Zum „Wellenbrecher-Lockdown“ im November
Ein Kommentar von Tanja Dückers, Schriftstellerin und Journalistin
Um es gleich vorab zu sagen: die Fallzahlen sind beunruhigend, und der Blick auf die Lage in den hiesigen Krankenhäuser auch. Nur noch 156 freie Intensivstationsbetten (diese Zahl wird bei Erscheinen des Artikels nicht mehr aktuell sein) für eine 3,8-Millionen-Metropole klingen nicht gut, zumal stets die Rede davon ist, dass man „mehr Betten als Personal hierfür“ habe. Ja, es muss etwas passieren. Doch richtet ein derart planloses Herunterfahren des kulturellen Lebens in Deutschland nicht am Ende mehr Schaden als Nutzen an?
Werden durch flächendeckende Kino-, Theater- , Konzerthaus-, Tanzbühnen- und Opernschließungen, durch den Shutdown von Museen, Galerien, Showrooms, Literaturhäusern, Lesebühnen und vielen, vielen kulturellen Räumen mehr wirklich die Fallzahlen signifikant gesenkt? Das muss stark angezweifelt werden.
Kultureinrichtungen haben sich seit Beginn der Pandemie um Hygienkonzepte bemüht
Bislang ist kein einziger Corona-Ausbruch, kein Cluster, kein Superspreader-Event der Kulturszene nachweisbar. Keiner. Sicher, im Moment sind 75 Prozent der Infektionen nicht mehr rückverfolgbar, also kann kein Lebensbereich für sich reklamieren, in gar nicht zu Fallzahlen beizutragen. Aber: im Zweifelsfall für den Angeklagten, es gilt die Unschuldsvermutung. Zumal gerade die Kultureinrichtungen sich im besonderen Maße um Hygienekonzepte bemüht und meist gut durchdachte Maßnahmen eingeführt haben, früher als der Bundestag beispielsweise.So entsteht der Eindruck, dass diejenigen, die sich bisher als besonders „compliant“, wie man in der Medizin sagt, also als besonders kooperativ erhalten haben, nun abgestraft werden. Doch die Kulturschaffenden, zu denen auch viele Branchenvertreter_innen mit gutem Medienzugang sowie in der Öffentlichkeit sehr bekannte Künstler_innen gehören, sind für die Bundesregierung in dieser präzedenzlosen Situation wichtig! Spielt dieser „Wellenbrecher“ nicht vielmehr den Coronaleugnern und –skeptikern in die Hände, denen sich jetzt möglicherweise noch deutlich mehr Menschen anschließen werden?
Wie zielführend ist der Kultur-Shutdown?
Nicht einmal unter rein epidemiologischen Aspekten erscheint dieser Kultur-Shutdown zielführend. Es bleibt zu befürchten, dass die Menschen sich nun statt zu Kulturveranstaltungen im privaten Bereich treffen, denn der Wunsch nach Nähe, nach Austausch, nach Erleben bleibt ja bestehen. Das ist aber viel gefährlicher als ein markierter Sitzplatz im Theater oder ein Ausstellungsbesuch, mit reduzierter Gästezahl und Maske.
Wäre es nicht sinnvoller, das Personal von Gesundheitsämtern durch schnell ausgebildetes Personal für diesen Zweck aufzustocken, um der gefährlichen, unkontrollierten Ausbreitung entgegenzutreten - anstatt alles was „schön“ ist, zu schließen?
Kultur versus Kapitalismus?
Der Berliner Kultursenator hat seiner Irritation Ausdruck verliehen, in dem er der Berliner Zeitung sinngemäß sagte: Ein Monat lang ohne Kultur sei schon krass und nicht mehr vermittelbar. Wie soll man den Bürgerinnen und Bürgern erklären, dass ein Theaterhaus schließen muss, aber weiter munter durch eine Shoppingmall geschlendert werden darf? Er gab sich selber die ironische Antwort mit „Das weiß nur der Kapitalismus“.
Ebenso bevorzugt werden schon wieder die Kirchen. Gottesdienste dürfen weiter stattfinden, Lesungen in Literaturhäusern, Vorträge in Akademien aber nicht. Das ist nicht nachvollziehbar. Dazu noch eine Randbemerkung: Welcher Logik folgt die Bestimmung, dass bei konfessionellen Beerdigung mit Pfarrer 30 Trauergäste kommen dürfen, bei einer weltlichen, ohne Kirchenpersonal, jedoch nur 10?
Es bleibt ein übler Nachgeschmack
Die Mehrzahl der Kulturschaffenden und mit ihnen auch das kulturinteressierte Publikum (darunter viele ältere Mitbürger_innen) ist bisher den Maßnahmen der Bundesregierung gefolgt. Doch jetzt wird den Kulturvertreter_innen vermittelt, nur von tertiärer Relevanz zu sein. Anstatt sich die Mühe zu machen, vielleicht noch genauer zu überlegen, wie man Hygienekonzepte angesichts rasant steigender Infektionszahlen verfeinern kann, hält man sich von politischer Seite nicht lange mit den sehr unterschiedlichen Formaten und Möglichkeiten von Kultureinrichtungen auf, sondern shuttet alles rigoros down. Man bemüht sich nicht um ein differenziertes Handeln und Entscheiden. Hier vermisst man eindeutig mehr Sorgfalt, mehr Hinwendung, mehr Kenntnis und Expertise. Denn die meisten Vertreter_innen von Kultureinrichtungen hätten sich zum Beispiel an einer stärkeren Etablierung von Hybridkonzepten – einer Kombination aus Präsenz- und Online-Veranstaltungselementen – beteiligt oder sich um noch bessere Lüftungskonzepte bemüht. Wenn man sie denn mal gefragt, zu Rate gezogen hätte. Und ihnen nicht nur vorgeschrieben hätte, was ab Montag läuft oder nicht.
Es ist den Entscheider_innen offenbar auch nicht klar oder egal, was es – monetär wie psychologisch – für eine gesellschaftliche Gruppe bedeutet, wenn sie pauschal mit einem Aufführungsverbot, also einem partiellen Berufsverbot, belegt wird. Kunst und Kultur entstehen eben nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern auch in der Interaktion, durch Resonanz und Teilhabe.
Wo bleibt bei diesem „Wellenbrecher-Lockdown“ die öffentliche Wertschätzung der Kultur in Deutschland?