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Eduard Bernstein (1850-1932) war ein einflussreicher Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, dessen revisionistischen Ideen, trotz bescheidener Herkunft, Partei und Sozialismus nachhaltig prägten. Bernstein trat früh der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei und wurde ein zentraler Akteur bei deren Vereinigung 1875. Seine Zusammenarbeit mit Engels im Exil festigte seinen Ruf als marxistischer Theoretiker, bis er mit „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" 1899 eine revisionistische Wende vollzog. Statt auf eine marxistische Revolution zu setzen, forderte er eine schrittweise Reform der Gesellschaft durch parlamentarische und gewerkschaftliche Arbeit. Dieser umstrittene Ansatz fand schließlich im Görlitzer Programm und später im Godesberger Programm der SPD Anerkennung. Bernstein wurde so zum Wegbereiter der modernen Sozialen Demokratie.
Hören Sie den Eintrag zu Eduard Bernstein auch als Hörbuch. (Hörzeit 12:18 Minuten)
Bernsteins (* 6.1.1850 · † 18.12.1932) Familie, der Vater war Eisenbahner, lebte unter finanziell eingeschränkten Bedingungen, sodass Eduard mit 16 Jahren das Gymnasium verlassen musste, um als Bankkaufmann zu arbeiten. Im Alter von 22 Jahren trat er der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) bei. Er war zusammen mit August Bebel (S. 54-59) und Wilhelm Liebknecht (S. 199-205) an der Vorbereitung des Vereinigungsparteitags von Gotha 1875 beteiligt, wo sich die SDAP mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur Sozialistischen Arbeiterpartei zusammenschloss. Er arbeitet zeitlebens als Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen und Zeitschriften sowie als Buchautor fast ausschließlich zu den sozialdemokratischen Themen seiner Zeit. Bismarcks Sozialistengesetz von 1878 trieb ihn in die Emigration, zunächst bis 1888 in der Schweiz, danach nach London, wo er sehr engen Kontakt mit Friedrich Engels (S. 105-111) pfl egte. Im Schweizer Exil war er Redakteur der Parteizeitung Sozialdemokrat, von London aus dann Stammautor der Theoriezeitschrift Die Neue Zeit. In dieser Zeit, bis zur Veröffentlichung seiner ersten revisionistischen Schriften ab 1896, galt er als einer der führenden marxistischen Theoretiker der Partei, als solcher von Engels hochgeschätzt. Das »marxistische« Erfurter Programm der SPD von 1991 verfasste er gemeinsam mit Karl Kautsky (S. 166-172). Seine revisionistische Wende, die ihn aus dem Exil heraus in einen lange anhaltenden Gegensatz zu Führung und Mehrheit seiner Partei brachte, erfolgte 1899 mit der Veröffentlichung seines bekanntesten und bis heute wirkmächtigsten Buches: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie.
Aufgrund eines Haftbefehls konnte Bernstein erst 1901 nach Deutschland zurückkehren. Seine Erfahrungen mit dem britischen Parlamentarismus und der reformistischen Fabian Society in London haben ihn stark geprägt und liegen vielen seiner revisionistischen Überzeugungen unmittelbar zugrunde. Er stand im Mittelpunkt der teils mit großer Schärfe ausgetragenen Revisionismusdebatte, in der für den offi ziellen Parteimarxismus August Bebel und Karl Kautsky seine Hauptgegner waren und für den linken, revolutionären Marxismus Rosa Luxemburg (S. 214-220). Auf dem Dresdner Parteitag der SPD von 1903 errangen die Gegner des Bernstein’schen Revisionismus einen triumphalen Sieg. Erst 1921 gelang es Bernstein, im Görlitzer Programm der MSPD seine reformerischen Positionen zur Geltung zu bringen. 1901 zurück in Deutschland wirkte er bis an sein Lebensende als Reichstagsabgeordneter und als politischer Schriftsteller. Er wurde als Kriegsgegner zum Mitbegründer der USPD und in der Revolution von 1918 Beigeordneter im Finanzministerium.
