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Fritz Sternberg

Es hat einmal eine Zeit gegeben, da genügte es, dass die Arbeiterschaft sich um die Entwicklungstendenz in den eigenen Ländern kümmerte. Sie muss dies auch heute tun; aber sie muss erkennen, dass die [...] Arbeit auf dieser Ebene nicht mehr ausreicht. Ebenso wichtig ist die Arbeit auf der außenpolitischen, auf der weltpolitischen Ebene und hier vor allem in den Entwicklungsländern. Fritz Sternberg

Kurzbiografie

Fritz Sternberg (1895–1963) war ein demokratischer Sozialist und Visionär, bekannt für seine Arbeit zu Globalisierung und Kapitalismusdynamik. Geboren in einer jüdischen Familie in Breslau, engagierte er sich früh gegen den Nationalsozialismus. Sternberg, der sich nie einer Partei anschloss, emigrierte 1933 und wirkte im Exil in der Schweiz, Frankreich und den USA als Berater und Wissenschaftler. Seine Werke zur Dynamik des Kapitalismus und zur Notwendigkeit eines vereinten Europas als Gegengewicht zum Kommunismus zeugen von seiner tiefen Überzeugung, dass sozialistische Ideale innerhalb einer freiheitlichen Gesellschaft verwirklicht werden können.

Hörbuch

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Fritz Sternberg – Demokratischer Sozialist und früher Deuter der Globalisierung

von Helga Grebing

Fritz Sternberg (* 11.6.1895 · † 18.10.1963) wurde in Breslau als jüngstes von fünf Kindern einer gut situierten jüdischen Familie geboren. Er studierte nach dem Abitur 1913 in Breslau und Berlin Rechts- und Staatswissenschaften und war von 1916 bis 1918 Soldat. Bereits als Schüler hatte er Kontakte zur Sozialdemokratie, schloss sich aber 1911 der zionistischen Jugendbewegung an und engagierte sich unter anderem in der »Poale Zion«, die Zionismus und Marxismus verbinden wollte und sich gegen die Gründung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina aussprach. 1919 wurde er Mitarbeiter des jüdischen Soziologen Franz Oppenheimer an der Universität Frankfurt am Main.

1923 trennte sich Sternberg von Oppenheimer und dem Zionismus (er trat später auch aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus) und begann, sich mit der undogmatischen Weiterführung der Marx’schen Theorien zu befassen. Mitte der 1920er-Jahre wurde er zum »Star des radikalen jugendlichen Linkssozialismus« und zum »theoretischen Stichwortgeber einer intellektuellen Generation junger Sozialisten« (Franz Walter). Seine Auftritte waren eindrucksvoll: dynamisch-appellative Aufrufe zur revolutionären Aktion und ein zündender, dramatischer Redestil. Nach zwei Reisen in die Sowjetunion 1929 und 1930 wuchs bei Sternberg, der sich als unabhängiger Sozialist verstand und weder KPD- noch SPD-Mitglied war, die Besorgnis darüber, dass durch Lenins Theorien und Stalins Gewaltherrschaft die Marx’schen Auffassungen verfälscht wurden. Gleichzeitig erkannte er die Gefahr des Nationalsozialismus, den er publizistisch und in seinen Vorträgen und Reden aufs Schärfste bekämpfte. Im November 1931 trat er in die neu gegründete SAPD ein, an deren Programm er mitwirkte. Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 floh er in die Schweiz, wo er für die in Paris ansässige Auslandsvertretung der SAPD arbeitete. Im Frühjahr 1936 wurde er aus der Schweiz ausgewiesen und lebte bis Mai 1939 in Paris.

Überzeugt davon, dass Hitler den kommenden Zweiten Weltkrieg nur dann nicht gewinnen würde, wenn die USA in den Krieg eintreten würden, ging er in die USA. Er bewarb sich um Forschungsaufträge, publizierte, wurde Berater von einflussreichen Gewerkschaftsführern und knüpfte Verbindungen bis in die Nähe von Präsident Roosevelt. 1945 nahm er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an. Er verstand sich nun als freiheitlicher Sozialist.

Anfang der 1950er-Jahre kam Sternberg wieder nach Europa und lebte überwiegend in München. Versuche, in der Bundesrepublik eine Professur zu erhalten, verliefen sich im Nichts. So arbeitete er verstärkt für Rundfunk und Fernsehen. Zeitlebens von labiler Gesundheit starb Fritz Sternberg am 18. Oktober 1963 in München an einer Lungenembolie.

