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Waldemar von Knoeringen (1906-1971) war ein einflussreicher SPD-Politiker, der wesentlich zur Neuausrichtung der Partei nach 1945 beitrug. Als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und späterer SPD-Landesvorsitzender in Bayern förderte er die Bildungspolitik und die Integration der Arbeitnehmerinteressen. Von Knoeringen war bekannt für seine Ansichten zur "Entdeckung des Menschen in der Politik", wobei er eine Gesellschaftsordnung anstrebte, die auf der Erziehung und der Förderung des Positiven im Menschen basiert.
Hören Sie den Eintrag zu Waldemar von Knoeringen auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:18 Minuten)
Waldemar (Freiherr) von Knoeringen (* 6.10.1906 · † 2.7.1971) wurde auf dem väterlichen Gut bei Weilheim/Oberbayern geboren. Er legte kein Abitur ab, sondern absolvierte eine Verwaltungslehre im Krankenkassenwesen, später leitete er in München eine Arbeiterbibliothek. Als 17-Jähriger schloss er sich der Sozialistischen Arbeiterjugend an, 1926 trat er in die SPD ein. Im März 1933 musste er, von der Gestapo gesucht, mit seiner späteren Frau Juliane nach Österreich, später in die Tschechoslowakei fliehen. 1934 bis 1938 betätigte er sich an der tschechisch-deutschen Grenze als Grenzsekretär der SPD und koordinierte die Tätigkeit der sozialdemokratischen Widerstandsgruppen im »Dritten Reich«, arbeitete aber gleichzeitig in der linkssozialistischen Gruppe Neu Beginnen mit, deren Widerstandstätigkeit er für überzeugender hielt als die der SPD. 1938 flüchtete er nach Frankreich, ein Jahr später nach England. Hier leitete er einen nach Deutschland gerichteten sozialistischen Radiosender, bis er sich seit 1943 der Umerziehung deutscher Kriegsgefangener in Nordafrika und England widmete.
Im April 1946 kehrte er nach München zurück und zog im Dezember 1946 in den Bayerischen Landtag ein, dem er bis Dezember 1970 angehörte. 1947 wurde er 1. Landesvorsitzender der SPD in Bayern (bis 1963), gründete 1948 die Georg-von-Vollmar- Schule (später Akademie) in Kochel/Oberbayern und wurde 1948 in den zentralen Vorstand der SPD gewählt, dem er bis 1962 angehörte. 1949 bis 1951 war er Mitglied des Bundestags, von 1958 bis 1962 stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD neben Herbert Wehner (S. 350-356). Er arbeitete mit an den Vorbereitungen des Godesberger Programms und initiierte in Bayern 1954 die »Vierer-Koalition« (ohne CSU). In Bayern fest verankert, hatte er dennoch bedeutenden Einfluss auf die Modernisierung der SPD und konnte erfolgreich die Generation jüngerer Intellektueller für seine Partei gewinnen. Der spätere SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz (S. 132-138) bekannte: »Er hat mich mehr beeinflusst als sonst jemand auf der Welt.« 1971 verstarb Waldemar von Knoeringen, keine 65 Jahre alt, an einem Herzleiden.
Knoeringens Ausgangspunkt für eine Erneuerung der Sozialdemokratie war die Wende zum »Atomzeitalter« und dessen nie dagewesenen Möglichkeiten für die zivilisatorische und kulturelle Fortentwicklung der Menschheit; hinzu kamen veränderte Arbeits- und Produktionsformen durch die »zweite industrielle Revolution«, vor allem die Automation, die den Menschen mehr arbeitsfreie Zeit und geringere physische Belastungen brachte. Diese Wende sah Knoeringen verknüpft mit neuen Erkenntnissen über den Menschen in den Kulturwissenschaften (Anthropologie, Psychologie, Soziologie, Medizin), aber auch in den Natur- und Technikwissenschaften. Er wollte diese Erkenntnisse mit der politischen Praxis verbinden. Knoeringen sprach von der »Entdeckung des Menschen in der Politik«, die zu einem Umbau der gesellschaftlichen Ordnung führen müsse, mit dem Ziel einer Höherentwicklung der freiheitlichen Kultur und einer »Vertiefung des Menschentums«; Kulturpolitik sollte damit zur Kernfrage des freiheitlichen Sozialismus werden. Dies betrachtete Knoeringen als Auftrag für die Programmarbeit, die die Sozialdemokratie zur innovativen Wortführerin einer modernen Bildungs- und Wissenschaftspolitik machen sollte, was denn auch seit den 1960er-Jahren der Fall war.