Es war die Leistung des Parteitheoretikers Eduard Bernstein, die seit den 1880er-Jahren in England, Frankreich, Italien und ansatzweise auch in Deutschland entwickelten Ideen des Revisionismus ab 1896 zusammenzufassen und in der am stärksten vom Marxismus geprägten europäischen sozialdemokratischen Partei als umfassende Alternative zum parteioffiziellen Marxismusverständnis zu präsentieren. Die Diskussion, die er damit in Gang setzte, erreichte zunächst um die Jahrhundertwende ihren Höhepunkt, sie ist aber in der europäischen Sozialdemokratie bis in die 1970er-Jahre nicht abgerissen und letztlich erst mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und der demokratischen Revolution in Osteuropa im Jahre 1989 stillschweigend zugunsten des revisionistischen Reformsozialismus entschieden worden.
Mit »Revisionismus« wurde jenes Denken bezeichnet, das an den Prinzipien und Zielen des Sozialismus festhalten wollte, aber die Theorien von Marx (S. 221-227) nicht länger als unkritisierbare Grundlage des Denkens und Handelns hinnahm. Der Revisionismus verstand sich als theoretische Grundlage für einen handlungsorientierten Reformsozialismus, der seine Ziele schrittweise auf dem Wege der parlamentarischen Demokratie und gewerkschaftlicher Arbeit verwirklichen und zu diesem Zwecke Wirtschaft, Staat und Gesellschaft der demokratischen Kontrolle unterwerfen wollte.
Es war die wachsende Kluft zwischen der marxistischen Theorie und der Fixierung auf die große Revolution auf der einen Seite und der Praxis des Sozialismus in den europäischen Ländern mit ihrer überwiegenden Reformorientierung auf der anderen Seite, die den Revisionismus hervorbrachte und legitimierte. Bernstein strebte die Lösung des Widerspruchs von Theorie und Praxis durch eine an der Empirie der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung orientierte Klärung der Grundlagen des Sozialismus verbunden mit seiner Neufundierung im ethischen Prinzip der Genossenschaftlichkeit an. Er wollte die Sozialdemokratie von ihrer vermeintlich marxistischen »Zusammenbruchstheorie« lösen. Er verstand sich nie als Antimarxist, sondern als ein Kritiker ausschließlich jener Elemente des Marxismus, die als Beschreibungen zur Realität in Widerspruch gerieten und in der Praxis konstruktive Reformarbeit behinderten.
Sein theoretischer Revisionismus beruhte auf der Anerkennung der zunehmenden Komplexität der modernen kapitalistischen Industriegesellschaften und ihrer fortwirkenden Dynamik und Vitalität. Ihre tatsächliche Entwicklung verlaufe anders, als in der Theorie von Marx vorausgesagt. Die gesellschaftliche Struktur zeigt nicht die Tendenz einer voranschreitenden Vereinfachung durch stetige Konzentration der Produktionsmittel in immer weniger Händen und dadurch bedingt die ständig schärfer werdende Polarisierung der Gesellschaft in eine wachsende Klasse eigentumsloser Proletarier und eine schwindende Minderheit kapitalistischer Großmagnaten. Vielmehr nehme die ökonomische und soziale Differenzierung ungeachtet der tatsächlich zu beobachtenden Konzentrationsprozesse beständig zu. Ebenso wie die Anzahl der Großbetriebe steige auch die Zahl der Mittel- und Kleinbetriebe weiter an, die gesellschaftlichen Strukturen würden unübersichtlicher und vielgestaltiger, sie entzögen sich in ihrer Wirklichkeit zunehmend den groben Vereinfachungen der marxistischen Theoretiker: Das Proletariat differenziere sich erheblich und eine vielgestaltige neue Mittelschicht mit eigenen Interessen bilde sich heraus.