 

Unorthodoxer Marxismus

Fritz Sternberg ist allen Versuchen der Marx- und Marxismus-Orthodoxie, ihn als Revisionisten abzustempeln, mit der Feststellung begegnet: »Ich bin heute ein unorthodoxer Sozialist ebenso wie vor 34 Jahren, als ich mein Buch ›Der Imperialismus‹ veröffentlichte.« (1960) Er blieb nach seinem Selbstverständnis den Methoden des Marx’schen Denkens verpflichtet, aber Übereinstimmung mit dem historischen Marx (S. 221-227) war ihm egal: »Kein Wort von Buchstaben-Philologie wird man hier finden«, schrieb er bereits 1926 im Vorwort des Imperialismus-Buches, in dem er die reale Entwicklung des europäischen Kapitalismus in einer noch längst nicht durchkapitalisierten Welt untersuchte. Darin bewies er seine Fähigkeit, komplexe Deutungen und Trendanalysen vorzulegen. In der Betrachtung der Zeit zwischen 1848 und 1914 stieß er auf die Tatsache, dass die Arbeiterklasse in Europa eben nicht zunehmend verelendet war, wie es Marx postuliert hatte, sondern sich für die ganze Arbeiterklasse eine Verbesserung der Lohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse eingestellt hatte. Sternberg erklärte das damit, dass die Arbeiterklasse insgesamt, bewirkt durch die imperialistische Expansion und Verlagerung der Ausbeutung in die nicht kapitalistischen Räume, eine »Schonzeit« bekommen hatte.

 

Der deutsche Faschismus

Nach dem Ersten Weltkrieg war diese Schonzeit vorbei. Die Krisen würden sich verschärfen, da der imperialistischen Expansion Grenzen gesetzt waren. An ein durch staatliche Investitionen unterstütztes »Hineinwachsen« in den Sozialismus war nicht zu denken. Nur eine proletarische Revolution könnte den Transformationsprozess auslösen. Aber Deutschland war durch die Niederlage im Weltkrieg das schwächste Glied des europäischen Kapitalismus geworden. Die Arbeiterbewegung war nicht nur in Deutschland gespalten und geschwächt, während die konterevolutionären Kräfte sich auf einem schnellen Vormarsch befanden. Daraus ergab sich die Chance des deutschen Faschismus, als Avantgarde des Monopolkapitals enormen Auftrieb zu gewinnen. Dabei sah Sternberg durchaus auch für den Nationalsozialismus ein gewisses Maß an Eigenständigkeit und hielt dessen Gewaltpotenzial für erheblich größer als das des italienischen Faschismus. Er unterstrich in seiner Analyse den soziologischen Verdrängungsprozess in den verproletarisierten alten und neuen Mittelschichten, die für die Arbeiterbewegung unerreichbar blieben. Demgegenüber erklärte er die gespaltene Arbeiterbewegung in Deutschland für unfähig, zu einem Aktionsbündnis zusammenzufinden, um die nationalsozialistische Machtübernahme zu verhindern. Er kritisierte scharf die Tolerierungspolitik der SPD-Führung und noch schärfer die verheerende, von der Kommunistischen Internationale vorgegebene Sozialfaschismusthese der deutschen Kommunisten, die in der SPD und nicht in der NSDAP ihren Hauptfeind sahen.

 

Europa nach dem Zweiten Weltkrieg

1926 in seinem Imperialismus-Buch hatte Sternberg noch die Entwicklung der Sowjetunion positiv beurteilt. 1929/30 nach seinen Reisen in die Sowjetunion wurde er skeptischer, kritisierte die falsche Beurteilung der ökonomischen Lage in Europa durch die sowjetische Planung, vor allem aber die sich abzeichnende bürokratisch-terroristische Gewaltherrschaft Stalins. Schließlich hielt er die Sowjetunion nach dem »Hitler-Stalin-Pakt« für eine »reaktionäre Macht«. Zu Beginn des Kalten Krieges kam er zugespitzt zu dem Urteil: Die Sowjetunion war eine nicht kapitalistische, industriell hoch entwickelte, die eigenen Massen und die abhängigen Länder ausbeutende terroristische Diktatur geworden. Veränderungen in der Zukunft schloss er zwar nicht aus, fand aber zugleich keinen Ansatz für sie. Auch Sternberg erwartete nach 1945 einen »Ruck nach links« in Europa, erkannte aber bald, dass die Labour Party mit ihrem Konzept der teilweisen Verstaatlichungen zu kurz griff, und richtete nun seine Blicke auf die Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien und auf das Modell der deutschen Montanmitbestimmung. Vor allem aber sah er, dass England allein in Europa nicht als Transformationsplattform ausreichen würde, um sich gegenüber dem Sowjetkommunismus halten zu können. Er kritisierte deshalb die konservative Besatzungspolitik der Briten bei dem Versuch einer Vergesellschaftung der Ruhrindustrie. Noch stärker kritisierte er die Großmachtpolitik der USA, die nicht begriff, welche Vorteile ihr die demokratisch-sozialistische Stabilisierung Europas in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion bringen würde. Fritz Sternberg erkannte damals klar, dass die nächste Chance für den demokratischen Sozialismus nur ein vereintes Europa biete.