Der Mensch stand für von Knoeringen an einem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte: »Es ist die Erhebung des Menschen vom Objekt zum Subjekt, vom Dulder zum Gestalter, vom Beherrschten zum Beherrschenden.« (Grebing/Süß, Knoeringen, Bd. 2: 139) Wie aber, so von Knoeringens Frage, sollte der Mensch, der durch die Doppelexistenz von Individuum und Gemeinschaftswesen gekennzeichnet war und zudem nicht durch Gleichsein, sondern Differenziertsein in Erscheinung trat, eine höhere Bewusstseinsstufe, nämlich die der Selbstverwirklichung erreichen können? Dies lief nicht als automatischer Prozess ab, vielmehr bedurfte es dazu eines politischen Willensaktes:
»Der einzige Weg dazu ist eine gigantische Anstrengung der Gesellschaft im Bereich der Erziehung, der Menschenbildung und der Ausweitung unseres Wissens vom Menschen und den Bewegungsgesetzen der Gesellschaft.« (SPD-Parteitag 1958)
Natürlich blieb der Mensch gut und böse zugleich; er konnte darin »von seinem Grund her« nicht verändert werden. Es gab eben anthropologische Konstanten, und zugleich blieb jeder einzelne Mensch in seiner jeweiligen Art einmalig und einzigartig; aber es war möglich, das Positive in jedem Menschen durch Erziehung zu fördern und auch seine Lebensumstände so zu gestalten, damit er sich optimal entfalten könne.
Aus von Knoeringens Vorstellungen über die Möglichkeiten des Menschen resultierte seine fundamentalkritische Distanzierung vom Kommunismus, die manchmal bis an die Grenzen eines emotionalen Antikommunismus ging. Während er glaubte, der Kapitalismus sei in die Endphase seiner Entwicklung eingetreten und ein Transformationsprozess zum demokratischen Sozialismus sei absehbar, machte er im Kommunismus sowjetrussischer Prägung den eigentlichen Feind aus. Das bezog sich nicht nur auf dessen Machtpolitik oder den terroristischen Charakter der Diktatur Stalins, sondern auf die ideologisch-integrativ wirkenden Elemente der totalitären Utopie des Kommunismus. An dem mit diesen Elementen verknüpften falschen Menschenbild, davon war von Knoeringen überzeugt, würde der Kommunismus scheitern: »Dem Menschen wird kein Eigenwert als Einzelwesen zuerkannt und das Recht zur letzten Entscheidung über sich selbst bestritten.« (Grebing/ Süß, Knoeringen, Bd. 1: 72)
Dieser Gegensatz zum Kommunismus in Form der stalinistischen Terrorherrschaft führte von Knoeringen zur verstärkten Rückbindung des freiheitlichen Sozialismus an das Modell der aufgeklärten Demokratie. Demokratie – das war für ihn »ein Wert an sich«. Sie war »die Chance unserer Freiheit und Herzstück der menschlichen Kultur«. Sie gründe auf den Menschenrechten, sie fordere immer mehr Gerechtigkeit, anerkenne die Vielfalt des Lebens und schaffe »jenes Verhältnis von Freiheit und Ordnung, das in ständiger Spannung der selbstverantwortlichen Willensentscheidung Raum gibt«. Daraus ergab sich für ihn »die gesamte Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens« (SPD-Parteitag 1962), und er forderte die »Mobilisierung der Demokratie«, was für ihn bedeutete, dass der Rechtsstaat zu einem »sozialen Kulturstaat« statt einem Wohlfahrtsverwaltungsstaat fortentwickelt werden sollte. An dieser Stelle seiner Überlegungen berief sich von Knoeringen besonders eindrücklich auf die demokratisch-sozialistische philosophische Tradition: Es waren Ferdinand Lassalle (S. 185- 191) und dessen Staatsverständnis, das ihn motivierte.
