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Heinz Kühn (1912-1992), SPD-Politiker und einstiger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, prägte durch seine Reformen die Bildungs- und Kommunalpolitik sowie den Umgang mit Zuwanderung entscheidend. Sein politischer Werdegang führte ihn vom Engagement gegen den Nationalsozialismus, über den Landes- und Bundestag bis zum Ministerpräsidentenamt in Nordrhein-Westfalen. Als erster Bundesbeauftragter für Ausländerfragen legte er den Grundstein für eine moderne Integrationspolitik.
Hören Sie den Eintrag zu Heinz Kühn auch als Hörbuch. (Hörzeit 10:07 Minuten)
Da Heinz Kühn (* 18.2.1912 · † 12.3.1992) diese Sentenz zu seiner persönlichen Lieblingsformulierung erkor, sei sie dem Dutzend weiterer Zitate vorgezogen, die ebenso gut zur Einleitung des Artikels getaugt hätten. Kühn wird neben Ehrgeiz, Fleiß, rascher Auffassungsgabe, Schlagfertigkeit und einem durch eine Zitatensammlung von fast 40 Karteikästen gestützten enormen historischpolitischen Wissen nicht von ungefähr ein außergewöhnliches rhetorisches Talent zugeschrieben.
Als Heinrich Hubert Franz Kühn in Köln in ärmliche Verhältnisse geboren, wechselte der Tischlersohn mit 16 vom katholischen Schülerbund Neudeutschland zur sozialistischen Arbeiterjugend, wo er schnell aufstieg und bald seine spätere Frau kennenlernte. Nach dem Abitur 1931 folgte eine Art Volontariat bei dem von ihm eifrig gelesenen SPD-Kampfblatt »Rheinische Zeitung«. Zugleich begann Kühn ein Studium der Nationalökonomie und der Staatswissenschaften.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten flüchtete der »wegen Vorbereitung zum Hochverrat« gesuchte linke Aktivist zunächst in das unter Völkerbundmandat stehende Saargebiet. Weitere Stationen seines Exils, in dem er sich aktiv gegen die Naziherrschaft engagierte, waren die Tschechoslowakei und Belgien. Nach zwischenzeitlich bitterer Enttäuschung ob des vermeintlich unzureichenden Widerstands der SPD näherte sich Kühn seiner Partei wieder an. Nach seiner Rückkehr nach Köln Ende 1945 wurde er erst Redakteur, dann neben Willi Eichler (S. 98-104) Chefredakteur der wiedergegründeten »Rheinischen Zeitung« – die Erfüllung seines Jugendtraums.
Den Journalismus gab er jedoch bald auf, nachdem er 1948 in den NRW-Landtag nachgerückt war. Mittlerweile Vorsitzender des SPD-Bezirks Mittelrhein, wechselte er 1953/54 in den Bundestag. Als Mitglied der Interparlamentarischen Union lernte Kühn auf vielen Reisen die Welt kennen. 1959 wurde er zum Vorsitzenden der sozialistischen Fraktion in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gewählt.
Auf die Landesbühne zurück kam Kühn – eher widerstrebend – überhaupt nur, weil sich Reformer und Traditionalisten in der NRW-SPD über die Spitzenkandidatur 1962 zerstritten hatten. Mit 43,3 % fuhr der Kompromisskandidat Kühn bei den Landtagswahlen das bis dahin beste Ergebnis für seine Partei ein, 1966 fehlten mit 49,5 % lediglich zwei Sitze zur absoluten Mehrheit. Nach kurzzeitiger Fortführung der Koalition von CDU und FDP wechselte die FDP noch im selben Jahr an die Seite der SPD; Kühn wurde Ministerpräsident.
In seiner beinahe zwölfjährigen Regierungszeit, »in der das bevölkerungsreichste deutsche Bundesland Reformen in einem Ausmaß und von einer Wirkungsintensität erlebte wie nie zuvor oder danach in seiner Geschichte« (Düding 2008: 150), gelangen ihm die Entschärfung der Bergbaukrise, eine umfassende Kommunalreform sowie zahlreiche Bildungsreformen. Auch in der Bundespartei gewann Kühn Einfluss, war Vorstands- und Präsidiumsmitglied, von 1973 bis 1975 sogar stellvertretender Vorsitzender. 1969 hätte er wohl auch Bundespräsident werden können. 1978 erschütterten ein Skandal um die Landesbank sowie der erfolgreiche Volksentscheid gegen die von Kühn selbst skeptisch gesehene »kooperative Schule« seine Autorität, kurz darauf trat er zurück.
Schon im folgenden Jahr ließ Kühn sich von Helmut Schmidt als ersten »Bundesbeauftragten für Ausländerfragen« verpflichten sowie ins erste direkt bestellte Europäische Parlament wählen. 1983 wurde er Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. 1987/88 zog sich Kühn wegen zunehmender Gesundheitsprobleme aus allen Gremien zurück, 1992 starb er.
Kühn, seit dem Exil Sympathisant des ethischen Sozialismus, war überzeugt von der »Schicksalsnotwendigkeit […], Brücken der Verständigung zwischen Christentum und Sozialismus zu schlagen« (Kühn 1987 [1950]: 93). Gegen massiven innerparteilichen Widerstand trieb er den Abschied von marxistisch geprägten schulpolitischen Ladenhütern voran. Statt für eine laizistische Gemeinschaftsschule plädierte er für die christliche Gemeinschaftsschule als »Schule der Toleranz«. Mit dieser Annäherung an die katholische Kirche machte er die SPD für neue Wählerschichten attraktiv, insbesondere für katholische Arbeiter. Trotz Austritts aus der katholischen Kirche gelang es ihm früher als anderen führenden SPD Politikern, einen öffentlichkeitswirksamen Gesprächskontakt zu einigen von deren maßgeblichen Repräsentanten herzustellen.
