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Jochen Steffen (1922–1987) war ein markanter SPD-Politiker und Querdenker, auch bekannt als "der rote Jochen". Als leidenschaftlicher Sozialist und Kritiker innerhalb seiner Partei engagierte er sich für linke Ideale und gegen Opportunismus. Trotz bedeutender Ämter in Schleswig-Holstein und aktiver Beteiligung an der SPD-Programmarbeit fühlte er sich später zunehmend von der Parteilinie entfremdet, was 1979 zu seinem Austritt aus der SPD führte. Steffen hinterlässt ein Vermächtnis als unbeugsamer Verfechter seiner Überzeugungen, als Mahner für innerparteiliche Demokratie und als Vorreiter in Fragen wie dem Atomausstieg.
Hören Sie den Eintrag zu Jochen Steffen auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:34 Minuten)
Jochen Steffen (* 19.9.1922 · † 27.9.1987) war, zumindest in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts »zuallererst ein sozialistischer Bürgerschreck« (Stefan Appelius). Er war der »rote Jochen« aus Schleswig-Holstein, nicht nur seiner roten Haare aus Schülerzeiten wegen. Und: Er beeindruckte nicht nur seinen engen Freund Siegfried Lenz durch »seine Unerschrockenheit, seine Aufrichtigkeit, sein mangelndes diplomatisches Geschick […].« (Steffen 1997: 11 f.)
Der als Sohn eines Stadtobersekretärs und eines aus einer Bauernfamilie stammenden Dienstmädchens in Kiel geborene Karl Joachim Steffen besuchte in seiner Geburtsstadt die Oberschule, machte 1941 ein Notabitur und wurde kurz darauf zur Marineflak eingezogen. Er brachte es bis zum Obergefreiten, einer Offizierslaufbahn verweigerte er sich. Er hatte noch vor Kriegsende die dienstverpflichtete Flakhelferin Annemarie Johanna Zimmermann kennengelernt. Sie heirateten am 11. Mai 1945, wenige Tage danach trat Steffen in die SPD ein. Im Juni 1946 begann er in Kiel mit dem Studium der (erst später so genannten) Politischen Wissenschaft. Eine bei Wolfgang Abendroth (S. 33-39) in Marburg geplante Dissertation zur »Rolle und Funktion des Parteifunktionärs« beendete er nicht. Er war gezwungen, für seine Familie, Sohn Jens-Peter war im September 1954 geboren worden, den Lebensunterhalt zu verdienen. Seit Ende 1955 war er Redakteur bei der »Flensburger Presse«, später bei der »Kieler Volkszeitung«.
Seine politische Biografie war von Anfang an mit Schleswig- Holstein verbunden, in der Rolle des »Kuddl Schnööf« feierte er als Kabarettist mit seinen »achtersinnige[n] Gedankens« über Norddeutschland hinaus Erfolge. 1946 war der junge Sozialdemokrat Gründungsmitglied des SDS, 1954 bereits Landesvorsitzender der Jungsozialisten und 1958 zog er in den Landtag in Kiel ein. Seit 1965 war er SPD-Landesvorsitzender und ein Jahr später auch SPD-Fraktionsvorsitzender. Mit seiner offiziellen Funktion als »Oppositionsführer mit Dienstwagen und Chauffeur« kam er nicht gut zu Recht. Wie schon zuvor fuhr ihn meist seine Frau, da er keinen Führerschein besaß.
Die von ihm auf Landesparteitagen angeregten Debatten fanden nicht immer den Beifall der Parteiführung in Bonn. Er sah sich, wie er später schrieb, als »Mitglied einer sozialen Reformpartei, die seit 100 Jahren auch einen sozialistischen Flügel hat [...].« Diesen Flügel zu stärken, sah er als seine Aufgabe an. (Steffen 1997: 284) Ab 1967 engagierte er sich daher für einen Zusammenschluss linker Sozialdemokraten, dem sog. Frankfurter Kreis.
