"Jede Anspielung führte zu einem Raunen"

"Jede Anspielung führte zu einem Raunen"

Ein Buch über Ein- und Ansichten aus Mecklenburg zum Ende der DDR bzw. bis zur deutschen Einheit 1990.

Von und mit Eva-Maria Tempelhahn


Aus dem Vorwort:

„Es ist sehr einfach, von heut auf gestern zu zeigen und zu werten. Aber es gibt eben nicht nur schwarz und weiß."


Lange vor dem Herbst 1989 war Bewegung in das vermeintlich so starre DDR-Herrschaftssystem gekommen. Kritische Geister konnten austarieren, wo Grenzen verschoben wurden und wo sie vorerst unverrückbar blieben.

Sieben Frauen und Männer aus Schwerin und Mecklenburg, alle der Kunst und Kultur verbunden, berichten, was sie aus diesem ihrem Leben gemacht und was sie davon mit in die deutsche Einheit genommen haben. Keine Superhelden der Opposition, aber auch keine Mitläufer.

Ein Buch auf Spurensuche. Und als Aufforderung zum Dialog über Umbrüche in der Zeit und in Biographien.


Anmeldung zur Veranstaltung am 19. Oktober 2020 in Schwerin.


Diese Publikation ist online als PDF und als Buch bei der FES MV erhältlich. 



Lesen Sie hier zwei Interviews mit Gritt Kockott (Autorin / Journalistin) und Gerhard Reinisch (Maler / Graphiker) unter anderem über Leben, Entwicklung und Werdegang in der DDR.
 

Interview mit Gritt Kockott (Autorin)

„Die Lehrer haben sich echt gekümmert, ein Besuch zu Hause, das war gang und gäbe, eigentlich mindestens ein- oder zweimal im Jahr.“


Biographisches:

  • 1968 geboren in Berlin, 1975 - 1985 Schule in Berlin, 1985 - 1988 Berufsausbildung mit Abitur, 1988 - 1990 Volontariat beim Rundfunk der DDR, 1990 - 1996 Studium der Erziehungswissenschaften, Publizistik, Psychologie an der FU Berlin, 1996 - 2009 freiberufliche Autorin, heute freie Autorin beim NDR in Schwerin.
     
  • Gritt Kockot wuchs in Berlin auf und bekam dort auch familiär die Sonderstellung der Stadt in der DDR mit. Sie hält sich rückblickend, als damals angehende Rundfunk-Journalistin, für erstaunlich unpolitisch.

 

Ich bin in Ostberlin geboren, genauer gesagt in Buch, am 19. Mai 1968. Ich habe eine Schwester, die ist sechs Jahre jünger als ich. Meine Eltern waren sehr unterschiedlich. Mein Vater war Professor für Mathematik und Physik an der Hochschule und meine Mutter ist Schneiderin. Sie hat die erste Zeit, als wir noch ganz klein waren, immer selbstständig zuhause genäht. Das war ziemlich untypisch zu DDR-Zeiten, denn als Frau ist man eigentlich schnell wieder arbeiten gegangen, die Kinder waren alle in der Krippe, oft schon als Baby. Aber das wollte meine Mutter nicht und hat gesagt, okay, ich bleibe zuhause und nähe zuhause, das kann man super, und damit hat sie noch ein bisschen Geld verdient nebenher. Mein Vater hat als Akademiker auch ganz gut Geld verdient und hat zu DDR-Zeiten das erste Lexikon der Mathematik verfasst. Das wird heute sogar noch zitiert.

Also meine Eltern waren sehr unterschiedlich und haben sich 1979 nach zwölf Jahren Ehe auch scheiden lassen, weil mein Vater sich in eine andere Frau verliebt hatte, wie das so ist. Dann gab es viel böses Blut, meine Eltern haben so eine Art Rosenkrieg geführt. Es war ganz schrecklich, auch teilweise auf unserem Rücken ausgetragen, weil sie es nicht besser wussten, aus heutiger Sicht weiß ich das. Zu guter Letzt haben wir meinen Vater fünfzehn Jahre lang nicht gesehen, erst einmal. Meine Mutter ist dann wieder arbeiten gegangen, musste sie ja auch, weil die Eltern geschieden waren und sie einfach Geld verdienen musste. Das hat sie aber gut gemacht, find' ich, aber klar, irgendwas leidet immer darunter.

 

Hattest du denn grundsätzlich das Gefühl, dass dir in der DDR etwas fehlt?

Mangel hab' ich nicht empfunden, kann ich nicht sagen, aber wir waren auch nicht so der DDR-Durchschnittsbürger. Und selbst, was in der Werbung lief, dieser tolle Kaffee oder diese tolle Schokolade, „Mars macht mobil, bei Arbeit, Sport und Spiel“, das weiß ich alles noch. Und ich meine, irgendwann hatten wir diesen Riegel auch mal auf dem Tisch liegen. Klar, das war schon eine Seltenheit, aber immerhin haben wir es kennengelernt. Wir haben auch teilweise Werbung in der Klasse nachgespielt, so mit der „Joghurette“, da ist eine nachts an den Kühlschrank geschlichen und hat sich eine „Joghurette“ rausgeholt.

Es war auch so, dass wir eine ziemlich gut betuchte Tante hatten, die kam uns einmal im Monat besuchen, mindestens. Aus West-Berlin ist die immer angereist gekommen. Dann hat die ganze Familie sich getroffen. Wir haben zusammen Kaffee getrunken und Abendbrot gegessen. Sie hat auch immer 'was mitgebracht und ein paar Scheinchen an jeden verteilt. Also klar, für meine Mutter war das Gold wert damals. Sie hat als alleinerziehende Mutter recht wenig verdient, als Arbeiterin. Und so viel musste mein Vater auch nicht an uns beziehungsweise an meine Mutter bezahlen. Er hat teilweise auch die Zahlungen gar nicht geleistet, die er hätte leisten müssen. So war das immer noch ein Zubrot, wenn die Tante mal was rüber gereicht hat.

Und dann habe ich die alten Sachen meiner Kusine auftragen dürfen, in den 1980er Jahren, was war da alles modern. Da war ich in der Klasse total angesagt, weil ich die Trendsetterin war sozusagen. Also, was die schon vor zwei oder drei Jahren getragen haben, hab' ich nochmal angezogen, aber weil die Sachen teilweise wirklich auch gut waren. Das war natürlich wirklich das Positive, im Prinzip waren wir privilegiert, Berliner sowieso.

