Die FES wird 100! Mehr erfahren

Rezensionen

Das Archiv für Sozialgeschichte publiziert Einzelrezensionen wie auch Forschungsberichte und Sammelrezensionen.

Die aktuellen Rezensionen finden Sie auf dieser Seite.

In unserer Datenbank finden sich sämtliche Online-Rezensionen, die seit 2000 erschienen sind. Hinzu kommen alle Einzel- und Sammelrezensionen aus den retrodigitalisierten Ausgaben des Archivs für Sozialgeschichte, die Sie in einer weiteren Datenbank [aktuell offline] durchsuchen können.

Aktuelle Rezensionen

Helmut Reinalter, Reform, Restauration und Revolution (1740–1848/49). Darstellung – Forschungsüberblick – Quellen und Literatur

(Handbuch zur neueren Geschichte Österreichs, Bd. 3)

Studienverlag | Innsbruck/Wien 2023 | 268 Seiten, kartoniert | 39,90 € | ISBN 978-3-7065-1502-3

rezensiert von

Michael Kitzing, Feldberg-Altglashütten

Rezension als pdf

Die vorliegende Publikation des Innsbrucker Historikers Helmut Reinalter ist Teil einer auf fünf Bände angelegten Reihe zur Österreichischen Geschichte seit Beginn der Frühen Neuzeit. Jeder Band untergliedert sich in drei Teile: An eine knappe ereignisgeschichtliche Darstellung schließt ein Überblick über Probleme und Kontroversen der Forschung an, bevor der Band mit Angaben zu Quellen und Literatur abgerundet wird. Reinalters Band ist der dritte der Reihe und nimmt unter dem Titel »Reform, Restauration und Revolution« die Epoche von 1740 bis zur Revolution von 1848/49 in den Blick.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzog sich vor allem in Westeuropa die Ausbildung von »nationalen, bürokratisch-institutionellen Flächenstaat[en]«. (S. 15) Gleichzeitig setzte die Industrialisierung ein und es entstand ein Bürgertum, das mit dem Gedankengut der Aufklärung vertraut war und in deren Geiste auf Reformen drängte. In Österreich lagen die Dinge durchaus anders. Das Land war nach der Herrschaft Karls VI. unterentwickelt. Diese Unterentwicklung, insbesondere in den Bereichen des Heeres und der Finanzen, wurde im Österreichischen Erbfolgekrieg überdeutlich. Dementsprechend bedurfte es Reformen. Anders als in Westeuropa, so Reinalter, gingen diese Reformen jedoch in Österreich von der Staatsspitze, also von Maria Theresia und Joseph II., aus. Zwischen den Reformvorhaben beider Herrscher sieht Reinalter ein hohes Maß an Kontinuität, wobei erst mit der Alleinherrschaft Josephs II. ab 1780 ein schärferes Reformtempo eingeschlagen wurde. Im Zuge dieses Reformprozesses ging in Österreich also das Handeln im Sinne der Aufklärung dem aufklärerischen Diskurs voraus. Denn, anders als in Westeuropa, fehlte hier noch weitgehend ein aufklärerisch gesonnenes Bürgertum.

Die Reformen Maria Theresias und Josephs II. hatten laut Reinalter zwei Stoßrichtungen. Erstens zielten sie darauf, die bis dahin stark föderal organisierte Habsburger-Monarchie stärker zu zentralisieren. In diesem Zusammenhang sollten zweitens intermediäre Gewalten, das heißt Kompetenzen von Adel und Städten, gebrochen werden. Auf kirchenpolitischem Feld ging es weniger um Zentralisation als vielmehr darum, Rechte und Anliegen der Kirche den Interessen des Staates unterzuordnen. Durchgeführt wurden diese Reformen mit Hilfe eines reorganisierten Staatsapparats. Vor allem unter Joseph II. entstand eine Beamtenschaft mit klaren Regelungen hinsichtlich Kompetenz, Besoldung und Pensionierung. Reinalter stellt die einzelnen Reformschritte Maria Theresias und Josephs II. relativ ausführlich dar. Unterfüttert wird dies mit umfangreichem Datenmaterial, etwa zur Entwicklung der Landwirtschaft oder zur allmählichen Entstehung der Industrie. Zugleich gibt Reinalter Auskunft über die Reorganisation der Verwaltung, die Organisation der Armee oder auch, um ein konkretes Beispiel herauszugreifen, die Maßnahmen Josephs II. im »Öffentlichen Gesundheitswesen« (S. 48). So erfährt der Leser, dass im Gefolge von Pest- und Pockenepidemien 1778 die erste öffentliche Impfanstalt in Wien eröffnet wurde. Sechs Jahre später entstand vor der Stadt an der Als das erste öffentliche Krankenhaus, das über 2000 Betten verfügte und dessen Organisation und Finanzierung Reinalter mit Freude am Detail erläutert.

Joseph II. portraitiert Reinalter als einen Herrscher, dessen Denken und Handeln stark durch den Philosophen Christian Wolff geprägt wurde. Joseph II. sah sich, so Reinalter, als »Monarch von ›Gnaden der Vernunft‹« sowie »als ›Diener‹ seines Staates« (S. 84), dessen größtes Ziel die Glückseligkeit seiner Untertanen darstellte. Jedoch ergaben sich auch innerhalb der Konzeption des aufgeklärten Absolutismus – die Reinalter nicht nur im Darstellungsteil, sondern auch Forschungsteil des Bandes diskutiert – durchaus Widersprüche. So wollte Joseph II. zwar »alles für das Volk« erreichen, aber »nichts durch das Volk« (S. 85). Auch sah er keinen Anlass, entsprechend dem Gedankengut der Aufklärung seine eigene Machtstellung zu hinterfragen oder Partizipationsrechte des Volkes auch nur zu erörtern. Vielmehr, so Reinalter, sah der Kaiser im aufgeklärten Absolutismus eine besonders effektive und durchsetzungsfähige Herrschaftsform. Wie Reinalter zeigt, waren viele Reformen Joseph II. übereilt eingeführt worden und mussten noch vor seinem Tod im Jahr 1790 wieder zurückgenommen werden. Auf Joseph II. folgte für lediglich zwei Jahre sein Bruder Leopold II. Dieser wird von Reinalter als durchaus fortschrittlicher Monarch dargestellt, der der Französischen Revolution zumindest in ihrer Anfangsphase keineswegs vollständig ablehnend gegenüberstand. Leopold hatte bereits als Großherzog der Toskana zahlreiche Reformen angestoßen. Unter ihm wurden Verfassungsprojekte für die Habsburger-Monarchie zumindest erörtert. Zudem kam es unter Joseph II. und Leopold II. zu einer Lockerung der Zensur. Leopold II. versuchte auch über Mittelsmänner die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Es entstand somit im Ansatz ein öffentlicher Diskurs.

Unter dem Sohn Leopolds II., Franz II. (I.), setzte dann allerdings die Restauration ein. In diesem Zusammenhang weist Reinalter darauf hin, dass nur ein Teil der vormaligen Mitarbeiter Leopolds II. diesen Schritt zur Restauration mitvollzog, während andere »unter dem Druck der Restauration und dem Einfluss der Französischen Revolution immer radikaler […] und […] schließlich zu Jakobinern« wurden (S. 90). Zu letzterer Gruppe gehörten unter anderem Andreas von Riedel und Franz Hebenstreit. 1794 wurde die »Jakobinerverschwörung« aufgedeckt und die Teilnehmer zu langen Haftstrafen oder zum Tode verurteilt. Reinalter erläutert – erneut sowohl im Darstellungs- als auch im Forschungsteil – ausführlich das Gedankengut der österreichischen Jakobiner, die er als Vorläufer der Radikalen im Vormärz sieht. Zugleich fragt er nach der öffentlichen Stimmung. Allerdings fehlte in den 1790er-Jahren in Österreich noch immer ein breiteres Bürgertum, das den Anliegen der Jakobiner hätte Rückhalt verleihen können. Letztendlich wird aus den Ausführungen Reinalters klar, dass in Österreich bereits in den 1790er-Jahren ein politisches Klima herrschte, wie es dann im Deutschen Bund nach der Verabschiedung der Karlsbader Beschlüsse 1819 Einzug hielt, inklusive Pressezensur und der Überwachung von Universitäten, Studenten und Professoren.

Einen Einschnitt bildete auch in der österreichischen Geschichte die Pariser Julirevolution von 1830. Zwischen 1830 und 1848 rutschte die österreichische Monarchie in mehrfacher Hinsicht in die Krise. Weil die Bauernbefreiung noch immer nicht konsequent vorangetrieben worden war, kam es im ganzen Land zu Bauernaufständen. Gleichzeitig brachen angesichts steigender Lebensmittelpreise wiederholt Hungerkrawalle aus. Hinzu kam ein Bürgertum, das Pressefreiheit, Schwurgerichte sowie politische Teilhaberechte forderte. Schließlich setzte auch in Österreich nun verstärkt die Industrialisierung ein, ohne dass flankierende sozialpolitische Maßnahmen ergriffen wurden. Es bildete sich ein, freilich noch nicht organisiertes, Proletariat, das einen Unruhefaktor darstellte. Hinzu kamen nationalpolitische Unruhen in allen Teilen der Monarchie. Hieraus resultierte insgesamt eine revolutionäre Stimmung, die 1848 zur Entladung kam. Es waren dann freilich eben diese vielen, teilweise weit auseinandertriftenden Ziele der unterschiedlichen Trägergruppen der Revolution, die zu ihrem Scheitern führten. Dennoch stellt Reinalter abschließend fest, dass die Revolution keineswegs vollständig gescheitert sei. Auch in der Habsburger-Monarchie hatten sich 1848/49 neue Formen der öffentlichen Partizipation etabliert, genauso wie es endlich zur Abschaffung der Grundlasten gekommen war.

Helmut Reinalter hat einen konzise geschriebenen Band zur österreichischen Geschichte in der Sattelzeit vorgelegt – eine gelungene Einführung, die die politische Entwicklung des Landes vor dem sehr genau beschriebenen Hintergrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einordnet und umgekehrt aufzeigt, wie das politische Handeln diese Rahmenbedingungen verändert bzw. weiterentwickelt hat.

 

Zitierempfehlung

Michael Kitzing, Rezension zu: Helmut Reinalter, Reform, Restauration und Revolution (1740–1848/49). Darstellung – Forschungsüberblick – Quellen und Literatur, Studienverlag, Innsbruck/Wien 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82035.pdf> [10.12.2024].

Jan-Otmar Hesse, Exportweltmeister. Geschichte einer deutschen Obsession

Suhrkamp | Berlin 2023 | 446 Seiten, gebunden | 28,00 € | ISBN 978-3-518-43134-4

reviewed by

William Glenn Gray, Purdue University, West Lafayette

Rezension als pdf

Hesse’s compact and approachable book explores its premise in two distinct ways. On one hand, it offers a conceptual critique of the idea of Germany as a »world export champion«, a term that first emerged in 1986-87 in direct connection with World Cup soccer. Why did Germans consider it so important to run persistent, often unwieldy export surpluses, and whenever possible to lead the world in the value of its exported goods? On the other hand, the book presents a longer-term analysis of how business and political elites forged a consensus around export orientation as the foundation of German economic policy; why they succeeded for so long; and what tools they developed in achieving that aim. As an exposition of how the German export economy has thrived and adapted from the Kaiserreich to the present day, this is an unparalleled and essential contribution that should find readers among historians and the public at large.

Historicizing a seemingly self-evident concept can be challenging. Some readers might take the desirability of large surpluses as a given: why wouldn’t Germans strive to be world export champions? Yet as Hesse observes, the export economy was hotly contested in the late 19th Century. »Neo-mercantilists« – or the »coalition of rye and iron« in the memorable phrasing – demanded higher tariffs to protect domestic industrial and agricultural interests. Hesse credits Chancellor Leo von Caprivi with articulating the countervailing pro-export argument for a wider audience: Germany’s massive and growing population would have no work were it not for industrial production. »Either we export goods, or we export people«, he explained to the Reichstag in 1891 (cit. p. 61). Many of the industries most associated with Germany – machines, chemicals, electricity – were already world-beating enterprises by 1914, and German companies invested large volumes of capital abroad. Yet the Kaiserreich’s immense hunger for food and raw materials made for significant trade deficits throughout the period.

Indeed, it was not until 1952 that trade surpluses became a routine and expected feature of (West) German life. But the trend toward ever greater export production had only deepened during the interwar years. In the early 1920s, the Weimar Republic took full advantage of its collapsing currency to push out exports; later, in 1926, it introduced an export support scheme in the form of »Hermes« insurance. The Hermes system reduced uncertainty arising from the vagaries of million-mark overseas contracts, and it was not inherently distortionary; it was financed by premiums and sometimes actually turned a profit for the German state. After the Third Reich’s excessive efforts at direct export promotion – one fund poured out 1.5 billion marks in subsidies for 4 billion in exports! – officials in the economy ministry were more than ready to dismantle currency controls and embrace market-oriented policies.

Hesse’s coverage of the Federal Republic occupies two-thirds of the book, and it is here that the artful blending of themes finds its clearest expression. One dimension involves the structural framework of international political economy: currency relations (the Bretton Woods system), the General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), and the course of European integration. Another dimension involves German policymaking, with a special emphasis on the interaction between private industry groups and the political system. A third level of analysis looks to the companies themselves and their constantly adjusting responses to internal and external circumstances. Juxtaposing all of these layers allows Hesse to present a dynamic model of German export successes during two main periods, the boom decades of the 1950s and 1960s and the more disorderly era of globalization that followed.

There is, of course, plenty of data in these pages: an extremely illuminating overview of the structure of German imports and exports over time; tables and charts illustrating changing currency relations or the balance of trade and payments over time. But the text is not oversaturated with statistics. The emphasis here is on explaining how things worked, including »voluntary« export restraints under GATT; the Development Aid Tax Law of 1963; and the trade policies of key economy ministers such as Otto Graf Lambsdorff and Martin Bangemann. As a red thread running through these chapters, Hesse draws again and again on deliberations within the Foreign Trade Advisory Board (Außenhandelsbeirat), formed in 1946 to coordinate the views of government officials and various economic branches. By this means he registers the sharp yelps from industry whenever government officials dared to complain about an over-emphasis on exports (Exportlastigkeit) within the German economy. The high priests of the export economy acted swiftly to suppress heresy.

What makes Hesse’s analysis so insightful is his readiness to consider not merely the staggering export surpluses as such, but also the financial consequences of Germany’s perpetual imbalances. Cash outflows were the inevitable counterpart to trade surpluses; where did they go? Aside from tourist spending and remittances sent abroad by foreign laborers working in Germany, large volumes of capital poured into Swiss bank accounts or foreign direct investment (FDI). Hesse is, in effect, telling us to follow the money. Some might think of exports and FDI as opposite phenomena: one involves manufacturing goods and then shipping them abroad; the other involves founding or buying subsidiaries abroad so that production can take place elsewhere. We learn in these pages that companies pursued both strategies, depending on the situation. In that sense, the globalization of capital was an »export policy by other means« (p. 197). Hesse does not have the space to examine individual cases, but by tying exports and FDI, he is proposing a more complex way of writing about German business engagement with the world.

Lack of space also keeps the author from exploring alternatives. Hesse clearly considers Germany’s export obsession to be unhealthy, both to trading partners and to Germany itself. He mentions a few of the negative side effects – weak consumption and low domestic investment at home, along with heightened inequality. Even if 40 percent of German GDP is presently linked to export activity in some way, it does not follow that what is good for Siemens’ bottom line is good for Germany; it is the shareholders who take home the profits. What might be done to build down the Exportlastigkeit? As Hesse himself notes, the German government does not directly subsidize exports, and it is hard to find fault with the extensive networks of trade fairs and information services that serve as a kind of government-backed infrastructure for the export economy. How might everyday Germans be encouraged to consume more at home, thereby reducing the export surpluses: is there pent-up demand for more cars or larger houses? Considering the key role played by currency relations in the book, it is unfortunate that Hesse does not thematize the structural problems of the Euro – whose existence has permanently depressed the exchange rate that would otherwise pertain to the German economy, boosting the competitiveness of German-made goods within Europe and abroad.

At any rate, for Hesse, the most fundamental problem with the »world export champion« mentality is the very notion of defining economic success in nation-state terms. His aversion to jingoism is understandable, but his distaste applies also to the sausage-grinding methods of trade negotiations. Was it really so objectionable for Germans of the Weimar Republic to instrumentalize trade liberalization for the sake of »unleashing the export strength of their own economy«? (p. 93) Is it necessarily an anachronism for German media, politicians, and business leaders to articulate economic interests in national terms? Even if enterprises operate effortlessly across borders, and regulations are set in Brussels, it is still the national governments that operate pension schemes. Jobs in Rüsselsheim will likely always matter more to Germans than jobs in Antwerp.

That being said: the subject matter of this book – the bureaucratic, corporate, and mental structures accruing from Germany’s longstanding export orientation – may prove less salient in a world of accelerating mergers and selloffs. More worrisome still is China’s massive export drive, often building on technology transfers from German joint ventures. Nevertheless, Hesse’s account stresses the remarkable adaptability shown by German companies historically; firms of various sizes have responded nimbly to market conditions and refined their products and strategies accordingly. Few countries in the world have ever been as good at designing and making things as the German states over the past 150 years, and Hesse’s book offers a welcome reminder of this.

 

Zitierempfehlung

William Glenn Gray, Rezension zu: Jan-Otmar Hesse, Exportweltmeister. Geschichte einer deutschen Obsession, Suhrkamp, Berlin 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82041.pdf> [10.12.2024].

Mareike Witkowski, Arbeitsplatz Privathaushalt. Städtische Hausgehilfinnen im 20. Jahrhundert

(Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 246)

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2024 | 373 Seiten, gebunden | 65,00 € | ISBN 978-3-525-31150-9

rezensiert von

Andrea Althaus, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Rezension als pdf

Die Geschichte der Hausangestellten ist bereits vielfach erforscht worden. Die geschichtswissenschaftlichen Studien beziehen sich jedoch meist auf das ›lange‹ 19. Jahrhundert. Sozial- und kulturwissenschaftliche Arbeiten untersuchen das »Comeback der Dienstmädchen« seit den 1990er-Jahren.[1] Der Zeitraum dazwischen erhielt im Verhältnis dazu – zumindest in Deutschland – wenig Aufmerksamkeit. Zur Schließung dieser Forschungslücke leistet Mareike Witkowski mit ihrer sorgfältig recherchierten und empirisch gesättigten Arbeit einen wertvollen Beitrag. Sie zeigt, dass die Berufsgruppe der Hausangestellten trotz eines »andauernden Untergangsdiskurses« (S. 12) nie verschwunden ist, auch wenn die Zahl der im Privathaushalt angestellten Personen abnahm und sich der Hausdienst strukturell veränderte. Diesen Veränderungen spürt Witkowski nach. Sowohl Brüche als auch Kontinuitäten in den Blick nehmend, schreibt sie eine Sozialgeschichte der Arbeits- und Lebensbedingungen städtischer Hausgehilfinnen im 20. Jahrhundert.

Einleitend erläutert Witkowski ihre Forschungsperspektive der »sozialen Ungleichheiten« (S. 15). Dieser analytische Blick eignet sich für die Beschreibung der Arbeits- und Lebensbedingungen im Privathaushalt, da dort Personen unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten in einem komplexen hierarchischen Beziehungsgeflecht stehen. Um dieses interpretativ zu durchdringen, wählt Witkowski einen intersektionalen Ansatz. Neben »Klasse« dienen ihr »Geschlecht«, »Rasse« und »Alter« als wichtigste Analysekategorien. Denn im Privathaushalt arbeiteten größtenteils junge Frauen aus unterprivilegierten sozialen Verhältnissen für (groß-)bürgerliche Hausfrauen. Während der NS-Zeit verstärkte im Fall der jüdischen Hausangestellten und der osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen die Kategorie »Rasse« die Ungleichheiten. Ihre Analysen stellt Witkowski auf eine breite Quellenbasis, die aus amtlichen Statistiken, zeitgenössischen Erhebungen und Studien, eigens geführten Zeitzeugeninterviews, (Berufs-)Schulaufsätzen, Ratgeberliteratur, Zeitschriften und Unterlagen von Hausgehilfinnen- und Hausfrauenverbänden besteht.

Im ersten Kapitel fasst Witkowski die historische Forschung zu Hausangestellten im 19. Jahrhundert zusammen und charakterisiert den Dienstmädchenberuf bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Sie beschreibt eine feminisierte, mobile Berufsgruppe, die sich überwiegend aus jungen, ledigen Frauen aus ländlichen und ärmlichen Verhältnissen zusammensetzte. Da sie bei den ›Herrschaften‹ wohnten, war das Arbeitsverhältnis durch starke persönliche Abhängigkeiten geprägt, die soziale Ungleichheiten fort- und festschrieben. Die Arbeitstage der Dienstmädchen waren lang, ihr gesellschaftliches Ansehen gering und die rechtliche Situation prekär. Daher bevorzugten junge Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend andere Berufe, was zu einem Mangel an Hausangestellten führte, der in der sogenannten Dienstbotenfrage vielfach beklagt und durch eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse behoben werden sollte.

Diese Vorgeschichte dient Witkowski dazu, im zweiten und dritten Kapitel die Entwicklung der Berufsgruppe im Laufe des 20. Jahrhunderts darzustellen. Die Kontinuitäten, so lässt sich zusammenfassen, waren trotz politischer Zäsuren und wirtschaftlicher wie sozialer Umbrüche hoch. Abgesehen vom Namen – aus dem Dienstmädchen wurde die Hausgehilfin –, blieb nach 1918 und bis in die 1960er-Jahre vieles gleich: Es arbeiteten größtenteils junge und ledige Frauen im Privathaushalt, die aus ländlichen oder kleinstädtischen Arbeiter- oder Handwerkerhaushalten stammten und nach Beendigung der Volksschule ›in Stellung‹ gingen. Sie wanderten nicht einmalig vom Land in die Stadt, sondern waren in besonderem Maße mobil. Sie wechselten vielfach die Stelle, da dies praktisch die einzige Möglichkeit darstellte, die Lebenssituation zu verbessern. Die Arbeitsverhältnisse im Privathaushalt blieben auch im 20. Jahrhundert prekär und waren geprägt von einer schier unbegrenzten Arbeitszeit, persönlicher Abhängigkeit von den Arbeitgeber:innen und einer schlechten sozialen Absicherung. Daher war es für viele nicht – oder nur für kurze Zeit – erstrebenswert im Privathaushalt zu arbeiten.

Während der NS-Zeit wurde die Stellung der Hausgehilfinnen propagandistisch zwar stark aufgewertet, dies bezog sich jedoch, wie Witkowski darlegt, nur auf diejenigen Frauen, die zur »Volksgemeinschaft« gezählt wurden. In ihren Ausführungen über die überproportional vielen Zwangssterilisierungen von Hausgehilfinnen sowie über die Situation von jüdischen Angestellten und osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen arbeitet sie überzeugend heraus, wie stark gerade die intersektionale Verschränkung der Ungleichheitskategorien »Klasse«, »Geschlecht« und »Rasse« diskriminierend und einschneidend wirkte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg klagten die zumeist wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Arbeitgeber:innen über einen Mangel an ›guten‹ Hausangestellten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fungierten Hausgehilfinnen zwar, wie Witkowski herausarbeitet, immer weniger als Distinktionsmerkmal, ermöglichten aber viel mehr bürgerlichen Frauen eine (Teilzeit-)Arbeit aufzunehmen.

Als größten Unterschied zur Situation im 19. Jahrhundert macht Witkowski den Wandel von der Vollzeit- zur Teilzeitarbeit aus. Seit der Weimarer Zeit und verstärkt nach 1945 wurden viele Hausgehilfinnen nur noch stundenweise beschäftigt und wohnten nicht mehr bei den Arbeitgeber:innen. Die Entwicklung von der »live-in«-Hausgehilfin zur teilzeitbeschäftigten Reinigungskraft fand, so Witkowski, in den 1960er-Jahren ihren Abschluss – wobei die Autorin hier die Dynamiken im Hausdienst gegen Ende des 20. Jahrhunderts etwas voreilig außer Betracht lässt. Trotzdem ist ihre These, dass die Arbeit im Privathaushalt die spätere »Fluidisierung der Normalarbeitsverhältnisse« – von der Vollzeitstelle in einem Betrieb hin zu mehreren Teilzeitstellen bei vielen Arbeitgeber:innen – vorweggenommen habe, durchaus bedenkenswert (S. 325). Veränderungen zeigt Witkowski auch im Bereich der Rationalisierung der Hauswirtschaft durch technische Fortentwicklung auf. Anders als (zeitgenössisch) oft angenommen, sieht sie darin jedoch nicht die stetig sinkende Anzahl von vollzeitbeschäftigten Hausgehilfinnen begründet. Die Arbeit sei durch den technologischen Wandel nicht weniger geworden, sondern habe sich bloß hinsichtlich der körperlichen Anstrengung verändert.

Große Kontinuitäten zeigt Witkowski auch im vierten und fünften Kapitel des Buches auf, in denen sie die Bemühungen um eine gewerkschaftliche Organisation der Hausgehilfinnen beleuchtet und die Versuche zur Etablierung der hauswirtschaftlichen Lehre nachzeichnet. Beide Initiativen zielten auf eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen sowie auf das Gewinnen von ›guten‹ Hausangestellten. Und beide waren über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg ähnlich erfolglos. Die zahlreichen Versuche konfessioneller, gewerkschaftlicher oder parteipolitischer Hausangestelltenverbände, auf die Gesetzgebung einzuwirken, brachten wenig spürbare Verbesserungen für die Arbeitssituation im Privathaushalt. Als Hauptgründe für dieses Scheitern kristallisiert Witkowski die Zersplitterung in verschiedene Verbände sowie den insgesamt niedrigen Organisationsgrad der Hausgehilfinnen heraus, wobei letzterer in der Isolation der Hausgehilfinnen im Arbeitgeberhaushalt begründet lag. Wenig fruchtbar waren auch die Bemühungen um eine Professionalisierung des Hausdienstes durch eine hauswirtschaftliche Lehre. Obwohl in der NS-Zeit die hauswirtschaftliche Aus- und Fortbildung forciert worden war, blieb die Arbeit im Privathaushalt auch nach 1945 »fest in der Hand der ungelernten Kräfte« (S. 293). Das Interesse daran, eine Lehre im Haushalt zu absolvieren, war im gesamten Untersuchungszeitraum gering. Dies hing mit ebendem schlechten Ansehen des Berufs zusammen, das eine Professionalisierung hätte beheben sollen.