Diese Gesellschaftsanalyse entzog der traditionellen marxistischen Vorstellung die Grundlage, der Kapitalismus werde in absehbarer Zeit an seinen Krisen zerbrechen und die soziale Polarisierung in die beiden Klassen des Proletariats und der kapitalistischen Großeigentümer werde die politischen Klassenkämpfe verschärfen und notwendig in einer sozialistischen Revolution münden. Im Hinblick auf die Bedingungen der Transformation der kapitalistischen Ökonomie in eine sozialistische Gesellschaft hob Bernstein vor allem hervor, dass in der komplexen, dynamischen und vielgestaltigen modernen Ökonomie auch in Zukunft die Zahl der ökonomischen Einheiten in die Millionen ginge und somit unüberschaubar bliebe. Damit verlor die von den marxistischen Strategen gehegte Vorstellung ihre Grundlage, die Transformation des Kapitalismus in eine rational geplante sozialistische Wirtschaftsordnung sei letztlich nichts anderes als die Übernahme der durch den kapitalistischen Konzentrationsprozess ohnedies auf eine überschaubar kleine Zahl geschrumpften privatkapitalistischen Kommandohöhen in Gemeineigentum. Folglich müsse auch künftig neben der Sozialisierung von Großbetrieben und einer demokratischen Rahmenplanung ein angemessener Spielraum für sozial eingegrenztes Privateigentum und den Markt vorgesehen werden. Worauf es allein ankomme, sei die Durchsetzung des Vorrangs demokratischer Entscheidungsprinzipien und sozialer Ziele – das allein seien die Zwecke, an denen sich alle politischen Mittel der gesellschaftlichen Transformation ausrichten müssten.
Das war die Hauptidee von Bernsteins berühmter Neufassung der Dialektik von Endziel und Bewegung im Sozialismus. Das Endziel steht nicht am Ende der Bewegung als das ganz andere, sondern muss als handlungsleitendes Prinzip allen Reformen innewohnen. Die Schritte, in denen das jeweils zugleich am zweckmäßigsten geschehen kann, können allein der Erfahrung entspringen. Sie bringen damit die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse dem Endziel immer näher und bestimmen auf diesem Wege dessen tatsächliche Bedeutung.
Der Begriff »Revisionismus« war ursprünglich abwertend gemeint und das Projekt selbst fast in allen sozialistischen Parteien vor dem 1. Weltkrieg von den Parteiführungen und -mehrheiten vehement abgelehnt. Aber viele Gewerkschaftsführungen erkannten es als angemessenen Ausdruck ihrer tatsächlichen Praxis an. Im Revisionismusstreit zeigte sich überaus deutlich, dass der Marxismus in den sozialistischen Parteien nicht lediglich die Funktion einer wissenschaftlichen Grundlegung, Gesellschaftsanalyse und der auf sie gestützten politischen Handlungsstrategien darstellte. Er war vielmehr zu einer die betreffenden Parteien durch und durch prägenden Weltanschauung geworden. Der Revisionismus erschien der Parteiführung und der Mehrheit der Mitglieder daher ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt seiner einzelnen Aussagen über die reale Entwicklung und die nächsten notwendigen Reformschritte als eine Art Schwächung und Verrat der Arbeiterbewegung. Erst als Bernstein 1921 mit der Abfassung des Entwurfs für das Görlitzer Programm der wiedervereinigten MSPD beauftragt wurde, waren seine Positionen, wenn zunächst auch nur vorübergehend, mehrheitsfähig geworden.
Nach Jahrzehnten der Zurückweisung hat sich Bernsteins reformistisches, auf ethischen Prinzipien beruhendes Sozialismusverständnis 1959 im Godesberger Programm der SPD durchgesetzt. Da sich das Godesberger Paradigma mittlerweile in fast allen sozialdemokratischen Parteien offen oder indirekt durchgesetzt hat, ist es zum Kern einer modernen Konzeption von Sozialer Demokratie geworden. Die Vorstellung, dass für eine zugleich normativ gerechtfertigte und praktisch erfolgreiche Politik der universelle Grundwert der gleichen Freiheit den obersten Zweck darstellt, und dass aus empirischen, stets revidierbaren Gesellschaftsanalysen im Hinblick auf diesen Zweck die Mittel und Wege der Praxis gewonnen werden müssen, ist heute unbestritten. Der Begriff »Revisionismus« hat einen positiven Klang bei all denen gewonnen, die bereit sind, im Lichte neuer Entwicklungen und Erfahrungen stets aufs Neue ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit und damit auch von den notwendigen Reformen der Revision zu unterziehen. Das ist die Grundlage des Selbstverständnisses einer modernen Sozialen Demokratie.