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Der neue Band des AfS lädt ein über ein Forschungsfeld nachzudenken, das sich in den letzten Jahren stark gewandelt hat. Migrationsgeschichte steht an der Schnittstelle unterschiedlicher methodischer Debatten und epochaler Zugangsweisen, sie hat sich von ihrem Ringen um Anerkennung emanzipiert, das anfangs noch stark davon geprägt war, mögliche „Leistungen“ der aufnehmenden Länder oder der Migrierenden betonen zu müssen. Der Band will die aktuellen Forschungstrends reflektieren und lädt Autor:innen unterschiedlicher (sozial-)historisch arbeitender Disziplinen ein, sowohl empirisch als auch theoretisch über die Zukunft der Migrationsgeschichte nachzudenken. Zeitlich liegt der Schwerpunkt des Bandes auf der Zeit nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, ohne weiter zurückreichende Beiträge vorab auszuschließen.
Migrationssysteme
Der Begriff des Migrationssystems ist in der Forschung seit langem etabliert und bezeichnet nach unserem Verständnis nicht mehr als über längere Zeiträume stabile Verknüpfungen zwischen (Welt-) Regionen durch Mobilität. Die im 15. Jahrhundert einsetzende Bewegung von Europäer:innen in die beiden Amerikas sowie in Kolonien in anderen Weltregionen bildete bis in die 1950er-Jahre hinein ebenso ein solches Muster wie der „schwarze Atlantik“, also die jahrhundertelange Verschleppung von Afrikaner:innen nach Lateinamerika und in den Süden der (späteren) USA bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. „Systeme“ der Migration sind nicht an die Freiwilligkeit der Migrierenden gebunden. Vielmehr wäre es wünschenswert, auch die in der jüngeren Forschung prominent behandelten und nicht zuletzt zahllose Migrierende aus Asien betreffenden Schuldknechtschaftsverhältnisse einzubeziehen. Deren de jure aber nicht immer de facto befristeter Charakter spricht die temporäre Dimension der Migration an, die nicht dauerhaft sein musste. Uns interessieren Rückwanderungsbewegungen ebenso wie saisonale Muster, gleich ob sie von Erntezyklen gesteuert waren oder von Aufenthaltsbestimmungen, deren Bedeutung z.B. bei den in Deutschland tätigen Pflegekräften aus Osteuropa offensichtlich ist. Auf der einen Seite verlangt die Frage nach Mustern die Einbeziehung der demo-ökonomischen Situation in den Ausgangsregionen und der unterschiedlich regulierten Arbeitsmärkte in den Zielregionen. Dadurch kommt der Staat als wichtige Lenkungsinstanz in den Blick, die angemessen zu berücksichtigen sein wird, ohne dass Migrationspolitik das primäre Interesse des Bandes ist. Auf der anderen Seite aber gilt es die Akteur:innen in den Blick zu nehmen, welche die Bewegung zwischen Ausgangs- und Zielregion organisieren, formal oder informell, legal, semilegal oder illegal. Nur in der Zusammenführung beider Seiten wird man z.B. die über lange Zeiträume stabile Rekrutierung von in Europa und Nordamerika tätigen Care-Arbeiterinnen aus der südostasiatischen Inselwelt verstehen können.
Wege, Transportmittel, Netze
Die zuletzt angesprochenen Akteur:innen leiten über zu den Transportmitteln, die den Migrierenden zur Verfügung standen, den Wegen, die sie nutzten, und den Netzen, die sie unterstützten oder in denen sie gefangen blieben. Fußwege sind bis in die Gegenwart wichtig (und ihre Kenntnis ein Schlüssel des illegalen Grenzübertritts), aber der Schiffsverkehr, Eisenbahn- und Luftverkehrsverbindungen haben die Infrastruktur des Migrierens grundlegend verändert. Häfen, Bahnhöfe und Flughäfen sind zu zentralen Relaisstationen geworden, die indessen nicht allein als Schnittstellen zwischen verschiedenen Abschnitten der Migration fungieren, sondern häufig genug Letztere blockieren, weil seuchenpolizeiliche Vorschriften Quarantänen erzwingen oder asylrechtliche die Zwangsunterbringung in zum Teil extraterritorialen Unterkünften nach sich ziehen. Der damit angesprochenen Spannung zwischen Mobilisierung und Immobilisierung gilt das besondere Augenmerk des Bandes und macht zugleich deutlich, dass Ausgangs- und Zielregionen auch dann keine eindeutigen Anfangs- und Endpunkte von Migration bilden, wenn sie nicht – wie im Falle der Wanderarbeit – ohnehin auf das Engste verknüpft bleiben.
Erfahrungen, Wissen und Konflikte
Vor allem ist bei der Ankunft oft gar nicht klar, ob ein Ort – in der Regel eine Stadt – zum Endpunkt wird oder auch nur werden soll. Zeithorizonte, die von etwaigen Rückkehrwünschen maßgeblich mitbestimmt werden, prägen aber auch die Strategien von Migrierenden, die nicht zufällig häufig in Gastronomie und Handel Fuß zu fassen suchen. Solche Strategien gilt es systematischer zu erforschen und dabei die Bedeutung von ethnisch und oder religiös definierten Netzwerken einzubeziehen. Nicht zuletzt interessiert uns, welche Teilhaberechte inkl. des Wahlrechts wann eingeklagt werden und welche Reaktionen in der Mehrheitsgesellschaft zu beobachten sind. Die Teilhabe am Arbeitsmarkt wurde Migrierenden vonseiten der ansässigen Arbeiterschaft nicht selten verwehrt, eine ständige Herausforderung für gewerkschaftliche Organisationen, zumal die Arbeitgeberseite sich oft genug ethnisch oder rassistisch diskriminierter Gruppen als Streikbrecher bediente. Neben dem Arbeitsmarkt ist der Wohnungsmarkt ein besonders konfliktträchtiges Feld, auf dem gelegentlich auch aufscheint, dass Migration nicht durchgängig ein Armutsphänomen darstellt. Die nach Georgien geflüchteten Russen werden in Tiflis gelegentlich auch deshalb skeptisch beäugt, weil sie ob ihrer weit überdurchschnittlichen Berufsqualifikation sehr hohe Mieten bezahlen können. Systematisch werden sich die damit angedeuteten Konfliktfelder nicht ausleuchten lassen, doch erhoffen wir uns für den Band auch dazu konzeptionell weiterführende und empirisch dichte Beiträge.
Auf einer Tagung, die nach jetzigen Planungen am 23./24. Oktober 2023 von der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgerichtet wird, möchten wir Beitragsideen, Themenangebote und gemeinsame Fragen des hier skizzierten Rahmenthemas des Archivs für Sozialgeschichte 64 (2024) entwickeln. Wir laden alle Interessierten ein, uns bis zum 5. Juni 2023 Vorschläge an afs@fes.de einzureichen. Sie sollten 3.000 Zeichen nicht überschreiten und können, ebenso wie die Vorträge und die späteren Texte, auf Deutsch oder Englisch verfasst werden. Die anschließend von der Redaktion für den Band ausgewählten Beiträge im Umfang von etwa 60.000 Zeichen sollten bis zum 31. Januar 2024 fertiggestellt werden.
Das Archiv für Sozialgeschichte wird herausgegeben von
Dr. Claudia Gatzka
Prof. Dr. Kirsten Heinsohn
Prof. Dr. Friedrich Lenger
Prof. Dr. Thomas Kroll
Dr. Anja Kruke
Dr. Philipp Kufferath
Prof. Dr. Ute Planert
Prof. Dr. Dietmar Süß
Dr. Meik Woyke