Das haben schon immer alle gesagt in der DDR, die Berliner sind privilegiert, weil die die ganzen Bananen kriegen, die kriegen die Tomaten. Wir mussten auch danach anstehen. Aber egal, wir haben die bekommen oder zumindest mal so etwas zu sehen bekommen. Also privilegiert waren wir auf jeden Fall auch, weil wir ja auch Westfernsehen gesehen und Westradio gehört haben damals. Die Sachsen zum Beispiel waren ja im Tal der Ahnungslosen, wie man immer so schön sagt. Man durfte das in der Schule nicht so weit raushängen lassen, aber die ganzen Serien, die in den 1980er Jahren modern waren, wie „Denver-Clan“ zum Beispiel, das war ein Muss. Wenn man da nicht mitreden konnte, war man draußen, da war Berlin sehr speziell.

Und wir haben natürlich RIAS Berlin gehört, und mit Ilja Richter im Fernsehen „Disco“ gesehen. Es war ja auch eine geniale Zeit, musikalisch allein schon. Und natürlich auch Kalter Krieg, das haben wir volle Kanne mitbekommen. Ich weiß noch, dass ich als Kind absolute Angst hatte davor, dass mal so eine Pershing-2- Rakete hochgehen würde, und dass alles vorbei ist. Ich war damals dreizehn oder vierzehn und hab' gedacht, mein Gott, ich hab' noch keinen Jungen in meinem Leben geküsst.

Meine Mutter durfte auch in den Westen reisen. Einmal, da hatte meine Tante sechzigsten oder siebzigsten Geburtstag, ich weiß es nicht mehr genau, und da durfte meine Mutter ausreisen. Aber wir Kinder waren natürlich das Pfand. Und als sie zurückkam, wurden wir auch reich beschenkt. Dann hatte sie eingekauft, natürlich nicht die teuersten Sachen, aber egal, aus dem Westen. In Krefeld hatten wir auch eine Tante, zu der durfte sie mal reisen. Also sie war mindestens drei- oder viermal schon weg.

Weil wir ja auch mal über das Positive in der DDR reden wollen: Dieser Überfluss im Westen, das fand ich jetzt nicht das Schlechteste, dass es den bei uns nicht gab. Zum Beispiel kann ich mich erinnern, dass meine Mutter immer zu Weihnachten in den Delikat-Laden ging, in den sogenannten Deli, und da immer ungarische Salami, Schweizer Käse und so kleinere andere Leckereien gekauft hat. Aber immer nur zu Weihnachten, und das war was ganz Besonderes. Das haben wir uns eingeteilt über die Feiertage, und das hat super geschmeckt, und man freute sich wieder auf das nächste Weihnachten, das gab es eben nicht alle Tage.

Ich kann mich erinnern, als ich die erste Zeit nach der Grenzöffnung in den Westen fuhr, mit der U-Bahn, da hab' ich immer nur geguckt. Geguckt, wie die Leute aussehen, was passiert. Wenn ich nach Hause kam, war ich so 'was von müde und erschlagen von den vielen Eindrücken und den vielen Wahrnehmungen. Man nimmt dann ja auch alles doppelt wahr. Allein die Gerüche auf den Straßen, das roch ganz anders, die Autos, die Abgase rochen anders als bei uns.

Natürlich spielte die Mauer in Berlin auch in unserem Leben damals eine Rolle. Wenn man zum Beispiel zwischen Pankow oder Prenzlauer Allee und Bernau hin- und hergefahren ist, ist man immer ein Stück an der Mauer vorbei gefahren. Und natürlich haben wir immer rüber geguckt und geglotzt, ob es was zu sehen gibt. Ich meine, die Häuser sahen schon etwas anders aus, etwas gepflegter oder so. Es war so nah und so unerreichbar, es ist ganz schlimm gewesen.


Wie lief das eigentlich in deiner Schulzeit, mit deiner Ausbildung?

Meine Mutter hat es rausgerissen, als es dazu kam, dass ich studieren wollte oder sollte. Meine Eltern waren ja schon geschieden. Da spielte mein Vater als Akademiker keine Rolle mehr. Weil meine Mutter ja sozusagen Arbeiterin war, war ich also Arbeiterkind und hatte so einen Vorteil, wenn es um einen Studienplatz ging. Als mein Vater noch da war, war ich ja beides, so ein Zwitter, Arbeiterkind und Intelligenzkind. Meine Eltern waren beide nicht in der Partei, das muss ich noch dazusagen, das haben die irgendwie hingekriegt. Also in der Position meines Vaters hätte er es vielleicht sein müssen. Ich glaube, sie haben auch versucht, ihn zu bearbeiten, soweit ich das noch weiß. Und wir hatten Westverwandtschaft in Westberlin.

Ich habe zu DDR-Zeiten Berufsausbildung mit Abitur gemacht, nach zehn Jahren in der Polytechnischen Oberschule (POS). Wir sind also zehn Jahre von der ersten bis zur zehnten Klasse alle zusammen in eine Klasse gegangen. Mal kamen ein paar Neue dazu, mal sind ein paar abgegangen. Aber so der Kern, der blieb von der ersten bis zur zehnten Klasse zusammen, und das war ganz toll. Dadurch ist man als Klassenkollektiv zusammengewachsen. Na ja, und nach der zehnten Klasse habe ich Berufsausbildung mit Abitur gemacht, drei Jahre lang. Das gab's in der EOS, erweiterten Oberschule.

Bei meinem Ausbildungsberuf zur Verkäuferin für Kindertextilien, da hat meine Mutter so ein bisschen nachgeholfen. Als Schneiderin hatte sie ja die Kontakte zum Einzelhandel und hat mal nachgefragt, ob ich da nicht einen Ausbildungsplatz kriegen könnte. Klar, es wurde ein bisschen nachgeholfen, öfter mal. Aber das war ja jetzt keine große Sache. Als Verkäuferin, was lernt man da großartig? Stoffzusammensetzung und wie man Kundentypen einzuteilen hat, also so ein bisschen Kundenpsychologie war mit dabei, und Kassenabrechnung und so weiter. Man stand immer eine Woche im Betrieb, im Kinderkaufhaus in der Leipziger Straße, da war ich untergebracht mit meinen Leuten, und dann war man wieder einen Monat in der Schule, ganz genau weiß ich es gar nicht mehr.