Die Entwicklungen seit den 1970er-Jahren spricht Witkowski leider nur in einem kurzen »Ausblick« an. Das ist schade, auch wenn es aus arbeitspragmatischen Gründen nachvollziehbar ist. Denn im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kam viel Bewegung in den »Arbeitsplatz Privathaushalt«, wie Witkowski überblicksartig zeigt. Die Zahl der Beschäftigten – gerade auch der »live-ins« – stieg wieder an. Migrantisierung, Informalität und Prekarität prägten die Arbeitsverhältnisse. Darüber aus zeithistorischer Perspektive und unter Berücksichtigung des historischen Kontextes seit den 1920er-Jahren mehr zu erfahren, hätte ich mir von einem Buch gewünscht, das wiederholt eine Untersuchung des gesamten 20. Jahrhunderts verspricht. Ein weiterer Aspekt, der etwas unterbelichtet bleibt, sind die subjektiven Wahrnehmungen und Deutungen der Hausgehilfinnen selber, obwohl Witkowski zahlreiche Interviews geführt hat. Eine vertiefte Analyse dieser Gespräche hätte dabei geholfen, die Hausgehilfinnen und ihre Arbeitgeber:innen etwas differenzierter darzustellen. So bleiben beide als Akteursgruppen blass und erscheinen als zwei in sich homogene Gruppen, was den Komplexitäten der hauswirtschaftlichen Beschäftigungsverhältnisse im Untersuchungszeitraum nicht ganz gerecht wird.

Insgesamt jedoch handelt es sich bei Witkowskis Buch um eine sehr informative Grundlagenarbeit zum »Arbeitsplatz Privathaushalt« in (West-)Deutschland von den 1920er- bis in die 1960er-Jahre. Die Autorin hat mit großer Akribie eine Vielzahl an Quellen zusammengetragen und diese sorgfältig ausgewertet. Besonders anregend ist die Lektüre an den Stellen, an denen Witkowski ihre Quellen konsequent mit den Analysekategorien »Alter«, »Rasse«, »Klasse« und »Geschlecht« befragt und aufzeigt, wie diese in ihrer intersektionalen Verschränkung Ungleichheiten produzierten und festschrieben. Dies ist beispielsweise im Kapitel zu den Hausgehilfinnen in der NS-Zeit besonders gut gelungen.

 

Zitierempfehlung

Andrea Althaus, Rezension zu: Mareike Witkowski, Arbeitsplatz Privathaushalt. Städtische Hausgehilfinnen im 20. Jahrhundert, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82038.pdf> [10.12.2024].

 

[1] Vgl. aus der geschichtswissenschaftlichen Forschung exemplarisch Dorothee Wierling, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin (West) 1987; vgl. für die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung Sabine Hess/ Ramona Lenz, Das Comeback der Dienstmädchen, in: Sabine Hess (Hrsg.), Geschlecht und Globalisierung. Ein kulturwissenschaftlicher Streifzug durch transnationale Räume, Königstein im Taunus 2001, S. 128-165.

Darius Muschiol, Einzeltäter? Rechtsterroristische Akteure in der alten Bundesrepublik

(Geschichte der Gegenwart, Bd. 37)

Wallstein Verlag | Göttingen 2024 | 486 Seiten, gebunden | 42,00 € | ISBN 978-3-8353-5724-2

rezensiert von

Armin Pfahl-Traughber, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Brühl

Rezension als pdf

Bereits vor dem mörderischen NSU gab es auch schon in der ›alten‹ Bundesrepublik Deutschland einen entwickelten Rechtsterrorismus, wofür damals wie heute aber nur eine gering entwickelte Aufmerksamkeit bestand und besteht. Doch wie erklärt sich dieses Desinteresse - auch etwa im Vergleich zum anhaltend hohen Interesse am früheren Linksterrorismus? Eine Antwort auf diese Frage will der Historiker Darius Muschiol in seiner Dissertation an der Universität Potsdam geben. Sie erschien als Buch mit dem Titel »Einzeltäter? Rechtsterroristische Akteure in der alten Bundesrepublik«. Darin erklärt sich der Autor das unterschiedlich entwickelte Interesse mit geläufigen Narrativen, wonach es sich bei Rechtsterroristen in der Vergangenheit eher um »Einzeltäter« und »Irregeleitete« gehandelt habe. Dadurch, so Muschiol, seien sowohl das Gefahrenpotential wie die Gewaltdimension des Rechtsterrorismus nicht richtig wahrgenommen worden. Diese Feststellung erklärt auch den schlichten Haupttitel seines Buchs, der die Einzeltäterthese mit einem Fragezeichen bereits kritisch hinterfragt.

Dem Autor geht es in seiner Studie aber um mehr, nämlich um analytische Blicke auf besondere Eigenschaften, Kontexte und Motivlagen des Rechtsterrorismus. Die »gängigen Einschätzungen von Rechtsterroristen als verrückt oder vereinzelt«, so seine These, »versperren […] den Blick auf rechtsextreme Sozialisationshintergründe, vernachlässigen strukturelle (Gruppen-)Netzwerke und missachten gesellschaftliche Stimmungen« (S. 11). Es habe sich um Akteure mit hoher Einbettung in das rechtsextremistische Milieu gehandelt, rege Kommunikation und professionelle Strukturen seien vorhanden gewesen. Behörden und Justiz hätten bei der Aufklärung dieser Strukturen ebenso versagt wie Politik und Wissenschaft – und dies nicht nur in Ausnahmefällen, eher müsse von einer Regel des Versagens gesprochen werden. Genau diesen Strukturen will Muschiol in seiner Untersuchung nachgehen.

Dabei wählt er einen akteursbezogenen Ansatz, fixiert eben auf die gemeinten Rechtsterroristen. Es geht bei rechtsterroristischen Taten nach Muschiols Definition erstens um »Gewalthandlungen (gegen Sachgegenstände oder Personen), die einen konspirativ-geplanten Charakter besitzen und demnach mit einer gewissen (verdeckten) Vorbereitung und planvollen Strategie ausgeführt werden.« Zweitens sei wichtig, »dass die Opfer selbst nicht das (ausschließliche) Ziel darstellen, sondern ebenso ›die Herstellung öffentlicher Wahrnehmung‹ – also eine Kommunikationsstrategie – im Vordergrund steht« (S. 24f.). Gerade der letztgenannte Aspekt fehlte mitunter in der bisherigen Forschung, umso anerkennenswerter ist die einschlägige Schwerpunktsetzung bei Muschiol. Irritierend ist aber die nur sehr knappe Auseinandersetzung des Autors mit der Einzeltäterforschung, obwohl diese sehr wohl die Kontexte von Tätern berücksichtigt. »Einzeltäter« meint lediglich, dass ein Einzelner der Täter ist. Dass es externe Einflüsse gibt, wird etwa im heutigen »Lone Actor«-Verständnis nicht negiert.

Die auf die Einleitung folgenden Kapitel untersuchen den bundesdeutschen Rechtsterrorismus für die Jahre von 1961 bis 1990 hinsichtlich bestimmter Kategorisierungen. Hierbei offenbart sich die beeindruckende Forschungsleistung der Studie. Sie besteht einerseits in der Aufarbeitung bislang kaum behandelter Fälle, etwa derjenigen aus den frühen 1960er-Jahren mit einem Südtirol-Zusammenhang. Sie besteht andererseits aber auch in der Erörterung dieser Informationen, wobei Bedingungsfaktoren, Feindbilder, Kommunikation und Vernetzungen, aber auch Deutungen und Fehlwahrnehmungen thematisiert werden. Dabei geht der Autor stark auf Details ein, blendet aber die analytischen Dimensionen nicht aus.

Muschiol arbeitet zunächst drei verschiedene Entwicklungsphasen des Rechtsterrorismus heraus, nämlich die eines »expansiven«, eines »konservativen« und eines »revisionistischen« Vigilantismus. Anschließend werden unterschiedliche biografische und szenebedingte Prägungen sowie Organisationsgrade und Sozialstrukturen ausdifferenziert. Man könnte jeweils mit guter Begründung auch eine andere Deutung vornehmen. So diffamierten etwa schon die frühen Rechtsterroristen den liberalen Staat, der von ihnen von Anfang an als illegitimes Produkt der »Siegermächte« wahrgenommen wurde, weshalb für die Akteure dieser Phase der Begriff des Vigilantismus nicht ganz treffend erscheint. Gleichwohl wird so der Blick auf unterschiedliche Entwicklungen und Spezifika geschärft. Dies gilt ebenso für die folgenden Ausführungen zu den Feindbildern von Rechtsterroristen, die mal in den »Ausländern«, mal in den »Besatzern«, mal in den »Linken«, mal im »Staatssystem« gefunden wurden.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen gleichfalls Muschiols Ausführungen zu den internationalen Kooperationen des bundesdeutschen Rechtsterrorismus, die in der bisherigen Fachliteratur nur marginal behandelt wurden. Hierbei finden die unterschiedlichsten Dimensionen Beachtung: von ideologischen Bekundungen über personelle Hilfe bis zur konkreten Waffenbeschaffung. Zu Recht widmet sich der Autor auch eigens den Spezifika der Kommunikationsformen des Rechtsterrorismus, ist der Gesichtspunkt der Kommunikation doch generell ein wichtiges Analysekriterium der Terrorismusforschung. Dabei hätten sowohl die gesellschaftliche Dimension des Rechtsterrorismus als auch seine spezifischen Opfergruppen noch ein größeres Thema sein können. Der Blick auf das rechtsextremistische Milieu ist zwar wichtig, aber die gewalttätigen Handlungen der Rechtsterroristen sollten auch gesamtgesellschaftlich einschlägige Wirkung entfalten. Gleichwohl muss auch hier wieder anerkennend auf die Analyse der szeneinternen Resonanzen verwiesen werden, bei der Muschiol viele erkenntnisförderliche Details herausarbeitet, die auch für künftige Studien anregend sein werden.

Durchgängig findet sich in der Untersuchung eine Ablehnung der Extremismustheorie. Bereits in der Einleitung bezieht der Autor diese Grundposition, wobei er fälschlich referiert, dass Extremismus in der Extremismustheorie als Gegensatz zur »Mitte« gedeutet werde (vgl. S. 23). Die Entwicklung dieses Forschungsfeldes nach 1989 kommt nicht vor, einschlägige Analysen kennt der Autor hier leider nicht. Es gibt in Muschiols Buch auch keine systematisch vergleichende Betrachtung des Linksterrorismus, was gerade bei Analysefeldern wie Kommunikation, Organisationsstrukturen oder Vernetzungen wichtig gewesen wäre – nicht im Sinne einer Gleichsetzung, aber im Sinne eines Vergleichs. Bei einer isolierten Analyse ist es dagegen nur schwer möglich, die Besonderheiten des Rechtsterrorismus zu erkennen. Gerade der bedeutsame Aspekt der Kommunikation wird von Muschiol in seiner konstitutiven Spezifik nur marginal wahrgenommen. Im Unterschied zum Linksterrorismus gibt es etwa im Rechtsterrorismus meist keine Bekennerschreiben. Dieses Alleinstellungsmerkmal wird in komparativer Perspektive besser erkennbar.

Auch andere Erkenntnisse der internationalen Terrorismusforschung hätten noch stärker in die Untersuchung integriert werden können, um die Entwicklung des bundesdeutschen Rechtsterrorismus und seiner Spezifika differenzierter wahrzunehmen. Derartige kritische Einwände sprechen aber nicht in Gänze gegen diese Studie. Sie darf als beeindruckende und gelungene Forschungsleistung gelten, bereichert sie doch das analytische und faktische Wissen. Aus den genutzten Analysekriterien lässt sich ein allgemeines Raster entwickeln, was die Forschung nicht nur zum Rechtsterrorismus voranbringen kann. Damit sind zwar nicht alle relevanten Fragen zum Thema geklärt, etwa auch nicht diejenigen zum Agieren der Sicherheitsbehörden. Indessen kann dies dem Autor nicht angelastet werden, folgt er doch einer anderen Problemstellung. Viele Detailerkenntnisse verdienen eine intensivere Untersuchung. Auch wird von Muschiol auf die Entwicklung in anderen Ländern verwiesen, was für die Zukunft neue Erkenntnisgewinne durch internationale Vergleiche erhoffen lässt.

Abschließend sei noch eine persönliche Anmerkung des Rezensenten vorgenommen, wird er doch in der Arbeit von Muschiol hinsichtlich seiner Positionierung falsch eingeordnet (S. 443). Eine frühere Aussage, die von 1999 und nicht von 2006 stammt, verwies auf die Inexistenz einer »Braunen Armee Fraktion«, wobei die Besonderheiten der bekannten linksterroristischen Organisation die konkreten Spezifika bildeten. Bei der RAF ging es um eine informell hierarchisch strukturierte Gruppierung mit einer Kommandoebene von um die 20 Personen und einem breiten, mehrschichtigen Unterstützerumfeld. Eine ähnliche Organisation gab es damals wie später im bundesdeutschen Rechtsterrorismus nicht. Daher handelte es sich also um keine »Fehlanalyse« des Rezensenten, auch nicht mit der heutigen Kenntnis über den NSU. Das gilt ebenso für ähnliche Aussagen des Fachjournalisten Anton Maegerle, die Muschiol ebenfalls falsch verortet (S. 445). Der NSU war keine »Braune Armee Fraktion«, eher wäre hier als vergleichende Bezeichnung »Braune Zelle« zutreffend.

 

Zitierempfehlung

Armin Pfahl-Traughber, Rezension zu: Darius Muschiol, Einzeltäter? Rechtsterroristische Akteure in der alten Bundesrepublik, Wallstein Verlag, Göttingen 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82037.pdf> [10.12.2024].

Detlef Siegfried, Alternative Dänemark. Kosmopolitismus im westdeutschen Alternativmilieu 1965–1985

(Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 61)

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 640 Seiten, gebunden | 48,00 € | ISBN 978-3-8353-5368-8

rezensiert von

Benedikt Sepp, Ludwig-Maximilians-Universität München

Rezension als pdf

Von »hygge« und »lagom« über Wärmepumpen und Wasserkraft bis hin zum noch vorhandenen Wohlfahrtsstaat stellt Skandinavien bis heute einen Sehnsuchtsraum für vom Kapitalismus ermüdete Mitte-Links-Aussteigerfantasien dar. Detlef Siegfrieds 2023 bei Wallstein erschienene Studie über die Dänemark-Rezeption im linken und alternativen Milieu der Bundesrepublik zeigt, dass diese Wahrnehmung des kleinen nördlichen Nachbars eine deutlich vielfältigere und ambivalentere Geschichte hat, als es die Konjunktur gegenwärtiger Wohnraummagazine nahelegt. Als einer der wohl besten Kenner der bundesdeutschen Protestgeschichte der 1960er- und 1970er-Jahre[1] hat der in Kopenhagen lehrende Historiker Einblicke in beide Seiten dieser Wahrnehmungsgeschichte, die sich in seinem Buch zeitlich von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre erstreckt und die Rolle Dänemarks als Projektionsfläche einer linkeren, menschlicheren, kleineren und solidarischeren, schlicht besseren Gesellschaft im bundesdeutschen alternativen Milieu erforschen will.

Dass diese Geschichte aber nicht unbedingt eine von reinen Projektionen sein muss, zeigt gleich die erste Fallstudie über die Kontakte linker Studierendenorganisationen beider Länder. Anhand einer zentralen Figur, der zeitweiligen zweiten SDS-Vorsitzenden und späteren Politikwissenschaftlerin Ursula Schmiederer, die nicht nur viel Zeit in Dänemark verbrachte und dort politische Freundschaften pflegte, sondern auch ihre Dissertation bei Wolfgang Abendroth über die dänische Socialistisk Folkeparti schrieb, zeigt Siegfried ganz reale wechselseitige Austausch- und Lernprozesse sowie Freundschaften und gemeinsame Kämpfe junger Sozialist:innen beider Länder – und schreibt somit auch eine detailreiche Geschichte insbesondere der bundesdeutschen (Neuen) Linken bzw. des Alternativen Milieus. Angesichts der beachtlichen Länge des Buchs kann man sicher darüber streiten, ob diese Darstellung in ihrer Ausführlichkeit den Rahmen der Untersuchung deutscher Dänemarksehnsüchte nicht etwas ausfransen lässt, letztlich aber überzeugt die ausführliche Kontextualisierung der Akteure und Gruppen in den beiden Ländern aber doch durch ihre Tiefe. Eine wiederkehrende Rolle spielen dabei die wechselseitige Faszination, aber auch gewisse Frustrationserfahrungen der deutschen mit ihren dänischen Genoss:innen, deren als typisch dänisch geltende politische Kultur der Kompromissbereitschaft und Staatsnähe zwar als angenehm und menschlich, aber potentiell dann doch wieder als eher wenig revolutionär interpretiert wurde.

Das Kapitel über die im engeren Sinne politische Dänemarkrezeption in Deutschland fokussiert sich anschließend auf die Rolle Dänemarks als Ausweichland für Deutsche, die aus politischen Gründen die Bundesrepublik verließen, vor allem natürlich für Rudi Dutschke. Nach seiner faktischen Ausweisung aus Großbritannien fand der berühmte Antiautoritäre für die letzten Dekade seines Lebens eine Anstellung an der Universität Aarhus, wobei auch nach Siegfrieds – die bisherigen Dutschke-Biografien an Detailfülle deutlich übertreffende – Darstellung der Eindruck bleibt, dass sich Dutschke mit Dänemark jenseits seiner persönlichen Sphäre nie wirklich ernsthaft auseinandersetzte. Es ist daher ein wenig schade, dass einem anderen prominenten bundesdeutschen Politexilanten, Henning Eichberg, deutlich weniger Aufmerksamkeit und Platz gewidmet wird: Der in den 1960er- und 1970er-Jahren in der rechtsextremen Szene aktive, seiner Selbstdarstellung nach jedoch bei seinem Umzug nach Dänemark zu Beginn der 1980er-Jahre schon zur Linken neigende Eichberg fand, im Gegensatz zu Dutschke, in Dänemark und dem dänischen Volksbegriff nicht nur reichlich Inspiration für seine sehr eigene Mischung aus rechten und linken Ideologiebausteinen, sondern in der erwähnten linksalternativen Socialistisk Folkeparti auch eine neue politische Heimat.

Ebenfalls weniger von Projektionen als vom Austausch realer Menschen und Medienträger bestimmt war auch der deutsch-dänische Transfer von Pornografie und Musik, dem die nächste große Fallstudie gewidmet ist. 1969 legalisierte Dänemark als erstes Land weltweit den Besitz und Handel pornografischer Bilder, was das bundesdeutsche Interesse am nördlichen Nachbarn schnell steigen ließ. Events wie die Kopenhagener Pornomesse 1969 und insbesondere die Berichterstattung darüber, aber auch linke Debatten über das revolutionäre Potential der schmutzigen Bilder werden detailliert nachgezeichnet; die Wahrnehmung Dänemarks als »fortschrittlichstes Sex-Land der Welt«, wie es der SWR formulierte (zit. nach S. 201), gehörte wohl zu den am begierigsten aufgegriffenen medialen Stereotypen. Als zweites dänisches Kulturgut, anhand dessen überraschend viele deutsch-dänische Stereotypen aktualisiert wurden, behandelt Siegfried die dänische Festivallandschaft, insbesondere das Roskilde-Festival: Gerade in der vorgeblich als kulturübergreifend geltenden Musikszene, so scheint es, stellten nationale Wahrnehmungen über Dänen und Deutsche besonders starke Interpretationsrahmen bereit – wobei bezeichnenderweise oft »das Fremde als authentisch, das Eigene als künstlich« (S. 574) galt. 1977 etwa stellten zwei Sounds-Redakteure fest, dass dänische Rockbands vor allem deshalb so gut seien, weil sie nicht unter dem deutsch-verkopften Kunstanspruch litten.

Das dritte Kapitel »Jenseits des Wohlfahrtsstaats« dreht sich um die Wahrnehmung einzelner Projekte, die Siegfried als »Nebenwirkungen des ansonsten so geschätzten dänischen Wohlfahrtstaats« (S.267) interpretiert: Dessen Vorzüge produzierten als Kehrseite eben auch einen latent paternalistischen Umgang etwa mit Kindern, Drogensüchtigen oder Drop-Outs, der durch lokale Initiativen aufgebrochen werden sollte. Insbesondere geht es um die in Dänemark zu einer auffälligen Blüte gelangenden Abenteuerspielplätze, die in Form eines »Gerümpelspielplatzes« den Entdeckerdrang und die Eigeninitiative von Kindern ernst nahmen. Das Konzept wurde von verschiedenen politischen Seiten gefördert und exportiert, auch, wie Siegfried zeigt, weil es sich als Teil eines größeren gesellschaftlichen Trends von Individualisierung, einer Abkehr vom Sicherheitsdenken und Überbetreuung und einer Hinwendung zur Natur deuten ließ. Angesichts der großen nationalen Unterschiede in der Rezeption der Abenteuerspielplätze – in der Bundesrepublik und England spielte etwa der Umgang mit den durch den Bombenkrieg verursachten Brachflächen eine große Rolle – ließe sich allerdings fragen, ob der Abenteuerspielplatz wirklich als typisch dänisches Konzept rezipiert wurde oder eher als zufällig aus Dänemark kommende Idee. Diese Frage könnte man auch an die Rezeption Christianias stellen, die als zweites Beispiel in diesem Kapitel behandelt wird: Zwar war das deutsche Interesse an der Freistadt in Kopenhagen groß (und wurde von einzelnen Aktivist:innen wie Heiner Gringmuth auch empirisch gehaltvoll befriedigt), eine Wahrnehmung als genuin dänisch kann aber – obgleich Siegfried zahlreiche Quellen anführt, die dies nahelegen – zumindest hinterfragt werden. Christiania scheint gleichzeitig als gelebte Utopie wie als abschreckendes Beispiel wahrgenommen worden zu sein, wozu noch ein intensiver Milieutourismus beitrug, mit dessen negativen Folgen sich Siegfrieds letztes Kapitel ausführlich befasst. Denn da es der ›alternative‹ Deutsche es seinem ›nichtalternativen‹ Landsmann gleichtat und die Welt erkunden und seinen Horizont erweitern wollte, stellte vor allem Kopenhagen ein von Szenetouristen förmlich überranntes Reiseziel dar. Das ging so weit, dass die Stadtverwaltung eigens Matratzenlager und szenekundige Auskunftsbüros förderte, um der Menge der in Parks und an Bahnhöfen nächtigenden jungen Reisenden zumindest einigermaßen Herr zu werden.

Mit dem Kapitel über alternativen Tourismus, das auch selbstorganisierte Reisen in Länder der »Dritten Welt« behandelt, bewegt sich Siegfried am weitesten weg von seinem eigentlichen Untersuchungsobjekt der Dänemarkwahrnehmungen und geht fokussierter einer im Buch immer wieder aufscheinenden zweiten Frageebene nach: Welche Rolle nämlich die Eigenwahrnehmung als kosmopolitisch und postnational im Selbstverständnis des westdeutschen alternativen Milieus spielte. Siegfried kann hier zeigen, dass das Selbstverständnis als weitgereist, welterfahren und generell weniger national sozialisiert durchaus eine wichtige Rolle für die alternative Selbstverortung spielte, die sich ihres Kosmopolitismus auch immer wieder durch spezifische Praktiken versichern bzw. diesen erst produzieren musste: durch Konsum fremder Musik, Speisen oder Waren, durch Reisen oder durch politischen Aktivismus mit nichtdeutschen Schwerpunkten. Dennoch war dieser Kosmopolitismus, wie auch das Beispiel Dänemarks zeigt, in ein Spannungsfeld aus anderen regionalen Bezugnahmen eingebunden, das eine simple Zurechnung kosmopolitischen Selbstbewusstseins zum alternativen Habitus verneint; viel individueller war die Verschränkung von Nations-, Heimat-, Regions- und Europadiskursen, als es auf den ersten Blick ersichtlich ist.

Darüber allerdings, ob Dänemark wirklich so zentral für die kosmopolitische Selbstwahrnehmung bzw. die unerfüllten Sehnsüchte der bundesdeutschen Alternativen war, wie die exzellente Darstellung suggeriert, kann auch nach Lektüre des Buchs zumindest gestritten werden. Angesichts der von Siegfried selbst genannten Tatsachen, dass in den 1960er-Jahren der Großteil der Bundesbürger Dänemark doch überwiegend als Exportland von Käse, Dosenfisch, Möbel und Schlagerstars wahrzunehmen schien und zudem die linke bzw. alternative Zusammenarbeit, der Szenetourismus und die Festivalbesuche doch vorwiegend von einem norddeutschen Publikum getragen wurden, wäre zu bedenken, ob lokale Vernetzungen und Erreichbarkeit nicht ebenso eine Rolle für die Popularität Dänemarks spielten wie Projektionen und Wunschdenken; für viele grenznah lebende Linke war, so kann man zumindest vermuten, das niederländische, französische oder italienische Gras auf der anderen Seite des Zaunes bzw. der Alpen ähnlich grün wie das dänische. Dennoch zeigt das Buch klar die Bedeutung auf, die dänische Projekte, Events, Orte und politische Debatten (vielleicht noch eher als Dänemark im Ganzen) für das bundesdeutsche alternative Milieu hatten. Zudem beeindruckt das Buch durch die enorme Materialfülle (und die sichere Hand beim Ordnen dieser), die thematische Breite und die klare Fragestellung. Es eröffnet damit das Potential für weitere Studien über den Reiz der ›kleinen‹ Nationen auf die unzufriedenen Bürger:innen der ›großen‹.

 

Zitierempfehlung

Benedikt Sepp, Rezension zu: Detlef Siegfried, Alternative Dänemark. Kosmopolitismus im westdeutschen Alternativmilieu 1965–1985, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82036.pdf> [10.12.2024].

 

[1] Vgl. Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006; ders., 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018.

Cornelius Torp (Hrsg.), Aufbruchstimmung. Die Universität Bremen und das Projekt der Hochschulreform

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 277 Seiten, gebunden | 32,00 € | ISBN 978-3-8353-5459-3

rezensiert von

Stefan Paulus, Universität Augsburg

Rezension als pdf

»So viel Aufbruch war selten in Bremen« – mit diesen ambitionierten Worten beginnt der Bremer Historiker Cornelius Torp die Einleitung zu dem Sammelband zum 50-jährigen Gründungsjubiläum der Universität Bremen. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche vergleichbare Jubiläumsschriften zu universi­tären Neugründungen der 1960er- und 1970er-Jahre in der Bundesrepublik erschienen.[1] Dabei geht es einerseits um die zeitgenössischen Intentionen dieser Gründungen während der damaligen Hochschulreformära und anderer­seits um Positionsbestimmungen in der heutigen und zukünftigen Hochschul- und Wissenschaftslandschaft. Diesem Anspruch will auch der Bremer Band gerecht werden, der insgesamt zehn Beiträge einer unter Pandemiebedingungen überwiegend online abgehaltenen Vortragsreihe aus dem Jahre 2021 vereint.