Zu Fragen ökonomisch begründeter Veränderungen hat sich von Knoeringen kaum geäußert, zumal sich zeitgleich in der Sozialdemokratie nicht wenige zu diesen Fragen äußerten, die kompetenter waren als er – wie Heinrich Deist (S. 79-85), Karl Schiller (S. 289-295) und andere. Aber er konnte durchaus politische Anstöße geben. So orientierte er sich nach 1945 zunächst an den Kapitalismus transformierenden Planungskonzepten (Paul Sering = Richard Löwenthal [S. 206-213]), übernahm dann aber sehr bald die Vorstellungen von einer »regulierten Marktwirtschaft« (Rudolf Zorn), die er als vernünftige Kombination der beiden Systeme, der uneingeschränkten Konkurrenzwirtschaft und der interventionistischen Planwirtschaft, betrachtete. Diese Umorientierung führte ihn zu der Forderung einer Neugestaltung der Partei. Bereits 1949 forderte er den Ausbruch aus der geistigen Sackgasse, in der sich die SPD seit drei Jahrzehnten befinde. Dazu gehörte für ihn seit den 1950er-Jahren insbesondere, mit Vertretern der katholischen Kirche ins Gespräch zu kommen. Er warnte davor, sein Bemühen, eine neue Kulturbewegung des demokratischen Sozialismus zu entfalten, als Religionsersatz misszuverstehen: Die Aufgabe der transzendentalen Lebensvergewisserung falle anderen Institutionen, vorab den Kirchen, zu.
Schon seit den 1940er-Jahren war von Knoeringen klar, dass sich die SPD von einer Arbeiterklassenpartei zu einer Partei aller arbeitenden Menschen veränderte und damit zu einer »Gesinnungspartei«, die auf unveräußerlichen Wertsetzungen basierte. Aber was blieb da noch vom demokratischen Sozialismus? Bis in seine letzten Lebensjahre hat sich von Knoeringen diese Frage immer wieder gestellt. Er sprach lieber vom freiheitlichen Sozialismus, der für ihn kein stromlinienförmiges Konglomerat aneinandergereihter Leitsätze war, sondern Ausdruck einer Ordnung, die – in der auf Gerechtigkeit gegründeten Solidarität der Gemeinschaft – die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes Menschen möglich macht: »Sozialismus ist die dem Menschen gemäße gesellschaftliche Ordnung.« (1968)
Dem begnadeten Redner Waldemar von Knoeringen ist es gelungen, das Verständnis des freiheitlichen Sozialismus vom »Schutt« ökonomistischer wie eschatologischer Erlösungsdoktrinen zu befreien, wie er es einmal selbst ausdrückte. Wie kaum eine zweite Führungspersönlichkeit der SPD schaffte er es nach 1945, seine Partei mit den Ergebnissen der modernen Wissenschaften vertraut zu machen und sie damit auch von einem nicht mehr gebrauchten Traditionalismus zu entlasten. Er hat seine Partei motiviert, ihr abgetragenes Bild von der Machbarkeit eines »neuen Menschen« zu ersetzen – durch eine differenzierte Vorstellung von dem, was dem Menschen unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Er hat vieles angesprochen, was später von anderen SPD-Politikern, besonders Willy Brandt (S. 67-72), in konkrete Politik umgesetzt wurde.