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Johannes Rau (1931-2006), ehemaliger Bundespräsident und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, prägte die deutsche Politik mit seinem Motto "Versöhnen statt Spalten". Sein politischer Weg begann in der Gesamtdeutschen Volkspartei, führte ihn zur SPD und schließlich zu den höchsten Ämtern im Land. Rau setzte sich für soziale Gerechtigkeit, Bildung und die Integration ein. Als "Bruder Johannes" vereinte er Glauben und Politik, wirkte als Brückenbauer und mahnte stets zur Solidarität und zum Schutz der Demokratie.
Hören Sie den Eintrag zu Johannes Rau auch als Hörbuch. (Hörzeit 8:57 Minuten)
Johannes Rau (* 16.1.1931 · † 27.1.2006) unternahm nach seinem Übertritt von der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) zur SPD 1957/58 eine steile Karriere, die ihn vom Landtag Nordrhein-Westfalens über die Stadt Wuppertal zu Ministerämtern der nordrheinwestfälischen Landesregierung, zum Amt des Ministerpräsidenten, zum stellvertretenden SPD-Vorsitz und schließlich zum Amt des Bundespräsidenten führte. Über alle Funktionen, Ämter und Mandate hinweg war sein Handeln im Kontext der Bekennenden Kirche, von Erfahrungen in seinem Elternhaus – Johannes Raus Vater war Blaukreuzprediger – und dem pietistischen Umfeld in Wuppertal geprägt.
Johannes Rau näherte sich der Politik zunächst aus publizistischer Sicht. Hintergrund dafür bildete seine tiefe Verwurzelung im christlichen Glauben, der ihn eine Karriere als Buchhändler und Verleger vor dem Hintergrund eines breiten Interesses an Wissenschaft, Kunst und Kultur anstreben ließ. Seine Arbeit als Journalist brachte ihn in Kontakt mit der Politik: Die unmittelbare Wirkungsweise der kleinen, von Gustav Heinemann aus Protest gegen die Adenauer’sche Politik der Wiederaufrüstung und Westbindung gegründeten GVP überzeugte ihn von der Sinnhaftigkeit, auf politischem Wege gesellschaftlich wirken zu können. Politik wurde für Rau das Mittel, um an gesellschaftlicher Entwicklung zu arbeiten. Als die GVP sich aufgrund ausbleibenden Wahlerfolgs 1957 auflöste und ihre Mitglieder sich der SPD anschlossen, teilte er daher – genauso wie Erhard Eppler (S. 112-118), Gustav Heinemann und viele andere – die Überzeugung, in der so viel größeren Organisation der SPD weiterhin wirken zu können.
Sein bemerkenswert schneller Aufstieg in der SPD bestätigte diese Annahme. Dennoch erhielt sich der belesene Autodidakt bis zur Übernahme des Fraktionsvorsitzes der SPD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1967 eine berufliche Bindung ins (christliche) Verlagswesen. Für ihn verbanden sich christliche und politische Anliegen in einem kongruenten Menschenbild des Sich-umeinander-Kümmerns, der Herausforderung, Vertrauen zu schaffen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Die vielfältigen Aktivitäten in der SPD hielten ihn nicht davon ab, sich auch zu christlichen Angelegenheiten intensiv zu äußern und in der evangelischen Kirche zu engagieren. Dieses doppelte Engagement ließ ihn zur personifizierten Verbindung von evangelischer Kirche und Sozialdemokratie werden und verhalf ihm zum Spitznamen »Bruder Johannes«, der nicht eine Abgrenzung zum »Genossen« schuf, sondern auch auf seine spezifische Rhetorik gemünzt war: »Wir brauchen die Hinwendung vom Stärkeren zum Schwachen, des Glücklichen zum Unglücklichen, des Erfolgreichen zum Notleidenden.« (Rau 1985: 608)
Sein ausgleichender, moderierender politischer Stil trug zu einer Wahrnehmung der Überparteilichkeit bei – die Werbekampagne zur Landtagswahl 1985, die zur Festigung der absoluten Mehrheit der SPD in Nordrhein-Westfalen führte, hieß nicht von ungefähr »Wir in NRW«. Zugleich schuf dieser Stil die Voraussetzung, auch interne Auseinandersetzungen zu befrieden und programmatische Debatten zu begleiten. In seinen Parteitagsreden seit den späten 1970er-Jahren sprach er viele Aspekte des 1989 verabschiedeten Berliner Programms der SPD an. Die Aufgabe, soziale und wirtschaftliche Bedürfnisse mit der ökologischen Herausforderung auszugleichen, stand ihm dabei schon früh klar vor Augen: »Das sozial und ökologisch Wünschbare muß mit dem ökonomisch Möglichen sinnvoll verbunden und in alle wichtigen Lebensbereiche übersetzt werden.« (Rau 1979: 273)
In diesem Sinne erscheinen die Begriffe Konsens und Moderation – abgesehen von seinem Beitrag zur Verbindung von Sozialdemokratie und Religion – als zentrale Begriffe von Raus Bedeutung für die programmatische Entwicklung der Sozialdemokratie. Auch die andauernde und tief gehende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stellte für Rau einen der wichtigsten Bausteine seines politischen Denkens dar; aus ihr folgte sein Engagement für eine freiheitliche und tolerante Demokratie. Daraus entwickelte sich seit den 1950er-Jahren die Grundlage der politischen Natur Johannes Raus: das Bestreben nach Aussöhnung und Verständigung, insbesondere mit Israel, mit den Juden und mit Polen. Dazu gehörte aber auch der Kampf gegen Intoleranz, Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus, dem er sich immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen zuwandte.