Das Besondere der Bremer Gründung ist zum einen, dass der Stadtstaat bis dahin als einziges Bundesland noch nicht über eine eigene Universität verfügt hatte; zum anderen, dass die Bremer Universität, als sie im Oktober 1971 nach fast zehnjähriger Diskussions- und Planungsphase den Lehrbetrieb aufnahm, in Selbst- und Fremdwahrnehmung als hervorgehoben reformaffin galt. In den Anfangsjahren brachte dieser ausgeprägte und teilweise auch stark ideologisierte Reformanspruch der Universität Bremen nicht nur bei konservativen Beobachtern das Etikett einer »roten Kaderschmiede« ein. Wie Torp verdeutlicht, intendierte das »Bremer-Modell« durch die dezidierte Abkehr von der traditionellen »Ordinarienuniversität« eine Universität neuen Typs zu kreieren. In dieser sollten alle Statusgruppen, also Lehrende, Lernende und Verwaltungspersonal, in drittel­paritätisch zusammengesetzten Gremien gleichberechtigt den Kurs der Universität mitbestimmen. Tatsächlich wollte man in Bremen das Konzept einer durchweg demokra­tisch strukturierten, praxisorientierten und damit lebens­nahen Universität Realität werden lassen und damit zugleich als eine Art Demokratisierungsver­stärker in die Gesamtgesellschaft hineinwirken. »Das ›Bremer Modell‹«, so Torp, »[…] sollte den Elfenbeinturm der Wissenschaft schleifen und die Universität in den Dienst der Gesellschaft stellen, und zwar sowohl im Sinne einer Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse als auch als transformierende Kraft« (S. 15). Ein derart hochgesteckter Anspruch musste in der aufgeheizten Stimmung der Jahre nach 1968 auch auf Widerspruch stoßen. So hatte die extreme Politisierung der studentischen Protestbewegung seit Ende der 1960er-Jahre mit Blick auf den Hochschulreformprozess zu einer gewissen Ernüchterung geführt. Just zum Zeitpunkt der Bremer Neugründung schien die Sinnhaftigkeit des mit immensen staatlichen Aufwendungen einhergehenden Reform- und Ausbauprozesses infrage zu stehen. Torp verweist auf die 1970 erfolgte Gründung des »Bundes Freiheit der Wissenschaft«, aber auch auf den »Radikalenerlass« vom Januar 1972. Torps Einleitung gibt darüber Aufschluss, weshalb die Bremer Neugründung in der Öffentlichkeit lange Zeit als Enfant terrible der deutschen Hochschulreform firmierte. Die zunächst konsequent durchge­führte drittelparitätische Mitbestimmung sowie die im Dienst demokratischer Trans­parenz praktizierte Öffentlichkeit aller Gremiensitzungen führten dazu, dass Konflikte sofort eine mediale Verstärkung erhielten. Zudem war die Wahrnehmung der Universität als »linke Kaderschmiede«, wie Torp betont, angesichts Bremer Besonderheiten speziell in der Berufungspraxis nicht gänzlich unbegründet: »Dafür sorgte schon der sich schnell etablierende Ruf der ›roten Universität‹, der viele eher konservative oder liberale Wissenschaftler, nicht zuletzt aus Sorge um die eigene weitere Karriere davon abhielt sich zu bewerben; hier wirkte das der jungen Hochschule aufgedrückte Label als self-fulfilling prophecy.« (S. 20)

Der Band gliedert sich in drei Themen­blöcke. Der erste Block widmet sich der eigentlichen Gründungsgeschichte der Universität Bremen. Zunächst untersucht Wolfgang Kraushaar die »68er«-Bewegung »als Durchlauferhitzer der Reformuniversität Bremen« (S. 32). Kraushaar macht deutlich, in welchem Umfang der Geist von »1968« auf die Arbeit der diversen Gründungsausschüsse der Universität Bremen einwirkte und diese auch erschwerte. Sein Fazit fällt nüchtern aus. Zwar sei die alte Ordinarien­universität tatsächlich abgeschafft worden, gleichwohl zeige das Beispiel Bremen, dass sich in der Folgezeit weder die revolutionäre Idee der »68er«-Bewegung noch die des weiterhin am Humboldtschen Universitätskonzept orientierten konservativen oder gemäßigt liberal-demokratischen Lagers durchsetzen konnten. »Die Hoffnung«, so Kraushaar, »durch die systematische Öffnung der Hochschulen für alle Schichten […] sowohl eine Dynamisierung des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts als auch eine Demokra­tisierung der Bildungsinstitutionen zu erreichen, hatte sich als Trugschluss erwiesen.« (S. 57) Anschließend beschäftigt sich Wilfried Rudloff mit der Bremer Universitätsgründung im Kontext der »Boomjahre der bundes­deutschen Hochschulgründungen«. Hier wird der Bremer Weg mit Gründungsprozessen und Reformmodellen in anderen Bundesländern, insbesondere in Hessen, korreliert. Was bleibt im Rückblick übrig vom »Bremer Modell«? »Vom Scheitelpunkt der radikal reformorientierten Gründungsphilosophie der 1970er-Jahre aus«, resümiert Rudloff, »näherte sich die neue Bremer Universität dann allerdings durch die Aufweichung vieler anfänglicher Neuerungen mit den Jahren Schritt für Schritt wieder dem Mehrheitskonzept der deutschen Universität an.« (S. 86) Anne Rohstock skizziert sodann die »Hochschulgeschichte des Kalten Krieges als Teil bildungspolitischer Forschung« und verknüpft dabei den in den 1960er-Jahren weltweit einsetzenden hochschul- und wissenschaftspolitischen Reformprozess mit internationalen Entwick­lungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sowie des Ost-West-Konflikts. Verbindende Kennzeichen jenes Prozesses waren demnach der »Glaube an Effizienz-, Optimierungs- und Technologisierungsversprechen im Bildungsbereich, die Bevorzugung unmittelbar anwendbaren, nützlichen Wissens oder die Bedeutung, die Zahlen und Daten als vermeintlich objektiven ›Fakten‹ zugemessen« wurde (S. 107).

Im zweiten Themenblock steht der Alltag an der »roten Kaderschmiede« in den frühen Jahren nach Gründung im Mittelpunkt. Heinz-Gerhardt Haupt, der selbst zwischen 1974 und 1985 in Bremen lehrte, verweist auf ein Bremer Kuriosum bei akademischen Stellenbesetzungen. Es kam hier meist zu Doppelbesetzungen, mit dem Ziel, etwaige ideologische Konflikte zu vermeiden. Der Architekturhistoriker Eberhard Syring untersucht die bauliche Gestalt der Bremer Neugründung. Sein Fazit fällt kritisch aus: »Ausgangspunkt war der Traum von einer isolierten Campus-Universität, dann wurde es die ›stadtbezogene Universität in Stadtrandlage‹, anschließend dominierten unterschiedliche Interpretationen einer Verflechtung von Universität und Stadt und zuletzt wurde die Universität gebaut – pragmatisch und ohne wirksame stadträumliche und soziale Verflechtung.« (S. 136) Birte Gräfing analysiert noch einmal die drittelparitätische Mitbestimmung als zentrale Säule des »Bremer Models«. Sie weist anschaulich nach, dass die Drittelparität nicht allein an der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1973, sondern im Alltag eben auch schlicht an der Komplexität der universitären Gremienarbeit scheiterte. Petra Lucht widmet sich der besonderen Rolle der Universität Bremen für die Entwicklung und Etablierung der Geschlechterforschung speziell im Kontext der Natur- und Technikwissenschaften. »Insbesondere in den 1990er- und 2000er-Jahren«, so Lucht, »wurden Meilensteine der Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung sowie der Feministischen Studien erreicht.« (S. 183) So wurden ein Zertifikatsstudium Gender Studies und ein Bachelorstudium Gender Studies im Nebenfach etabliert. Der letzte Beitrag des Themenblocks stammt aus der Feder von Manfred O. Hintz, der als Akteur der ersten Stunde seit 1971 in Bremen als Professor für Öffentliches Recht, Politische Soziologie und Rechtssoziologie wirkte. Hintz blickt auf das 1975 initiierte »Namibia-Projekt« als Beispiel früher Internationalisierung zurück. Dabei handelte es sich ursprünglich um ein Schulbuchprojekt zur deutsch-namibischen Geschichte, aus dem sich nach der Unabhängigkeit Namibias 1990 weitere erfolgreiche Kooperationen beim Aufbau des namibischen Bildungs- und Hochschulsystems ergaben.

Die Beiträge des letzten Themenblocks beschäftigen sich auf eher grundsätzlicher Ebene mit Fragen der Gegenwart und Zukunft der Universität. So diskutiert der Germanist und ehemalige DFG-Präsident Peter Strohscheider die vielgestaltigen und oftmals widersprüchlichen Erwartungen, die heute seitens der Gesellschaft an Universitäten herangetragen werden und die damit einhergehenden Chancen und Risiken für eine pluralistisch fundierte Wissenschaftsfreiheit. Und auch der 2024 verstorbene Soziologe Georg Krücken verweist in seinem Beitrag auf die mannigfachen Herausforderungen eines zunehmend von Relevanzkriterien und -erwartungen dominierten universitären Forschungs- und Lehrbetrieb. Krücken plädiert für ein Vertrauensverhältnis zwischen Gesellschaft und Wissenschaft: »Vertrauen ist dabei nicht als blinde, enttäuschungsresistente Akzeptanz zu verstehen. Im Gegenteil: Vertrauen ist eine ›riskante Vorleistung‹, die erbracht wird und die im Enttäuschungsfall auch wieder entzogen wird.« Drei Variablen seien dafür entscheidend, ob eine solche Vertrauensbeziehung etabliert werden könne: »Fairness, Kompetenz und Transparenz« (S. 274).

Insgesamt gewährt der Sammelband nicht nur äußerst aufschlussreiche Einblicke in die Planungs-, Gründungs- und Entwicklungsgeschichte der Universität Bremen, sondern auch bemerk­ens­werte Perspektiven auf die Problemfelder und Erwartungshaltungen, mit denen sich Hochschulen im 21. Jahrhundert konfrontiert sehen. Ferner wird bei der Lektüre der einzelnen Beiträge deutlich, dass die einstige »linke Reform­hochburg« in den fünf Jahrzehnten ihres Bestehens einen Anpassungs- und Normalisierungsprozess durchlief, der diese vollständig in die bundesrepublikanische Hochschullandschaft integrierte. Hiervon zeugt im positiven Sinne die Tatsache, dass die Universität Bremen zwischen 2012 und 2019 zu den deutschen »Exzellenzuniversitäten« zählte. Kritisch zu vermerken ist der Verzicht auf ein Autorinnen- und Autorenver­zeichnis in diesem inhaltlich-thematisch durchweg gelungenen Sammelband. Es ist keine Nebensächlichkeit, die interessierte Leserschaft über die spezifische Expertise und biografischen Hintergründe der Beitragenden adäquat in Kenntnis zu setzen – dies gilt besonders für den spannenden Aspekt der Zeitzeugenschaft.

 

Zitierempfehlung

Stefan Paulus, Rezension zu: Cornelius Torp (Hrsg.), Aufbruchstimmung. Die Universität Bremen und das Projekt der Hochschulreform, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82042.pdf> [10.12.2024].

 

[1] Vgl. exemplarisch Universität Regensburg (Hrsg.), 50 Jahre Universität Regensburg, Regensburg 2017; Universität Augsburg (Hrsg.), Wissenschaft – Kreativität – Verantwortung. 50 Jahre Universität Augsburg, Regensburg 2020.

Ulrich Heinemann, Johannes Rau: Der Besondere. Eine politische Biografie

(Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte, Bd. 94)

Aschendorff Verlag | Münster 2024 | 601 Seiten, gebunden | 40,00 € | ISBN 978-3-402-22982-8

rezensiert von

Lutz Haarmann, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Rezension als pdf

Johannes Rau (1931–2006) scheint nach seinem Tod im historisch-politischen Gedächtnis der Bundesrepublik etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Das vorliegende Werk des Bochumer Historikers Ulrich Heinemann ist die erste wissenschaftliche Abhandlung überhaupt, die das gesamte politische Leben Raus darstellt. Das wirft Fragen auf. Warum ist beispielsweise an den nordrhein-westfälischen Universitäten, die dem Wissenschaftspolitiker Rau doch so viel zu verdanken haben, bislang kaum jemand auf die Idee gekommen, sich selbst oder den akademischen Nachwuchs mit den biografischen Wirkungen des wohl einflussreichsten Politikers in Nordrhein-Westfalen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen?[1] Umso verdienstvoller ist daher das Unterfangen Heinemanns, der als Referatsleiter in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei den Ministerpräsidenten Rau persönlich erlebt hat, seinen früheren Chef mit einer wissenschaftlichen Monografie zu würdigen.

Heinemanns Werk, das beeindruckende 476 Seiten Text (inklusive Anmerkungsapparat sind es sogar 601 Seiten) umfasst, gliedert sich in zehn Kapitel. Die Darstellung reicht von Raus persönlichen Prägungen in Kindheit und Jugend über seine ersten politischen Gehversuche in der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), die schließlich im Jahr 1957 zum Übertritt in die SPD führten, bis zu Raus langer politischer Karriere in Nordrhein-Westfalen (Einzug in den Landtag 1958, SPD-Fraktionsvorsitz ab 1967, Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Wuppertal 1969/70, Wissenschaftsminister ab 1970, SPD-Landeschef ab 1977 und schließlich Ministerpräsident ab 1978), die erwartungsgemäß den Löwenanteil des Buches einnimmt. Abgerundet wird das politische Lebensbild Raus durch eine Würdigung seiner fünfjährigen Amtszeit als Bundespräsident von 1999 bis 2004.

Das Narrativ Heinemanns ist darauf angelegt, Johannes Rau als »den Besonderen« zu charakterisieren. Schon Raus Übertritt in die SPD mit 27 Jahren und der »ohne jeden proletarischen ›Stallgeruch‹« (S. 9) nur ein Jahr später erfolgende Einzug in den nordrhein-westfälischen Landtag sind bemerkenswert. Auch sein politischer Stil machte Rau in den Augen Heinemanns zu einer Ausnahmeerscheinung: »Johannes Rau, der Besondere, wurde über die Jahrzehnte […] zum Inbegriff eines Politikers des ›Wir‹, der einem humanen und demokratischem Gemeinwohl verpflichtet war und blieb.« (S. 10)

Das von Heinemann angesprochene »Wir« zeigte sich konkret etwa in Raus Beitrag zum großflächigen Ausbau der nordrhein-westfälischen Hochschullandschaft, wobei er hier als Wissenschaftsminister natürlich auch auf die Leistungen seiner Amtsvorgänger (auch aus CDU-geführten Landesregierungen) aufbauen konnte. Nicht nur fünf Gesamthochschulen, auch etliche Fachhochschulen und die Fernuniversität Hagen entstanden unter Raus wissenschaftspolitischer Ägide. In seine Amtszeit fallen aber auch die Neuordnung von drei Musikhochschulen, die Neubauten bzw. Erweiterungen der Universitätsklinika in Aachen und Essen sowie die Schaffung tausender Wohnheimplätze für Studierende. Als Mitte der 1970er-Jahre das Geld knapp wurde, wandelte sich Rau – so Heinemann – zu einem »Konsolidierer« (S. 128). Nun gewann die Forschung (und der damit einhergehende Zwang, Drittmittel zu generieren) deutlich die Oberhand gegenüber der bis dahin im Zentrum stehenden Lehre.

Das »Wir« zeigte sich auch beim nächsten zentralen Karriereschritt Raus, als er 1977 auf einem Landesparteitag in Duisburg überraschend den Vorsitz der nordrhein-westfälischen SPD gewinnen konnte. Sein favorisierter Konkurrent, der Arbeits- und Sozialminister Friedhelm Farthmann, war sich seiner Sache etwas zu sicher und verzichtete auf eine die Delegierten gewinnende Bewerbungsrede. Rau hingegen wusste mit einem ausgefeilten Vortrag den Parteitag für sich einzunehmen und gewann (wenn auch knapp und erst im zweiten Wahlgang) mit 158 zu 155 Stimmen. Der Sprung in das Ministerpräsidentenamt erfolgte 1978 gleichfalls »gegen alle Wahrscheinlichkeit« (S. 147). Mit Unterstützung des Parteilinken Christoph Zöpel gelang es Rau, sich gegen den von Ministerpräsident Heinz Kühn favorisierten Finanzminister Diether Posser durchzusetzen.

Auch das organisatorische Umfeld Raus, etwa in Gestalt von SPD-Landesgeschäftsführer Bodo Hombach, wird in Heinemanns Studie ausführlich gewürdigt. Die Verbindung zu Hombach trug so weit, dass Rau von diesem als seinem »Alter Ego« (zit. nach S. 211) sprach. Mit dem erfolgreichen Landtagswahlkampf 1985 unter dem Slogan »Wir in Nordrhein-Westfalen« schuf Hombach auch die Vorlage für Raus späteren Bundestagswahlkampf. Nach seinem Wahlsieg 1985 in Nordrhein-Westfalen, bei dem er mit 52,1 Prozent der Wählerstimmen das historisch beste Ergebnis der SPD im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland erreichte, avancierte Rau in den Augen seiner Anhänger endgültig zum ›Landesvater‹ par excellence. Raus Kanzlerkandidatur für die SPD bei der Bundestagswahl 1987 führte ihn kurz darauf allerdings in politisch unruhigere Fahrwasser. Unstimmigkeiten in der Wahlkampfstrategie und Querschüsse aus den eigenen Reihen torpedierten die Hoffnungen in der Partei, dass Rau mit seinem Motto »Versöhnen statt spalten« für die Wählerinnen und Wähler eine Alternative zu Bundeskanzler Helmut Kohl darstellen könnte.

Dass sich das »Wir« bei Rau insbesondere in »persönliche[n] Beziehungen [als] elementarer Baustein seines politischen Denkens und Handelns« (S. 265) manifestiert habe, hält Heinemann in seiner Studie als Kritik am »System Rau« fest. Die Liste der Freunde Raus in der nordrhein-westfälischen Politik und darüber hinaus war lang. Das »stark männerbündische Element« dieser Verbindungen kritisiert Heinemann ebenfalls, betont jedoch gleichzeitig, dass die Politik, die aus ihnen resultierte, ein »unübersehbares Aufbruch- und Reformelement« auszeichnete (S. 274). Trotzdem würde man über das Spannungsverhältnis dieser Komponenten gerne etwas mehr erfahren.

Nach einer ersten, erfolglosen Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten im Jahr 1994 gelang Rau fünf Jahre später schließlich der ersehnte Einzug in das Schloss Bellevue. Dieser Weg war, wie so oft bei ihm, alles andere als ein Selbstläufer. Mit Berlin fremdelte Rau anfangs. Dennoch entwickelte er in der Bundeshauptstadt ein umfangreiches Netzwerk. Skeptisch ist Heinemann in der abschließenden Bewertung der Präsidentschaft Raus. In Berlin, so der Autor, habe Rau »als Politiker des Wir« mit den Herausforderungen einer »hohen Zeit des ›Ich‹« zu kämpfen gehabt. Im Vergleich zu seinen Amtsvorgängern, wie beispielsweise Richard von Weizsäcker mit seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985, habe Raus Wirken als Präsident »im kollektiven Gedächtnis der Nation keinen großen Nachhall gefunden«. (S. 455) Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt blieb dem in der Gesamteinschätzung Heinemanns dennoch »beachtlichen Bundespräsidenten« (ebd.) aufgrund seiner Krankheit nur noch wenig Zeit, um weiter am politischen Diskurs der »Berliner Republik« mitzuwirken.

Durch Heinemanns Biografie werden Rau und seine Politik gleichsam wieder in den aktuellen öffentlichen Diskurs eingeführt. Raus universalistischer Ansatz, wie ihn der Autor etwa aus dessen Ahlener Rede im Jahr 1985 herauskristallisiert, »also einer Politik der Menschlichkeit, in der Macht und Moral, Prinzipientreue und Pragmatismus nicht als Widersprüche, sondern als Grundelemente sich wechselseitig stärkten und verstärkten« (S. 236), wäre vielleicht neu zu denken und mit der von nachlassenden Bindungskräften geplagten »Gesellschaft der Singularitäten« zu verbinden.[2] Sowohl als Figur eines »untypischen Sozialdemokraten« wie als »Integrationsfigur« (S. 469), so Heinemann, fehlt Johannes Rau. Immerhin zeigt sich an Rau, der christlich geprägt war und einen bürgerlichen Habitus pflegte, in welcher Breite die SPD nach Godesberg in der Lage war, ein politisches Angebot bereitzustellen, das über die Kernwählerschaft der Sozialdemokratie in der Industriearbeiterschaft hinaus Wählerinnen und Wähler gewann, und die CDU dadurch im Landtag von Nordrhein-Westfalen für lange Zeit von der Macht fernzuhalten.

Heinemanns Buch ist eine wahre Fundgrube für zukünftige Forschungen zur Person Johannes Raus und zur politischen Landesgeschichte Nordrhein-Westfalens. Es werden viele Aspekte eines NRW-geprägten Lebens angesprochen, die es sich lohnen würde zu vertiefen. Spannend wäre es beispielsweise, mehr über Raus Rolle als SPD-Landesvorsitzender zu erfahren. Der Autor stützt sich auf ein intensives Studium vorwiegend des Nachlasses von Johannes Rau, der im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn lagert. Hilfreich sind das umfangreiche Personenregister und das Verzeichnis ausgewählter Schriften und Beiträge Raus. Heinemanns Doppelrolle als Historiker und Zeitzeuge, die von einer »gewisse[n] Grundsympathie« (S. 12) mit dem Porträtierten getragen ist, wird von ihm selbst aufgegriffen und transparent gemacht. Diese Freundlichkeit gegenüber Rau schadet dem Buch, das mehr als eine Chronik ist, aber nicht. Heinemanns zahlreiche Interviewpartner, die inzwischen zumeist ein höheres Lebensalter erreicht haben oder bereits verstorben sind, ergeben gewissermaßen ein Telefonbuch der NRW-SPD der 1980er- und 1990er-Jahre. Hoffnung für die zukünftige Rau-Forschung macht sicherlich auch die im Jahr 2024 gegründete Johannes-Rau-Gesellschaft, deren Gründungsmitglied Heinemann ist.

 

Zitierempfehlung

Lutz Haarmann, Rezension zu: Ulrich Heinemann, Johannes Rau. Der Besondere. Eine politische Biografie, Aschendorff Verlag, Münster 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82040.pdf> [10.12.2024].

 

[1] Vgl. aus der wissenschaftlichen Literatur Jürgen Mittag/Klaus Tenfelde (Hrsg.): Versöhnen statt spalten. Johannes Rau. Sozialdemokratie, Landespolitik und Zeitgeschichte, Oberhausen 2007; vgl. aus der Sachbuchliteratur exemplarisch Werner Filmer/Wolfgang Klein, Johannes Rau. Der Bundespräsident, Bergisch Gladbach 1999.

[2] Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2020.

Hubert Zimmermann, Militärische Missionen. Rechtfertigungen bewaffneter Auslandseinsätze in Geschichte und Gegenwart

Hamburger Edition | Hamburg 2023 | 488 Seiten, gebunden | 40,00 € | ISBN 978-3-86854-381-0

rezensiert von

Marcel Berni, Militärakademie an der ETH Zürich

Rezension als pdf

Vor der viel beschworenen »Zeitenwende« von 2022 hatten westliche Auslandeinsätze Konjunktur. Vermeintliche Stabilisierungsoperationen sollten dem Globalen Süden mit militärischen Mitteln Demokratie, Freiheit und Menschenrechte bringen. Dabei ließen sich westliche Streitkräfte häufig auf irreguläre und lange Kriege ein, die nur wenig mit existentiellen nationalen Interessen zu tun hatten. Der Marburger Politikwissenschaftler Hubert Zimmermann zieht in seinem neuen Buch die Bilanz dieser allzu häufig gescheiterten multilateralen Interventionen. Er fokussiert dabei primär auf die Interventionsmotive der westlichen Staaten und unterzieht die zeitgenössischen Rechtfertigungen dieser Missionen einem Lackmustest.

Weshalb ist eine solche Studie angezeigt? Zimmermann argumentiert mit einem »Wendepunkt in der internationalen Politik« und sieht die Ära umfangreicher westlicher Stabilisierungsoperationen für vorläufig gescheitert an (S. 9). Für diesen aus historischer Perspektive recht frühen Schluss führt der Autor einleitend das Abklingen der westlichen Intervention im syrischen Bürgerkrieg sowie den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine an. Trotzdem ist sich Zimmermann sicher, dass der bewaffnete Auslandeinsatz westlicher Streitkräfte nur temporär Geschichte ist. Diese These wird im prägnanten und empfehlenswerten, beinahe philosophischen Fazit des Buches erneut aufgegriffen und vertieft.

Doch zunächst wirft das Buch einen ungewöhnlich weiten Blick zurück und rekapituliert aus westlicher Perspektive die historischen Beweggründe für Auslandmissionen. Der Autor beginnt bei den religiös-politischen Rechtfertigungen der mittelalterlichen Kreuzzüge und hebt im Anschluss die Zunahme des staatlichen Primats während des Dreißigjährigen Krieges hervor. Dabei nimmt der Westfälische Friede eine entscheidende Rolle für das sich konstituierende staatliche Gewaltmonopol ein. Erst die europäischen Staatenbildung hat nach Zimmermann »eindeutige Kriterien für die Zugehörigkeit der Bevölkerung« geschaffen (S. 37). Damit konnte der Interventionsgedanke zunehmend national gedeutet und gerechtfertigt werden. Zimmermann gesteht ein, dass »über die Interventionsdiskurse in anderen [das heißt: außereuropäischen, M.B.] Gesellschaften zu wenig bekannt ist« (S. 27).