Mit dieser Fachverkäuferinnen-Ausbildung für Kindertextilien mit Abitur hätte ich eigentlich Ökonomin werden sollen. Das war schon so eingetaktet, dass man später in Leipzig an der Hochschule für Ökonomie studiert. Aber ich habe mich dagegen entschieden. Ich musste ein paar Widerstände überwinden, aber das habe ich gemacht, das hat geklappt, ohne in die SED eintreten zu müssen.

FDJ, mit rotem und blauen Tuch, das haben bis auf einen in meiner Klasse alle gemacht. Der war kirchlich gebunden und der hatte schon einige Nachteile dadurch, also der wurde total oft verbal von den Lehrern angegriffen deswegen, das haben wir mitbekommen. Wir haben uns teilweise mit ihm solidarisiert. Dann haben wir wieder mit ihm diskutiert, ja, und dein Gott, der hat nicht verhindert, dass es den Zweiten Weltkrieg gab. Der ist ganz cool damit umgegangen. Er ist später ein bisschen in die Punk-Richtung abgedriftet und hat uns allen den Stinkefinger gezeigt.

Es fing an mit den Jungen Pionieren. Wie war das noch? Es gab den Fahnenappell, nicht jeden Morgen oder so, immer zu Beginn der Schulzeit. Im September fing die Schule nach den achtwöchigen Sommerferien wieder an. Dann haben sich alle im Appellkreis aufgestellt mit einem FDJ-Hemd oder einer Pionieruniform, und dann wurden natürlich politische Reden geschwungen.


Hat einen das als Jugendlicher interessiert?

Also mein Elternhaus war jetzt nicht besonders pro DDR eingestellt, zuhause haben wir ganz anders geredet, als ich in der Schule. Ich war in einem evangelischen Kindergarten, weil ich ja getauft worden bin zu DDR-Zeiten. Ich war in der Elsa-Brandström-Straße in Berlin-Pankow, und da weiß ich noch, dass wir vor jeder Mahlzeit gebetet haben. Oder wir sind auch schon mal zur nahe gelegenen Kirche schräg gegenüber gegangen und haben sie uns angesehen. Oder wir sind zu Gottesdiensten gegangen oder der Pfarrer kam mal zu uns.

Meine Eltern haben mir immer eingetrichtert, das, was hier zuhause geredet wird, das bleibt hier bei uns, und in der Schule redest du quasi nach dem Mund der Lehrer. Zum Überleben gehörte das dazu. Sagst schön, was die hören wollen. Das hatte man auch ganz schnell raus, wenn man nicht dumm war. Und wenn man irgendwie was erreichen wollte, dann machte man das so. Klar, wenn diese Reden geschwungen wurden, dann haben wir uns auch gedacht, um Gottes willen, hoffentlich geht das gleich vorbei oder so. Oder zum Beispiel zum 1. Mai auf diesem Demonstrationszug, vorbei an der Tribüne von Erich Honecker und Co., einmal winken. Bis dahin haben wir es meistens gar nicht geschafft, wir sind schon vorher irgendwie ausgeschert und abgehauen. Das haben auch nicht alle gewagt. Wer dabei erwischt wurde, da weiß ich nicht, was dann passiert ist. Aber daran kann ich mich erinnern, wir waren uns auch mit unserer Klasse einig, dass wir das machen und nicht bis zum Schluss mitlaufen.


Konntest du später studieren, was du wolltest?

Noch in meiner Kindheit, so mit elf oder zwölf Jahren, habe ich angefangen, pathologische Bücher zu lesen. Pathologie fand ich total spannend, Rechtsmedizin. Ich hatte eine Tante, die im Klinikum Buch arbeitete als Krankenschwester, und bei der durfte ich manchmal sein in den Ferien. Da hab' ich ein bisschen gearbeitet, ausgeholfen, mir schon ein paar kleine Märkerchen verdient. Hab' Bürodienst gemacht, mal was ausgefüllt oder so, oder Leuten irgendwie mit dem Rollstuhl geholfen. Und die nahm mich einmal mit in die Pathologie, weil sie was abgeben musste oder so. Das fand ich so spannend, und dann hab' ich angefangen, Bücher zu lesen. Von Otto Prokop1, „Spuren der Toten“ hieß das, in dem er dem auf den Grund gegangen ist, woran jemand gestorben ist. Das fand ich total spannend. Da dachte, oh ja, das mache ich, Medizin, ich studiere Medizin. Aber ich habe dann festgestellt, dass ich gar kein Blut sehen kann, mir wurde da schlecht. Während der Ausbildung bis zum Abitur gab's auch gar keine Biologie, weil wir ja in die Ökonomie-Richtung gehen sollten. Biologie-Abi aber war Voraussetzung, um Medizin studieren zu können. Ich hätte das auf der Abendschule noch nachholen können, ich hätte auch noch ein Praxisjahr machen müssen, bevor ich das hätte studieren können. Aber dann habe ich mich dagegen entschieden. Auch weil ich damals immer sehr gut in Deutsch war und lange Aufsätze geschrieben habe, und irgendwie so einen Tick in den Kopf gesetzt bekommen hatte, mal ganz groß herauszukommen als Schriftstellerin oder als Journalistin. Da hab' ich gedacht, ach, ich werde Journalistin, ohne überhaupt zu wissen, was damit zusammenhängt, was dahinter steht. Ich hab' nur gerne geschrieben und mich gerne ausgedrückt und so weiter. Und dann bin ich da gelandet.

Aber dann kam 1989 die Wende. 1990 war ich noch Volontärin beim Rundfunk der DDR. Ich hab' zwei Jahre Volontariat gemacht, das war normalerweise nur auf ein Jahr ausgelegt, aber bei der Aufnahmeprüfung in Bad Salow wurde ich gefragt, ob ich in die SED eintreten würde. Und da habe ich gesagt, mach' ich nicht, weil ich mich noch nicht reif genug fühle. Das war so die Standardantwort, die man geben konnte. Außerdem habe ich mir noch erlaubt, bei einem Thema, das uns frei gestellt worden ist, über eine Ärztin zu schreiben, die Alkoholkranke zu DDR-Zeiten betreute. Das war ein No-Go- Thema, das gab es gar nicht, Alkoholismus in der DDR. Daraufhin wurde ich abgelehnt fürs Studium, durfte aber mein zweites Volontariats-Jahr machen, was normalerweise eigentlich nicht so gehandhabt wurde, denn dann musste man sich irgendwas Neues suchen. Aber die haben gesagt, Sie sind talentiert, und Sie wissen ja beim nächsten Mal, worauf es ankommt, also machen Sie was draus.