Seit Anfang der 1950er-Jahre drängte Kühn darauf, das klassenkämpferische Heidelberger Programm von 1925 durch ein neues Grundsatzprogramm zu ersetzen. Er plädierte dafür, dass sich die SPD »als Volkspartei soziologisch breit und geistig weit« (ders. 1972a [1968]: 38) aufstellen müsse. In seiner Doppeleigenschaft als »ein ›Parteisoldat‹ mit Stallgeruch […] und Parteiintellektueller« […] hat er den Wandel der Nachkriegs-SPD […] tatkräftig vorangetrieben « (Düding 2008: 152). Insofern hatte 1959 seine Funktion als zeitweiser Tagungspräsident des Godesberger Reformparteitages »zweifellos Symbolkraft« (ders. 2002: 184). Am stärksten prägte Kühn den Kurs seiner Partei in der Kultur- und Medien-, hier insbesondere in der Rundfunkpolitik.
In seiner Zeit als Oppositionsführer im NRW-Landtag machte Kühn mit der Durchsetzung eines Landesvorstands (wenn auch noch keines Landesverbandes) die Parteiorganisation schlagkräftiger. Er verwandelte die SPD »in eine veritable politische Reformkraft « (ders. 2008: 137) und setzte diese Reformbestrebungen als Ministerpräsident dann auch konsequent um: »Hochschullandschaft und Verwaltungsgefüge des Landes waren nach den […] reformerischen Kraftakten fast nicht mehr wiederzuerkennen« (ders. 2002: 246).
In einem Land, »in dem die Dome und die Schlote so dicht beieinander stehen« (Kühn 1987 [1950]: 93), ursprünglich Anhänger einer »sozialen Koalition« mit einer »durch die heilsame Erschütterung einer Niederlage geläuterten CDU« (ders. 1981: 163), machte er als Ministerpräsident stattdessen das Bündnis von SPD und FDP salonfähig. Kühn und sein Koalitionspartner und Duzfreund Willi Weyer betätigten sich »sogar persönlich als Geburtshelfer« (Düding 2002: 9) und trugen entscheidend zum reibungslosen Ablauf des Bonner Machtwechsels bei. Die Zusicherungen, die Kühn auf seiner Reise in die Sowjetunion 1972 erhielt, erleichterten der Union die Stimmenthaltung zum Moskauer Vertrag.
Die Planungseuphorie, die dann auch die Bonner sozialliberale Koalition prägte, wurde mit dem Umbau der Düsseldorfer Staatskanzlei von einem – in den Worten Kühns – »reine[n] Justiziariat« zu einer Stelle, »die den Regierungschef wirklich in die Lage versetzt, eine Regierung zu leiten« (zit. n. ebd.: 216), vorgezeichnet. Sie gipfelte 1970 im Nordrhein-Westfalen-Programm als europaweit erstem mittelfristigen Handlungsplan einer regionalen Regierung.
Nicht durchsetzen konnte sich Kühn mit seinem Plan einer Neugliederung des Bundesgebiets in fünf in puncto Finanzkraft, Fläche und Bevölkerungszahl relativ ausgeglichene Länder, um den »Klassenkampf des Föderalismus« (Kühn 1987 [1970]: 158) zu beenden.
Der wohl am nachhaltigsten fortdauernde Einfluss Kühns auf die Sozialdemokratie liegt wohl jenseits seiner Zeit als Ministerpräsident, nämlich in seinem als Ausländerbeauftragter verfassten Memorandum »Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik« mit der klaren Quintessenz:
»Die unvermeidliche Anerkennung der faktischen Einwanderungssituation macht eine Abkehr von den Konzeptionen der Integration ›auf Zeit‹ erforderlich. An ihre Stelle muß ein Maßnahmenbündel treten, das den Bleibewilligen die Chance zu einer vorbehaltlosen und dauerhaften Eingliederung eröffnet.« (ders. 1979: 15 f.)
Zum »Minimalprogramm für die notwendige Vorwärtsentwicklung der Ausländerpolitik der Bundesrepublik« – so Kühn im Begleitschreiben (zit. n. Düding 2002: 315) – zählte Kühn eine Intensivierung der integrativen Maßnahmen in Vorschule, Schule und beruflicher Bildung, das kommunale Ausländerwahlrecht bei mindestens acht- bis zehnjährigem Aufenthalt sowie ein vorbehaltsloses Optionsrecht auf Einbürgerung mit 18 Jahren für die hier geborene und aufgewachsene zweite und dritte Generation.
In der SPD stießen Kühns Postulate damals auf Bedenken, weswegen sein Biograf Dieter Düding den unmittelbaren Erfolg des Memorandums als »eher mäßig« beurteilt, es aber aus heutiger Sicht als »wegweisend« einstuft: Es »lieferte Denkanstöße, setzte Diskussionen in Gang.« (ebd.: 316) Ab 1986 vertrat die SPD ein Ius soli (Geburtsortsprinzip), 1999 liberalisierte Rot-Grün das Staatsbürgerschaftsrecht.