Selbst das Recht zu haben, die Form anderer politischer Gemeinwesen in gewaltsamen Auseinandersetzungen zu bestimmen, war ein zentraler Gedanke des frühen Interventionismus. Mit der Durchsetzung des Souveränitätsprinzips und der damit verbundenen Entwicklung eines vom Monarchen losgelösten Staatsbegriffs änderten sich die Rahmenbedingungen für die Legitimation militärischer Interventionen. Tyrannische Herrschaft, die in der Frühen Neuzeit noch das zentrale Kriterium für einen bewaffneten Eingriff von außen darstellte, konnte nun, da sich die staatliche Identität zunehmend vom Herrscher löste, viel schwerer als Rechtfertigung für eine Intervention herangezogen werden – insbesondere unter den Bedingungen einer an das Volk gebundenen Souveränität. Just diese Volkssouveränität wurde jedoch zum »Geburtshelfer« eines neuen militärischen Interventionsmusters (S. 42). Wie Zimmermann zeigt, manifestierten sich parallel zur Formulierung und realpolitischen Umsetzung des Souveränitätsgedankens Motive der Interventionsrechtfertigung, die diesem Gedanken widersprachen. Der Streit darüber, welche der gegensätzlichen Maximen Vorrang haben sollte, spitzte sich in der Frage der militärischen Auslandsinterventionen prototypisch zu. Schließlich hatte sich nach 1815 mit dem »Europäischen Konzert der Mächte« eine der erfolgreichsten Friedensordnungen der Geschichte etabliert. Angesichts dieser Errungenschaft stellte sich die Frage, welche Mittel erlaubt waren, um eine funktionierende internationale Friedensordnung zu schützen. Die Rechtfertigung von Interventionen unter dem Vorwand der internationalen Stabilität und der kollektiven Sicherheit wurde so zur zentralen Streitfrage in der europäischen Politik des 19. Jahrhunderts.

Auf der Basis von Sekundärliteratur und teilweise auch von Primärquellen zeichnet Zimmermann ein dichtes, wenngleich teilweise etwas sprunghaftes Bild. Das Zeitalter der Weltkriege wird thematisiert, noch stärker aber der Kalte Krieg und die Übergangszeit nach seinem Ende. Die zunehmende Zurückhaltung asiatischer Staaten gegenüber Stabilisierungsinterventionen und die ambivalente Haltung vieler afrikanischer Länder zu humanitären Interventionen hätten – parallel zum geopolitischen Aufstieg Asiens – maßgeblich dazu beigetragen, dass das Interesse an militärischen Interventionen in den letzten Jahren zurückgegangen sei. Dieses Abflauen des Interventionswillens markiert für den Autor eine neue Ära des »Anti-Interventionismus« (S. 170), die aktuell zumindest im Westen anhält. Diesbezüglich spricht Zimmermann allerdings von einer historischen »Wellenbewegung«, die durchaus reversibel sei (S. 458).

Im originellsten Teil seiner Studie richtet Zimmermann den Fokus auf die Interventionsdebatten in den USA, Frankreich und Deutschland. Hierbei wird erneut historisch ausgeholt: Im Falle der USA setzt der Autor mit dem Versenken der USS Maine im Hafen von Havanna ein, die allerdings im Jahr 1898 und nicht, wie irrtümlicherweise vermerkt, 1998 sank (S. 182). Geschickt wird die US-amerikanische Meistererzählung mit den Auslandeinsätzen der jungen Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert verknüpft. Diese Einsätze waren erstaunlicherweise immer wieder mit isolationistischen Tendenzen und einer »Ablehnung europäischer Interventionsansprüche« kompatibel (S. 193). Durch die Geschichte der USA ziehen sich unterschiedliche, teilweise ergänzende Legitimationsmuster für Interventionen: Humanitarismus, Antikommunismus, Friedenssicherung, die angebliche Förderung von Demokratie und Freiheit, Neokonservatismus sowie handfestere politische und ökonomische Motive. Hinzu kommen die Politik der Einflusssphären, die Rettung eigener Staatsangehöriger und nicht zuletzt die Terrorismusbekämpfung als Legitimationsmuster. Es ist vor allem diese lange Perspektive, die Zimmermanns beschlagenes Buch ausmacht und die sich auch durch die beiden weiteren Fallbeispiele verfolgen lässt.

Zunächst stehen dabei die Interventionen der wiedervereinigten Bundesrepublik nach 1990 im Zentrum. Ungleich stärker als im Fall der USA stellt der Autor dabei die historische Verantwortung der Bundesrepublik, ihren Beitrag zu globaler Sicherheit und Stabilität sowie die Frage der Bündnistreue ins Zentrum seiner Analyse. Deutsche Militäreinsätze waren gleichwohl innenpolitisch stark umstritten. Gegen Ende der 2000er-Jahre wandte sich Berlin zusehends gegen größere Truppenentsendungen. Das Abseitsstehen während des Irakkriegs 2003 könnte als Vorläufer dieser Entwicklung gedeutet werden. Dagegen wurden kleinere Einsätze forciert, etwa zur Minenräumung in Kambodscha, zur Friedensicherung im Libanon und in Mali oder zur Piratenbekämpfung im Golf von Aden.

Zimmermanns kürzestes Fallbeispiel, Frankreich, weist dagegen andere prävalente Interventionsmuster auf. Die »mission civilisatrice«und die französische »grandeur« führten zu einem ausgeprägten, wenngleich oft gescheiterten Sendungsbewusstsein, in Ansätzen vergleichbar mit der »manifest destiny« der USA. Eine weitere Parallele zu den USA besteht für Zimmermann darin, dass Frankreich seine Militärmissionen immer mit seiner Rolle in der Welt zu verknüpfen suchte. Auch aus diesem Grund intervenierten Nicolas Sarkozy in Libyen und François Hollande in Mali. Zimmerman schält am Beispiel Frankreich beklemmende Dilemmata der westlichen Interventionsentscheidungen heraus, die er häufig in einem Spannungsfeld von kolonialer Vergangenheit und globaler Verantwortung angesiedelt sieht.

Aus diesen vielleicht etwas willkürlich ausgewählten Fallstudien destilliert der Autor die eingangs genannte These einer neuen Ära des »Anti-Interventionismus« heraus. Mit Blick auf den Westen mag dies derzeit zutreffen. Trotzdem sieht sich der Leser in Anbetracht der russischen Intervention in der Ukraine sowie dem israelischen Eingreifen im nahen Ausland mit widersprüchlicher Evidenz konfrontiert. Zimmermann schließt diese Fälle mit seiner methodischen Fokussierung auf westliche Fallbeispiele explizit aus. Trotzdem sind sie für die Geschichte militärischer Auslandinterventionen wohl nicht ganz unbedeutend. Nicht ganz unbedeutend dürften in dieser Hinsicht aber auch die Interventionen von Staaten und nichtstaatlichen Akteuren im Globalen Süden gewesen sein, die in dieser Studie ebenfalls weitgehend auf der Strecke bleiben.

Doch zweifellos ist dem Autor zuzustimmen, wenn er abschließend festhält, dass es derzeit keine »belastbar stabile, über die nationalstaatlichen Grenzen hinausreichende Solidargemeinschaft mit einem klar definierten und intersubjektiv geteilten Wertesystem« gibt (S. 454). Gerade deshalb wird der »uneindeutige, umstrittene und widersprüchliche« Diskurs um Auslandmissionen irgendwann auch im Westen wieder aufflackern (S. 455). Zimmermanns Buch illustriert detailliert, wie solche Interventionsdebatten immer auch »Debatten über die eigene Gemeinschaft sind« (S. 458). Daran dürfte sich auch in Zukunft nur wenig ändern.

 

Zitierempfehlung

Marcel Berni, Rezension zu: Hubert Zimmermann, Militärische Missionen. Rechtfertigungen bewaffneter Auslandseinsätze in Geschichte und Gegenwart, Hamburger Edition, Hamburg 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82034.pdf> [10.12.2024].

Marco Swiniartzki, Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel. Sozialgeschichte einer Musikkultur in den langen 1980er Jahren

(Studien zur Popularmusik)

transcript | Bielefeld 2023 | 658 Seiten, kartoniert | 66,00 € | ISBN 978-3-8376-6941-1

rezensiert von

Tom Koltermann, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Rezension als pdf

Die harten Klänge des Heavy Metals treffen in der Wissenschaft schon seit längerem auf offene Ohren. Mit dem für sie charakteristischen zeitlichen Verzug gilt das mittlerweile auch für die deutschsprachige Geschichtswissenschaft.[1] In diese Entwicklung reiht sich Marco Swiniartzki mit seiner Habilitationsschrift an der Universität Jena ein. Indem er in dieser Studie das Verhältnis einer populärkulturellen Szene zum gesamtgesellschaftlichen Wandel vermisst, zielt er auf nicht weniger ab als eine Sozialgeschichte des Heavy Metals.

Swiniartzki hat für seine Arbeit einen ambitionierten geografischen Zuschnitt gewählt. Vergleichend untersucht er Heavy-Metal-Szenen in Europa anhand von Nordengland, dem Ruhrgebiet sowie Schweden und Norwegen. Gleichberechtigt dazu widmet er sich auch den Protagonist*innen des Metals in drei Regionen der USA: in Florida, in der San Francisco Bay Area sowie im Ballungsraum New York. Ausgehend von den Herkunftsorten bekannter Bands interpretiert er die Verbreitung des Heavy Metal als »Glokalisierung« – sprich: als Ausprägung lokaler Szenen bei gleichzeitiger Bezugnahme auf überregionale Trends. Durchweg überzeugend ist auch der zeitliche Zuschnitt der Arbeit auf die ›langen‹ 1980er-Jahre. Diese beginnen für ihn 1979 mit der »New Wave of British Heavy Metal« (NWOBHM) und enden mit den teilweise kriminellen Exzessen im norwegischen Black Metal in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre sowie dem sich abzeichnenden Wandel der Musikindustrie durch die Digitalisierung. Damit knüpft er an gängige Erzählungen über das Genre an, betont aber besonders stark, wie eng die Musik mit größeren gesellschaftlichen Prozessen verknüpft ist.

Das historiografische Anliegen des Autors an das Phänomen Heavy Metal lässt sich grob mit dem Begriff Entmystifizierung zusammenfassen. Unter Bezugnahme auf die aktuelle geschichtswissenschaftliche Popforschung rückt er populären Erzählungen der Metal-Szene zu Leibe.[2] Generell sticht er mit seiner Distanz zu den für den Heavy Metal typischen Authentizitätsdiskursen erfreulich aus der bisherigen Forschungsliteratur heraus. Swiniartzki hinterfragt konsequent Selbstdarstellungstechniken wie die Figur des »proud pariah« und schreibt gegen allzu simple Vorstellungen von der Entstehung musikalischer Genres als direkter Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen an. Dies bedeutet allerdings nicht, dass er die Produktionsbedingungen der Musik ignoriert.

Nach einem einleitenden Kapitel widmet sich der Autor in Kapitel zwei und drei mit einem klassisch sozialgeschichtlichen Ansatz den Auswirkungen, die der Wandel der Arbeitswelten in den von ihm untersuchten geografischen Räumen auf die Metal-Kultur hatte. Im vierten Kapitel geht es auf einer darunterliegenden Ebene um Bands als soziale Formationen. Im Anschluss werden die Spannungen und Überschneidungen zwischen dem Metal und den Punk-Szenen als einer nahezu zeitgleich entstandenen popmusikalischen Vergemeinschaftungsform vermessen. Danach stehen verschiedene Praktiken des Heavy Metals jenseits des Spielens von Instrumenten im Fokus, also etwa die Tape-Trading-Netzwerke oder das Gründen von Magazinen. Zum Abschluss widmet sich der Autor den Widersprüchlichkeiten der Kommerzialisierung in den auf Authentizität fixierten Metal-Szenen.

Das Buch belegt einmal mehr, dass für geschichtswissenschaftliche Studien über Popphänomene nicht unbedingt klassische Archivquellen nötig sind. Für die 1980er-Jahre scheint es kaum mehr lohnenswert, polizeiliche oder andere staatliche Maßnahmen gegen Popkultur zu verfolgen, da es diese Form der Repressionen nur noch selten gab. Stattdessen stützt sich Swiniartzki auf ein beeindruckend breites Reservoir aus Fanzines, Autobiografien und klassischen Musikmedien, aber auch auf zahlreiche selbstgeführte Interviews. Wie er zeigt, kann die geschichtswissenschaftliche Forschung auch über diese Wege zur Historisierung populärkultureller Phänomene beitragen. Ganz im Sinne des von ihm prominent hervorgehoben »Musicking«-Ansatzes von Christopher Small[3], interpretiert er die verschiedenen Praktiken in den Heavy Metal-Szenen als Arbeit und fördert über diesen Zugang viel Erhellendes zu Tage.

Seinen eigenen Anspruch an eine Sozialgeschichte des Heavy Metal kann Swiniartzki erfolgreich vor allem in Kapitel zwei und drei einlösen, wo er etwa belegt, dass selbst die NWOBHM nicht eindeutig ein Phänomen darbender Industriestädte war und die Musiker meist nicht aus der beruflichen Ausweglosigkeit heraus zu den Instrumenten griffen. Zudem war Metal ihm zufolge schon in den Anfängen kein reines Phänomen der Arbeiterklasse, sondern inkludierte auch die Mittelklassen. Trotzdem seien mit Nordengland und dem Ruhrgebiet zwei besonders prominente Metal-Regionen stark proletarisch geprägt gewesen. Er schlussfolgert, dass zwar nicht alle Beteiligten der frühen Metal-Szene aus der Arbeiterklasse kamen, aber proletarische Identitäten stets ein wichtiger kultureller Bezugspunkt des Metals blieben, der als popmusikalisches Genre von Beginn an auf eine (imaginierte) Vergangenheit bezogen war.

Sehr gelungen sind auch die späteren Abschnitte, in denen Swiniartzki mit Verve durch die verschiedenen Berufe und Funktionen in den Musikszenen führt und so grundlegende Dinge wie die Verträge zwischen Bands und Plattenlabels oder die Funktion von Manager*innen analysiert. Diese im Vergleich zum eigentlichen Sound eher trocken anmutenden Voraussetzungen von Popmusik werden in gängigen Erzählungen gerne ignoriert. Der Autor zeigt hingegen überzeugend, dass die klassische pophistorische Dichotomie von Major-Labels und Indie-Labels in der Realität nicht immer klar zu erkennen war. Die Zusammenarbeit von Bands mit Independent-Plattenfirmen bedeutete keineswegs Abwesenheit von kommerziellem Druck oder Schutz vor unlauteren Geschäftspraktiken. Ebenso kann Swiniartzki zeigen, dass sich die Ebenen von Produktion, Vermittlung und Konsumption der Musik zumindest im Metal kaum trennscharf voneinander abgrenzen lassen, da zahlreiche Szene-Angehörige zwischen den Ebenen hin- und herwechselten oder gar mehrere Funktionen gleichzeitig ausfüllten. Hier gibt Swiniartzki wertvolle Impulse für zukünftige popgeschichtliche Studien.

Den politischen Gehalt des Heavy Metals behandelt Swiniartzki ebenfalls sehr sensibel, indem er diesen weder aufbauscht noch herunterspielt. Die gelegentlichen Ausführungen zur Nutzung rechtsradikaler Symbole und Inhalte im »Hard’n’Heavy«-Genre werden allerdings erst am Ende des Buchs ausführlicher eingeordnet. Methodisch angelehnt an Andreas Reckwitz[4], zeigt er dort am Beispiel des norwegischen Black Metals durchaus überzeugend, wie die stete Abfolge von Distinktionsversuchen zum Türöffner für rechtsextreme Inhalte wurde. Die Darstellung dieser Eskalation, die sich in Mord und anderen Gewalttaten äußerte, ist dem Autor allerdings anderswo schon konziser gelungen.[5] Außerdem finden sich auch außerhalb Norwegens vereinzelt rechtsradikale Elemente im Metal. Bands wie »Wehrmacht«, die zeitweise sogar mit rassistischen Songtexten arbeiteten, werden von Swiniartzki zwar erwähnt, aber kaum eingeordnet.

Die Einbindung des Heavy Metals in größere gesellschaftliche Wandlungsprozesse gelingt Swiniartzki auch an anderen Stellen nicht vollends. Sozial nachteilige Folgen von individuellen Anpassungen an die Metal-Szenen, etwa Probleme durch das Tragen von langen Haaren am Arbeitsplatz, kommen in der Studie zu kurz. Auch seine Ausführungen zur Position von Frauen in Metal-Bands in Kapitel vier erreichen nicht die Tiefe des restlichen Buchs. So kann man Swiniartzki zwar keine großen thematischen Leerstellen vorwerfen, sondern eher seinen fast enzyklopädischen Ansatz, dem er auch auf über 600 Seiten kaum gerecht werden kann. Bei der Auswahl der zu verhandelnden Themen wäre weniger manchmal mehr gewesen. Gerade für weniger metal-affine Leser*innen dürfte es manchmal schwer sein, dem Buch zu folgen, da es einige Kenntnisse über die Musik voraussetzt. Hier hätte der Autor stellenweise mutiger sein und versuchen können, die Entwicklungsstufen der Musik etwas plastischer bzw. ›metallischer‹ darzustellen.

Diese Kritikpunkte sollen Swiniartzkis Forschungsleistung aber nicht schmälern. Ihm ist eine insgesamt sehr empfehlenswerte Darstellung gelungen, die historisch fundiert die Entwicklung des Heavy Metals erzählt – von einer Musik von Jugendlichen der 1970er-Jahre auf der Suche nach intensiven Erfahrungen in englischen »working men‘s clubs« hin zu einer Musik von nicht mehr ganz so jugendlichen Fans der Gegenwart, die intensive Erfahrungen auf Metal-Kreuzfahrten suchen. Überzeugend zeigt er auf, wie aus einem anfänglichen Jugendphänomen ein langfristiges Vergemeinschaftungsangebot wurde. Dem Buch ist daher ein breites Publikum zu wünschen – vielleicht ja auch in einer gekürzten und etwas pointierteren Fassung.

 

Zitierempfehlung

Tom Koltermann, Rezension zu: Marco Swiniartzki, Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel. Sozialgeschichte einer Musikkultur in den langen 1980er Jahren, transcript, Bielefeld 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82039.pdf> [10.12.2024].

 

[1] Vgl. exemplarisch Nikolai Okunew, Red Metal. Die Heavy-Metal-Subkultur der DDR, Berlin 2021.

[2] Vgl. Klaus Nathaus/Martin Rempe (Hrsg.), Musicking in Twentieth-Century Europe. A Handbook, Berlin 2021.

[3]Christopher Small, Musicking. The Meaning of Performing and Listening, Hanover/London 1998.

[4]Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2020.

[5] Vgl. Marco Swiniartzki, Szene-Eliten. Selbststilisierung, soziale Praxis und postmoderne Ästhetisierung am Beispiel des norwegischen Black Metals, in: Archiv für Sozialgeschichte 61, 2021, S. 445–469.

Rezensionsarchiv

Ella Müller, Die amerikanische Rechte und der Umweltschutz. Geschichte einer Radikalisierung

Hamburger Edition | Hamburg 2023 | 368 Seiten, gebunden | 40,00 € | ISBN 978-3-86854-382-7

rezensiert von

Michael Hochgeschwender, Ludwig-Maximilians-Universität München

Rezension als pdf

Die USA zu Beginn der 1970er-Jahre: Aus Anlass des ersten »Earth Day« 1972 bekennen sich Millionen von Amerikanern öffentlich und mit großer Begeisterung zum Umweltschutz. Im Kongress geht seit den 1960er-Jahren eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen zu diesem Thema mit denkbar umfassenden Mehrheiten aus Liberalen und Konservativen mühelos und nahezu ohne Diskussion durch. Auch der neue, konservative Präsident Richard M. Nixon von den Republikanern ist weder willens noch in der Lage, sich gegen diesen breiten, gesamtgesellschaftlichen Konsens von Politik, Gesellschaft, Judikative und Medien zu stellen. Also umarmt er den Gegner, den er nicht zu besiegen vermag. Eine Generation später, in den 1990er-Jahren, ist alles anders: Der Umweltschutz ist in den USA zur politischen Standortfrage geworden. Wer sich als konservativ sieht, geht oft so weit, beispielsweise die Tatsache des menschengemachten Klimawandels schlicht zu leugnen. Umweltschutz ist in dieser Sicht zum Charakteristikum liberal-progressiver, radikaler Gesellschaftsreform geworden, der man sich nicht minder radikal auf allen Ebenen, in Politik, Gesellschaft, Medien und in der Justiz entgegenstellen muss.

Diese Geschichte ist oft erzählt worden[1], aber in aller Regel nicht aus Sicht der konservativen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich ab etwa 1970 erst zaghaft und dann immer vehementer dem bald brüchig werdenden gesellschaftlichen Konsens in den USA entgegengestellt haben. Genau dieser dann doch merkwürdigen Lücke in der Historiografie zur Geschichte des Umweltschutzes nimmt sich Ella Müllers verdienstvolle Monographie an. Ihr gelingt dabei eine ungemein gut lesbare und nuanciert argumentierende Studie, die auf breiter Quellenbasis und in Kenntnis der vorhandenen Sekundärliteratur einsichtig macht, warum bestimmte Individuen und Gruppen sich im Kampf gegen den etablierten Umweltschutz allmählich radikalisierten, um dann vor allem ab den 1980er- und 1990er-Jahren von einer nunmehr gleichfalls radikalisierten, kultur- kämpferischen Republikanischen Partei eingesammelt und instrumentalisiert zu werden. Der Autorin gelingt es, diesen vielschichtigen und spannungsreichen Prozess präzise nachzuzeichnen und dabei weder in stereotype Schuldzuschreibungen gegenüber ›der Industrie‹, ›dem Kapital‹ oder ›den Konservativen‹ zu verfallen, noch den eigenen, pointiert liberal-progressiven Standpunkt aufzugeben. Diese empathische, auf Verstehen und Erkenntnisgewinn ohne besserwisserische Dogmatik angelegte Form der Geschichtsschreibung wird hier nachgerade meisterhaft zelebriert. Die Akteure werden jederzeit ernst genommen, selbst dort, wo sie, meist zu Recht, kritisiert werden.

Eine besondere Stärke des Buchs liegt in der Art, wie einzelne Vorfälle lebendig und quellennah beschrieben und analysiert werden. Das gelingt eindrucksvoll etwa für den Kampf der vormaligen Umweltaktivistin Dr. Dixy Lee Ray für die Atomkraft, in der sie, noch in den 1970er-Jahren ganz im szientistischen Denkstil der 1950er-Jahre befangen, einen universalen Ansatz zur Rettung von Umwelt und Klima zu erkennen glaubte. Da sich die Mehrheit der progressiven Umweltschutzbewegung aber seit dem Atomunfall im Kernkraftwerk Three Mile Island 1979 mehr und mehr von der Atomenergie abwandte, sah Ray sich zunehmend isoliert und wurde ihrerseits verbittert und radikaler, anfänglich komplett ohne das Zutun ökonomisch motivierter Interessengruppen, die überhaupt erst relativ spät als Akteure auftreten.

Vergleichbar war der Verlauf des Konfliktes in dem lange und erbittert geführte Kampf um die »Northern Spotted Owl«in den Bundesstaaten Oregon und Washington State in den 1970er- und 1980er-Jahren. Zu Beginn stellten sich vor allem kleine, aber sehr lebendige Gemeinden, die vom Holzabbau lebten, gegen die Große Koalition des etablierten Umweltschutzes. Weitere Holzgewinnung und der Erhalt des eigenen, traditionalen Lebensstils gegen den Schutz einer seltenen Eulenart, so lautete die Alternative. Schrittweise solidarisierte sich, selbstredend interessengeleitet, die Holzindustrie mit den Arbeitergemeinden um schließlich die Konservativen in der Politik nachzuziehen. In dieser neuen Koalition entstand dann das Feindbild des rechthaberischen, bürokratischen und bevormundenden Fanatikers aus einer akademisch-intellektualistisch verengten Umweltschutzbewegung, die – so die konservative Sicht seit etwa 1995 – in erster Linie kulturkämpferische Ziele auf dem Rücken der ›kleinen Leute‹ austrug. Hier zeichnete sich schon die auf Andrew Jackson zurückgehende, antielitäre Argumentationslinie eines Donald Trump am Horizont ab. Am Ende siegte die ökologisch-ökonomische Zweckrationalität, während die Holzarbeitergemeinschaften tatsächlich verschwanden. Ob allgemeiner Wirtschaftswandel, die Globalisierung oder die Ökologie daran die Schuld trugen, oder auch sämtliche Faktoren gemeinsam, sei dahingestellt, faktisch waren die Ängste der ›kleinen Leute‹ im Nordwesten nicht unberechtigt gewesen.

Diese und andere Fallbeispiele ordnet die Autorin gekonnt und mit großem Erkenntnisgewinn in die allgemeine Geschichte der Dialektik von »Environmentalism« und »Anti-Environmentalism« ein. Diese Kapitel sind berechtigterweise primär chronologisch angelegt. Müller achtet sorgfältig darauf, weltanschaulichen Wandel, parteipolitische Neuausrichtungen, Koalitionsbildungen und die Arbeit von Lobbyorganisationen auf beiden Seiten in einen Zusammenhang zu bringen und dabei persönliche, quasi erfahrungsgeschichtliche Ebenen mit der Geschichte des Strukturwandels zu verknüpfen. Auf diese Weise entsteht ein farbiges und facettenreiches Bild. Vollkommen berechtigt erscheint es, um 1994 einen Bruch anzusetzen. Zu dieser Zeit verschärfte sich der Kulturkampf in den USA merklich. Die Republikaner – erfolgsverwöhnt aus der Reagan-Ära und daher verblüfft über ihren Machtverlust nach der Wahl Bill Clintons 1992, in der Folge verärgert und in wachsendem Maße beherrscht von Konservativen aus der weißen Mittelklasse des tiefen Südens (ein Milieu, dass bis in die 1960er-Jahre zu den Demokraten gehalten hatte) – wandten sich im »Contract with America« von 1994 einer für die Partei gänzlich neuen, radikal antiliberalen Agenda zu, die durch ideologisch einseitige Radio- und TV-Sender wahlweise verbreitet und intensiviert oder komplett verdammt wurde. In diesem auf beiden Seiten vergifteten und hysterischen Diskurs verlor das Thema Umweltschutz jede noch verbliebene integrative Funktion und wurde zum reinen Agitationsinstrument.

