar 1967 angehörte. 1956 wurde er Mitglied des Parteivorstandes und trieb von dort die programmatischen und organisatorischen Reformen der SPD 1958/59 voran; als Mitglied des Fraktionsvorstands und dann als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion ab 1964 legte er die Grundlagen für die Regierungsbeteiligung der SPD, die er Ende 1966 nur noch vom Krankenbett aus begleiten konnte. Er starb am 22. Februar 1967.

 

Auch Ideen brauchen Macht

1946 fasste Erler seine Überlegungen der vorausgegangenen 13 Jahre in der Programmschrift »Sozialismus als Gegenwartsaufgabe« zusammen. In diesem in französischer Internierung entstandenem Text steckte alles, was Erler bis dahin gelesen, erfahren und als Vorstellung einer sozialistischen Gesellschaft in Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gruppen und Gefährten entwickelt hatte. Diese Schrift wurde von ihm 1947 für die Drucklegung stark verändert und ist geprägt von der Rezeption der geänderten Bedingungen durch den beginnenden Kalten Krieg. Erler hatte aufgrund seiner positiven gemeinsamen Erfahrungen der Arbeiterjugendbewegung auf die Einheit der Arbeiterbewegung gesetzt, die ihm – wie vielen anderen auch – als notwendige Lehre des Nationalsozialismus erschien. Diese Erwartung hatte sich mit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der sowjetisch besetzten Zone 1946 zerschlagen. Ebenso hatten sich die unmittelbaren Hoffnungen auf einen tief greifenden Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft in der Nachkriegszeit zugunsten einer sozialistischen Gesellschaftsordnung als trügerisch erwiesen. In gewisser Weise zeigt sich hier die persönliche Wasserscheide Erlers: Er löste sich vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Kalten Krieges von den Prägungen der Weimarer Zeit mit ihren Hoffnungen auf die Einheit Deutschlands unter der Führung einer geeinigten Arbeiterbewegung.

Für Erler bedeuteten die Befreiung Deutschlands durch die Alliierten und die beginnende Demokratisierung den Startschuss für seine rastlose Tätigkeit. Der Text von 1946/47 kennzeichnet seine grundsätzliche Haltung, die er in den Punkten der Umsetzung revidieren musste: Gewissermaßen zeigt sich hier die zentrale Fähigkeit, grundlegende Fragen mit pragmatischen Vorgehensweisen zu verbinden. Ständige Revision und Selbstüberprüfung waren ein zentrales Moment seines Denkens, das sich in seinem politischen Handeln unmittelbar niederschlug. Die Erfassung der Wirklichkeit, wie Erler sie verstand, bildete dabei den zentralen Angelpunkt. Er war aufgrund seiner Erfahrungen in Weimar davon überzeugt, dass die Kongruenz von Theorie und Praxis unabdingbar sei. Diese Denkweise schlug sich in seinem politischen Handeln nieder, indem er statt einer ausführlichen Textproduktion zur Darlegung seiner politischen Ansichten und programmatischen Strategien unmittelbare Kommunikation und Arbeit mit Kurztexten sowie die Überzeugung in der konkreten Auseinandersetzung bevorzugte. Ziel war dabei immer, mitgestalten zu können – »Recht zu bekommen« statt »Recht zu haben« (Soell 1983: 128). Er war ein überzeugender, aber nicht vor Witz sprühender Redner, der das sachliche Argument dem schnellen polemischen Lacherfolg vorzog. In den Darstellungen zu seiner Person spürt man die Verwunderung über diese außergewöhnliche Fähigkeit, ohne mitreißende Reden die Menschen zu fesseln und zu überzeugen.

 

Wegbereiter der sozialliberalen Ära

Seine Vorgehensweise führte dazu, dass er Entwicklungen frühzeitig antizipieren konnte und häufig der Erste war, der sie in aller Offenheit ansprach. So war er einer der Ersten, die parteiöffentlich einen Wandel der Sozialdemokratie zu einer Volkspartei forderten. Nur mit einer adäquaten Adaption der gegebenen politischen Spielregeln würde die SPD mehrheitsfähig werden können und damit in die Lage versetzt werden, ihren Vorstellungen eines demokratischen Sozialismus näher zu kommen. Er orientierte diese Vorstellungen an den erreichbaren Zielen eines demokratischen Sozialstaates, der eine freie Entfaltung des Menschen jenseits seiner sozialen Herkunft ermöglichen solle. Dies war nur in einer Demokratie zu erreichen, die sich in einem ständigen Prozess unter aktiver Beteiligung ihrer Bürger weiterentwickelte; ohne Partizipation sei keine tatsächliche Freiheit möglich. Um dieses Ziel zu erreichen, verfolgte er zusammen mit Herbert Wehner (S. 350-356), Willy Brandt (S. 67-72), Carlo Schmid (S. 296-302) und einigen anderen hartnäckig die Herauslösung der Partei aus ihrer Starre als fundamentale Opposition der frühen 1950er-Jahre. Dies gelang organisatorisch (Parteireform 1958) wie inhaltlich (Godesberger Programm) wie auch mit Blick auf die Arbeit in der Fraktion (sog. Umarmungsstrategie). Grundlage war die Erkenntnis, dass »Ideen ohne Macht […] keinen Wandel schaffen« können (Erler 1965: 64).