Aber dann kam die Wende und ich hab' mir gesagt, so, ich studiere jetzt gleich im Westen, in West-Berlin. Ich hab' mich entschieden, Erziehungswissenschaften, Publizistik und Psychologie auf Magister zu studieren. Aber das würde ich auch nie wieder machen. Es ist ja nichts Halbes und nichts Ganzes eigentlich. Also wenn schon, dann Psychologie ganz. Oder vielleicht doch nochmal Medizin, also in meinem zweiten Leben. Aber man soll ja nichts bereuen.
 

Und wie ist es heute?

Ich hab' eine Zeit lang als Gerichtsreporterin für den NDR gearbeitet. Das hab' ich ein Vierteljahr richtig intensiv betrieben, hab' mich da richtig reingekniet. Aber es ist sehr speziell, es kostet echt Kraft. Und dann hab' ich gemerkt, es ist mir zu viel Negatives dabei, ich will das nicht mehr, ich will nicht über diese ganzen Kerle, die kleine Kinder vergewaltigen und missbrauchen, berichten und mich damit beschmutzen und auch noch die Umwelt damit verschmutzen.

Ich bin zu meinem Redaktionsleiter und hab' ihm das so gesagt. Das war eben letzten Endes doch nicht meins. Ich kann unter Druck schon arbeiten, das muss man ja in dem Job. Aber das hat mich total gestresst, so dass ich auch irgendwann die Reißleine gezogen habe. Weil ich eigentlich so ein Mensch bin, der lieber länger an einer Sache arbeitet, dann ist es profund und rund.

Eigentlich würde ich am liebsten lange Filme machen. Zum Beispiel die Sendung „Typisch“, das ist ein Portrait-Format von einer halben Stunde, da hatte ich mal die Möglichkeit, ein Portrait zu machen, das sind so meine Sachen. Oder „Land und Leute“, so eine viertelstündige Sendung, die ich auch gerne redaktionell mit vorbereite.


Hatte sich für dich die Wende angekündigt?

Zu dem Zeitpunkt war ich schon nicht mehr in der Schule, da war ich in meinem Volontariat. Während des Abiturs hab' ich da auch noch nichts mitbekommen, ehrlich gesagt. Vielleicht hab' ich da meine Antennen auch woanders hin ausgestreckt, da ging es mehr um Jungs, am Wochenende in die Discos gehen und so etwas alles. Dann während meines Volontariats-Jahres beim Rundfunk der DDR in Berlin, da zeichnete sich doch schon Einiges ab. Da wurde schon anders diskutiert, da wurde teilweise auch schon mal ein scharfer Ton angeschlagen, also von unserer Seite, von Seiten der Volontärinnen und Volontäre, die schon mal härter nachgefragt haben.

Wir haben natürlich verfolgt, was damals in der Sowjetunion in Moskau passiert ist, mit Gorbatschow, Perestroika und so weiter. Das waren ja durchaus Begriffe, die immer mehr zu uns herüberschwappten, die haben natürlich immer wieder Diskussionen ausgelöst, auf jeden Fall. Da mussten die Hierarchen sich damals auch irgendwie einlassen. Die haben natürlich immer versucht, das irgendwie abzuwiegeln oder nicht so ganz ernst zu nehmen. Ich war zu dem Zeitpunkt nicht so ein politisch denkender Mensch, obwohl man das vielleicht bei einem Journalisten in spe erwarten könnte.

Aber zum Thema Reisefreiheit zum Beispiel, da kann ich mich an eine Geschichte erinnern. Von einer Tante habe ich als Kind eine Karte aus Barcelona bekommen, mit einer Frau und einem gestickten Kleid drauf, mit Stoff gearbeitet, so eine richtig schöne Karte. Die hab' ich mir in ein Regal in meinem Zimmer gestellt, die hatte einen ganz besonderen Platz. Die hatte so ein schwarz-rotes Kleid an und eine weiße Bluse und Kastagnetten. Da dachte ich, wow, Spanien muss doch toll sein, da möchte ich mal hin, wenn die so aussehen. Und ein ganz großer Traum von mir war auch Amerika, ich will irgendwann in meinem Leben wenigstens einmal in Amerika gewesen sein. Und diesen Traum hab' ich mir 1992 erfüllt und bin mit ein paar Freundinnen vom Studium damals nach Florida gereist. Es war natürlich schon ein Kulturschock, aber es war jetzt auch nicht so nachhaltig, dass ich danach gedacht habe, ich müsste da nochmal hin oder so.


Was würdest du im vereinten Deutschland aus der DDR haben wollen?

Als ich damals in der fünften Klasse, als meine Eltern sich scheiden ließen, leistungsmäßig total abfiel, auch gerade in Mathematik und in den naturwissenschaftlichen Fächern, sogar in Deutsch, da ist mein Klassenlehrer zu meiner Mutter nach Hause gekommen und hat gesagt, ich glaube, Gritt braucht Hilfe, und ich würde mich bereit erklären, ihr Nachhilfe-Unterricht geben. Toll, oder!? Die Lehrer haben sich echt gekümmert, ein Besuch zuhause, das war gang und gäbe, eigentlich mindestens ein- oder zweimal im Jahr. Die Eltern kamen auch nicht unbedingt in die Schule. Klar, wenn die Kinder was ausgefressen hatten oder so, dann wurden die Eltern auch schon mal in die Schule bestellt. Aber sonst kam der Lehrer an sich nach Hause. Das Schulsystem der DDR hätte man eigentlich so wie es war übernehmen können. Es wird immer noch zu wenig in Bildung investiert.

Man hat der Bildung in der DDR auf jeden Fall einen hohen Stellenwert eingeräumt, das würde ich auf jeden Fall unterschreiben. Wir sind schon in meiner Schulzeit eigentlich regelmäßig ins Theater gegangen und haben uns so Sachen wie „Der Kaukasische Kreidekreis“ angesehen, von Brecht, und die „Dreigroschenoper“. Wir sind ins Berliner Ensemble, ins Maxim-Gorki-Theater und in die Staatsoper gegangen, „Entführung aus dem Serail“ und so 'was alles. Aber das lag vielleicht auch daran, dass die Mutter einer Schülerin aus meiner Klasse bei der Komischen Oper Kostümbildnerin war, und die hat uns dann öfter mal Karten besorgt. Das haben wir gerne angenommen.

