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Richard Löwenthal

Die Weltgeschichte ist kein Seminar. Richard Löwenthal

Kurzbiografie

Richard Löwenthal (1908-1991), einflussreicher Sozialdemokrat und Professor, prägte mit seinen Arbeiten zur Demokratie und Wirtschaftspolitik die SPD. Ursprünglich Kommunist, wandte er sich im britischen Exil von der KPD ab. In seinen Werken setzte sich für eine staatliche Steuerung der Wirtschaft im Sinne des Gemeinwohls ein. Seine Arbeiten zur internationalen Politik und seine Unterstützung für die Entspannungspolitik trugen zur Neuorientierung der SPD bei. Bis heute bleibt sein Plädoyer für transnationale Entscheidungsmechanismen zur Bewältigung globaler Herausforderungen aktuell und richtungsweisend für die Soziale Demokratie.

Hörbuch

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Richard Löwenthal – unbedingter Demokrat im Zeitalter der Globalisierung

von Gesine Schwan

Richard Löwenthal (* 15.4.1908 · † 9.8.1991) war ein scharfsinniger Geist und ein lebensfreudiger Mann. Sein jüdisches Elternhaus – der Vater war Kaufmann, die Mutter Schauspielerin – hat ihm nach eigenem dankbarem Bekunden viel Wärme und Liebe vermittelt, dagegen weniger weltanschauliches oder religiöses Judentum. Seine Hauptloyalität galt der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie und der westlichen Demokratie, ganz innerweltlich.

Geboren in Berlin, von eher zarter und kleiner Statur, war er durch und durch Großstädter, im weiteren Verlauf seines Lebens Weltbürger. Zwischen 1926 und 1931 studierte er in Berlin und Heidelberg Nationalökonomie und Soziologie. Geprägt haben ihn als Lehrer Alfred Weber, Karl Mannheim und Karl Jaspers, als Theoretiker Max Weber und Karl Marx (S. 221-227). Seine Dissertation schrieb er zum Thema »Die Marxsche Theorie des Krisenzyklus«. Karl Jaspers hat ihn als Lehrer nicht beeindruckt, weil Richard Löwenthal eine besondere Neigung zur Philosophie gehabt hätte, sondern weil Jaspers ihn als Flugblätter verteilenden kommunistischen Studenten in seinem Seminar ausgemacht und ihn als Replik zu einem Referat über das Verhältnis von Hegel und Marx vergattert hat. Das hat Löwenthal imponiert.

Er gehörte zu jener Generation von Vordenkern der Sozialen Demokratie, die selbstverständlich vor dem weiten Horizont von Nationalökonomie, Soziologie, Geschichte und sogar Philosophie (dies allerdings am wenigsten) Wirtschaft, Gesellschaft und Politik analytisch durchdrangen. Auch als Professor für »Geschichte und Theorie der Auswärtigen Politik« am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, wo er seit 1961 tätig war, beeindruckte er durch die Komplexität seines geistigen Universums.

Seine Vorlesungen hielt er mit einem Zettelchen in der Hand, alles andere hatte er in seinem aufgeräumten Kopf – das ganze Gegenteil von seinem stets chaotischen Arbeitszimmer. Seine kluge Frau Charlotte, mit der er seit Jugendtagen verbunden war, konnte diesen Kontrast zwischen innerer Ordnung und äußerem Chaos köstlich beschreiben.

Richard Löwenthal war ein scharfsinniger Kopf, der politisch radikal in der kommunistischen Studentenbewegung und Partei begann, sich aber im Laufe seines Lebens durch die negativen Erfahrungen von Stalinismus, Nationalsozialismus und Krieg auf der einen und die positiven der gelebten Demokratie, der Labour Party und der Fabian Society in seinem englischen Exil auf der anderen Seite zu einem ebenso engagierten wie reflektierten Anhänger der westlichen Demokratie wandelte. Die KP verließ er im Streit über deren Sozialfaschismusthese, die er ablehnte und bekämpfte.

Seine nächste politische Heimat wurde in den 30er-Jahren die linkssozialistische Gruppe »Neu Beginnen«, die seine biografische Brücke zur Sozialdemokratie bildete. Der trat er allerdings erst 1945 bei. Zunächst im Exil in Prag, später in London, arbeitete er für die Internationale Arbeiterbewegung, versuchte, die II. Internationale wieder mit aufzubauen und verarbeitete seinen politischen Bruch mit der KP und seine positiven Erfahrungen mit der britischen Demokratie zu einer theoretischen Grundposition der »Sozialen Demokratie«. Es ging ihm – und dies im Grunde zeitlebens – darum, durch staatliche Politik in der parlamentarischen Demokratie die Dominanz kapitalistischer Verwertungslogik zugunsten privater Profite zu brechen und die kapitalistische Wirtschaft in den Dienst demokratisch-parlamentarisch begründeter gesellschaftlicher Interessen zu stellen.

