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Heinrich Deist (1902-1964), wesentlicher Mitgestalter des Godesberger Programms, prägte die Sozialdemokratie durch sein Engagement für eine sozial geprägte Marktwirtschaft und die europäische Einigung. Als Sohn eines sozialdemokratischen Politikers und Gewerkschafters engagierte er sich früh in der SPD und beeinflusste als Bundestagsabgeordneter und Wirtschaftsexperte die Neuorientierung der Partei hin zu pragmatischen und reformorientierten Positionen. Deist, der eine wichtige Rolle im wirtschaftlichen Wiederaufbau nach dem Krieg spielte, setzte sich für die Verknüpfung von Markt und Staat ein, um soziale Gerechtigkeit zu fördern. Neben der Förderung einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung mit sozialer Bindung, umfasst sein Vermächtnis auch die Vision einer politischen Union Europas.
Hören Sie den Eintrag zu Heinrich Deist auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:56 Minuten)
Diese Sätze hat Heinrich Deist (* 10.12.1902 · † 7.3.1964) ein Jahr vor seinem Tod, 1963, gleichsam als sein Vermächtnis, vor Dortmunder Jungsozialisten formuliert: Die Gesellschaft sei durch Reformen veränderbar, bedürfe dafür jedoch des demokratischen Staates. Ein Jahr später hat ihn Willy Brandt (S. 67-72) nach Deists plötzlichen Tod in der Trauerfeier in Köln als einen der Väter des Godesberger Programms (1) gewürdigt, ihn als »undogmatisch, ohne Pathetik, einen Mann der Realität« charakterisiert (SPD 1964: 104). Und sein Weggefährte, Karl Schiller (S. 289-295), bezeichnete ihn als »Reformer der sozialen Demokratie«, mit dem eine »tragende Stimme im wirtschaftspolitischen Dialog der Bundesrepublik« verstummt sei (Die Zeit, 11/1964).
Heinrich Deist wurde in Bant in Ostfriesland geboren. Seine Eltern Heinrich und Louise Deist entstammten der Arbeiterschaft – der Vater war gelernter Drucker, aktiver Sozialdemokrat und Gewerkschafter. Der junge Deist wuchs somit als Kind und Jugendlicher in das vom Selbstverständnis der Facharbeiter geprägte sozialdemokratische Milieu der Kaiserzeit hinein – eine Erfahrung, die ihn sein Leben lang beeinfl ussen sollte. Der Vater konnte ihm dabei sowohl als persönliches als auch als politisches Vorbild dienen: Heinrich Deist senior engagierte sich neben der gewerkschaftlichen Tätigkeit seit 1905 als sozialdemokratisches Mitglied des Dessauer Stadtrats, wurde einige Jahre später Stellvertreter des Stadtverordnetenvorstehers und zeichnete sich durch Augenmaß und reformistischen Pragmatismus aus. Aus dem Schriftsetzer wurde 1919 der demokratisch gewählte Präsident des Staatsrates des Freistaates Anhalt und ab 1922 Ministerpräsident – ein Amt, das er mit kurzer Unterbrechung bis 1932, bis zum Vorabend der nationalsozialistischen »Machtergreifung«, ausüben sollte.
Dem jungen Deist standen nicht zuletzt aufgrund des Aufstiegs des Vaters in die politische Führungsschicht der Weimarer Republik viele Türen offen. Bereits 1918 wurde er Mitglied der sozialistischen Arbeiterjugend, 1920 folgte der Eintritt in die SPD. An den Universitäten Leipzig, Halle und Hamburg studierte er Rechts- und Staatswissenschaften. Als Student war er 1923 an der Entstehung des Hofgeismarer Kreises beteiligt, einem losen Zusammenschluss reformistischer, nationalgesinnter und staatsbejahender Jungsozialisten. Führende Köpfe dieses Kreises waren die späteren sozialdemokratischen Widerstandskämpfer Carlo Mierendorff, Theodor Haubach und Gustav Dahrendorf, doch auch Deist wirkte aktiv an den inhaltlichen Überlegungen der Gruppe mit. Von ihm stammen zwei Schlüsselsätze, die er als Einundzwanzigjähriger in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel »Volk, Staat und Sozialismus « in den Sozialistischen Monatsheften (Nr. 9/1923) formulierte: »Sozialismus [ist] nicht eine wissenschaftliche Theorie, ein Dogma, sondern ein Lebensstrom, […], der mit dem Leben unmittelbar verbunden ist und sich im einzelnen auch mit ihm wandelt […].« Und bezüglich der wirtschaftlichen Fragen dieser Zeit: »Eine Lösung ist nur durch Zusammenwirken von Unternehmern und Arbeitern möglich«. Diese Sätze waren seinerzeit für altgediente Parteimarxisten ein ideologisches Sakrileg, doch für Deist auch noch vierzig Jahre später jener Kompass, an dem er sich als sozialdemokratischer Reformer orientieren konnte.