An dieser Stelle ist ein kleiner Vorbehalt gegenüber den ansonsten rundum überzeugenden Argumenten der Autorin angebracht. Es will scheinen, als werde mit Blick auf die »Anti-Environmentalists« etwas zu oft und etwas zu unbegründet das Konzept Rassismus ins Feld geführt. Wieder und wieder unterstellt sie den Kritikern der progressiven Umweltschutz- bewegung, zumindest implizit einer rassistischen Motivation zu folgen, ohne dies jedoch im Detail und für sämtliche angeführten Fälle aus den Quellen belegen zu können. Gewiss gibt es solche Zusammenhänge, dennoch scheinen schnödes Profitstreben oder die soziokulturelle Differenz zwischen progressiven und konservativen Milieus die vorrangigen Handlungsmotivationen für den radikalisierten »Anti-Environmentalism« darzustellen, nicht ein scheinbar omnipräsenter Rassismus. Ansonsten aber handelt es sich zweifellos um ein Meisterwerk besonnener Geschichtsschreibung, dessen Lektüre unbedingt zu empfehlen ist.

 

Zitierempfehlung

Michael Hochgeschwender, Rezension zu: Ella Müller, Die amerikanische Rechte und der Umweltschutz. Geschichte einer Radikalisierung, Hamburger Edition, Hamburg 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82026.pdf> [28.10.2024].

 

[1] Vgl. etwa Patrick Allitt, A Climate of Crisis. America in the Age of Environmentalism, London 2014; Brian A. Drake, Loving Nature, Fearing the State. Environmentalism and Antigovernment Politics before Reagan, Seattle 2013.

Matthew D. Lassiter, The Suburban Crisis. White America and the War on Drugs

Princeton University Press | Princeton 2023 | 680 Seiten, Hardcover | $ 39,95 | ISBN 9780691177281

rezensiert von

Kristoff Kerl, Köln

Rezension als pdf

Auf einer Pressekonferenz, die am 17. Juni 1971 im Anschluss an ein Treffen führender Politiker*innen der beiden großen Parteien stattfand, erklärte der damalige US-Präsident Richard Nixon den Gebrauch von Substanzen, die unter dem inkohärenten Begriff ›Droge‹ rubriziert wurden, zum »public enemy number one«. Gegen diesen Feind, so Nixon, sei es notwendig eine »new, all-out offensive« zu starten, die global zu führen sei und auf einem parteiübergreifenden Konsens beruhen müsse.[1] Der sogenannte »War on Drugs«, der zeitlich freilich nicht auf die Präsidentschaft Richard Nixons beschränkt war, hat bereits die Aufmerksamkeit einiger Historiker*innen auf sich gezogen. Beforscht wurden etwa die US-amerikanische Drogenaußenpolitik, die rassistische Stoßrichtung der Drogenpolitik und der Beitrag des »War on Drugs« zur Formierung des »Carceral State«.[2] Diese thematischen Zusammenhänge spielen auch in der Studie »The Suburban Crisis« des Historikers Matthew D. Lassiter eine bedeutende Rolle. Darin untersucht Lassiter den »War on Drugs« in den USA von den 1950er-Jahren bis in die 1980er-Jahre, wobei im Epilog auch kursorisch die Drogenpolitik der anschließenden Dekaden bis zur Präsidentschaft von Joe Biden skizziert wird.

Lassiter verfolgt die These, dass die Drogenpolitik insgesamt von »reciprocal decriminalization of whiteness and criminalization of blackness and foreignness« gekennzeichnet war, »grounded in selectively deployed law enforcement and in the discursive framing of idealized suburban spaces and pathologized urbans slums and border towns« (S. 3). Zudem kann er eindrücklich zeigen, dass diese Politik tatsächlich das Resultat eines parteiübergreifenden Konsenses war, der sowohl liberale als auch konservative Politiker*innen umfasste und wesentlich aus einem Zusammenspiel lokaler, föderaler und bundesstaatlicher Akteure hervorging. Um diese Argumentationen zu unterfüttern, wertet Lassiter einen beeindruckend breiten Quellenkorpus aus, der unter anderem Presseartikel und TV-Beiträge, Polizei- und Gerichtsakten, Regierungsdokumente, Protokolle von Parlamentssitzungen und parlamentarischen Anhörungen sowie wissenschaftliche Studien beinhaltet. Der Autor nähert sich seinem Untersuchungsgegenstand anhand diverser Fallstudien, bei deren Analyse er auf methodische Ansätze aus der Kulturgeschichte, der Neuen Politikgeschichte und der Urban History zurückgreift.

»The Suburban Crisis« ist in sieben Kapitel gegliedert, denen ein kurzer Prolog vorangeht und ein ebenso kurzer Epilog folgt. Im ersten Kapitel »Pushers and Victims« untersucht Lassiter die diskursive Konstruktion einer vermeintlichen »white Teenage narcotics crisis« (S. 42) in den 1950er-Jahren. In diesem vergeschlechtlichten und rassifizierten Krisendiskurs wurde Cannabisgebrauch eng mit Heroinabhängigkeit verknüpft. Weißen jugendlichen Drogennutzer*innen in den Vorstädten wurde jegliche agency bei ihrem Drogenerwerb und Drogenkonsum abgesprochen. Vielmehr wurden sie als bloße Opfer rücksichtsloser und verrohter, nicht-weißer Drogendealer imaginiert. Um dieser vermeintlich von außen über die weißen Suburbs hereinbrechenden Bedrohung Herr zu werden, wurden im Verlauf der 1950er-Jahre drastische Verschärfungen der Drogengesetzgebung beschlossen und etwa Mindeststrafen für den Besitz von sowie den Handel mit Substanzen wie Cannabis und Heroin festgelegt.

Die Reaktionen auf die »delinquency crisis« (S. 120), die die weißen Vorstädte in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren vermeintlich erfasste, sowie die Krisennarrative, die sich um den Aufstieg einer psychedelischen Drogenkultur und die seit Mitte der 1960er-Jahre rasant ansteigende Zahl jugendlicher ›Ausreißer‹ rankten, bilden den Gegenstand des zweiten Kapitels »Suburban Rebels«. Laut Lassiter bildeten diese Krisennarrative eine Antwort auf das Scheitern der »utopian suburban solution« (S. 120), die ein behütetes Aufwachsen weißer Jugendlicher versprochen hatte. Strafverfolgungsbehörden und Sozialdienste reagierten auf die vermeintliche Delinquenzkrise mit einer Mischstrategie aus Überwachung, Bestrafung und Rehabilitation weißer Jugendlicher. Während weiße Jugendliche auf diesem Weg häufig vor rechtlichen Strafen bewahrt und stattdessen zur Teilnahme an therapeutischen Maßnahmen verpflichtet wurden, sah dieser Ansatz, den Lassiter als »punitive liberal« (S. 140) charakterisiert, lange Haftstrafen für Dealer*innen vor. Mit dem Aufstieg der psychedelischen Kultur gerieten schon bald allerdings verstärkt auch Jugendliche und junge Erwachsene aus der weißen, suburbanen Mittelschicht ins Visier polizeilicher Maßnahmen.

Die Bedeutungen, die Jugendliche und junge Erwachsene dem Drogenkonsum in den Jahren um 1970 verliehen, sowie die behördlichen Reaktionen auf diesen Konsum beleuchtet Lassiter im dritten Kapitel anhand von vier Fallstudien. Dabei kann er zeigen, dass in diesen Jahren der Drogenkonsum weißer junger Menschen sowohl von den Konsumierenden als auch von deren Eltern sowie von Expert*innen und Politiker*innen zunehmend unter Rückgriff auf das Paradigma des »generation gap« erklärt und damit – im Gegensatz zum Drogengebrauch nicht-weißer junger Menschen – eher in einen politischen als in einen kriminellen Rahmen gestellt wurde. Dies hatte Auswirkungen auf den polizeilichen und gerichtlichen Umgang mit den (weißen) Jugendlichen, die sich, anders als es die Figur des ›verderbenden Dealers‹ suggerierte, ihre Substanzen primär über Netzwerke von Bekannten organisierten und sie im Freundeskreis konsumierten. Zwar stieg die Zahl der wegen Drogenbesitz oder Drogenkonsum verhafteten Jugendlichen in den Vororten um 1970 rasant an, doch wurde der Großteil der gegen sie eingeleiteten Verfahren wieder eingestellt.

Zugleich kam es in den Jahren um 1970 zu einer Eskalation des bundesstaatlichen »War on Drugs«, durch die Cannabis zunehmend ins Zentrum der Drogenpolitik rückte. Im vierten Kapitel »Public Enemy Number One« beleuchtet Lassiter diesen Prozess. Obwohl Cannabiskonsum unter jungen Erwachsenen zu diesem Zeitpunkt weitgehend normalisiert war, bestand unter Politiker*innen weitgehend Konsens darüber, dass es zwar einer Reform der harschen Cannabisgesetze bedürfe, die Kriminalisierung des Besitzes von und des Handels mit dieser Substanz jedoch aufrechtzuerhalten sei. Neben dem fortdauernden Glauben, dass Cannabis als Einstiegsdroge zu Heroinkonsum führen würde, bildete die rassifizierte Angst, dass Cannabiskonsum zur Ausbildung eines »amotivational syndrome« führe und Teenager aus den Suburbs sowie weiße Studierende durch ihn vermeintliche »›ghetto‹ values and lifestyles« (S. 268) übernehmen würden, einen wichtigen Grund für diese Haltung.

Vor dem Hintergrund der rasant gestiegenen Zahl der Verhaftungen weißer Jugendlicher wegen Cannabisbesitz formierten sich in den frühen 1970er-Jahren aber auch Legalisierungskampagnen, getragen von Organisationen wie NORML und AMORPHIA, wie Lassiter im fünften Kapitel »Impossible Criminals« schildert. Im Verlauf der Dekade entwickelte sich daraus eine breite Graswurzelbewegung, auch wenn sie – abgesehen von einigen örtlichen Erfolgen wie beispielsweise der Entkriminalisierung von Cannabis in Oregon – mit ihrem Anliegen letztlich scheiterte. Ähnlich wie bei der Strafverfolgung spielte auch im Kontext der Legalisierungskampagnen »Whiteness« eine zentrale Rolle. So war die (implizit weiße) Figur des ›ansonsten gesetzestreuen‹ Jugendlichen von großer Bedeutung. Das Problem der Diskriminierung nicht-weißer Menschen im Umgang der Strafverfolgungsbehörden mit Verstößen gegen die Drogengesetze wurde dagegen auch von Befürworter*innen der Cannabislegalisierung nur sporadisch thematisiert. Vielmehr argumentierten sie oftmals, dass dieser Schritt es erst ermöglichen würde, gegen die Dealer ›harter‹ Drogen und gegen die ›Kriminellen‹ in den urbanen Zentren – sprich: gegen arme, häufig nicht-weiße Menschen – vorzugehen.

In Reaktion auf die wachsende Unterstützung für die Entkriminalisierung des Cannabisbesitzes und -konsums formierte sich in den späten 1970er-Jahren eine weitere Graswurzelbewegung: die sogenannte »Parentsˈ Movement«, die zunächst wesentlich von Eltern mit einem weißen, liberalen Hintergrund getragen wurde. Sie ist das Thema des sechsten Kapitels »Parent Power«. Organisationen wie PRIDE (Parentsˈ Resource Institute for Drug Education) und NFP (National Federation of Parents for Drug-Free Youth) entwickelten einen enormen Einfluss auf die Regierung von US-Präsident Jimmy Carter, die ihre anfängliche Befürwortung der Cannabis-Entkriminalisierung bald aufgab und stattdessen mit massiven Ressourcen die von der »Parentsˈ Movement« betriebene und auf eine vollständige Drogenabstinenz zielende »Zero-Tolerance«-Kampagne unterstützte. Während diese Kampagne insofern erfolgreich war, als dass der Anteil junger Menschen anstieg, die chronischen Cannabiskonsum als gefährlich einstuften, blieb die Einstellung zum gelegentlichen Konsum unberührt.

Der »War on Drugs«in der Ära von Ronald Reagan und die »Just Say No«-Kampagne der First Lady Nancy Reagan, bilden den Gegenstand des siebten und letzten Kapitels. Die Reagan-Regierung knüpfte maßgeblich an die Cannabis-Politik der späten Carter-Jahre an und setzte die Zusammenarbeit mit der sich zunehmend autoritär gebärdenden »Parentsˈ Movement«fort. Cannabis – noch immer als Einstiegsdroge dämonisiert – stand dabei weiterhin im Zentrum des Kampfes gegen Drogen, doch gewann ab den frühen 1980er-Jahren auch der Kampf gegen den sich ausbreitenden Kokainkonsum und seit 1986 insbesondere der gegen Crack an Bedeutung. So kam es 1986 unter Federführung der Demokratischen Partei im US-Kongress zur Verabschiedung des »Anti-Drug Abuse Act«, der die Mindeststrafen für »Schedule 1«-Substanzen – also Substanzen, denen ein hohes Missbrauchspotenzial und keinerlei medizinischer Nutzen zugeschrieben wurde – erhöhte und enorme rassistische Effekte hatte.

Matthew D. Lassiter hat mit »The Suburban Crisis« ein sehr lesenswertes Buch verfasst. Mit seinem Fokus darauf, wie die Sorge um das Wohl weißer Jugendlicher und Adoleszenter aus den Vororten die US-amerikanische Drogenpolitik beeinflusste, trägt es wesentlich zu einem besseren Verständnis bei, wie die miteinander verschränkten Kategorien von »race«, »class« und »gender« den politischen, polizeilichen und rechtlichen Umgang mit Drogengebrauch grundlegend beeinflussten. Auch kann Lassiter zeigen, dass die (implizite) Rassifizierung der Drogenpolitik weit ins liberale gesellschaftliche Lager ausstrahlte und sogar für die Politik von Organisationen wie Amorphia, in der auch linksradikale Akteure aktiv waren, von großer Bedeutung war. An manchen Stellen neigt das Buch zu Redundanzen. Außerdem wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Autor den roten Faden der Argumentation mitunter deutlicher herausgearbeitet hätte. Trotz dieser kleinen Kritikpunkte trägt das Buch jedoch deutlich zu einem besseren Verständnis des »War on Drugs«bei und ist somit nachdrücklich zur Lektüre zu empfehlen.

 

Zitierempfehlung

Kristoff Kerl, Rezension zu: Matthew D. Lassiter, The Suburban Crisis. White America and the War on Drugs, Princeton University Press, Princeton 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82027.pdf> [28.10.2024].

 

[1] Richard Nixon Foundation, Public Enemy Number One. A Pragmatic Approach to America’s Drug Problem, 29.6.2016, URL: <https://www.nixonfoundation.org/2016/06/26404/> [23.10.2024].

[2] Vgl. etwa Michelle Alexander, The New Jim Crow. Mass Incarceration in the Age of Colorblindness, New York 2010; Helena Barop, Mohnblumenkriege. Die globale Drogenpolitik der USA, 1950–1979, Göttingen 2021; Timo Bonengel, Riskante Substanzen. Der »War on Drugs« in den USA (1963–1992), Frankfurt am Main 2020; Kathleen J. Frydl, The Drug Wars in America 1940–1973, Cambridge 2013.

Nelson Lichtenstein/Judith Stein, A Fabulous Failure. The Clinton Presidency and the Transformation of American Capitalism

(Politics and Society in Modern America)

Princeton University Press | Princeton 2023 | 544 Seiten, Hardcover | $ 39,95 | ISBN 9780691245508

rezensiert von

Nikolas Dörr, Hochschule für Polizei Baden-Württemberg, Villingen-Schwenningen

Rezension als pdf

Der Titel verrät es bereits: »A Fabulous Failure« ist ein politisches Buch. Noch deutlicher macht es der Klappentext, der beinahe vorwurfsvoll mit »How the Clinton administration betrayed its progressive principles and capitulated to the right« überschrieben ist. Judith Stein, Historikerin an der City University of New York, begann die Vorbereitungen an dem Buch in Reaktion auf Donald Trumps Wahlsieg gegen die ehemalige First Lady Hillary Clinton im November 2016, verstarb allerdings im Mai 2017. Mit Nelson Lichtenstein von der University of California, Santa Barbara, führte ein renommierter Historiker mit Schwerpunkt Labor History das Projekt zu Ende.

Die Clinton-Ära von 1993 bis 2001 wird gemeinhin positiv assoziiert, wenn es um Wirtschaftskraft, Staatsfinanzen und Arbeitsmarkt geht. Kritisch betrachtet wird zumeist die moralpolitische Komponente von Bill Clintons Amtszeit, die sich im Kern um die sexuelle Affäre des Präsidenten mit der Praktikantin Monica Lewinsky, seiner anschließenden Lüge gegenüber der US-amerikanischen Öffentlichkeit und Justiz (»I did not have sexual relations with that woman«) und dem daraus resultierenden, gescheiterten Impeachment-Verfahren dreht. Lichtenstein und Stein vertreten jedoch eine andere Meinung. Aus linker Perspektive argumentieren sie, dass Clintons neoliberale Agenda massive Probleme verursacht habe, die größtenteils erst nach dem Ende seiner Amtszeit zutage getreten seien. In der zeithistorischen und politikwissenschaftlichen Forschung über die Person Clinton, seine Politik und seine Präsidentschaft stellt das Werk daher einen neuen Ansatz dar.[1]

Das Buch besteht aus vier großen Abschnitten. Langatmig erscheint der erste Teil, der minutiös Clintons Wandel von einem eher linken, von der 68er-Bewegung und auch der westeuropäischen Sozialdemokratie beeinflussten Jungpolitiker der Demokraten hin zum Gouverneur von Arkansas und schließlich zum 42. US-Präsidenten nachzeichnet. Dieser Teil seiner Biografie wurde bereits mehrfach thematisiert. Lichtenstein und Stein konzedieren, dass Clinton seine Amtszeit 1993 ursprünglich mit einer linksliberalen Agenda startete, dann aber nach den für die Demokraten katastrophalen Midterm elections 1994 einen Wandel hin zum Neoliberalismus inklusive Sozialstaatsabbau und verschärfter Kriminalitätsbekämpfung vollzog. Verwirrend ist, dass häufig nicht Clinton selbst, sondern bestimmte Mitglieder seiner Regierung und Berater, so zum Beispiel Robert Rubin, Larry Summers und Al Gore, und nicht zuletzt die Republikanische Partei als die Verantwortlichen für den (in den Augen der Autor*innen) neoliberalen Kurswechsel identifiziert werden. Vor allem die Republikaner hätten mit ihrer Mehrheit im US-Kongress, aber auch mit ihrer außerparlamentarischer Vetomacht, ab 1994 zahlreiche progressive Ansätze verhindert.

Kaum haltbar ist die Annahme von Lichtenstein und Stein, dass Clinton mit einem prononcierteren Linkskurs größere Mehrheiten gewonnen und die Demokratische Partei auch die Wahlen zum Repräsentantenhaus und zum Senat erfolgreich bestritten hätte. Die Autor*innen übersehen, dass Clinton als Demokrat seinerzeit die Ausnahme und nicht die Regel im höchsten Staatsamt der USA darstellte: Zwischen 1969 und 2008 wurden mit Clinton und Jimmy Carter nur zwei demokratische Präsidenten gewählt, die insgesamt zwölf Jahre regierten, während mit Richard Nixon, Gerald Ford, Ronald Reagan, George H. W. Bush und George W. Bush mehr als doppelt so lange republikanische, teils rechtskonservative Präsidenten an der Macht waren. Eine Mehrheit für eine progressivere Ausrichtung Clintons erscheint daher unrealistisch, was sich auch daran zeigt, dass Vorhaben wie die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung scheiterten und die Verschärfung der Waffengesetze sowie die teilweise Liberalisierung des Umgangs mit Homosexualität im Militär (»Don't Ask, Don't Tell«) als mitverantwortlich für die krachende Niederlage der Demokraten in den Midterm Elections von 1994 (»Republican Revolution«) gelten.Die meisten Wissenschaftler*innen sind vielmehr der Meinung, dass Clintons Agenda zu Beginn seiner Amtszeit zu links gewesen sei, als dass sie langfristig politische Mehrheiten hätte sichern können.[2] Clintons politischer Wandel hin zum Zentrismus wird daher überwiegend als notwendige Voraussetzung für seine Wiederwahl als Präsident im November 1996 angesehen. Auch lag der äußerst knappe Wahlsieg des neokonservativen Republikaners George W. Bush gegen Clintons Vizepräsidenten Al Gore bei den Präsidentschaftswahlen 2000 weniger an der wirtschaftsfreundlichen Politik der demokratischen Regierung, sondern vielmehr an der eingangs erwähnten, medial breit rezipierten und für Teile der US-Gesellschaft äußerst wichtigen moralpolitischen Bedeutung der Lewinsky-Affäre sowie einem geringen, aber im Hinblick auf den knappen Wahlausgang entscheidenden Abfluss linker Wählerstimmen an den grünen Kandidaten Ralph Nader.[3]

Für die Bundesrepublik Deutschland geht die zeithistorische Forschung inzwischen davon aus, dass die Mitte-Rechts-Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl die neoliberale Wende eher zaghaft einleitete und den Sozialstaat, trotz Kürzungen, nicht grundlegend umgestaltete.[4] Es war vielmehr die folgende Mitte-Links-Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, die ab 1998 diesen sozial-, wirtschafts-, finanz- und auch gesundheitspolitischen Wandel forcierte. Auch wenn die konservative Reagan-Administration in den Vereinigten Staaten und die Thatcher-Regierung in Großbritannien deutlich weiter gegangen waren als die christlich-liberale Koalition unter Kohl, intensivierten auch dort die Demokraten unter Clintons Führung bzw. die Labour Party mit Premierminister Tony Blair in der Regierung den vermeintlich neoliberalen Kurs. Der US-Präsident wirkte dabei international als Vorbild im Rahmen des »Dritten Weges«, der von zahlreichen sozialdemokratischen Parteien in den 1990er- und 2000er-Jahren aufgegriffen wurde. Diese Wirkung Clintons über die Landesgrenzen der USA hinaus kommt in dem Buch von Lichtenstein und Stein, das weitgehend auf die Innenpolitik und bilaterale Handelsbeziehungen konzentriert bleibt, zu kurz. Inwieweit die von den US-Demokraten (»New Democrats«) ausgehende und von Clinton massiv vorangetriebene Initiative des »Dritten Weges« ebenfalls »A Fabulous Failure« oder aber einen Erfolg darstellte, bleibt offen.

Stein und Lichtenstein zeigen auf, dass die Freihandelsabkommen der Clinton-Regierung zu einem Abbau von Arbeitsplätzen für gering Qualifizierte geführt haben. Mittelfristig entfernten sich diese Wählerinnen und Wähler von der Demokratischen Partei, die in der Arbeiterschaft und unteren Mittelschicht seit Roosevelts »New Deal« ihr Kernklientel gehabt hatte. Trumps Slogan »Make American great again« knüpft exakt an diese Enttäuschung über die Abwanderung von Arbeitsplätzen vor allem nach Asien und nach Lateinamerika an. Besonders das Zustandekommen der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) sehen die Autor*innen als Beleg einer neoliberal inspirierten Wirtschaftspolitik. Gleichzeitig zeigen sie keine überzeugende Alternative auf. Auch werden politische Reformen Clintons, die einer klassisch linken Politik zuzuordnen sind, so beispielsweise die Erhöhung des Mindestlohns 1996/97, von den Autor*innen unterbewertet.

Gelungen ist den Autor*innen die Beschreibung des Zeitgeists der 1990er-Jahre, wenn sie die Hoffnung Clintons beschreiben, dass sich mit Freihandel auch politische Freiheit durchsetzen würde. So setzte die Clinton-Regierung mit der Zustimmung zum Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) nicht nur auf eine ökonomische, sondern auch auf eine mittelfristige politische Liberalisierung der kommunistischen Diktatur. Ähnliche Erwartungen an das Russland Boris Jelzins zerschlugen sich bekanntlich ebenso und erscheinen im Rückblick als naiv. Zurecht fokussieren Lichtenstein und Stein auch auf die Aufhebung des »Glass-Steagall Act« unter Clinton, die eine deutliche Liberalisierung des Bankensektors zur Folge hatte und indirekt die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers 2008 mitverantwortete, die wiederum die Weltfinanzkrise der späten 2000er-Jahre auslöste. Die Geschichte der Deregulierung der Finanzmärkte in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren und deren Auswirkungen nicht nur für die USA wird in den kommenden Jahren ein Thema werden, dem sich die Historiker*innen widmen müssen.[5]

Eine stärker international vergleichende Perspektive hätte dem Buch gutgetan. Die Clinton-Regierung war nicht alleine mit der Herausforderung neuer Konkurrenzökonomien in einer globalisierten Weltwirtschaft. Das Problem der Abwanderung von Unternehmen in Staaten mit geringeren Arbeitslöhnen, weniger Arbeitsschutz und niedrigeren Sozialstandards traf alle westlichen Volkswirtschaften und löste für mindestens ein Jahrzehnt einen Wettlauf um die Reduktion staatlicher Sozialleistungen und intensivierte Deregulierungen aus, der erst mit der Weltfinanzkrise von 2008 endete.

Ein Vorteil der Studie ist, dass sie, durchaus provozierend, den Blick auf die langfristigen Folgen der Clintonschen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik richtet. Damit wird das vorherrschende Narrativ einer prosperierenden Ära von marktwirtschaftlichem Aufschwung, Demokratie und Frieden, die der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 mit der inzwischen ikonischen Formulierung des »End of History« umschrieb[6], mit gegenläufigen Entwicklungen wie der Durchsetzung von George W. Bushs neokonservativer Agenda, der Weltfinanzkrise und dem Aufstieg Donald Trumps kontrastiert, die erst nach dem Ende von Clintons Amtszeit auftraten. Wie der Titel vermuten lässt, werden Aspekte, die diesem Narrativ entgegenstehen, unterbelichtet oder uminterpretiert. Ob nicht doch die Schaffung von Arbeitsplätzen inklusive geringer Arbeitslosenquote, ein Rückgang der Bezieher*innen von Sozialhilfe, staatliche Haushaltsüberschüsse, kontinuierlich steigende Aktienkurse und ein imposantes Wirtschafts- wachstum von Vorteil für jede Gesellschaft sind, wird kaum thematisiert.

 

 

Zitierempfehlung

Nikolas Dörr, Rezension zu: Nelson Lichtenstein/Judith Stein, A Fabulous Failure. The Clinton Presidency and the Transformation of American Capitalism, Princeton University Press, Princeton 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82028.pdf> [28.10.2024].

 

[1] Vgl. für eine Kritik der Außen- und Sicherheitspolitik Clintons zuletzt Jeremy Kuzmarov, Warmonger. How Clinton’s Malign Foreign Policy Launched the US Trajectory from Bush II to Biden, Atlanta 2023.