Die entscheidende theoretische Hürde für diese Bejahung der parlamentarischen Demokratie als politischer Grundform des demokratischen Sozialismus war die zentrale These von Karl Marx, dass die ökonomische Logik des Kapitalismus die Basis war, die politische Form ebenso wie Gesellschaft und Kultur sich dagegen aus der ökonomischen Logik der kapitalistischen Produktion lediglich als sekundärer Überbau ableiteten. Seine britische Erfahrung einer starken und zugleich sogar im Kriege offenen Demokratie machten aus ihm dagegen einen zeitlebens unerschütterlichen Anhänger der westlichen Demokratie, der er die Gestaltungskraft über die Ökonomie zutraute.

Gleichwohl blieb er seinem Engagement zugunsten der Arbeiterbewegung, in dem sich moralischer Gerechtigkeitssinn mit sozialer Loyalität gegenüber den Genossen mischte, treu. Gerade dieses doppelte spannungsgeladene Engagement für Freiheit und Individualismus einerseits, für Gerechtigkeit zugunsten des sozialen Kollektivs der Arbeiterbewegung und später der Sozialdemokratischen Partei andererseits war der Stachel für seine zukunftsweisenden Überlegungen.

 

Jenseits des Kapitalismus

Deren erste Station kann man in seinem Buch »Jenseits des Kapitalismus« nachlesen, das er nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Pseudonym Paul Sering veröffentlichte, als Summe seiner Erfahrungen in den 30er- und 40er-Jahren. Seine britischen Erfahrungen führten ihn zu der These, dass der demokratische Staat die Vormacht kapitalistischer Investitions- und Profitinteressen brechen konnte, wenn er nur auf der Basis parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen durch gesamtstaatliche Lenkungen über Steuern, Arbeitsmarktpolitik, Subventionen und allgemein politische Prioritätensetzung die Rahmenbedingungen für das kapitalistische Investitions- und Profitkalkül setzte. Dann würde die Wirtschaft weiterhin nach Profit streben, müsste sich aber dabei nach politischen Prioritäten richten. Die Dynamik kapitalistischer Produktion würde im Sinne gesellschaftlicher Interessen gelenkt. Globale staatliche Steuerung würde die Oberhand haben.

Damit erteilte Löwenthal zugleich der Idee einer demokratischen Planwirtschaft eine Absage, wie die SPD sie nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst gegen Ludwig Erhardts »Soziale Marktwirtschaft« propagiert hatte. Den Boden bereitete er theoretisch damit für Positionen, die Karl Schiller (S. 289-295) später sowohl im Godesberger Programm verankerte (»So viel Markt wie möglich, soviel Planung wie nötig«) als auch als Wirtschaftsminister mit seiner keynesianischen Fortentwicklung der »Sozialen Marktwirtschaft« praktisch umsetzte. Anknüpfen an und Fortentwicklung von demokratischer Politik fasste er später immer wieder in der Mahnung zusammen, dass Demokratie diejenige politische Form sei, in der man am meisten lernen könnte, aber auch müsste.

In den Folgejahren konzentrierte sich Löwenthal mehr auf Fragen der internationalen Politik, insbesondere des Ost-West-Konfliktes und der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion. So war er auch Pate der Entspannungspolitik, die im Wesentlichen von Egon Bahr und Willy Brandt (S. 67-72) nach der Erfahrung des Mauerbaus 1961 initiiert worden war. Löwenthal war dieser pragmatischen Flexibilität zugunsten von Kooperation mit kommunistischen Politikern trotz seiner prinzipiellen Gegnerschaft gegenüber dem Kommunismus durchaus zugeneigt. Dogmatismus war ihm fremd, und er beriet Willy Brandt gern in der praktischen Ausführung der Entspannungspolitik. Dazu gehörte allerdings auch, dass er als Mitautor eines Parteiratsbeschlusses der SPD von 1970 zur Entspannungspolitik die Beachtung der klaren Unterscheidung zwischen der praktischen Kooperation mit den kommunistischen Regierungen zugunsten der Menschen einerseits und der prinzipiellen Gegnerschaft der Demokratie gegenüber dem Kommunismus andererseits unterstrich.

Als ehedem rebellischer Student hegte er gegenüber der Studentenbewegung von 1968 durchaus Sympathien. Anders als viele seiner auch linksliberalen Kollegen blieb er beharrlich engagiert in der Auseinandersetzung mit den Studenten in einer Mischung von menschlicher Sympathie und scharfer intellektuell-argumentativer Auseinandersetzung mit ihren Positionen.

 

Demokratie und Kapitalismus

Eine theoretische Fortsetzung seines Engagements für eine Demokratie, die gleichwohl den zunehmend globalen Herausforderungen des Kapitalismus Rechnung trägt, findet sich schließlich Ende der 70er-Jahre in einer Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und dessen These von den Legitimationsproblemen demokratischer Staaten im Spätkapitalismus. In einer theoretisch höchst anspruchsvollen Erwiderung auf Habermas’ Thesen wendet er sich gegen die behauptete Dominanz der kapitalistischen Produktionslogik über das politische System, dem Habermas im Spätkapitalismus die Fähigkeit abspricht, die Produktionslogik zugunsten der »verallgemeinerbaren Interessen« der Staatsbürger zu steuern, weshalb es seine Legitimation verlieren werde.