Nach dem Studium trat er 1924 als Referendar in den preußischen Verwaltungsdienst ein. 1928 kam er erstmals in engeren beruflichen Kontakt zum Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet: Der junge Regierungsassessor wurde Vertreter des Landrats in den Kreisen Essen und Düsseldorf, sammelte vielfältige Erfahrungen vor Ort, an die er nach 1945 anknüpfen konnte. 1931 wurde er als Regierungsrat in die Polizeiabteilung des preußischen Innenministeriums versetzt, wo er zunächst im Referat »Rechtsradikale Bewegung« arbeitete, schließlich zum persönlichen Referenten des preußischen Innenministers Carl Severing avancierte. Nach dem »Preußenschlag« des Reichskanzlers Papen 1932 wurde Deist an das Oberversicherungsamt Düsseldorf versetzt und ein Jahr später, 1933, wegen »politischer Unzuverlässigkeit« aus dem Staatsdienst entlassen.
Während der NS-Zeit lebte er zunächst mit seiner Familie als selbstständiger Kaufmann in Düsseldorf, war politisch »unauffällig«, wenngleich er weiter Kontakte zu politischen Freunden wie etwa zu Gustav Dahrendorf unterhielt. Es mag deshalb nachdenklich stimmen, dass er 1938 Mitglied der NSDAP wurde, wenngleich vermutlich deshalb, um selbst der politischen Überwachung zu entgehen. Schließlich hat ihm der DGB nach 1945 ausdrücklich bescheinigt, dass er zur »Tarnung seiner illegalen Verbindungen« der NSDAP beigetreten sei. Der Parteieintritt war vermutlich die Voraussetzung dafür, dass er während des Krieges (1940) ein zweites Studium, das der Betriebswirtschaftslehre, aufnehmen und 1944 an der Universität Köln promovieren konnte, zudem 1941/42 als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater zugelassen und zwischen 1943 und Kriegsende im Landeswirtschaftsamt Köln, zuletzt als Abteilungsleiter, eingesetzt wurde.
Unmittelbar nach Kriegsende wurde Deist einer der wichtigsten Berater von Hans Böckler – vor allem in Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus an Rhein und Ruhr. Er war fachlich ausgewiesen, galt als gewerkschaftsnah und kannte die beiden anderen bedeutenden Wirtschaftsberater, Viktor Agartz (S. 40-46) und Erich Potthoff. Dank dieser Kontakte wurde er 1947 Mitglied des Treuhandausschusses der alliierten »North German Iron and Steel Control «, deren Aufgabe es war, Konzepte für die Neuordnung der Eisen- und Stahlindustrie zu entwickeln. Es war deshalb nur folgerichtig, dass er auf Vorschlag der Gewerkschaften 1949 einer der zwölf einflussreichen Stahltreuhänder wurde – ein Gremium, das im Auftrag der Briten bis Herbst 1952 diese Schlüsselindustrie grundlegend neu strukturierte und ihr mit viel taktischem Geschick auch gegenüber der Besatzungsmacht das Überleben sicherte. 1953 wurde er in der Nachfolge von Erich Ollenhauer für elf Jahre Bochumer Bundestagsabgeordneter – zunächst über die Landesliste gewählt, 1961 dann mit dem Direktmandat im Wahlkreis 118 Bochum ausgestattet.
