Pressefreiheit trotz allumfassender Kontrolle?
Die neue Gesellschaft wird eine Netzwerkgesellschaft und sie sieht sich nicht mehr nur mit einem Kritiküberschuss konfrontiert, sondern vor allem mit einem „Kontrollüberschuss“ – wiederum ein Begriff von Dirk Baecker. Jede Regung der Menschen wird verdatet, selbst Maschinen kommunizieren untereinander. Wir könnten ganz praktisch alles kontrollieren, aber wir müssen selektieren, welche Kontrolle sinnvoll ist. In der Netzwerkgesellschaft ist alles miteinander verbunden und steht in einem gegenseitigen Kontrollverhältnis zueinander. Jede_r könnte kontrollieren und jede_r könnte kontrolliert werden.
Es gibt nun „Datenjournalismus“, weil es digitale Daten gibt. In Newsrooms hängen nun Monitore mit Live-Statistiken über die Website-Nutzung, weil das Publikum detailliert getrackt wird. Fehler in Artikeln werden korrigiert und als solche benannt, weil Leser_innen die Inhalte selbst überprüfen können. Es gibt viele Facetten, die im Journalismus als nützlich angesehen werden, wenn es um digitale Kontrolle geht. Pressefreiheit wird bis heute allerdings zumeist gedacht als Abwehrrecht der Medien gegen einen übergriffigen Staat, so formuliert es beispielsweise das Grundgesetz. Pressefreiheit ist also dann gegeben, wenn Journalistinnen und Journalisten den Staat kontrollieren – aber ja nicht umgekehrt. Dieses Verständnis war gewiss immer schon idealistisch, aber in der Netzwerkgesellschaft ist es geradezu naiv.
Staat bleibt Staat, Journalismus bleibt Journalismus
Es gibt kein Leben mehr ohne digitale Kontrolle. Eine Beobachtung der Corona-Zeit ist doch, dass politisch kaum darüber diskutiert wird, ob eine Tracing-App im Grundsatz als Mittel gerechtfertigt sein kann, sondern nur, wie sie gebaut sein muss. Und das, obwohl sich laut ARD-Deutschlandtrend über 40 Prozent der Deutschen aus Sorge um Datenschutz und Überwachung dagegen aussprechen. Der soziale Rechtfertigungsdruck dürfte dennoch künftig bei ihnen liegen, da sie nicht bereit sind, mit ihren Daten bei der Bekämpfung der Pandemie mitzuhelfen. Eine andere Beobachtung ist, dass Verlage in Existenznöte geraten, obwohl die Klickzahlen in die Höhe schnellen. Die Pressefreiheit der digitalen, demokratischen Gesellschaft wird eine sein müssen, in der Medien weiterhin ihre aufklärerische Funktion erfüllen können, obwohl sie allumfassend kontrolliert werden können.
Wie wird sich dieses Verhältnis zur Kontrolle einpendeln? Es scheint zumindest erkennbar, dass ehemals starre Grenzen durchlässiger werden. Identitätsbildung bleibt wichtig, Staat bleibt Staat und Journalismus bleibt Journalismus. Aber wenn sich Gesellschaftsteile gegenseitig immer stärker kontrollieren können, dann steigt der Drang, in manchen Feldern zu kooperieren. In Österreich förderte die Regierung in der Corona-Krise einige Zeitungen mit Millionen und Proteste dagegen regten sich kaum. In Deutschland warnte das Gesundheitsministerium per Twitter vor „Fake News“, die bei genauer Recherche gar keine waren und dennoch übernahmen etliche Medien die Warnung. In Großbritannien wird seit einigen Jahren diskutiert, ob Geheimdienste nicht freiwillig Foren für vertrauliche Gespräche von Beamt_innen mit Medien schaffen sollten, weil Quellen bei geheimer Kontaktaufnahme wegen der Massenüberwachung ohnehin auffliegen würden.
Der Drang, zu kooperieren
Vielleicht beschreibt das Wort „Kooperationsprojekt“ am besten, was im Netzwerk ein Äquivalent zur vorigen starren Trennung sein könnte. Medien und Staat kooperieren, aber nur so lange, wie es sich rechtfertigen lässt – dann ist das Projekt vorbei. Staatliche Stellen etwa gewöhnen sich daran, dass kaum ein digitales Dokument lange geheim bleibt. Die EU-Kommission „leakt“ nun seit einiger Zeit ihre eigenen Entwürfe an Medien. Man mag da (zu Recht) die Gefahr der Instrumentalisierung sehen, gleichwohl öffnet sich die Politik durch die Kooperation früher einer öffentlichen Diskussion über Ideen, was für die Demokratie keine schlechte Entwicklung sein muss. Ungewöhnlicher ist der Wille zur zeitlich und thematisch begrenzten Kooperation noch für Medien, doch auch hier werden die Beispiele zahlreicher, wie Corona zeigt. Medien nehmen Geld, aber nur in der Krise. Ministerien dürfen Richter über die Wahrheit spielen und vor „Fake News“ warnen, aber nur in Bezug auf Corona. Medienschaffende wehren sich gegen Massenüberwachung, außer es geht um die Gesundheit aller.
Das Paradoxe ist, dass Journalismus in der Netzwerkgesellschaft erkennbar bleiben muss, indem er sich abgrenzt und nur so als eigenständiger Teilnehmer in einem Projekt kooperieren kann, in dem die Grenzen dann zu verschwimmen drohen. Ein Verständnis von Pressefreiheit kann sich damit weniger an tradierten Grenzen orientieren, sondern fordert Projekt für Projekt eine Abschätzung, ob das gegenseitige Maß an Kontrolle die gesellschaftliche Funktion der Medien fördert oder schwächt.