[2] Vgl. Bruce F. Nesmith/Paul J. Quirk, Triangulation. Position and Leadership in Clinton's Domestic Policy, in: Michael Nelson/Barbara A. Perry/Russell L. Riley (Hrsg.), 42. Inside the Presidency of Bill Clinton, Ithaca/ London 2016, S. 46-76.

[3] Vgl.James Mann, George W. Bush. The 43rd President, 2001-2009, New York 2015, S. 35 ff.

[4] Vgl. Peter Beule, Auf dem Weg zur neoliberalen Wende? Die Marktdiskurse der deutschen Christdemo- kratie und der britischen Konservativen in den 1970er-Jahren, Düsseldorf 2019.

[5] Vgl. dazu bereits die Autobiografie von Robert Rubin, US-Finanzminister in der Clinton-Regierung: Robert E. Rubin/Jacob Weisberg, In an Uncertain World. Tough Choices from Wall Street to Washington, New York 2004; vgl. Robert Scheer, The Great American Stickup. How Reagan Republicans and Clinton Democrats Enriched Wall Street While Mugging Main Street, New York 2010.

[6]Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992.

Bernd Braun/Dirk Schumann (Hrsg.), Eine europäische »Generation Ebert«? Politische Sozialisation und sozialdemokratische Politik der »1870er«

(Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Bd. 20)

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2023 | 367 Seiten, gebunden | 50,00 € | ISBN 978-3-525-30235-4

rezensiert von

Jürgen Schmidt, Karl-Marx-Haus, Trier

Rezension als pdf

Das Buch über die »Generation Golf« von Florian Illies wurde im Jahr 2000 ein Bestseller. Das Buch über die »Generation Ebert« wird sich vermutlich kaum auf den Bestsellerlisten wiederfinden. Das liegt keineswegs an der Qualität, sondern an den völlig unterschiedlichen Formaten. Illiesˈ Buch war ein unterhaltsam geschriebenes Sachbuch, das spielerisch mit dem Generationenbegriff umging und den Jahrgängen, die in den 1980er-Jahren ihre Jugend verlebten, einen ironisch-kritischen Spiegel vorhielt. Das von Bernd Braun und Dirk Schumann herausgegebene Buch mit der Frage nach einer europäischen »Generation Ebert« macht sich hingegen daran, den Begriff der Generation analytisch nutzbar zu machen, um neue Perspektiven auf die Politik der in den 1870er-Jahren geborenen Sozialist*innen und Sozialdemokrat*innen zu erhalten.

Zentraler Referenzpunkt ist dabei der Soziologe Karl Mannheim, der 1928 mit seinem Aufsatz »Das Problem der Generationen« das entsprechende Rüstzeug bereitstellte.[1] Mannheim unterschied zwischen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheiten. Die Generationslagerung ist mehr oder weniger dem Zufall geschuldet, innerhalb eines gleichen historischen Abschnitts – nach Mannheims Worten »im selben historisch-sozialen Raume« – geboren zu sein. Der Generationszusammenhang war bereits spezifischer und setzte eine »Partizipation an gemeinsamen Schicksalen« (Mannheim) voraus. Eine Generationseinheit schließlich ist eine »gesellschaftlich wahrnehmbare Akteursgruppe grundsätzlich politischen Charakters« (Braun/Schumann, S. 10).

Während Braun und Schumann in ihrer Einleitung diesen Begriffsrahmen erläutern, misst Stefan Berger im folgenden Beitrag das Generationenkonzept an den europäischen Arbeiterbewegungen. Dabei kommen viele kritische und hinterfragende Punkte zum Vorschein. Ein prägendes (traumatisches) Erlebnis wie der Erste Weltkrieg erfasste keineswegs nur eine einzelne Generation. Das Generationenkonzept auch noch europäisch zu erweitern und nach einer europäischen Generation der Arbeiterführer à la Ebert zu suchen, mache das Vorhaben noch schwieriger. Verfolgung zum Beispiel habe die Sozialdemokratie in vielen Ländern erlitten, aber das sei national sehr unterschiedlich verlaufen und habe verschiedene Generationen ganz unterschiedlich geprägt. Berger kritisiert darüber hinaus den männlichen Charakter des Generationenkonzepts. Trotz dieser kritischen Sichtweise sieht Berger zwar auch europäisch verbindend wirkende Kontexte: den »Aufstieg einer Moderne mit ihrem technisch-naturwissenschaftlichen Fortschrittsparadigma« (S. 47), den Einschnitt des Ersten Weltkriegs, die Russische Revolution, den in weiten Teilen Europas zu beobachtenden Aufstieg der Arbeiterbewegungen, zählt Berger hierzu. Hier waren durchaus Chancen für einen Generationszusammenhang sozialistisch-sozialdemokratischer Führungspersonen gegeben. Doch dürfe ein solches Generationenbild, eine solche Generationeninterpretation nie statisch ausgerichtet sein. Wenn überhaupt, könne das Konzept nur durch »eine stärkere Pluriperspektivität auf Generationen in Verbindung mit einer Vielzahl von anderen Konzepten« (S. 49) überzeugen.

Zumindest was die nationalen Varianten betrifft, die der Sammelband anbietet, kann man in der Tat von einer Pluriperspektivität sprechen. Nicht nur die mittel- und westeuropäischen Länder werden herangezogen. Auch Südeuropa wird mit Länderstudien über Spanien, Italien und Griechenland beleuchtet. Osteuropa ist mit einer »russländischen Alterskohorte« (Felicitas Fischer von Weiktersthal, S. 257) Eberts vertreten. Die Analyse von Armeniens sozialistischer politischer Elite öffnet den Blick in Räume, die sonst eher selten im Fokus der Forschung stehen. Es ist überhaupt ein generelles Verdienst dieses Sammelbandes, dass die einzelnen Beiträge wichtige Informationen über die Entwicklung der Arbeiterbewegungen, ihr Führungspersonal, ihre ideologische Verortung und ihren Richtungswandel in ganz unterschiedlichen Ländern aus generationsspezifischer Perspektive zur Verfügung stellen.

Die Herangehensweise ist dabei in den einzelnen Beiträgen äußerst variabel. Sie reicht von eher einzelbiografischen Ansätzen wie im Beitrag von Jan Willem Stutje über Hendrik de Man als »Vordenker der ersten Generation des europäischen Sozialismus« (S. 173) bis hin zu einer kollektivbiografischen Analyse niederländischer Sozialisten bei Ad Knotter. Dank einer sehr guten Quellenbasis kann Knotter neben Führungsgruppen auch auf die Basis und ihre generationelle Lagerung blicken und so Unterschiede herausarbeiten. Als problematisch erwies sich in den Niederlanden etwa, dass sich das Machtgefüge zwischen Parteiführung und Basis mit generationellen Konflikten von ›alten‹, erfahrenen Traditionalisten und ›jungen‹ »radikalen oppositionellen Gruppierungen des linken Flügels« (S. 170) überlagerte. Ähnlich fasst Thomas Kroll die generationellen Spannungslinien innerhalb der Zweiten Internationale zusammen. Er sieht für die Auseinandersetzungen mit den ›Radikalen‹ wie zum Beispiel Rosa Luxemburg »durchaus den Charakter eines Generationenkonflikts« (S. 346). Inhaltlich aus dem Rahmen fällt ein Beitrag über deutsche und italienische Bischöfe, die in die Geburtskohorte Friedrich Eberts fallen. Antisozialismus war für diese Bischöfe »ein ausgeprägterer Zug als für jene der früheren Generationen«, konstatiert Francesco Tacchi (S. 237).

Dem überall hervortretenden männlichen Bias der Forschungsergebnisse des Bandes – wie auch des ursprünglichen Konzepts bei Mannheim – nimmt Felicitas Fischer von Weikersthal ein wenig von seiner Schärfe, da sie auf Grundlage von autobiografischen Texten von vier russischen Revolutionärinnen auch Frauen in den Blick nimmt. Fischer von Weikersthal kommt zu dem Ergebnis, dass diese Frauen und viele ihrer männlichen Genossen, die von ihrem Alter her der Generation Ebert zugerechnet werden können, viel eher über Charaktereigenschaften der »Generation Bebel« – Verzicht, Biederkeit, Aufopferung – verfügten.

Sehr viele Beiträger*innen konstatieren, dass in ihrer jeweiligen nationalen Forschungsliteratur der Begriff der Generation als Analyseinstrument keine Rolle spielt. Wenn überhaupt tauche er metaphorisch auf. Till Kössler kann für Spanien zeigen, dass zwar manche Autoren zur Charakterisierung der Arbeiterbewegung durchaus Generationen unterschieden. Jedoch sei das es in diesem Fall eher ein Argumentationsmuster, um jene »mittlere Generation«, die in Spanien am ehesten der Generation Eberts entsprach, zu diskreditieren. Diesem Narrativ zufolge hatte sich nach der heroischen Gründergeneration die mittlere Generation von der Arbeiterklasse entfernt und bei den Bürgerlich-Liberalen angebiedert. Erst die dritte Generation, geprägt durch die russischen Revolutionen, hatte aus dieser Sicht wieder an die Ursprünge angeknüpft und »an einer sozialistischen Umgestaltung Spaniens« gearbeitet (S. 239).

Im Gesamtbild wirkt der Versuch, eine »europäische ›Generation Ebert‹« herauszupräparieren, eher konstruiert. Die Herausgeber selbst kommen bereits in ihrer Einleitung zu dem Ergebnis, dass es »in einem pauschalisierenden, länderübergreifenden Sinn« eine solche Generation nicht gab (S. 25). Auch der Versuch der Herausgeber für jene Länder, »in denen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in Gewerkschafts- und Parteiform zumindest legal agieren durfte«, eine gemeinsame generationelle Erfahrung der »1870er« zu beschreiben, kann nicht voll überzeugen. »[A]nders als ihre Vorgänger« machten die »1870er« zwar nicht »die Erfahrung kriegerischer und revolutionärer Gewalt in jüngeren Jahren« (S. 25). Dafür machten sie diese Erfahrung aber im reiferen Alter mit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution, und diese Erfahrung verband sie gewissermaßen mit der ihnen nachfolgenden Generation. Selbst der ›Zufall‹ gemeinsamer Alterskohorten trägt nicht weiter, da in vielen Beiträgen des Bandes der Bezugspunkt in Form von Eberts Geburtsjahr 1871 teils bis in die 1850er- oder die 1880er-Jahre hinein geweitet wird, um überhaupt zu einer gemeinsamen Generationslagerung zu kommen.

Diese Unschärfe wird auch in der generellen Kritik an dem Generationenmodell von Karl Mannheim moniert. Durchaus ähnlich einem pauschalisierend verwendeten Klassenbegriff ist der Generationenansatz zu statisch, abstrahiert viel zu stark von Lebenswirklichkeiten, stellt einen Argumentationszusammenhang in den Vordergrund, während andere intervenierende Faktoren unberücksichtigt bleiben oder an den Rand gedrängt werden. Dass sich innerhalb einer Generation durch gemeinsame Erfahrungen und Alterszugehörigkeit Netzwerke, Freundschaften und Beziehungen leichter ausbilden können als zwischen divergierenden »Generationslagerungen«, steht außer Frage. Aber dies war eben nur ein Aspekt, der durch vielfältige weitere Faktoren – persönliche, kulturelle, gesellschaftliche und politische – ergänzt werden muss, um zu erfassen, wie diese Netzwerke überhaupt erst zum Tragen kommen konnten.

 

Zitierempfehlung

Jürgen Schmidt, Rezension zu: Bernd Braun/Dirk Schumann (Hrsg.), Eine europäische »Generation Ebert«? Politische Sozialisation und sozialdemokratische Politik der »1870er«, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82029.pdf> [28.10.2024].

 

[1]Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7, 1928, S. 157–185 und 309–330.

Melanie Wager, »Der Stürmer« und seine Leser. Ein analoges antisemitisches Netzwerk. Zur Geschichte und Propagandawirkung eines nationalsozialistischen Massenmediums

Metropol Verlag | Berlin 2023 | 537 Seiten, gebunden | 36,00 € | ISBN 978-3-86331-711-9

rezensiert von

Daniel Mühlenfeld, Mülheim an der Ruhr

Rezension als pdf

Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich um die überarbeitete und gekürzte Fassung einer 2020 an der Universität Erlangen-Nürnberg erfolgreich verteidigten Dissertation. Darin nähert sich Melanie Wager einem bekannten und historiografisch bereits intensiv bearbeiteten Thema[1] aus einer dezidiert neuen Perspektive, indem sie nach der Medienwirkung der antisemitischen NS-Wochenzeitung »Der Stürmer« fragt.

Das Ergebnis dieses Unterfangens – so viel sei vorausgeschickt – fällt ambivalent aus, was aber nicht zwingend der Autorin anzulasten ist. Denn diese zeigt sich der Problematik einer retrospektiven, historischen Medienwirkungsforschung von Anfang an bewusst. Im Hinblick auf die Leseerwartung ist es insofern eine unglückliche Entscheidung, dass der Arbeit im Unterschied zum Titel der eingereichten Fassung der Dissertation eine dritte Titelzeile hinzugefügt wurde, die explizit auf eine Untersuchung der »Propagandawirkung« der Zeitung abstellt. Der ursprüngliche Titel der Dissertation war dem Inhalt der Arbeit weit besser gerecht geworden: »Der Stürmer und seine Leser – Ein analoges (a-)soziales Netzwerk«. Denn tatsächlich behandelt Wagers Arbeit nicht die Medienwirkung des »Stürmer« als solche, sondern analysiert die spezifische Beziehung von Medium und Leserschaft, wobei insbesondere die mediale »Selbstermächtigung der Leserschaft« (S. 232) Beachtung findet.

Diesem eigentlichen thematischen Zuschnitt folgend, ist Wagers Buch in zwei thematische Abschnitte gegliedert, die zum einen das Medium »Der Stürmer« und zum anderen die Interaktion von Medium und Leserschaft in den Blick nehmen. Die Autorin arbeitet zunächst überzeugend die Entwicklung des typischen »Stürmer«-Stils als einer Text-Bild-Sprache heraus, die man wohl am treffendsten als antisemitisch-pornografischen Boulevard bezeichnen kann. Dabei geht Wager sowohl auf Text und Gestaltung als auch auf die Genese der retrospektiv stilbildenden Karikaturen ein. Ähnlich instruktiv sind die Ausführungen zu den Vertriebswegen der Zeitung, die teilweise unverhohlen erpresserisch auftrat, um Absatz und Auflage in die Höhe zu treiben. Auch die Erweiterung der publizistischen Angebotspalette in Form von Büchern, die »Stürmer«-Motive und -Stil aufnahmen und etwa gezielt Kinder adressierten, zeichnet die Autorin nach und macht damit deutlich, wie mit und um den »Stürmer« ein selbstreferenzieller Medienverbund entstand, der die Rezeptionserwartungen seiner Leserschaft nicht allein deshalb erfüllte, weil er auf bestehende Vorurteilsstrukturen aufsetzen konnte, sondern auch weil »Der Stürmer« wesentlich von seiner Leserschaft mitgestaltet wurde.

So lebte »Der Stürmer« insbesondere während der Jahre der NS-Herrschaft in hohem Maße von der aktiven Einbringung seiner Leserschaft, die das notorische Hetzblatt nicht zuletzt als Instrument zur sozialen Stigmatisierung von sich vermeintlich oder tatsächlich nonkonform verhaltenden Zeitgenossen nutzte. Ganz im Sinne des ursprünglichen Titels der Arbeit, der ja den »Stürmer« als ein »analoges (a-)soziales Netzwerk« charakterisiert hatte, spricht die Autorin hier von den Leserinnen und Lesern der Zeitung als »Content Providern«. So wurden etwa eingesendete Fotografien von Menschen, die trotz anders lautender Verhaltensaufforderungen in verfemten jüdischen Geschäften einkauften, nicht nur zur Sanktionierung des Fehlverhaltens selbst genutzt, sondern die teils sich daraus ergebenden schriftlichen Auseinandersetzungen zwischen Redaktion und inkriminierten Personen sorgten zugleich für eine Verfestigung des antisemitischen Wertekanons. Denn die kommunikative Aushandlung dieser Konflikte musste sich gezwungenermaßen auf beiden Seiten semantisch und argumentativ antisemitischer Sprachmuster bedienen, wenn sich die sich zur Wehr setzenden Personen nicht dem Vorwurf aussetzen wollten, aus grundlegenden politischen Beweggründen zu opponieren.

Dass mit einem solchen Framing jeglicher Kritik als Ausdruck grundsätzlicher Opposition zum NS-Regime nicht zu spaßen war, zeigen die Fälle von Kooperation zwischen dem »Stürmer« und offiziellen Sicherheitsorganen des NS-Staats, die das nichtamtliche Medium wiederholt mit Material aus polizeilichen Ermittlungen insbesondere zu Fällen sogenannter Rassenschande-Delikte versorgten. Eine weitere Dimension der aktiven Einbringung der Leserschaft war der durchweg aus lokalen Eigeninitiativen erwachsende Trend, sogenannte »Stürmer«-Kästen aufzustellen, in denen – je nach Größe – einzelne Inhalte oder die gesamte aktuelle Ausgabe der Zeitung öffentlich ausgestellt wurden. Insbesondere in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre berichtete das Blatt ausführlich und teils mit entsprechenden Fotografien über neu aufgestellte »Stürmer«-Kästen und deren jeweilige Stifter. Eindrücklich kann die Autorin anhand dieser beiden Interaktionsfelder zeigen, dass die Leserschaft des »Stürmer« und die Zeitung sich wechselseitig in ihrem antisemitischen Weltbild bestätigten. Dies ging so weit, dass die stilbildenden Karikaturen auf der Titelseite des Blatts ihrer eigentlichen medientheoretischen Funktion einer überzeichneten bildhaften Zuspitzung entkleidet und stattdessen von Machern wie Lesern der Zeitung nicht selten für reale Abbilder jüdischen Lebens genommen wurden.

Insofern vermag die Arbeit dort, wo sie sich konkret der Frage der Beziehung von Medium und Leserschaft widmet, durchaus zu überzeugen. Quellengrundlage dafür sind die zahlreichen Zuschriften, die den »Stürmer« aus der Leserschaft erreichten. Weniger überzeugend argumentiert das Buch dort, wo es – tatsächlich auch eher fragmentarisch – um Fragen einer allgemeinen Medienwirkung geht. Dafür, so die Autorin, fehle es an einschlägigen Quellen, etwa im Deutschen Tagebucharchiv (S. 297). Dem wäre entgegenzuhalten, dass die Frage, inwieweit die Inhalte des »Stürmer« eine propagandistische Wirkung entfaltet haben, nicht notwendigerweise voraussetzt, dass etwa Tagebuchschreiber explizit auf den »Stürmer« rekurrieren. Vielmehr wäre im Rahmen einer seriellen Betrachtung zu fragen gewesen, welche antisemitischen Motive und Narrative sich in Tagebüchern niedergeschlagen haben – und ob das Auftauchen dieser Inhalte in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Behandlung im »Stürmer« gebracht werden kann. Der äußerst knappe Rekurs anhand der edierten Tagebücher von Victor Klemperer, Joseph Goebbels und Hertha Nathorff beschreibt hingegen weniger die Medienwirkung des »Stürmer«, sondern eher die alltäglichen sozialen Auswirkungen der unstreitig ebenfalls wichtigen Prangerfunktion der Zeitung.

Auch die Ausführungen zum Urteil gegen den »Stürmer«-Herausgeber Julius Streicher im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess argumentieren eher konventionell: Das Urteil sei von der Existenz einer Propagandawirkung des »Stürmer« als Wegbereiter des Holocaust ausgegangen; letztlich sei es aber irrelevant, ob es eine entsprechende Medienwirkung gegeben habe, denn entscheidend sei vielmehr, dass es die erklärte Absicht Streichers und des »Stürmer« gewesen sei, eine entsprechende weltanschauliche Beihilfe zum Völkermord zu leisten (S. 79 u. S. 324). Dass die Verfasserin aus der reichhaltigen Literatur zum Nürnberger Prozess dann ausgerechnet und recht exklusiv die teils unverhohlen revisionistische Studie von Werner Maser – noch dazu in der Neuausgabe des rechtsextremen Verlags Antaios – bemüht, ist ein weiterer Kritikpunkt (S. 317).[2] Ähnliches gilt für die Ausführungen zum Charakter der Presse als Leitmedium im Nationalsozialismus (S. 350), denen zwar im Grundsatz zuzustimmen ist, wo aber der fehlende Verweis auf einen einschlägigen Aufsatz von Karl Christian Führer auffällt.[3]

Überzeugen kann die Arbeit hingegen zum Ende wieder dort, wo der diachrone Vergleich der Interaktionsmuster von Medium und Leserschaft mit der Wirkungsweise gegenwärtiger, digitaler sozialer Netzwerke eingelöst wird. Damit wird jedoch einmal mehr das Dilemma der veränderten Betitelung deutlich: Weil Titel und Inhalt in der publizierten Form eher diskrepant daherkommen, vermag die an sich durchaus lesenswerte und überzeugende Arbeit die geweckten inhaltlichen Erwartungen nicht vollumfänglich zu erfüllen. Das ist bedauerlich, weil es den Gesamteindruck der Arbeit unnötig schmälert.

 

Zitierempfehlung

Daniel Mühlenfeld, Rezension zu: Melanie Wager, »Der Stürmer« und seine Leser. Ein analoges antisemitisches Netzwerk. Zur Geschichte und Propagandawirkung eines nationalsozialistischen Massenmediums, Metropol Verlag, Berlin 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82030.pdf> [28.10.2024].

 

[1] Vgl. Kristina Becker, Die Mentalität der Tätergesellschaft. Argumentation und Antisemitismus in der NS-Zeitung »Der Stürmer«, Würzburg 2021; Daniel Roos, Julius Streicher und »Der Stürmer« 1923–1945, Paderborn 2014; Fred Hahn: Lieber Stürmer! Leserbriefe an das NS-Kampfblatt 1924 bis 1945, Stuttgart 1978.

[2]Werner Maser, Nürnberg. Tribunal der Sieger, Schnellroda 2021 (zuerst 1977).

[3]Karl Christian Führer, Die Tageszeitung als wichtigstes Massenmedium der nationalsozialistischen Gesellschaft, in: ZfG 55, 2007, S. 411-434.

Lena Rudeck, Vergnügen in Besatzungszeiten. Begegnungen in westalliierten Offiziers- und Soldatenclubs in Deutschland, 1945–1955

(Histoire, Bd. 207)

transcript | Bielefeld 2023 | 316 Seiten, kartoniert | 39,00 € | ISBN 978-3-8376-6622-9

reviewed by

Camilo Erlichman, Maastricht University

Rezension als pdf

Over the past decade, the Allied occupation of Germany has been the subject of a major historiographical rediscovery. While a previous generation of scholars often framed their research as a contribution to an understanding of the nascent Cold War or as an exploration of the »prehistory« of the two German states, recent work has shifted towards an analysis of the occupation as a subject in its own right. As part of this turn, the occupation is increasingly understood as involving a complex social relationship between the occupiers and the occupied, within which power relations were in a constant state of flux. This has encouraged the emergence of a range of new studies that concentrate on analysing the occupation ›from below‹, focusing on themes such as daily life, social interactions, and the gendered experience of occupation.[1]

Lena Rudeck’s innovative study on a significant, but hitherto entirely ignored subject is a very welcome addition to this growing body of work. Rudeck has had the good idea of exploring the many clubs established for Allied officers, soldiers, and service personnel in the three western zones of occupation. These clubs play a central role in cultural representations of the occupation period, most notably in film and literature, and were a central feature of contemporary public discourse, but have curiously never attracted much interest amongst historians. In filling this gap, Rudeck has produced a rare example of a comparative study of the three zones, something that most scholars of the occupation period have shied away from given the intricacies of mastering the unwieldy archival sources produced by each occupation machinery. This effort has paid off. Through her distinctive approach, Rudeck is able to demonstrate the significant differences that existed in the approach of the three western occupiers, thereby putting paid to the familiar notion that the British and French were simply replicas of the Americans.

The book provides a comprehensive survey of all aspects of the clubs between 1945 and 1955. Rudeck first traces the establishment of the clubs. As she shows, the clubs were devised as strategic tools to regulate the behaviour of the troops and exert a form of control over them. All three occupiers worried that their officers and soldiers would get bored during their spare time, and as a result would engage in unruly behaviour that could generate conflict with the local German population. In addition, when fraternisation rules were relaxed in the autumn of 1945, there was increasing fear about the relations between Allied male soldiers and German women, not least owing to rising rates of venereal disease (VD) and worries about the German populations’ resentment at the supposed ›immorality‹ of the occupiers. Concerns about the ways in which German pubs functioned as hot spots for criminal activities and as places in which soldiers could interact with prostitutes prompted a drive towards creating clubs that were more attractive than what was on offer elsewhere. The Allied clubs were therefore meant to provide officers and soldiers with a framework within which they could engage in heavily regulated leisure activities, while strengthening the internal cohesion of the troops, increasing troop discipline, and reinforcing the soldiers’ ties to their respective home countries. The idea, as Rudeck convincingly argues, was to create a »new normality during the state of exception« (p. 79) created by occupation.

Each occupying power, however, conceived their clubs in a distinctive manner. The American clubs were meant to strengthen the identification of American officers, soldiers, and occupation personnel with the United States as a nation, and the clubs consequently organised numerous cultural activities. The British clubs, by contrast, were luxurious ventures, offering special comfort and lavish access to food and drinks, providing members of the occupation with a high standard of living that exceeded that of most people in the United Kingdom. In many respects, their purpose was to motivate British personnel to remain in Germany. Finally, the French clubs were highly improvised structures that reflected the lack of financial resources in France, serving primarily as a tool to strengthen the social cohesion of individual military units.

Rudeck examines the people who worked in the clubs, focusing on the role of the American »hostesses«. These women had been carefully selected to serve the soldiers in the clubs, create an »American atmosphere« (p. 93), provide company to the men, and be available for friendly conversations. They were also important intermediaries between the guests and the Germans working in the clubs, such as most notably the kitchen staff, as well as the German entertainers and musicians who were hired to put on shows. As Rudeck shows, the occupiers were highly dependent on such German employees, not least because there was a shortage of non-German bands. In return, Germans who managed to land jobs in the clubs received numerous privileges, including good wages as well as access to food and alcohol. Occupation always entailed a high degree of interdependency between the occupiers and the occupied.