Positiv erwähnenswert ist auch die Sicherheit des Arbeitsplatzes oder der bezahlbare Wohnraum. Ich hab' mir das nochmal so vor Augen geführt: Was haben wir damals für eine Wohnung bezahlt? 75 Mark, DDR-Mark. Das war vielleicht ein Zehntel von dem, was man verdient hat. Heute bezahlt man ein Viertel von dem, was man verdient.

Und was die Arbeitswelt meiner Mutter angeht, die arbeitete an einem sehr exklusiven Arbeitsplatz. Sie hat als Änderungsschneiderin bei Exquisit-Moden gearbeitet in einem relativ großen Kollektiv. Das waren vielleicht sechs oder sieben Schneiderinnen, die zusammen in diesem Exquisit-Modegeschäft in Berlin am Alexanderplatz arbeiteten. Und ich kann mich noch genau daran erinnern, dass immer, wenn jemand krank war, wurde zu dem nach Hause gegangen, da wurden Blumen vorbeigebracht. Immer abwechselnd, da haben sie sich abgesprochen. Heute gehst du mal vorbei oder meldest dich oder so. Ich meine, Telefon gab's ja auch schon, man konnte auch telefonieren. Aber es war eigentlich immer schöner, wenn jemand vorbei gekommen ist, und das haben die auch gemacht.

Oder sie haben zusammen Geburtstage gefeiert, die haben auch wirklich so Privatsachen zusammen als Kollektiv gemacht, also nicht nur mal einzeln oder jeder für sich oder als Paar, sondern wirklich so als ganzes Kollektiv, auch Ausflüge. Aber ich weiß nicht, ob das jetzt staatlich befördert wurde, also ob das der Staat war, der dahinter stand, oder ob das wirklich eher so ein menschliches Phänomen war, was sich vielleicht aus den Nöten des Alltags ergeben hat.
 

Interview mit Gerhard Reinisch (Maler)

„Der hat zu uns gesagt, wenn ihr das nicht selber wisst, was ihr malen sollt, von mir erfahrt ihr es nicht. Und wir haben das als Freiheit gelebt.“


Biographisches
 

  • 1936 geboren in Bernburg/Sachsen-Anhalt, 1950 Schulabschluss, 1950 - 1953 Lehre als Maler, 1954 - 1958 Gebrauchswerber und Plakatmaler, 1958 - 1961 Fachschule für angewandte Kunst in Magdeburg, 1961 - 1962 Ausstellungsgestalter, 1962 - 1966 Grafiker bei der Deutschen Reichsbahn, 1966 - 1971 Kunsthochschule Berlin Weißensee, seit 1971 freischaffender Maler und Grafiker in Schwerin
     
  • Der Maler und später auch freiberufliche Lehrer der Malerei in Schwerin mit Diplom der Kunsthochschule Berlin Weißensee hat die DDR-Auftragsmalerei durchaus kritisch gesehen. In den zurückliegenden Jahren war sein großes Hobby das Reisen, auf denen er seine Eindrücke in wunderbaren Bildern eingefangen hat.

 

Ich bin als Maler oft in Polen gewesen. Die Polen haben immer die internationalen Künstlertreffen gemacht. Die hatten diese Freundschaftsverträge mit dem Bezirk Schwerin beispielsweise. Inhaltlich hatten die damals Umweltschutz! Das muss man sich mal überlegen, Umweltschutz, da kann ich noch Bilder zeigen. 1971/72 bin ich in so einem neuen Industriezentrum gewesen, das die Polen haben aufbauen lassen von Holländern oder von Engländern. Das war ohne Visum, ohne alles, wir sind mit dem Personalausweis rüber gefahren. Da haben wir Künstleraustausch gemacht, mit der Woiwodschaft Bydgoszcz. Wir sind mit zwei Leuten dort runter gefahren und dann haben wir vier Wochen da gemalt. Und da konnten wir in Betriebe gehen, auch wenn es manchmal ein bissel unangenehm war.

Einer von den Krakauern, der bei den Treffen dabei war, der hat geangelt. Da haben wir gesagt, die Fische kannst du gar nicht essen, die stinken doch. Und da hat er gesagt, das weiß ich, ich will sie auch gar nicht haben. Der hat sie durchgeschnitten und vierzehn Tage in Wasser gelegt und den halben Fisch auf ein Bild geklebt, das war sein Umweltschutz. Was da los war!

Da waren drei so große Abflussrohre, alles rein in die Weichsel. Bis dahin ist die Weichsel schiffbar und von da an nicht mehr, weil sie versandet ist. Da hab' ich die Idee gehabt und hab' von dort aus der Kloake die Flaschenkorken und die Plaste und all das Zeug geholt. Das haben wir damals in die Bilder rein geklebt und haben Kollagen gemacht. Und da hinein ein verwelkte Rose, die kippte gerade um. Wenn Sie das sehen, da sagen Sie, das ist Umweltschutz heute. Das machte man natürlich nicht so demonstrativ, das waren Nischen.

Solche Bilder kamen so gut wie nie in die Bezirks-Kunstausstellungen rein, das war klar. Das hat sich im Laufe der Zeit, seit 1970 ungefähr, alles etwas geändert. Da waren Bilder drin, nicht groß, sondern klein, die kritisch waren. Die haben das natürlich irgendwie unterdrückt, aber nicht von den Kollegen her. Es gibt ja auch immer solche und solche Kollegen, auch solche, die keine eigenen Ideen haben. Die brauchen dann jemanden, der ihnen sagt, was sie zu machen haben.

 

Wie haben Sie damals gelernt oder studiert?

Da mache ich mal einen riesigen Bogen rückwärts. Wir sind als Studenten so erzogen worden, dass wir unsere eigenen Gedanken und unsere eigene Handschrift schreiben und lernen müssen. Ich habe von 1966 bis 1971 in Berlin studiert. Vorher von 1958 bis 1961 war mein Fachschulstudium in Magdeburg, das war sozusagen die angewandte Kunst. Weil ich da die Nase voll gehabt habe und gesagt habe, ich kann hier nicht weiter in einem Suppentopf leben, wollte ich noch weiter machen, weil ich eine Arbeitsstelle bei der Reichsbahn als Grafiker hatte. Das war so eine Rentnerstelle, habe ich gesagt, so alt bin ich noch nicht, dass ich hier als Rentner sterben will. Deshalb bin ich nach Berlin gegangen.