Seit 1968 war er Mitglied des SPD-Parteivorstandes und von 1973 bis 1976 auch Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission. Die Entwicklung in der von ihm geführten Partei in Schleswig- Holstein schien seine Hoffnungen auf einen neuen linken Kurs der SPD zu bestätigen. Umso größer war seine Enttäuschung, als die SPD zwar bei den Landtagswahlen 1971 in Schleswig-Holstein über 40 % erreichte, er es aber als Spitzenkandidat dennoch nicht schaffte, die CDU im Lande abzulösen. Zwei Jahre später gab er den Fraktionsvorsitz ab und 1975 auch den Landesvorsitz, der Rückzug aus der Politik begann. Aus der Grundwertekommission zog er sich enttäuscht zurück, zu wenig hatte er darin bewegen können. Er schrieb: »Ich bin Reformist. Unsere Praxis ist antireformistisch [...]. Unsere Praxis ist extrem ›staatssozialistisch‹« (Steffen 1997: 285 f.) 1977 gab er auch »ohne jegliche Bitterkeit« seinen Sitz im Parteivorstand auf. Im gleichen Jahr, von Krankheit bereits gezeichnet, verzichtete er auch auf sein Landtagsmandat. Zusammen mit seiner Frau zog er nach Niederösterreich um. Im November 1979 trat er aus der SPD aus, der von der SPD eingegangene Kompromiss in der Kernenergiepolitik hatte den letzten Anstoß gegeben. Die Gründung einer grünen Partei verfolgte er mit Wohlwollen, machte aber immer wieder klar, dass er nicht Mitglied einer neuen Partei werden wolle. Er blieb auch ohne Parteibuch Sozialdemokrat. Schwer krank kehrte er nach Schleswig-Holstein zurück. Nach mehreren Bypassoperationen starb er am 27. September 1987 in Kiel. Er wurde 65 Jahre alt.
Jochen Steffen war einer der Sprecher der Parteilinken in der SPD. Er galt als »Marxist«. Siegfried Lenz nannte ihn freilich einen »eklektizistischen Marxisten« und Steffen selbst war noch kritischer:
»Tatsächlich schwankte ich innerlich, war ich meiner selbstgebastelten Ideologie – wie der aufgesaugten marxistischen Versatzstücke – keinesfalls so sicher, wie ich sie stur wiederholte, mich gleichsam im Glauben festigen wollend durch ständiges Repetieren der Kernpunkte.«(Steffen 1997: 59)
Steffen übte gleichermaßen Kritik an denjenigen, die die bestehende Ordnung für unantastbar hielten wie an denjenigen, die der notwendigen Reform der Gesellschaft nicht realisierbare Ziele setzten. Wirtschaftspolitik müsse immer auch Gesellschaftspolitik sein. Die notwendige Investitionsförderung und die regionale Strukturpolitik hätten vor allem ein Ziel: Die »Souveränität des mündigen Volkes über die Machtpositionen der Wirtschaft und Gesellschaft zu sichern« (Steffen 1968; 383 u. 398).
Bei dem Versuch, dieses Ziel zu erreichen, hatte und hat die Sozialdemokratie stets einen »Zweifrontenkampf« zu führen, wie Steffen in der innerparteilichen Debatte um eine Abgrenzung der SPD vom Kommunismus betonte. So sehr auch er eine Auseinandersetzung in der eigenen Partei mit einer »gefühlsmäßigen Linkslyrik« für notwendig hielt, so sehr lehnte er es ab, die entschiedene Kritik an der kommunistischen Bewegung mit einer »falsch akzentuierten Ausschlußdrohung« zu verknüpfen. Es gelte – wie Steffen es formulierte –, einen blindwütigen, emotionalen Antikommunismus zu vermeiden, der nur zu oft dazu diene, die »Unterdrückungstendenzen und die Manipulationen im eigenen System zu verschleiern« und die Gegner dieser Unterdrückungstendenzen in der eigenen Gesellschaft »in die kommunistische Ecke zu drücken« (Steffen 1970: Rede vor dem Parteirat der SPD).