 

Chancen für den demokratischen Sozialismus?

Aber würde es diese Chance je geben? Sternberg sah sie seit Mitte der 1950er-Jahre durchaus. Die gerade in den USA weit fortgeschrittene zweite industrielle Revolution, wie die technisch-wissenschaftlich-ökonomische Umwälzung zusammenfassend bezeichnet wurde, wies den Weg, und zwar durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität, durch die Humanisierung der Arbeitsprozesse, durch höhere Qualifikationsanforderungen, durch bessere Ausbildung und Bildung, durch die »Liquidierung der Armut« und nicht zuletzt durch eine Veränderung der Rolle des Staates als gesellschaftliche Gestaltungskraft. Das alles sollte das Fundament einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaft bilden, die Sternberg als das Ergebnis eines evolutionären Prozesses ansah, in dem Europa sich langfristig befand.

Zuletzt war Sternbergs großes Stichwort nicht mehr allein Europa, sondern die Welt. In seinem letzten Buch »Wer beherrscht die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts?« (1961) untersuchte er die globale Machtverteilung. Das Ergebnis: Keine Macht würde die Welt allein beherrschen können. Und wieder fragte Sternberg nach den Möglichkeiten eines demokratischen Sozialismus in diesem neuen Parallelogramm der Weltkräfte. Er sah sie in einem radikalen Umdenken – weg von der provinziellen nationalen Ebene, über Europa hinaus hin zu einer weltpolitischen Orientierung, »hier vor allem in den Entwicklungsländern«. Eine neue fortschrittliche Arbeiteraristokratie sollte ihre Aufgaben global erfüllen.

Was ist geblieben von dem, was Sternberg einforderte? Seine Erkenntnisse über die Wirkungskraft der Globalisierung sind gültig geblieben. Manches, wozu Sternberg geraten hat, fand seinerzeit bei einer Reihe von sozialdemokratischen Politikern Resonanz – bei Willy Brandt (S. 67-72), Fritz Erler (S. 119-124), Otto Brenner, Hans Matthöfer – und lohnt sich heute noch, zur Kenntnis genommen zu werden. Dazu gehört auch seine Mahnung, immer auf der Höhe der Zeit und der Deutung ihrer Entwicklungen zu bleiben. Die Werte und Ziele des demokratischen Sozialismus blieben für Sternberg unverbrüchlich, sie mussten allerdings eingeordnet werden in die jeweils erkennbare Realität, um wirksam werden zu können.


Werk

  • Fritz Sternberg hat 18 Bücher, 13 Broschüren und ungezählte Aufsätze geschrieben; auf folgende Bücher wird hingewiesen:
  • Sternberg, Fritz, Der Imperialismus, Berlin 1926;
  • Sternberg, Fritz, Der Faschismus an der Macht, Amsterdam 1935.
  • Sternberg, Fritz, Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, Hamburg 1951.
  • Sternberg, Fritz, Marx und die Gegenwart, Köln 1955.
  • Sternberg, Fritz, Wer beherrscht die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts?, Köln 1961.
  • Sternberg, Fritz, Der Dichter und die Ratio. Erinnerungen an Bertolt Brecht (1963), neu hg. u. komm. v. Helga Grebing, Frankfurt a. M. 2014

Literatur

  • Grebing, Helga (Hg.), Fritz Sternberg (1895–1963). Für die Zukunft des Sozialismus, Köln 1981.
  • Grebing, Helga, Fritz Sternberg – ein Leben für die Zukunft des Sozialismus, in: spw, H. 6, 2013.
  • Walter, Franz, »Republik. Das ist nicht viel«. Partei und Jugend in der Krise des Weimarer Sozialismus, Bielefeld 2011.

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