The book’s most innovative chapter provides an analysis of the mechanisms by which access to the clubs was restricted to specific Allied groups and to certain segments of the German population. Here, again, major differences between the three occupiers come to light. The American clubs differentiated strictly between officers, non-commissioned officers, and enlisted men. The Americans also enforced a rigid racial segregation, with separate clubs being set up for Afro-American soldiers, who were barred from white clubs even after the formal desegregation of the US military in July 1948. In the British Zone, the differentiation between ranks was gradually diluted during the occupation period, reflecting the increasing »civilianisation« of the occupation machinery. In the French Zone, finally, a strict separation between the ranks was maintained throughout the occupation, and the so-called »foyers« were linked directly to specific military units. As part of the racialised politics of the occupation, French colonial soldiers were segregated into separate clubs, the »cafés maures«.

The biggest headache for the occupiers in their attempt to exercise discipline over their troops was the simple fact that the male Allied personnel wanted to spend their leisure time with female company. As there were not enough women in the Allied services, the authorities allowed some German women entry to the clubs. In a particularly stimulating section, Rudeck provides a careful analysis of an American peculiarity: the introduction of so-called »social passes« to regulate access to the clubs. This clashed with the approach taken by the French, who generally prohibited the entry of Germans to the clubs until 1952, while the British initially only permitted Germans to attend specific events, and opened their clubs to all Germans only in 1950. The Americans, by contrast, started opening their clubs to selected Germans in 1947, who were issued a pass after an extensive vetting process that at times included an intrusive physical examination. Rudeck reconstructs in detail the sociological profile of the German women who applied for a pass and the criteria used in determining who should be admitted. This allows her to refute one of the most persistent popular myths about the clubs, namely that these were fora within which poor German working-class women prostituted themselves in exchange for food, stockings, and cigarettes, lending the clubs a reputation of immorality. By contrast, the archival evidence shows that the Americans carefully selected the women who received passes so that they conformed to a specific contemporary ideal of moral propriety. These were generally highly educated women who had an independent income and belonged to the local bourgeoisie. The result was the emergence of friendly and romantic relationships between the occupiers and the occupied, often giving rise to forms of longer-term intercultural exchange.

By studying an admirable variety of sources drawn from more than twenty archives, Rudeck succeeds in painting a highly differentiated picture of the clubs that leaves few questions unresolved. At times, however, this exhaustive approach also comes at a price, producing repetitions and occasionally an oversupply of detail that distracts from the central analytical issues. Similarly, despite its intended comparative approach, the book still privileges sources on the US Zone and has far more to say about the American clubs than about those in the British and French zones, which remain somewhat opaque. Finally, this study could have examined the clubs in occupied Germany more emphatically as part of a transnational history of soldiers' clubs during the Second World War and in the immediate post-war period. This would have allowed for a discussion of whether the case of the Allied occupation of Germany, which is typically treated in isolation, can be placed within a broader history of foreign rule in Europe in the mid-twentieth century.

None of this, however, should distract from the evident qualities of this important book. Rudeck has written the definitive study on the Allied clubs in occupied Germany, demonstrating the malleability and dynamism inherent to the social interactions between the occupiers and the occupied. Her story shows that beyond the drama of high politics one essential feature of military occupation in the mid-twentieth century was the experience of idleness. The need to alleviate such boredom and limit its potential for conflict, however, led to highly variegated experiences of daily life under occupation, which this book has succeeded in capturing in all their ambiguity.

 

Zitierempfehlung

Camilo Erlichman, Rezension zu: Lena Rudeck, Vergnügen in Besatzungszeiten. Begegnungen in westalliierten Offiziers- und Soldatenclubs in Deutschland, 1945–1955, transcript, Bielefeld 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82032.pdf> [28.10.2024].

 

[1] See e.g. Susan L. Carruthers, The Good Occupation. American Soldiers and the Hazards of Peace, Cambridge, Mass./London 2016; Camilo Erlichman/Christopher Knowles (eds.), Transforming Occupation in the Western Zones of Germany. Politics, Everyday Life and Social Interactions, 1945–55, London 2018; Samantha K. Knapton, Occupiers, Humanitarian Workers, and Polish Displaced Persons in British-Occupied Germany, London 2023.

Benedikt Sepp, Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961–1972

(Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 35)

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 352 Seiten, gebunden | 42,00 € | ISBN 978-3-8353-5324-4

rezensiert von

Moritz Neuffer, Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin

Rezension als pdf

Angesichts der Fülle an existierender Literatur zur studentischen Bewegung und antiautoritären Revolte der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik ist es kein leichtes Unterfangen, noch neue Erkenntnisse oder originelle Darstellungen zu ›1968‹ vorzulegen. Dafür sorgen nicht nur Beiträge aus der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung, sondern ebenso die Memoiren der Beteiligten, die ihre jeweils eigenen Schlüsse aus den Erfahrungen einer Zeit ziehen, in der auf politische Ambitionen und Euphorie nicht selten Ernüchterung folgte. Der Wandel vom Aufbruch der Bewegung über ihre dramatischen Höhepunkte bis zu ihrem Auseinanderbrechen bildet auch den Spannungsbogen von Benedikt Sepps Studie zur Geschichte der West-Berliner Linken zwischen 1961 und 1972, die auf seiner 2021 in Konstanz verteidigten Dissertationsschrift beruht. Genauer eingrenzbar ist ihr thematischer Fokus dabei auf den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und die dort geführten Theoriediskussionen über die politische Praxis der Bewegung – also darauf, was die Bewegung im Selbstverständnis ihrer Protagonist:innen in Wort und Tat in Bewegung hielt oder halten sollte.

Der Zugang zur Geschichte der bundesrepublikanischen Linken über die Historisierung von theoretischem Denken ist in den vergangenen Jahren verstärkt in den Blick der Forschung gerückt und auch von Zeitzeug:innen reflektiert worden.[1] Sepps originärer Zugang besteht darin, seine Darstellung konsequent entlang einer leitenden Problemstellung aufzuziehen, die sich als Problem des Zusammenhangs von Theorie und Praxis beziehungsweise der Aufhebung ihres Gegensatzes benennen lässt. Aus der Prämisse, dass die Einheit dieser Pole Ideal und Movens der Bewegung war, geht die Leitthese des Buches hervor: dass die permanente Notwendigkeit, Theorie und Praxis aufeinander zu beziehen, zugleich mit einer Dynamik der Radikalisierung einherging, die das Ende der Studentenbewegung und vor allem ihrer antiautoritären Phase beschleunigte.

Methodisch schlägt der Autor einen »praxeologischen« Zugang zu den Formen der Hervorbringung, der Kommunikation und der Bedeutungsaufladung von Theorie-Wissen im Umfeld des SDS vor.[2] Zeitlich setzt er in den Jahren 1960/61 mit dem Ausschluss des zu aufmüpfig gewordenen Studierendenverbands aus der SPD ein. Auch wenn dadurch die Vorgeschichte des Theorie-Praxis-Problems in der seit 1946 existierenden Organisation ausgeblendet wird, ist dies insofern plausibel, als sich der SDS mit der erzwungenen Loslösung von der Mutterpartei ein neues Selbstverständnis zulegen musste, das nicht anders als in Form von Theoriedebatten gewonnen werden konnte. Dem Topos, dass »Theoriearbeit« selbst eine Form politischer Praxis sei, kam in diesen Debatten eine besondere, die eigene Aktivität legitimierende Bedeutung zu. Deshalb erhalten die Leser:innen im ersten von insgesamt acht Kapiteln des Buches Einblick in die intellektuellen Selbstentwürfe und die Organisationsstruktur des unabhängigen SDS, dessen Arbeitskreise der Theoriearbeit als einem »Ensemble von Praktiken« (S. 71) mit didaktischem und wissenschaftlichen Anspruch breiten Raum gaben. Dass Theorie für die Beteiligten damals auch abseits der Plena eine lebensweltliche Bedeutung erhielt, kann der Autor an privaten, deshalb aber nicht weniger von theoretischem Sprechen durchzogenen Korrespondenzen aus den Nachlässen von SDS-Mitgliedern wie Reimut Reiche und Heide Berndt kenntlich machen.

Die weiteren Kapitel des Buches widmen sich auf zugängliche Weise Lagerkonflikten und Fraktionsbildungen innerhalb der studentischen Bewegung entlang des Theorie-Praxis-Problems. Ausdifferenzierungen fanden bereits 1963 in der in München gegründeten avantgardistischen Subversiven Aktion um Frank Böckelmann und Dieter Kunzelmann statt, was deshalb wichtig ist, weil hier die Berliner Studenten Rudi Dutschke und Bernd Rabehl noch vor ihrer Zeit im SDS mitwirkten. Aufgrund ihres »zitatologischen« Interesses für die Klassiker des Marxismus handelten sich die Letztgenannten jedoch nicht nur den Vorwurf ein, »fantasielose[r] Orthodoxie« zu frönen (S. 85), sondern auch, praxisferne Theoretiker zu sein – was in den Folgejahren im Streit unterschiedlicher Fraktionen zu einem ebenso vielseitig einsetzbaren Topos wurde wie der entgegengesetzte Vorwurf, die jeweils andere Seite würde blinde Praxis ohne theoretische Reflexion betreiben.

Die Entscheidung für den praxeologischen Ansatz impliziert bei Sepp eine Entscheidung gegen einen allzu detaillierten inhaltlichen Nachvollzug der jeweils relevanten Theorien. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Autor ohne Weiteres der retrospektiven Auffassung mancher Akteur:innen Recht gäbe, dass die mit so viel Elan gelesenen Texte letztlich austauschbar gewesen seien.[3] Vielmehr gelingt es ihm an entscheidenden Stellen, die Bedeutung theoretischer Richtungsentscheidungen wie der Bezugnahme auf antiimperialistische Ansätze oder den kritischen Marxismus der Zwischenkriegszeit aufzuzeigen. Mitunter hätte es sich dabei angeboten, die Theorie-Praxis-Diskussionen des SDS expliziter auf die lange Tradition eben solcher Debattenstränge in der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung zu beziehen – und damit möglicherweise auch eine stärkere wechselseitige Erhellung von praxeologischer und ideengeschichtlicher Sichtweise zu ermöglichen.

Die bereits im Titel als Fluchtlinie des Buches angezeigte Radikalisierungslogik wird vom Autor auch als zentraler Faktor für das Ende der antiautoritären Bewegung beschrieben. Dieses Ende ist in der Forschungsliteratur auf verschiedene Ereignisse wie das Attentat auf Dutschke im April oder die »Schlacht am Tegeler Weg« im November 1968 datiert worden. Bei Sepp ist es eine aus dem Ruder gelaufene Diskussionsveranstaltung mit Herbert Marcuse an der FU Berlin im Mai desselben Jahres, die die Frustration über das Ausbleiben politischer Wirksamkeit szenisch offenbarte: Dass Marcuse keine Angebote für eine konkrete politische Praxis bot, habe zu einer »sich in hektischer Betriebsamkeit entladende[n] Ratlosigkeit der Masse der Studierenden« (S. 184) geführt, die indirekt auch das Ende des SDS als theoretische Autorität anzeigte.

Hinsichtlich der Radikalisierungstendenzen deutet der Autor eine Linie an, die von der Enttäuschung über das Stocken der Bewegung letztlich auch in den Terrorismus führte, wobei diese Andeutung kaum ausgeführt wird. Dafür geht Sepp genauer auf die vielgescholtenen sogenannten K-Gruppen ein, die in seinem Buch nicht besser wegkommen als in vielen anderen Auseinandersetzungen mit den Enden von ›1968‹. Das das gesamte Buch durchziehende Theorie-Praxis-Problem wird in der Konkurrenz von ML-Gruppen, der KPD-AO und der »Projektgruppe Elektroindustrie – Proletarische Linke/Parteiinitiative« erneut in Form wechselseitiger Vorwürfe von vermeintlich praxisfernen Theoretiker:innen und theorielosen Praktiker:innen manifest. Sepp gelingt es indes, nicht nur eine Verfallsgeschichte zu erzählen, sondern auch das »Angebot« (S. 274) zu erfassen, das die auf die antiautoritäre Bewegung teils folgenden autoritären Gruppen ihren Mitgliedern machten. Überzeugend herausgearbeitet ist etwa, dass die Aktivität in einer kaderförmigen, streng regelgeleiteten Parteiaufbauorganisation eine »Entlastung des Individuums« durch strukturierte Anleitung bedeuten konnte (S. 283).

So lässt sich aus Sepps Studie viel über das erfahren, was mit Ron Eyerman und Andrew Jamison als »kognitive« Geschichte der antiautoritären Bewegung bezeichnet werden kann: nämlich eine Geschichte entlang ihrer eigenen Begriffe von Theorie und Praxis, die für ihr politisches Selbstverständnis wie für ihre Verlaufsgeschichte gewichtige Faktoren sind.[4] Aus einem solchen immanenten Zugriff ergibt sich dabei fast zwangsläufig, dass die Bewegung in gewisser Weise für sich isoliert erscheint und sozial- wie kulturgeschichtliche Kontexte, die ihren Aufstieg und ihr Ende mitprägten, weniger im Fokus stehen. Mit den K-Gruppen konzentriert sich der Autor am Ende seiner Untersuchung zudem zwar auf wichtige Sammelbecken der Bewegung nach 1968, hätte aber durchaus auch andere Wege aus dem SDS in den Blick nehmen können. Dazu gehört insbesondere die Frauenbewegung, die spätestens 1968 mit der Gründung des »Aktionsrates zur Befreiung der Frauen« eigene, feministische Antworten auf das Theorie-Praxis-Problem gab. Deren eingehendere Thematisierung könnte womöglich ein Gegenbild zu der maskulinen »Verhärtung« (S. 194) in den K-Gruppen anbieten.

Was die Quellen der Studie betrifft, ist positiv hervorzuheben, dass Sepp nicht nur Schriftdokumente und Zeitzeugeninterviews, sondern etwa auch Tonbandaufnahmen zeitgenössischer Diskussionsveranstaltungen auswertet. Ebenso gelingt es ihm, durch die Auswertung von Sitzungsprotokollen stimmungsvolle Einblicke in Abläufe und Dynamiken zu geben. Doch Sepps Studie sticht nicht nur durch die Vielfalt und Multimedialität der zeitgenössischen Dokumente heraus, sondern auch durch die Einbeziehung umfangreicher Erinnerungsliteratur. An einigen Stellen wäre es dabei hilfreich gewesen, das autobiografische Material stärker hinsichtlich der Kontexte und Motivlagen zu problematisieren, aus denen heraus die Zeitzeug:innen ihre Erfahrungen erzählend verarbeitet haben. Dennoch ist es Sepp anzurechnen, dass er eine Studie vorgelegt hat, die es – gut recherchiert, klar argumentierend und zudem sehr lesbar – erlaubt, in Absetzung von den mannigfachen Ausdeutungen und erzählerischen Überformungen, die seit ›1968‹ den Blick auf ›1968‹ bestimmt haben, durch die Konzentration auf das intellektuelle und politische Selbstverständnis der Bewegung wesentliche Bedingungen der Selbstkonstitution der antiautoritären Revolte in actu nachzuvollziehen.

 

Zitierempfehlung

Moritz Neuffer, Rezension zu: Benedikt Sepp, Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961–1972, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82031.pdf> [28.10.2024].

 

[1] Vgl. aus der Forschungsliteratur Morten Paul, Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg, Leipzig 2022; David Bebnowski, Kämpfe mit Marx. Neue Linke und akademischer Marxismus in den Zeitschriften »Das Argument« und »PROKLA« 1959–1976, Göttingen 2021; Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015; für die Memoirenliteratur vgl. Helmut Lethen, Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen, Berlin 2020.

[2] Der praxeologische Zugang wurde in die Bewegungshistoriografie prominent von Sven Reichardt eingeführt, der auch die vorliegende Dissertation betreut hat; vgl. Sven Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial. Geschichte 22 (2007) 3, S. 43-65.

[3] Vgl. Helmut Lethen, Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht, Göttingen 2012, S. 104.

[4]Ron Eyerman/Andrew Jamison, Social Movements. A Cognitive Approach, Pennsylvania State University Park 1991.

Josef D. Blotz, Denkmäler für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft am Beispiel des 20. Juli 1944

(Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 83)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2024 | 314 Seiten, gebunden | 39,95 € | ISBN 9783111380513

rezensiert von

Michael Schneider, Kalenborn

Rezension als pdf

Das vorliegende Buch bietet eine umfassende Bestandaufnahme und mehrschichtige Analyse sowie eine exemplarische Bildpräsentation von Denkmälern für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland. Die Studie ist als Dissertation an der Technischen Universität Cottbus-Senftenberg entstanden. Da ihr Autor Josef D. Blotz Generalmajor a.D. des Heeres der Bundeswehr ist und ihre Publikation in den »Beiträgen zur Militärgeschichte« zum Gedenken anlässlich des 80. Jahrestags des Attentats vom 20. Juli 1944 erfolgte, wie in einem Vorwort Sven Lange, Oberst und Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, erläutert, kann man die Studie wohl selbst als Bestandteil der Erinnerungsarbeit der Bundeswehr verstehen.

Die in mehr als 280 Orten erfassten über 1.100 Denkmäler werden von Blotz zunächst nach ihrer regionalen Verteilung gruppiert. Dabei zeigt sich, schaut man auf die Verteilung der Denkmäler über die einzelnen Bundesländer, ein deutliches Übergewicht in Süddeutschland. Setzt man die Anzahl der Denkmäler jedoch ins Verhältnis zur Einwohnerzahl des jeweiligen Bundeslandes, so relativiert sich dieser Befund ein wenig – ohne sich freilich grundsätzlich zu verändern.

Sodann beschreibt Blotz die verschiedenen Phasen der Entstehungszeit der Denkmäler. Schon während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft waren einzelne Denkmäler entstanden, errichtet zumeist von den Familien oder von Freunden, mit denen an Verstorbene erinnert wurde, ohne allerdings deren Widerstand, Haft und Ermordung zu erwähnen. Bei den in der Zeit von 1945 bis 1948/49 vereinzelt errichteten Denkmälern zeigte sich eine Tendenz, das Gedenken an die Widerstandskämpfer und -kämpferinnen parteipolitisch zu instrumentalisieren. Dabei ging es nicht nur um Konflikte zwischen SPD und CDU, sondern früh zeichnete sich ab, dass der Widerstand von Kommunisten und Kommunistinnen aus der Gedenkkultur in den drei Westzonen weitgehend ausgeschlossen wurde, während er in der Sowjetischen Besatzungszone eindeutig den Vorrang gegenüber dem anderer Gruppen des Widerstands genoss. Dass die Zahl der Denkmäler zu dieser Zeit insgesamt recht niedrig war, wird von Blotz darauf zurückgeführt, dass zum einen das Verhältnis zum Widerstand in weiten Kreisen der Bevölkerung ungeklärt war und dass Denkmäler vielfach nicht nur als eine Würdigung der Opfer, sondern auch als Vorwurf an die Adresse derjenigen verstanden wurden, die die Diktatur ohne Widerstand hingenommen hatten. Zum anderen gibt der Autor zu bedenken, dass in jener Zeit unter dem Druck von Niederlage, Flucht, Vertreibung und Not die Sorge um das tägliche Überleben vorherrschte. In einer dritten Phase ist für die Bundesrepublik Deutschland in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren eine deutliche Zunahme der Denkmalsaktivitäten zu verzeichnen. Nach einem Rückgang in den 1970er-Jahren zeigte sich dann in den folgenden Jahrzehnten ein steiler Anstieg.

Der Autor gruppiert die Widerstandsdenkmäler wie folgt: Denkmäler für Studenten und Jugendliche, für Christen, für Kommunisten, für Einzelpersonen und für Angehörige der Gruppen des 20. Juli 1944. Zwar stimmen die Konjunkturverläufe der Denkmalseinrichtung für die unterschiedlichen Gruppen des Widerstandes in etwa überein, doch das Niveau ist höchst unterschiedlich. Den stärksten Anstieg hatten seit den 1980er-Jahren die Denkmäler zur Erinnerung an das Attentat vom 20. Juli 1944, an den Widerstand einzelner Personen (»stille Helden und Heldinnen«) und an den Widerstand von Kommunisten und Kommunistinnen zu verzeichnen. Nur am Rande sei angemerkt: Vielleicht hätten auch die Denkmäler für Aktivisten und Aktivistinnen des Widerstands aus den nichtkommunistischen Zweigen der Arbeiterbewegung als eine eigene Gruppe präsentiert werden können.

Gesondert betrachtet werden sodann die Denkmäler zum Widerstand von Frauen. Hier zeigte sich in den letzten Jahrzehnten eine kräftige Steigerung der Denkmalsaktivität. Wurden in den Jahrzehnten von 1949 bis 1979 insgesamt elf Denkmäler für Frauen errichtet, so stieg deren Zahl seither von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sprunghaft an: von 18 in den Jahren von 1980 bis 1989 auf 54 in den Jahren von 2010 bis 2020. Die inhaltliche Ausrichtung der Denkmäler folgte damit den Ergebnissen der jüngeren Forschung, die erwiesen hat, dass Frauen »in allen Phasen des Nationalsozialismus, in allen Kategorien und mit vollem Risiko aktiv und wie (ihre) Männer von allen Konsequenzen betroffen [waren]: Berufsverbot, Gefängnis, Konzentrationslager, Sippenhaft, Folter, Ermordung.« (S. 73) Auch der »Widerstand von Christen« wird gesondert beleuchtet, wobei herausgearbeitet wird, dass es sich nicht um den Widerstand der Kirche als Institution, sondern um den Widerstand von Einzelpersonen aus christlicher Verantwortung gehandelt hat. Deren Widerstand wurde mit überaus vielfältigen Denkmälern gewürdigt, von Büsten, Gedenktafeln, Kirchenfenstern, Reliquienschreinen und Grabstätten bis hin zu Stolpersteinen. Auch die Benennung von Kirchen oder Gemeindehäusern und Bildungsstätten nach Persönlichkeiten des Widerstandes gehört hierher. Schließlich werden auch »ephemere Denkmäler«, also Denkmäler, die nur für eine bestimmte Zeit bestanden, in den Blick genommen.

In einem Exkurs wird die Denkmalskultur in der DDR betrachtet. Errichtet oftmals aufgrund der Initiative der Staatspartei oder von staatlichen Institutionen, dienten die Denkmäler vor allem der Erinnerung an den kommunistischen Widerstand. Erst in den letzten Jahren vor dem Ende der DDR zeichnete sich eine Auffächerung der Erinnerungslandschaft ab, in der nun auch der Widerstand des 20. Juli 1944 und der Widerstand von einzelnen Christen und Christinnen gewürdigt wurde. Dass es sich bei der Erinnerungskultur in der DDR um ein lohnendes Forschungsthema handelt, das wegen seines Umfangs und seiner methodischen Probleme eine eigene Untersuchung verlangt, wird von Blotz angemerkt. Entsprechendes gilt im Übrigen für die in einem weiteren Exkurs skizzierten Denkmäler zum deutschen Widerstand im Ausland.

Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der Erfassung und Analyse der Denkmäler zur Erinnerung an den 20. Juli 1944. Dabei werden Persönlichkeits- und Ereignisdenkmäler unterschieden; zudem wird beleuchtet, von wem die Initiative zur Errichtung des Denkmals jeweils ausging und an welchen Standorten es errichtet wurde. Außerdem werden die unterschiedlichen Formen der Denkmäler – von der Plastik über das Ehrengrab und die Gedenktafel bis zum Stolperstein – vorgestellt. Auch der Wandel der Inschriften – von der schlichten Namens- und Datennennung hin zur detaillierten historischen Einordnung – wird nachgezeichnet. Dass auch der »Widerstand gegen den Widerstand« Erwähnung findet, weist darauf hin, dass die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus sich keineswegs ohne Hindernisse durchgesetzt hat. Dokumentiert werden zahlreiche Fälle von Vandalismus (mutwillige Beschädigung oder Zerstörung) und Entfernung (etwa bei Abriss eines Gebäudes oder durch Diebstahl). Hervorzuheben ist, dass im Anhang der Untersuchung fast 50 Personen aus dem Umfeld des Attentats vom 20. Juli 1944 aufgelistet werden, deren Wirken bisher noch nicht durch ein Denkmal gewürdigt worden ist.

Die gesonderte Analyse des Themas »Die Bundeswehr und ihre Denkmäler für den 20. Juli 1944« folgt der Komplexität dieses speziellen Problembereichs, hat die Bundeswehr doch jahrelang um die Klärung ihres Traditionsverständnisses, speziell ihres Verhältnisses zur Wehrmacht und eben auch zum Widerstand, gerungen. Im Anhang werden nicht nur Dokumente zum Bekenntnis der Bundeswehr zum Widerstand vom 20. Juli 1944 präsentiert, sondern auch die nach Widerstandskämpfern benannten Kasernen der Bundeswehr und deren Denkmalbestand sowie die Inschriften der Stauffenberg-Denkmäler dokumentiert.

Eine Betrachtung der Widerstandsdenkmäler in Bildungseinrichtungen rundet die Studie ab. Auch hier zeigt sich die Dominanz des Gedenkens an den Widerstand vom 20. Juli 1944. Bildungseinrichtungen sind, wie Blotz herausarbeitet, ein besonders geeigneter Ort, um die Wirkung von Denkmälern zu gewährleisten; denn Denkmäler sprechen ja in den meisten Fällen keineswegs allein aus sich heraus, sondern sie bedürfen der Erläuterung und Kontextualisierung, die insbesondere in der Praxis der politischen Bildungsarbeit geleistet werden kann.

Mit seiner umfassenden Erfassung der Denkmäler erreicht Blotz in der Tat sein selbst formuliertes Ziel, »eine wesentliche Voraussetzung für die Beschreibung, Zustandsbestimmung, Erhaltung und wissenschaftliche Erforschung, letztlich also für die Erhaltung der Denkmalwerte« zu schaffen (S. 254). Und zuzustimmen ist seinem Resümee, demzufolge die »bis heute anhaltende Lebendigkeit der Denkmalsetzungen für den Widerstand zeigt, dass es auf diesem Feld keinen Schlussstrich unter Erinnerung und Mahnung gibt und nach dem Willen einer mehr und mehr diversifizierten Initiatoren-Community auch nicht geben soll.« (S. 255f.) Erwähnt sei schließlich sein Hinweis auf die aktuelle Bedeutung der Denkmäler: »Denkmäler können zu wichtigen Elementen eines Lernprozesses werden, besonders in Zeiten der missbräuchlichen Berufung auf das Recht auf Widerstand und die Instrumentalisierung des Widerstandes gegen das NS-Regime durch Extremisten.« (S. 259) Mit seiner Arbeit leistet Blotz also einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der deutschen Erinnerungskultur. Dabei bietet er nicht nur eine präzise und facettenreiche Bilanz der Denkmalskultur zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur, insbesondere zum Attentat vom 20. Juli 1944; sondern er markiert auch die Fehlstellen in der Erinnerungskultur und in der Forschung zu deren Geschichte, was hoffentlich weitere Studien, zum Beispiel zur Erinnerungskultur in der DDR, anregt.