Man hatte damals noch die Wahl. Ich konnte mich bei allen drei Kunsthochschulen, also in Dresden, Leipzig und Berlin bewerben und habe dann Berlin gezogen. Unser Professor hat uns eingewiesen und gesagt, wenn ihr nicht wisst, was ihr malen sollt, von mir erfahrt ihr es nicht, so einfach. Ein paar Wochen später komme ich wieder und dann sehe ich, was ihr gemacht habt. Und wir haben das als Freiheit gelebt. Der ist manchmal ein Vierteljahr nicht dagewesen, obwohl er in Berlin war. Der war zuhause im Atelier. Er war natürlich ab und zu in der Schule, er war ja Direktor. Aber er sagte, ihr müsst erst mal was schaffen. Wenn ihr was gemacht habt, dann melde ich mich an. Das sind natürlich Dinge, durch die wir in dieser Zeit von solchen Leuten geprägt wurden.

Der Professor, der das zu uns gesagt hat, der kam aus dem Westen. Den haben sie 1948 nach Weimar delegiert. Er hat dort die Schule weiterführen sollen. In Weimar war ja die Bauhaus-Schule und er sollte sie wieder aufbauen. Dann hat es aber einen Umschwung gegeben und sie haben die Architektur-Schule daraus gemacht. Aber der Ursprung in Weimar ist eigentlich das Bauhaus. Er ist dann nach Dresden zur Kunstschule gegangen als Rektor. Danach war er im Ministerium und hat die Berliner Schule als Direktor gehabt. Ich hatte ihn noch als Professor, Fritz Dähn (1908 – 1980, Maler, 1961 – 1968 Rektor der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin Weißensee).
 

War das später anders?

Es gab bei uns in den 1960er und 1970er Jahren Schwierigkeiten. Wenn zwei Kinder in einer Familie waren, hat man zugesehen, dass nur ein Kind studieren durfte. Dann gab es 1968 eine sogenannte Hochschulreform. Da gab es bei sämtlichen Universitäten, Hochschulen, Fachschulen eine Öffnung, dass die Auswahl der Studenten von Studenten und Hochschulprofessoren vorgenommen werden musste. Da gab es eine unheimliche Schwemme, dass viele Pastorentöchter und -söhne und Arztkinder, also aus dieser Schicht, die Hochschulen überfluteten. Alle wollten studieren. Das klappte natürlich nicht, weil es auch noch eine Regelung gab, die nicht ganz abgeschafft wurde, wonach soundsoviel Prozent von den Studierenden aus der sogenannten Arbeiterklasse kommen mussten. Das klappte eben nicht mehr. Denn die Väter und Mütter, die kamen zwar aus der Arbeiterschaft, aber die waren Ärzte. Deswegen hat man das zumindest inoffiziell abgeschafft und gesagt, die Prozentzahlen lassen wir. Ich kenne das deswegen, weil ich das zweimal in der Hochschule miterleben musste, beziehungsweise ich durfte das mitmachen.

1968 bis 1970 habe ich als Studentenvertreter mit meinen Kollegen aus Hagenow die Bewerber beurteilen sollen. Ich war im dritten, vierten und fünften Studienjahr und da mussten wir in den Konferenzen mit den Professoren sagen, wer, was, wie, wen beurteilt. Und es hat zum größten Teil so geklappt, dass wir fast die gleichen Meinungen hatten. Die Bewerber mussten fast eine ganze Woche arbeiten, die mussten sich nicht einfach vorstellen. Wir haben die Bewerbungsmappen als Studenten gar nicht gesehen, wir mussten nur die Arbeiten bewerten, die sie in dieser Zeit gemacht haben. Die mussten Akt zeichnen, die mussten Portrait zeichnen, die mussten ein Stillleben malen und so weiter. Die theoretischen Fächer, das interessierte uns nicht, nur die fachlichen praktischen Dinge.

Die freischaffenden Künstler, die mussten ja in diesen Künstlerverband. Da mussten sie sich bewerben und nach drei Jahren wurden sie aufgenommen. Der Künstlerverband war eine Autorität. Die staatlichen Institutionen und Großbetriebe waren verpflichtet zu kaufen, weil sie aus dem Staatssäckel Geld bekamen für Kunst und Kultur. Die haben als volkseigene Betriebe Kulturfonds gehabt. Bis Ende der 1970er Jahre etwa, wenn sie hier beispielsweise eine Schule gebaut haben oder ein großes Werk oder so, musste ein gewisser Anteil für Kultur ausgegeben werden. Das war ein Gesetz. Das war zum Teil auch in der Bundesrepublik so.


Musste man irgendwelche Voraussetzungen erfüllen, um in den Künstlerverband aufgenommen zu werden?

Sie haben ein Diplom bekommen, da stand nicht drauf, wie sie bestanden haben, jedenfalls zu unserer Zeit nicht mehr. Es war mehr oder weniger eine Förderung und auch eine Forderung, dass der junge Absolvent von den Kunsthochschulen - und meistens von seinen eigenen Professoren als Mentor - diese drei Jahre begleitet wurde, um die Aufnahme in den Verband zu bewirken. Das hatte den Sinn, und das ist das Wichtigste, dass die jungen Absolventen sich von ihren Professoren und von ihren Lehrenden lösen sollten, um ihre eigene Handschrift weiter zu schreiben. In der Konsequenz war es von staatlicher beziehungsweise politischer Seite so, dass man sagte, das und das, und ihr müsst selber was machen. Dann wurde nach den drei Jahren in den jeweiligen Bezirken die Kommission von den Verbandsmitgliedern zusammengestellt, und da haben sie sich vorgestellt und mussten ihre eigenen Arbeiten zeigen, die sie selbständig gemacht haben, ohne Auftrag. Wenn sie das nicht gemacht haben, sind sie nicht aufgenommen wurden, ganz einfach. Da sind viele nicht aufgenommen worden. So passieren eben solche Dinge, dass viele, die geglaubt haben, sie kommen in den Verband rein, nicht reingekommen sind. Und dann waren sie ein bissel schief. Klar, ich bin auch nicht gerade sehr erfreut, wenn ich vor so einer Kommission sitze, und die sagen: nee. Das tut weh.