Richard Löwenthal teilt Habermas’ Sorge, dass die demokratischen Staaten sich in einer Krise befi nden, weil sie den Erwartungen, die an sie gerichtet werden, nur schwer gerecht werden. Aber er bestreitet, dass dies zu einem unvermeidlichen Zusammenbruch demokratischer Legitimation führen müsse, weil die Verwertungslogik des Kapitals sich gegen die Interessen der Gesellschaft notwendig durchsetzen würde. Dabei argumentiert er mit Max Weber gegen Habermas’ Begriff der »verallgemeinerbaren Interessen«, in dem er den dogmatischen Primat einer utopischen universalistischen Gleichheitsidee zu erkennen meint. Demgegenüber steht Löwenthal für einen dauerhaften Wertepluralismus, auch wenn er mit den Begriffen Ratio gegen Magie, Individuum als Ansatz für Menschenrechte, freiwillige Gemeinschaften, römische Rechtsordnung und Arbeit einen gemeinsamen Überzeugungskern dieses demokratischen Wertepluralismus formuliert, der allerdings nicht universell, sondern nur im europäisch-atlantischen Kulturkreis gelte. In diesem Zusammenhang stellt er Habermas’ herrschaftsfreien Diskurs zugunsten verallgemeinerbarer Interessen infrage und resümiert ironisch: »Die Weltgeschichte ist kein Seminar.« (Löwenthal 1979: 76) Will sagen: Es wird weiter unterschiedliche Wertmaßstäbe auf der Welt in unterschiedlichen Kulturkreisen geben, die sich nicht auf eine im Diskurs ermittelbare universale Moral reduzieren lassen, sondern zwischen denen man wählen muss. Konfl ikte werden bleiben.

Ob damit der Kern der Habermas’schen Argumentation getroffen wird, ob zumal damit dem Primat einer kapitalistischen Profitlogik, die nationalstaatliche Grenzen überschreitet, wirklich Paroli geboten wird, mag man bezweifeln. Löwenthal selbst beendet seine Auseinandersetzung mit einer ebenso weitsichtigen wie lösungsoffenen »Warnung«. Am Ende erkennt er den Ernst von Habermas’ Anliegen an und fordert ihn auf, angesichts der offenkundigen Krise der Demokratien nicht durch deren Infragestellung und die Prognose ihres notwendigen Legitimationsverlusts zu ihrer Delegitimierung auch noch beizutragen.

 

Globalisierung als Gestaltungsaufgabe Sozialer Demokratie

Angesichts der Intensivierung der ökonomischen Globalisierung trifft Richard Löwenthal am Ende allerdings doch – in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre! – den Kern der in der Sinnkrise der Demokratien erkennbaren heute immer dringlicheren und tief greifenden Problematik, wie denn die nationalstaatliche Bändigung des Kapitalismus international gelingen kann. Das sei sehr schwierig, aber nicht unmöglich: Neben der strukturellen Ungleichheit von Macht und Eigentum, die selbst bei einer gelingenden staatlichen Steuerung des Verwertungsprozesses des Kapitals erhalten bleiben werde, gibt es, so Löwenthal, noch eine größere Herausforderung:

»Weitaus schwerer zu verwirklichen, aber nicht minder notwendig zur Sicherung des Überlebens der Menschheit und zur Überwindung der anomischen Gefahren wäre die Schaffung wirksamer übernationaler Entscheidungsmechanismen sowohl für die Wachstums- und Umweltfragen wie für die Ernährungs-, Wirtschafts- und Währungsfragen und letztlich für die Sicherung des Friedens.« (ebd.: 84)

Bis dahin hatte Löwenthal immer auf den Nationalstaat als Steuerungsinstanz gesetzt.

Das Fazit seiner Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas zeigt zugleich Löwenthals analytische Schärfe, seine Weitsicht, sein unerschütterliches Engagement für die Demokratie und die Größe der Herausforderung, die er erkennt und für die wir Sozialdemokraten bis heute keine Lösung gefunden haben. Richard Löwenthal hat dafür immerhin das Terrain abgesteckt, auf dem wir demokratische Freiheit mit transnationaler solidarischer Weltverantwortung verbinden müssen.


Werk

  • Löwenthal, Richard al. Paul Sering (1970), Der romantische Rückfall. Wege und Irrwege einer rückwärtsgewandten Revolution, Stuttgart.
  • Löwenthal, Richard (1974), Sozialismus und aktive Demokratie, Frankfurt a. M.
  • Löwenthal, Richard al. Paul Sering, (1977), Jenseits des Kapitalismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung. Mit einer ausführlichen Einführung nach 30 Jahren, Berlin/Bad Godesberg.
  • Löwenthal, Richard (1979), Gesellschaftswandel und Kulturkrise, Frankfurt a. M., S. 58-84.

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