Aufgrund seiner wirtschafts- und industriepolitischen Erfahrungen wuchs er auch in der Politik rasch in Schlüsselrollen hinein: Bereits 1953 übernahm der Parlamentsneuling den Vorsitz jenes Bundestagsausschusses, der sich mit Fragen der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln beschäftigte, wenige Jahre später wurde er stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion und der anerkannte parlamentarische Gegenspieler von Bundeswirtschaftsminister Erhard. Auch innerhalb der Partei wurde er nach dem plötzlichen Tod des früheren NRW-Wirtschaftsministers Nölting der wichtigste wirtschaftspolitische Sprecher der SPD, der auch programmatisch den Weg von der traditionellen Arbeiterpartei hin zur sozialen Volkspartei mitgestaltete – gegen erhebliche innerparteiliche Widerstände. Ab 1957 – auf dem Weg zum Godesberger Programm – war er die unbestrittene »Nummer Eins« in einem schwierigen, aufwühlenden Reformdiskurs. Dabei ging es um die Fragen nach Plan und Markt, nach Gemeinwirtschaft und Privateigentum und danach, was der Staat zu leisten habe und was der Einzelne, kurzum: in welchem wirtschaftlichen System Freiheit und Gerechtigkeit am besten gewährleistet seien. Für Deist war die Antwort eindeutig, die er hierzu in seinen Ausführungen auf dem Stuttgarter Parteitag der SPD 1958 gab: »Für eine freiheitliche sozialistische Bewegung kommt nur eine freiheitliche Ordnung der Wirtschaft in Frage«, was auch bedeutete: »Je größer die staatliche Macht und je größer der staatliche Einfluß in der Wirtschaft ist, umso geringer sind die Möglichkeiten freier Entfaltung.« (Deist 1958: 14) Es war das Plädoyer für eine sozial geprägte Marktwirtschaft, zu der für Deist zwingend die Mitbestimmung in den großen Unternehmen zählte. Diese Botschaft hat der glänzende Redner Deist landauf, landab in vielen Veranstaltungen verkündet und damit entscheidend dazu beigetragen, dass das Godesberger Programm 1959 innerhalb der SPD breite Zustimmung erfuhr, aber auch in der Öffentlichkeit als Meilenstein in Richtung Volkspartei verstanden wird. Die Wochenzeitung Die Zeit porträtierte Deist als den »mutigen, brillanten und undogmatischen Verfechter einer »Marktwirtschaft von links«, sah in ihm den »präsumtiven Ministerkandidaten«, machte ihn in großen Artikeln in der gesamten Bundesrepublik sichtbar (z. B. Die Zeit, 37/1959: »Der Wirtschaftsexperte der SPD. Heinrich Deist hat es schwer mit seinen Genossen«).
Seit 1958 gehörte Deist Vorstand und Präsidium der SPD an, ohne das Gespür für die »kleinen Leute« in seinem Wahlkreis zu verlieren. Hier, »vor Ort«, war er als Berater und Redner verankert, wobei das Spektrum seiner Interessen weit über die Wirtschaftspolitik hinausreichte. Dazu zählten Fragen der Kultur und ihre Bedeutung für die Arbeiterschaft, die Perspektiven der Jugend und nicht zuletzt eines seiner Herzensanliegen, die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft. Was bei seiner Würdigung zumeist übersehen wurde: Seit 1953 war Deist auch Mitglied der Gemeinsamen Versammlung der Montanunion und der EWG und seit 1958 Vorsitzender des Wirtschafts- und Finanzausschusses dieser Institution, die sich 1962 in Europäisches Parlament unbenannte. Der DGB hatte ihn sogar als Mitglied der Hohen Behörde der Montanunion vorgeschlagen – das war das zeitgenössische Pendant zum heutigen EU-Kommissar – doch scheiterte der Versuch am Widerstand Adenauers. Innerhalb seiner Partei war er einer der entscheidenden Motoren für »mehr Europa«, forderte noch wenige Tage vor seinem Tod in einer Grundsatzrede auf dem Europakongress der SPD im Februar 1964, »die europäischen Gemeinschaften […] zu einer wahrhaft politischen Union der Vereinigten Staaten von Europa fortzuentwickeln.« (Deist 1964: 7) Man kann das als sein zweites politisches Vermächtnis bezeichnen – neben seinem Kampf um eine freiheitliche Wirtschaftsordnung mit sozialer Bindung.
Die Sozialdemokratie hat allen Grund, auf diesen »Staatsmann ohne Staatsamt«, wie ihn Karl Schiller nach seinem Tode charakterisierte, stolz zu sein. Stolzsein ist nicht gleichzusetzen mit kritikloser Nähe zu Person und Lebenswerk; es gründet sich vielmehr auf die Einsicht, dass eine werteorientierte Gestaltung der Zukunft das Wissen um frühere Leistungen voraussetzt. Hier hat Heinrich Deist den Nachgeborenen viel zu sagen, wie nämlich Markt und Staat mit dem Ziel einer sozial gerechteren Gesellschaft verknüpft werden können.