Wie es gehandhabt wurde, muss man zugeben, da ist vieles nicht so toll gelaufen, ganz realistisch gesagt. Es war zwar so, dass sie uns vorher immer wieder gesagt haben, ihr studiert hier, ihr seid als Studenten hier, nutzt die Zeit, nachher müsst ihr arbeiten, dann müsst ihr Geld verdienen. Also versucht, von der Zeit, die ihr zur Verfügung habt, mindestens ein Drittel nur für euch zu haben. Da macht ihr nur das, was ihr wollt, und niemand anders. Die anderen zwei Drittel, da sollten wir eigentlich an der Schule bleiben, aber da gab es eine Auseinandersetzung. Wir hatten dazu keine Lust und haben gesagt, nee, machen wir nicht, und wenn ihr es euch anders überlegt, dann könnt ihr anrufen. Wir haben Forderungen gestellt, die konnten sie nicht erfüllen. Wir haben dann gesagt, wenn wir hier an der Schule bleiben als Assistenten, dann möchten wir unsere eigenen Aufträge haben, uns selbständig machen. Wir möchten zwar einen Mentor, einverstanden. Und das konnten sie natürlich nicht unterschreiben.

Da hat es auch viele gegeben, die gesagt haben, das Hemd ist mir näher als die Hose, und haben die Aufträge gemacht, die sie machen sollten. Die anderen haben gesagt, nee, ich mache das nicht. Das war auch eine Charakterfrage der jeweiligen Studenten, die sich dann in dem System eingeklinkt haben. Es war keine finanzielle Frage. Ich war da 1970 auch schon verheiratet und mein Sohn war geboren. Und mein Kollege hatte 1967 geheiratet und hatte auch zwei Töchter, das ging schon. Gut, seine Frau war Kunsterzieherin und hat ein bisschen Geld mit eingebracht. Von seinem Studium konnte er nicht leben. Man hat dann eben etwas anderes gemacht, man hat dann Unterricht gegeben oder so. Damit haben wir uns über Wasser gehalten.
 

Und wie konnten Sie dann arbeiten?

Ich habe beispielsweise immer versucht, in Betriebe reinzukommen. Ich bin einfach hingegangen und hab' gefragt. Ich bin zum Beispiel in Boizenburg in den Elbe-Werften gewesen. Das hängt allerdings auch damit zusammen, dass ich in Hagenow das Kulturhaus machen sollte, also die Wandmalerei sollte ich dort machen. Ich hab' gefragt, was habt ihr denn für Industrie? Ja, da sind die Fliesenwerke, 98 Prozent geht in den Export, zwei Prozent bleibt bei uns, das ist die dritte Wahl. Das haben die gesagt, ich habe es ja miterlebt. Die Elbe-Werft hat Flussfahrgastschiffe für die Sowjetunion, für die Wolga, in Boizenburg gebaut. Die wurden in Wismar ausgebaut. Dann muss man wissen, dass die Bundesrepublik eine Blockade gemacht hat und die Schiffe aus Boizenburg nicht rein gelassen hat. Die konnten nicht über den Elbe-Lübeck-Kanal zur Ostsee und nach Wismar gebracht werden. Die mussten über den Elbe-Oder-Kanal geführt werden. Das hat uns sehr viel Geld gekostet.

Ich bin auch zu den LPGen, den Landwirtschaftlichen Produktions- Genossenschaften, gegangen und hab' gefragt, was macht ihr eigentlich im Winter. Da sind die mit mir in ihre Werkstätten gegangen und haben mir die ganzen Maschinen gezeigt, die instand gehalten werden mussten. Die hatten natürlich auch Werkstätten, die viele Ersatzteile selber machen mussten, weil sie sie sonst nicht bekamen. Diese Mangelwirtschaft war das eigentliche Problem, das wussten alle. Deswegen mussten sie sich was einfallen lassen. Wir haben uns früh um fünf oder sechs am Güterbahnhof hingestellt, um einen Sack Zement zu kriegen. Und wenn wir dran waren, war er alle.

Und das ist das Problem, dass sich die Menschen in dieser ganzen Zeit, man kann ruhig sagen: eingeordnet haben. Sie haben sich nicht untergeordnet, sie haben sich eingeordnet, und haben natürlich immer ihre Nischen gefunden. Von Wolfgang Mattheuer (1927 – 2004, als Maler einer der Hauptrepräsentanten der sogenannten Leipziger Schule) gibt es ein Bild mit den Datschen, den Kleingärten und so weiter. Das waren die Lücken, das war klein, da waren die unter sich, und da war alles in bester Ordnung. Und ich hab' damals schon gesagt, was reden die alle immer vom Westen, was wollen die alle da? Ihr werdet sehen, eines schönen Tages werdet ihr sehen, ihr werdet überhaupt nicht angenommen, das war so. Na gut, es sind viele gegangen.

Wann hat sich das denn angekündigt, dass es eine Wende geben könnte? Das hat sich eigentlich nach 1971 angekündigt nach dem sogenannten 8. Parteitag der SED, weil da viele Dinge abgeschafft wurden. Wir haben in den 1960er Jahren bis 1970 noch eine riesige Revolution hier gemacht. Man kann es auch Evolution nennen, durch diese ganzen Wohnungsbau-Programme beispielsweise, 100.000 Wohnungen pro Jahr. Also es mussten Arbeitsplätze geschaffen werden. Was die Bezirke Rostock, Neubrandenburg und Schwerin anging, sollte Neubrandenburg die Landwirtschaft, Rostock die Schiffswerften und Industrie bekommen und Schwerin so ein Zwischending werden. Deswegen haben die ja hier die 10.000 Arbeitsplätze in Schwerin-Süd und in Schwerin- Görries gekriegt; Plastmaschinenwerk, Hydraulikwerk, Lederwaren, Bauwirtschaft und so weiter. Nun brauchten sie alle Wohnungen, denn die Fachkräfte mussten sie alle aus dem Süden der DDR holen. Die sind alle hier hochgekommen, haben hier eine Wohnung gekriegt. Darum ist der Große Dreesch in Schwerin gebaut worden. Jeder hat sich gefreut, dass er eine Wohnung mit Heizung kriegte. Die konnten sie zwar nicht abdrehen, aber dann haben sie die Fenster aufgemacht. Sie waren alle froh, dass sie eine 50 oder 60 Quadratmeter große Wohnung hatten. Die brauchten nicht mehr die Kohlen zu schleppen, hatten Fernheizung.