Seine Vorstellung, aus der Opposition heraus die Mehrheit parlamentarisch zu erreichen, verfolgte er mit einem hohen Pensum an Ausschussarbeit und Reden im Bundestag. Erler, der aus familiärem Kontext stark antimilitaristisch eingestellt war, gelang es, aus der paradox erscheinenden Zuweisung Schumachers, sich um die Verteidigungspolitik zu kümmern, den zentralen Beitrag zur demokratischen Verfasstheit der Bundeswehr erwachsen zu lassen: die Wehrverfassung. Sie ruhte auf der Vorstellung, dass als Lehre aus der deutschen Geschichte ein demokratisches Deutschland nur durch eine Einbindung der Armee in demokratische Strukturen existieren könne: »Der Geist der Bundeswehr ist mindestens so wichtig wie ihre Ausrüstung und ihre Organisation.« (Erler 1965: 130 f.)

Seine Grunddisposition, auf Veränderungen der Konstellation mit einer Adaption zu reagieren, zeigte sich auch im Rahmen der Deutschlandpolitik. Erler vertrat die Auffassung, dass es eine Lösung der deutschen Frage nur zusammen mit den beiden Großmächten geben würde: Die Irreversibilität der Westbindung vor Augen und die nachlassende internationale Aufmerksamkeit für die deutsche Frage führten ihn zu einer Anpassung seiner Vorstellung von einer neutralen Positionierung Deutschlands zu einer engen Gesprächsbindung mit den Westmächten. Daher gestaltete er aufseiten der Fraktion schon in den 1950er-Jahren aktiv die deutsch-französische Freundschaft (sowie den Vertrag 1963) und die transatlantischen Beziehungen mit. Auch suchte er Gespräche mit Polen über die Oder-Neiße-Grenze, was jedoch zunächst in der eigenen Fraktion umstritten war. Und dass die deutsche Vereinigung nur in einem gemeinsamen und einigen Europa stattfinden könne, war für den Mitbegründer des Rates der europäischen Bewegung eine Selbstverständlichkeit.

Heute wird Fritz Erler vor allem als Macher der Außen- und Verteidigungs-/Sicherheitspolitik gesehen. Dass er im Hintergrund zusammen mit anderen Reformern die strategischen Weichen für eine Mehrheitsfähigkeit der Sozialdemokratie in den 1960er-Jahren stellte, wird häufig übersehen. Allerdings machen sein unspektakuläres Auftreten und seine Art der Politik es schwer, ihn heute wahrzunehmen, da er keine längeren Schriften hinterlassen hat. Sein längster Text, »Demokratie in Deutschland« (1965) beschreibt nicht umsonst in einem großen Teil das historische Werden der deutschen Demokratie: Nur der Blick für große Zusammenhänge erlaubte es Fritz Erler, sein Ziel eines freiheitlichen demokratischen Sozialismus in der alltäglichen Detailarbeit der parlamentarischen Demokratie so erfolgreich zu verfolgen.


Werk

  • Erler, Fritz (1965), Demokratie in Deutschland, Seewald, Stuttgart.
  • Erler, Fritz (1947), Sozialismus als Gegenwartsaufgabe, Schwenningen.
  • Erler, Fritz (1968), Politik für Deutschland. Eine Dokumentation. Bearb. v. Wolfgang Gaebler, 2. Aufl., Stuttgart (Auswahl an Kurztexten zu verschiedenen Themen).

Literatur

  • Kühne, Tobias (2014), Das Netzwerk »Neu Beginnen« und die Berliner SPD nach 1945, Berlin (unveröff. Diss., Ms.).
  • Sandvoß, Hans-Rainer (2000), Widerstand in Prenzlauer Berg und Weißensee. Gedenkstätte Deutscher Widerstand, (Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand 1933–1945, Bd. 12) Berlin (Tätigkeit Erlers im antifaschistischen Widerstand).
  • Soell, Hartmut (1976), Fritz Erler. Eine politische Biographie, 2 Bde., Berlin u. a.
  • Soell, Hartmut (1983), Fritz Erler, in: Claus Hinrich Casdorff (Hg.), Demokraten. Profile unserer Republik, Königstein i. Ts., S. 121-131.

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