Johannes Rau wirkte in erster Linie als Landespolitiker in Nordrhein-Westfalen. Durch seine pragmatische Politik des Machbaren bildete der Strukturwandel des Ruhrgebiets die größte und zentrale Herausforderung seiner Politik, der er schon als Wissenschaftsminister mit zukunftsorientierten Ideen eines Ausbaus der Hochschullandschaft (Stichwort FernUniversität Hagen) begegnete (Grosse 2007; Behler 2007) und die er dann mit wirtschaftspolitischen und schließlich auch medienpolitischen Programmen bearbeitete.
Der auf das Verständnis Raus bezogene Werbeslogan »Versöhnen statt Spalten« für seine Kanzlerkandidatur in den Bundestagswahlen von 1987 ist seitdem emblematisch mit ihm verbunden. Paradoxerweise wurde diese Zuspitzung seines Handlungsimperativs und zugleich einer der bekanntesten Wahlslogans der SPD überhaupt zugleich zu Raus größter Enttäuschung. Die in dem Slogan mitschwingende Überparteilichkeit ließ sich nicht ohne Weiteres auf Bundesebene übertragen und in Stimmen ummünzen. Als »Landesvater« hingegen schlug sich diese von ihm verkörperte Generalisierung der Grundwerte in einem erweiterten Verständnis von Sozialdemokratie und damit verbunden einer breiteren Ansprache der Gesellschaft nieder. Raus Grundsätzlichkeit sprach viele Menschen an, da sie ganz in der alltäglichen Sprache und damit anschlussfähig für viele blieb und damit weder auf ein sich seit 1960er-Jahren ausdifferenzierendes Wissen der Politikfelder rekurrierte noch hölzerne Sprachstanzen hervorbrachte – auch wenn sich in den Reden oft altbekannte Redewendungen fanden. Rau wollte über seine Worte in Reden wirken, die Menschen direkt erreichen. In seinen letzten Lebensjahren warnte er zunehmend vor der Desintegration der Eliten des Landes, die für ihn eine zentrale Gefährdung der Demokratie darstellten.
Johannes Rau personifiziert weiterhin die Verbindung von Christ und Sozialdemokrat mit einem optimistischen Menschenbild: »Ich baue auf die Fähigkeit der Menschen, vernünftig, demokratisch und solidarisch mit gesellschaftlichen Problemen fertig zu werden.« (Rau 1984: 401) Er wird vor allem als Mahner der Versöhnung wahrgenommen, aber auch als integrativ wirkender Politiker, der als Bundespräsident in seiner ersten »Berliner Rede« die Situation der Ausländer in Deutschland ansprach und die bessere Integration der Migranten einforderte. In seiner Zeit als Bundespräsident setzte er mit den Berliner Reden Akzente, die zunehmend pessimistischer zu werden schienen:
»Unser demokratischer Staat ist mehr als ein Dienstleistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes. Der Staat schützt und stärkt die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auch vor den gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften, die die Freiheit des Einzelnen längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit.« (Raus letzte Berliner Rede, 12.5.2004: bundespraesident.de)
Mit solchen Einwürfen wurde er als aus der Zeit gefallen wahrgenommen. Doch gerade die Beharrung auf den Grundwerten der Solidarität und Gerechtigkeit hat sich während einer dominanten Phase neoliberal geprägter Ansichten, in der Menschen auf ihre ökonomische Funktion reduziert werden, als entscheidender Pluspunkt erwiesen. Das öffentliche Festhalten an dieser Überzeugung zeugt vielmehr von einer programmatischen Zeitlosigkeit grundständiger Werte, für die Rau zeitlebens eintrat.