Aber plötzlich war das Geld alle. Wo sollte das herkommen? Sie haben die Löhne nicht erhöht, sie konnten die Qualität nicht liefern, die Fünfjahrespläne sind so hochgeschraubt worden, dass sie das niemals erfüllen konnten, weil das Material nicht kam. Und das alles hat zu diesen Verschiebungen geführt. Und danach hatte sich das angekündigt.

Wir haben es ja selbst erlebt, gerade in der Elbe-Werft in Boizenburg. Die hatte russischen Stahl bekommen. Erstens war es minderwertiger Stahl, den mussten sie aber draußen lagern, weil sie nicht die Hallen hatten, das war klar. Dann mussten sie noch Rost abklopfen. Und dann war der einen Millimeter zu schwach. Dann kamen die aber an und haben gesagt, ihr habt euer Material ja gekriegt, fünf Millimeter, und wenn ihr jetzt sagt, der ist nur vier Millimeter, müsst ihr sehen, wo ihr den mit fünf Millimeter herkriegt.

In Eggesin gab es ein Elektromotorenwerk. Dieses Elektromotorenwerk hat keinen Kupferdraht gekriegt, es reichte nicht aus, was wir selber produziert hatten. Aber die Zahlen waren so, die wurden ja immer manipuliert, da haben unten im Flur fünf oder zehn Motoren gestanden, die haben die zwanzigmal verkauft. Das haben sie alle gewusst, ein Arbeiter kriegt das ganz schnell mit, und ich kannte die Buchhalterin von Eggesin, die hat mir das alles erzählt. Die sagte, wir sind pleite. Das hat man ignoriert.

Dann war die sogenannte Reisefreiheit ja Ende der 1980er Jahre eingeschränkt. Man brauchte wieder ein Visum für Polen und die anderen Staaten, für die UdSSR sowieso. Da hatten sie die Grenzen dicht gemacht, was vorher nicht war. Das war nicht einfach, und das alles zusammen gab dann den Unmut, der sich breit gemacht hat. Die Verantwortlichen wollten das nicht mitkriegen. Die haben nicht geglaubt, dass die Menschen auf die Straße gehen. Sie waren der Ansicht, die Menschen haben ihre Datsche zu verlieren, die haben ihren Arbeitsplatz zu verlieren, die Grundbedürfnisse, also werden sie nie auf die Straße gehen. Das war der Grundfehler. Was natürlich nachher eingetreten ist, dass sie das alles verloren haben, das war die Blauäugigkeit.

In Dresden und Leipzig ging es dann los. In Dresden waren ja die Ahnungslosen. Die Unruhen gingen deswegen von Dresden aus, weil diese Züge durch Dresden gefahren sind, und Genscher war ja in Prag. Zufälligerweise ist meine Frau auch in Prag gewesen, die kennt das alles. Diese Züge mussten durch Dresden, und die wollten sie nicht durchlassen, und da hat es Spuk gegeben.

Viele sind ja über Polen und Ungarn weg. Die haben sich in Ungarn getroffen und sind nicht wiedergekommen. Das war der Fehler, den sie gemacht haben. Wir haben beispielsweise oft gesagt, gerade in unseren Verbänden, lasst die doch reisen, lasst sie doch reisen. Wenn da wirklich von 100.000 mal 10.000 gehen, dann lasst sie doch bleiben. Die anderen 90.000 kommen wieder. Sie hatten Angst, dass die Intelligenz verschwindet.

Wir können bloß zufrieden sein, dass das jetzt schon so lange gehalten hat. Und das Erstaunliche ist ja, das es relativ unblutig von statten ging. Der Irrsinn ist gewesen, dass man gesagt hat, ihr könnt doch alle in den Westen. Aber was soll das? Hier habe ich meine Familie, meine Bekannten, meine Freunde und so weiter. Und ich kenne sehr viele, die leben zwar heute in Bayern dahinten, aber die haben mir gesagt, wir sind immer noch nicht angekommen. Bis das alles zusammengewachsen ist, das braucht drei Generationen, mindestens.


Was hätte man denn von der DDR übernehmen können?

Das Schulwesen hätten sie übernehmen sollen. Und sie hätten meines Erachtens, was die Landwirtschaft betrifft, einen staatlichen Verwalter einsetzen sollen. Sie hätten die Betriebe erst mal arbeiten lassen sollen, nicht alles privatisieren und verkaufen. Das wäre besser gewesen, vielleicht wäre auch der eine oder andere Betrieb zu retten gewesen.

Zum Beispiel in Wittenberge gab es eine Nähmaschinenfabrik, die hatten 90 Auftragsbücher für drei, vier Jahre. Die wurde auch privatisiert und wurde für eine Mark verkauft, und die Aufträge hat dann eine andere Firma übernommen. Da ist viel viel kaputt gegangen. Langsamer wäre manchmal besser gewesen. Da sind ganze Bibliotheken auf der Müllkippe gelandet, das habe ich selbst mitgekriegt. Obwohl ich ehrlich sein muss, ich hab' auch gesagt, die deutsche Einheit muss so schnell wie möglich kommen, das muss so schnell wie möglich passieren. Und dann kam die Treuhand und hat alles kaputt gemacht, die haben Millionen Verluste gemacht.

Ich hatte nach der Wende ein wunderbares Erlebnis gehabt. Meine Frau ist Medizinerin gewesen. Wir waren in Dresden, da war eine Weiterbildung von der Pharmaindustrie. Und wir sind in diese „Pfeffermühle“. In den 1990er Jahren war das noch gemischt Ost/West und neben mir saß ein junger Mann, Kollege von meiner Frau. Der sagte, warum lachen die denn eigentlich, das habe ich nicht verstanden. Die saßen da und haben die Zwischentöne nicht verstanden, manchmal haben wir schon vorher gelacht, weil wir die Mimik gekannt haben. Und abends beim Zusammensitzen haben die gesagt, das hätten wir nicht gedacht, das sind ja alles Schauspieler, die können singen, tanzen. Da haben wir gesagt, nein, das sind Kabarettisten, die haben eine Ausbildung gehabt.


fes-mv/tp (16.10.2020)
 

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Publikation

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