Mitte der 70er-Jahre setzte Steffen Hoffnungen auf die westeuropäischen eurokommunistischen Parteien, die vielleicht eine prinzipielle Absage an den Stalinismus im ganzen kommunistischen Lager bewirken könnten. Für ihn war das Bekenntnis zu den Menschenrechten unteilbar:
»Die Wahl zwischen ökonomisch oder politisch verursachter Menschenrechtsverletzung ist die zwischen Erhängen und Erwürgen. Dabei wird immer ein Teil der unteilbaren Menschenrechte getötet. Auf der Strecke bleiben immer die Menschenrechte«,
so schrieb er Mitte 1977 an Robert Havemann. Sozialisten wie er müssten sich daher, wenn sie zu Recht gegen die Verletzung der Menschenrechte durch soziale Not in der Bundesrepublik protestierten, genauso deutlich gegen die Verletzung der politischen Menschenrechte in der DDR wenden (Steffen, AdsD 1 JSAA 000136).
Immer wieder aber mahnte Jochen Steffen seine Partei, über der notwendigen Tagespolitik die langfristige, über den Tag hinaus weisende Programmdiskussion nicht zu vergessen. Als es galt, für die 80er-Jahre einen »Orientierungsrahmen« zu formulieren, gehörte Steffen mit zur ersten von zwei Programmkommissionen. Er konnte sich allerdings mit seiner kritischen Position in der Kommission nicht durchsetzen. (Steffen 1973, Elf Thesen: 92 ff.) Er wollte mit seinen programmatischen Überlegungen endlich einmal »aus dem Kreis von Reparatur des ›Systems‹ und Anpassung des ›Systems‹ herausspringen«. (Heimann 1984: 2076) Er entwarf das Konzept einer »Strukturellen Revolution«, das Bezugspunkt für einen radikalen Neuanfang sozialdemokratischer Politik sein sollte (vgl. Steffen 1974: passim).
Steffens Kritik fiel zunächst auf fruchtbaren Boden, wie sich auf dem Parteitag in Hannover im April 1973 zeigen sollte. Die Delegierten beschlossen eine Empfehlung an die Programmkommission, die die Kritik der Parteilinken, vor allem der von Steffen, zusammenfasste. Dagegen regte sich jedoch sehr schnell Widerstand aus den Reihen der Mehrheit der Partei. Mit dem endgültigen Wortlaut des »Orientierungsrahmen 85«, den eine neue Kommission unter dem Vorsitz Peter von Oertzens (S. 263-268) zwei Jahre später vorlegte, waren zwar viele Parteilinke nicht einverstanden, stimmten aber schließlich auf dem Mannheimer Parteitag 1975 fast einstimmig zu. Steffens Überlegungen gingen zu sehr gegen den Strich aller gängigen Strömungen in der SPD und fanden daher kein unmittelbares Echo (vgl. Heimann 1984: 2086). Seine kritischen Wortmeldungen galten als »Einzelstimme«. (Faulenbach 2011: 461)
Die Spuren seines Denkens sind dennoch nicht verweht, wie manche Journalisten nach seinem Tode meinten urteilen zu müssen. Steffen hatte schon früh eine Erklärung dafür gefunden, weshalb es »Querdenker« wie er in der SPD stets schwer hatten, Gehör zu finden. Er war ja schon seit Mitte der 60er-Jahre – zu Zeiten der Großen Koalition – in der SPD ein steter Mahner, der die »kleine Freiheit« in der innerparteilichen Auseinandersetzung hochhalten wollte. Er kritisierte daher auch vehement »Fraktionsbildungen« in der Partei. Sie würden wie »Heerhaufen« gegeneinander marschieren und sich »Stimmpakete« statt Argumente um die Ohren hauen. Kontroverse Diskussionen aber müssten offen und öffentlich geführt werden, nicht zuletzt um »Ämterpatronage« mit fatalen Gesetzmäßigkeiten zu vermeiden (Steffen 1973: Wider das Kartell).
Siegfried Lenz hat es in seiner Trauerrede für Steffen auf den Punkt gebracht:
»Was für ihn zählte, das war die Treue zu seinen Überzeugungen. Nicht einen Augenblick bereit, sie auf dem Altar des Opportunismus zu opfern, nahm er viel in Kauf: Unverständnis, Ablehnung, Einsamkeit«. (Steffen 1997: 18)
Nur wenige Jahre nach seinem Parteiaustritt zeigte sich, dass Steffen seiner Partei in nicht wenigen Politikbereichen – etwa in der Frage des Atomausstiegs – voraus war. Viele seiner Mahnungen bleiben aktuell. So auch Steffens Sorge, dass die SPD keine kämpferische Reformpartei mehr sein könnte.