 

Zitierempfehlung

Michael Schneider, Rezension zu: Josef D. Blotz, Denkmäler für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft am Beispiel des 20. Juli 1944, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82033.pdf> [28.10.2024].

Peter Brandt/Detlef Lehnert, Eine kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie

J.H.W. Dietz Nachf. | Bonn 2023 | 244 Seiten, Broschur | 20,00 € | ISBN 978-3-8012-0646-8

rezensiert von

Stefan Berger, Ruhr-Universität Bochum

Rezension als pdf

Der Aufstieg mächtiger Arbeiterorganisationen in Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zeigt, wie viele Arbeiterinnen und Arbeiter zunehmend Widerstand gegen die Ausbeutungspraktiken formulierten, denen sie im Industriekapitalismus begegneten. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) wurde schon vor 1914 zur größten und erfolgreichsten Arbeiterpartei der Welt - mit mehr als einer Million Einzelmitgliedern, engen Verbindungen zu den wachsenden sozialdemokratischen Gewerkschaften und einem breiten Netz von Kultureinrichtungen, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten von der Wiege bis zur Bahre begleiteten. Bei der letzten Reichstagswahl vor dem Ersten Weltkrieg wurde sie 1912 mit Abstand die stärkste Fraktion im deutschen Reichstag und errang mehr als ein Drittel aller Parlamentssitze. Die Hoffnungen des internationalen Sozialismus ruhten sehr stark auf einem Sieg der deutschen Sozialdemokratie in einem der fortschrittlichsten kapitalistischen Industrieländer der Welt. Bei all dieser Prominenz ist es nicht verwunderlich, dass die SPD seit langem die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf sich zieht. An Parteigeschichten über die SPD herrscht kein Mangel.[1]

Peter Brandt und Detlef Lehnert haben eine weitere »kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie« vorgelegt. Wie unterscheidet sie sich von anderen Publikationen zu diesem Thema? Auf 244 Seiten und in sechzehn Kapiteln gibt sie dem Leser einen hochkompetenten, flüssig geschriebenen und informativen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen der Sozialdemokratie seit den ersten Arbeitervereinigungen in den 1830er-Jahren und der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) im Jahr 1863 – das Datum, das noch heute als offizielles Gründungsdatum der SPD gefeiert wird. Die verschiedenen Spaltungen, Reformen, Umbenennungen, Parteiprogramme sowie organisatorischen und ideologischen Entwicklungen werden ebenso kompetent geschildert wie die Unterdrückung der Partei durch die Sozialistengesetze zwischen 1878 und 1890. Der Aufstieg der Partei im wilhelminischen Deutschland und die »Revisionismusdebatte«, ausgelöst durch Eduard Bernsteins Thesen über den evolutionären statt revolutionären Charakter des Sozialismus, werden vorgestellt.

Brandt und Lehnert haben keine hagiografische Darstellung vorgelegt, sondern behalten durchgehend eine kritische Perspektive auf ihren Gegenstand bei, was besonders deutlich wird bei der Schilderung der Unterstützung der SPD für die kaiserlichen deutschen Kriegsanstrengungen 1914, der Spaltung der Partei 1916 und ihrer Positionierung in der deutschen Revolution zwischen 1918 und 1920. Führenden Sozialdemokraten in der Weimarer Republik, insbesondere Friedrich Ebert, wird vorgeworfen, dass sie keine Führungsstärke besaßen oder als Führungspersönlichkeiten höchst fragwürdige Entscheidungen trafen. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die Geschichte der Partei in den Jahren der »Bonner Republik« sowie in der »Berliner Republik« nach der Wiedervereinigung 1990 werden kenntnisreich erörtert. Das Buch endet mit der aktuellen SPD-geführten Koalition unter Bundeskanzler Olaf Scholz, bringt den Leser also bis in die Gegenwart. Das Schicksal der SPD in der DDR wird nur sehr kurz in Kapitel 9 behandelt, das sich ansonsten auf die Anfangsjahre der Bundesrepublik konzentriert. Das ist schade, denn sowohl die ostdeutschen Sozialdemokraten als auch die DDR selbst bleiben damit in dieser typisch westdeutschen Geschichte auf der Strecke. Auch wenn die Vereinigung von Sozialdemokratie und Kommunismus zur Sozialistischen Einheitspartei 1946 unter Zwang erfolgte, arbeiteten nicht wenige Sozialdemokraten auch in der neuen Partei mit. Andere dissidente Sozialdemokraten waren in der DDR in der Opposition aktiv und gründeten dort schließlich 1989 eine neue Sozialdemokratische Partei. Es wäre interessant gewesen, mehr über ihre Geschichte zwischen 1946 und 1989 zu erfahren.

Der Historiker Brandt, Sohn des früheren SPD-Kanzlers Willy Brandt, und der Politikwissenschaftler Lehnert waren beide langjährig Mitglieder der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand. Sie haben dem Band einen narrativen Zusammenhalt gegeben, indem sie alle Kapitel um das Thema »Demokratie« gruppieren. In Anlehnung an Willy Brandts Motto »Mehr Demokratie wagen« aus seiner Antrittsrede als Bundeskanzler im Jahr 1969 sehen sie die SPD als zentralen Akteur der Demokratie in der deutschen Geschichte. Damit folgen sie anderen Historikern der Linken in Europa, die in der Demokratie das zentrale Merkmal der Linken sahen.[2] Demokratie ist jedoch ein notorisch schlüpfriger Begriff. Es sind ganze Bibliotheken geschrieben worden, um zu definieren, was Demokratie in historisch spezifischen Situationen tatsächlich bedeutet. Was Brandt und Lehnert im Auge haben, ist vor allem die politische Demokratie. Hier war die SPD im Deutschen Kaiserreich in der Tat ein entschiedener Verfechter der weiteren Demokratisierung des autoritären kaiserlichen Staates. Allerdings hat die Partei nie viel Energie darauf verwendet, detailliert darzulegen, wie der von ihr angestrebte »Volksstaat« aussehen sollte und insbesondere in welchem Verhältnis die parlamentarische Demokratie zu Formen direkter Demokratie stehen sollte. Die unterschiedlichen Positionen der Sozialdemokraten in der deutschen Revolution von 1918 bis 1920 hatten eine ihrer Ursachen in den unterschiedlichen Vorstellungen von Demokratie, die in der revolutionären Situation dieser Jahre in den Vordergrund traten. Ein stärkeres Bekenntnis zu parlamentarischen Formen der Demokratie entwickelte sich erst in der Zeit des Exils während der NS-Diktatur, insbesondere bei denjenigen Sozialdemokraten, die in Großbritannien und den USA im Exil lebten.

In den Jahren der Bundesrepublik wurde das sozialdemokratische Engagement für die Demokratie zu einem der stärksten Bollwerke dieser Republik. Wenn Brandt von »mehr Demokratie wagen« sprach, hatte er allerdings die Demokratisierung aller Lebenswelten in der Gesellschaft im Sinn, und hier gibt es zweifellos auch heute in der Bundesrepublik noch viel zu tun. Was die Wirtschaftsdemokratie betrifft, so hat das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung den arbeitenden Menschen erhebliche Fortschritte gebracht und es wird im In- und Ausland als Erfolgsgeschichte gepriesen. In den letzten dreißig Jahren sind die Gewerkschaften jedoch schwächer geworden und einige Unternehmer betreiben offen eine gewerkschaftsfeindliche Politik, die das geschätzte Modell des rheinischen Kapitalismus untergräbt. Die betriebliche Mitbestimmung wurde von Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich des 70. Jahrestages des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2022 als zur »DNA unserer sozialen Marktwirtschaft« gehörend gepriesen[3], aber diese Aussage ist nicht unumstritten. Darüber hinaus gibt es viele Bereiche der Gesellschaft, in denen demokratische Verfahren verbessert werden könnten, zum Beispiel an Schulen und Hochschulen, in Unternehmen, im öffentlichen Dienst und nicht zuletzt in Familien und zwischen den Geschlechtern.

Die Fokussierung auf die politische Demokratie im besprochenen Band lenkt zudem von der schlichten Tatsache ab, dass die SPD über weite Teile ihrer Geschichte für eine Ablehnung des Kapitalismus und für alternative Wirtschaftssysteme stand, die mehr sozialen Ausgleich und soziale Gerechtigkeit bringen sollten. Der Kapitalismus als fortwährende Herausforderung an die Demokratie und die anhaltenden sozialen Ungerechtigkeiten, die durch das vorherrschende Wirtschaftssystem in Deutschland und der Welt reproduziert werden, wären ein weiteres mögliches Organisationszentrum, um das herum die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie erzählt werden könnte.[4] Aber insgesamt legen Brandt und Lehnert mit diesem Band eine sehr lesbare und solide recherchierte kurze Geschichte der SPD vor, die vor allem für diejenigen, die sich einen ersten Überblick zu diesem Thema verschaffen wollen, sehr hilfreich sein wird.

 

Zitierempfehlung

Stefan Berger, Rezension zu: Peter Brandt/Detlef Lehnert, eine kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82024.pdf> [8.10.2024].

 

[1] Der Verfasser dieser Rezension hat selbst einen Beitrag zu diesem Genre geleistet. Vgl. Stefan Berger, Social Democracy and the Working Class in Nineteenth and Twentieth Century Germany, Harlow 2000.

[2] Vgl. etwa Geoff Eley, Forging Democracy. The History of the Left in Europe 1850–2000, Oxford 2002.

[3]Olaf Scholz, »Die Mitbestimmung gehört zur DNA unserer sozialen Marktwirtschaft« (Rede anlässlich des Festaktes zum 70. Jubiläum des Betriebsverfassungsgesetzes am 7. November 2022 in Berlin), in: URL <https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/70-jahre-betriebsverfassungsgesetz-2140348> [1.10.2024].

[4] Vgl. Ralf Hoffrogge, Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich. Von den Anfängen bis 1914, Stuttgart 2017.

Stefan Eich, Die Währung der Politik. Eine politische Ideengeschichte des Geldes

(aus dem Englischen von Felix Kurz)

Hamburger Edition | Hamburg 2023 | 392 Seiten, gebunden | 40,00 € | ISBN 978-3-86854-376-6

rezensiert von

Frederike Schotters, Universität Tübingen

Rezension als pdf

1974 erhielten zwei Ökonomen den Wirtschaftsnobelpreis. Ihre wirtschafts- und geldpolitischen Vorstellungen hätten kaum gegensätzlicher sein können. Einer der beiden Preisträger, Friedrich August Hayek, machte eine politische Steuerung des Geldes für die Inflation und das Scheitern des Bretton-Wood-Systems Anfang der 1970er-Jahre verantwortlich. Er plädierte für eine vollständige Privatisierung der Währung. Der zweite Preisträger, Gunnar Myrdal, zog andere Lehren aus der Inflation. Anstatt die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zugunsten eines liberalisierten Kapitalismus aufzugeben, plädierte er für dessen Internationalisierung, um weltweit einen gerechten Zugang zu sozialer Sicherheit zu gewährleisten. Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems eröffnete also offenbar einen Möglichkeitsraum, die internationale Geldordnung grundsätzlich neu zu verhandeln.

Stefan Eich, Assistant Professor of Government an der Georgetown University in Washington, D.C., arbeitet in seiner Dissertation sorgfältig die historischen Dimensionen dieser beiden gegensätzlichen Visionen heraus.[1] Zugleich zeigt er, wie sich nach dem Ende von Bretton-Woods Ansätze einer neuen Weltwährungsordnung durchsetzen konnten, die – orientiert an Disziplin und Preisstabilität – den Zielen Hayeks näherkam als denen von Myrdal. Eichs Diagnose nach den währungspolitischen Turbulenzen in Folge der Finanzkrise von 2008 und der Corona-Pandemie: Wir leben in einem »labilen Interregnum« (S. 19), einer Phase rivalisierender Ideen, die der Konstituierung einer neuen Geldordnung vorausgehe. Eichs Buch liest sich als ein Versuch, dieser Neuverhandlung Schwung zu verleihen. Hinter seiner eher abstrakten Frage, wie die politische Theorie zur Demokratisierung der »monetären Gewalt« (S. 18) beitragen könne, steht insofern ein normatives und politisches, auf die Gegenwart gerichtetes Erkenntnisinteresse.

Eichs Studie an der Schnittstelle von Politik- und Geschichtswissenschaft ist – so viel sei vorweggenommen – eine inspirierende Lektüre. Eich startet bei der Ausgangsbeobachtung, dass der politische Charakter des Geldes selten sichtbar sei. Geld sei aber keineswegs apolitisch. Vielmehr sei die Entpolitisierung des Geldes ein Taschenspielertrick – eine politische Strategie, die in Wahrheit eine Entdemokratisierung des Geldes verschleiere. Eichs Ziel ist es, die Bedeutung von Demokratie und Gerechtigkeit in der Geldordnung auszuloten. Seine politische Ideengeschichte des Geldes seziert in sechs chronologischen Kapiteln sehr sorgfältig geldtheoretische Ansätze von Aristoteles, John Locke, Johann Gottlieb Fichte, Karl Marx, John Maynard Keynes sowie verschiedene Ansätze der unmittelbaren Nachkriegszeit und der 1980er- und 1990er-Jahre.

Jedes Kapitel beginnt mit der Geschichte einer geldpolitischen Krise, auf die die theoretischen Entwürfe der Protagonisten gleichsam als Antwort verstanden werden können. Gewinnbringend zeigt Eich, in welchen theoretischen Traditionen die untersuchten Schriften standen und gegen welche alternativen Entwürfe sie jeweils gerichtet waren. So wird beispielsweise Marx‘ Aussparung der Politik des Geldes in »Das Kapital« erst verständlich, wenn man das Werk als Replik und Kritik an Pierre-Joseph Proudhon liest. Darstellerisch ist das sehr gelungen. Häufig werden die Gedankengänge von Marx, Keynes, Hayek und Co. als Dialog mit anderen Theoretikern dargestellt, auf die sie sich bezogen oder an denen sie sich (teils sehr polemisch und unterhaltsam) abarbeiteten.

Aristoteles dient Eich zu Beginn als »Fundament [s]einer genealogischen Untersuchung« (S. 273). Bei ihm tritt der politische Charakter des Geldes deutlich hervor: Aristoteles betonte den konventionellen Charakter des Geldes und begriff es analog zu Recht und öffentlicher Rede als essenzielle Institution des Zusammenlebens. Im Anschluss analysiert Eich drei frühmoderne Antworten auf das vom Geld aufgeworfene politische Problem. Im Zuge der englischen Münzkrise von 1695 entwickelte John Locke seine geldpolitischen Vorschläge. Um dem Geld Stabilität zu verleihen, sollte die Regierung den Geldwert, also die Metalldeckung des Geldes, nicht mehr politisch beeinflussen dürfen. Sein Vorschlag, der eine umfassende Wende zur üblichen Regierungspraxis darstellte, prägte das Geldverständnis folgender Generationen. Der Erfolg seiner Theorie führte dazu, dass der politische Charakter des Geldes unkenntlich wurde. Während Locke also die Ermessenspielräume des Souveräns einschränkte, galt Johann Gottlieb Fichte Geld als Ausdruck der Souveränität. Als im Zuge der durch die Koalitionskriege ausgelösten Geldkrise von 1797 die Bank of England zeitweise die Konvertibilität von Banknoten in Gold aufgab, habe Fichte, so Eich, »die radikalste und hellsichtigste Erörterung der Möglichkeiten von Fiatgeld« (S. 140) geliefert. Geld wurde für ihn zum reinen Zeichen, einzig gedeckt durch ein staatliches Versprechen – Kredit. Fichtes utopisches Modell einer nationalen Abschottung vom Außenhandel mittels politisch stabilisierter Fiatwährung fand allerdings keine Verwirklichung. Karl Marx kam nach der Bankenpanik von 1857 letztlich zu dem Schluss, dass jeder Versuch, die Natur des Geldes mittels Gesetze zu gestalten, vergeblich sei. Für ihn waren Warenproduktion und Geld im Kapitalismus zwei Seiten einer Medaille, jede Reform des Geldsystems hielt er für nutzlos, solange die Herrschaft des Kapitals nicht überwunden sei. Marx lehnte also Politik auf Grundlage von Geldreformen ab. Spiegelbildlich zu Locke wurde die Politik des Geldes fortan auch auf der Linken ignoriert.

Nachdem 1931 in der Weltwirtschaftskrise der Goldstandard endgültig aufgegeben worden war, band John Maynard Keynes die Steuerung des Geldes an den Anspruch sozialer Gerechtigkeit und forderte eine Konstitutionalisierung der Währung. Eine internationale Zentralbank und eine supranational gesteuerte globale Reservewährung sollten zugleich die Versöhnung von Welthandel und einzelstaatlicher Hegemonie ermöglichen. Die schließlich in Bretton Woods geschaffene Nachkriegsordnung blieb jedoch hinter zentralen Anliegen von Keynes zurück. Wie offen nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods die Situation zunächst für Alternativen zu dem sich durchsetzenden Neoliberalismus war, zeigt neben den zu Beginn genannten Vorstellungen von Hayek und Myrdal etwa auch die deutlich radikalere Vision der Arusha-Initiative von 1980. Die Teilnehmer*innen der Nord-Süd Konferenz »The International Monetary System and the New International Order« beharrten auf dem politischen Charakter des Geldes und prangerten das bestehende System als Werkzeug asymmetrischer Machtstrukturen an. Hinter ihrer Forderung nach einer demokratischen Reform der Währungsordnung stand insofern auch das postkoloniale Anliegen einer Dekolonisation der Weltwirtschaft. Folgt man Eich, so war es vor allem die Politik der Inflationsbekämpfung in den 1970er- und 1980er-Jahren, die den nach dem Ende von Bretton-Woods eröffneten Möglichkeitsraum rasch wieder eingeschränkte. Der Staat geriet durch die Krisen jener Jahre unter erheblichen Legitimationsdruck, weil er Eingriffe, die de facto auf eine Inkaufnahme steigender Arbeitslosigkeit hinausliefen, schwer rechtfertigen konnte. Die Inflationsbekämpfung führte so letztlich dazu, den politischen Charakter des Geldes erneut zu verdecken. Die von den Regierungen geschaffenen, aber politisch unabhängigen Zentralbanken, mussten auf wirtschaftliche Gerechtigkeit keine Rücksicht nehmen. Der Staat grenzte also seine Fähigkeit zur Einflussnahme selbst ein und erhielt dazu im Kontext der zeitgenössischen »Inflationshysterie« (Brian Barry) sogar demokratische Zustimmung. Diese Politik der Entpolitisierung hatte auch nachhaltige Folgen für die politische Theorie, aus der geldpolitische Fragen völlig verschwanden. Gewissermaßen als langer Schatten von Marx verortete beispielsweise Jürgen Habermas Geld in der ökonomischen Sphäre und jenseits demokratischer Politik. Eichs Argumentation schließt im Sinne seines normativen Anspruchs mit konkreten Anregungen, wie die politische Theorie künftig zur »Demokratisierung der monetären Gewalt« (S. 279f.) beitragen könne.

Die Geschichte von Geld und Geldgebrauch hat in den Geschichts- und Kulturwissenschaften seit einiger Zeit wieder Hochkonjunktur.[2] Eichs Studie dürfte daher auf Interesse stoßen. Aus historiografischer Perspektive wirft seine Analyse aber einige Fragen auf. Erstens liest sich seine Studie überwiegend als eine Ideengeschichte auf dem Höhenkamm von Elitendiskursen, anstatt dass sie im Sinne der jüngeren Intellectual History politische Theorien aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive auf alltägliche Praktiken beziehen würde. Zweitens wäre es wünschenswert die Geschichte von Geld und Geldgebrauch konsequenter zu dekolonisieren und stärker auch außereuropäische Geldpraktiken und -ideen in den Blick zu nehmen.[3] Beide Einschränkungen können indes den Gesamteindruck nicht trüben, sondern generieren vielmehr neue Forschungsfragen für künftige Studien. Eichs anregendes Buch trägt zu einem besseren Verständnis des aktuellen währungspolitischen »Interregnums« und seiner theoretischen Wurzeln bei. Es sei daher allen empfohlen, die sich für Geldtheorien in der longue durée oder für den Siegeszug des Neoliberalismus aus währungspolitischer Sicht interessieren.

 

Zitierempfehlung

Frederike Schotters, Rezension zu: Stefan Eich, Die Währung der Politik. Eine politische Ideengeschichte des Geldes, Hamburger Edition, Hamburg 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82025.pdf> [8.10.2024].

 

[1] Vgl. auch die US-amerikanische Originalausgabe: Stefan Eich, The Currency of Politics. The Political Theory of Money from Aristotle to Keynes, Princeton 2022.

[2] Vgl. die Themenschwerpunkte »Reden über Geld« in: Werkstatt Geschichte 88, 2023; sowie »Perspektiven der Geldsoziologie« in: Mittelweg 36, Jg. 28 (2019), Heft 3-4; vgl. Gerd Möll, Mit Geld spielt man nicht! Glücksspiel und »Glücksspielsucht« im parlamentarischen Diskurs, Bielefeld 2021.

[3] Vgl. exemplarisch Eva Brugger, Sewantketten und Castorhüte. Gebrauchspraktiken von Geld und Mode in der Kolonie Nieuw Nederland, in: Traverse 28, 2021, S. 61-78.

Holger Czitrich-Stahl, Der Oppositionelle. Georg Ledebour 1850–1947. Linksliberaler, Sozialdemokrat, Linkssozialist

(Historische Demokratieforschung, Bd. 25)

Metropol Verlag | Berlin 2024 | 484 Seiten, gebunden | 29,00 € | ISBN 978-3-86331-741-6

rezensiert von

Axel Weipert, Berlin

Rezension als pdf

Veit Valentin nannte ihn den »Eigenbrötler des Sozialismus« (zit. nach Czitrich-Stahl, S. 462). In der Tat ging Georg Ledebour in seinem 97-jährigen Leben von 1850 bis 1947 kaum einem Konflikt aus dem Weg. Nun hat der Historiker Holger Czitrich-Stahl, der unter anderem bereits durch eine lesenswerte Biografie Arthur Stadthagens, einem Weggefährten Ledebours, hervorgetreten ist[1], eine umfangreiche Lebensbeschreibung des sozialistischen Politikers unter dem treffenden Titel »Der Oppositionelle« vorgelegt.

Immer wieder und nachvollziehbar verweist Czitrich-Stahl auf die prägende Kindheit Ledebours in einem kleinbürgerlichen Beamtenmilieu in Hannover. Seinen Vater verlor er mit neun Jahren durch Selbstmord, kurz darauf verstarb auch die Mutter. Zwei Jahre später verlor der Vollwaise auch noch seinen Onkel und im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, an dem er selbst als Sanitäter teilnahm, seinen älteren Bruder. Hinzu kam, dass er zeitlebens gehbehindert war. Diesen frühen Schicksalsschlägen setzte Ledebour aber Willenskraft und Durchsetzungsvermögen entgegen und entwickelte so eine starke Persönlichkeit – aber eben auch einen unversöhnlichen, schroffen Charakter, der vor harten Trennungen nicht zurückschreckte. Das wirkte sich wiederholt und massiv auf seine politischen Aktivitäten aus.

Stark beeinflusste Ledebour ein mehrjähriger Aufenthalt in England. Von dort berichtete er für liberale Blätter über das fortschrittliche parlamentarische Regierungssystem und die britischen Gewerkschaften. Der Kontrast zum Deutschen Reich unter dem Sozialistengesetz konnte kaum größer sein. Nach seiner Rückkehr stürzte er sich in breit angelegte publizistische und politische Aufgaben. Er engagierte sich für die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, gründete die »Demokratischen Blätter« mit und versuchte sich auch am Aufbau einer sozialliberalen Partei. Diese »Demokratische Partei« scheiterte aber bereits nach rund zwei Jahren 1886. Sein anschließendes Engagement in der »Berliner Volks-Zeitung« endete im Eklat, als Ledebour und der Schriftleiter Franz Mehring von den Eigentümern aus der Redaktion gedrängt wurden. Im Hintergrund standen politische Differenzen: Ledebour hatte sich den bürgerlichen Kräften zunehmend entfremdet, da er deren Kooperation mit Bismarck, das Sozialistengesetz und die Inkonsequenz des Linksliberalismus insbesondere in sozialen Fragen ablehnte und stattdessen auf einem prinzipienfesten, freiheitlichen Standpunkt mit sozialer Akzentuierung beharrte. Als einzige Kraft, von der ein solcher Standpunkt zu erwarten sei, sah er nun die Arbeiterbewegung.

Der Übertritt zur SPD 1891 stellte daher, wie Czitrich-Stahl betont, in der Sache im Grunde keinen Bruch dar: Ledebours sozial konnotierter »radikaler Demokratismus verschmolz mit dem demokratischen Sozialismus« (S. 92). Auch ohne Stallgeruch als Arbeiter stieg er in der Sozialdemokratie rasch auf, übernahm Redakteursposten, eine Lehrtätigkeit in der Berliner Arbeiterbildungsschule und dann ab 1900 den Berliner Reichstagswahlkreis von Wilhelm Liebknecht, den er bis zum Ersten Weltkrieg stets mit überwältigenden Mehrheiten gewann. Im Parlament, auf Parteitagen und in zahlreichen öffentlichen Versammlungen profilierte er sich als spitzzüngiger Redner. Thematisch widmete er sich weiterhin der Kritik an der staatlichen Ordnung, forderte eine umfassende Demokratisierung und nahm wiederholt auch das persönliche Regiment Wilhelms II. aufs Korn. Ledebour engagierte sich außerdem für den Minderheitenschutz insbesondere der Polen im Deutschen Reich und wandte sich gegen die deutsche Kolonialpolitik. Lange zählte er dabei in der SPD zu den Vertretern des marxistischen Zentrums um Bebel, rückte dann aber schrittweise nach links.

Im Ersten Weltkrieg sprach er sich in der Reichstagsfraktion zusammen mit Hugo Haase und anderen gegen die Kriegskredite und die Burgfriedenspolitik aus, was ihn dann in die USPD führte. Dort zählte er in der Revolution von 1918/19 zu den prominentesten Wortführern. Da er auf einem konsequenten Bruch mit der MSPD und ihren Spitzenfunktionären um Friedrich Ebert beharrte, verzichtete er im November 1918 aber auf einen Sitz im Rat der Volksbeauftragten. Im Januaraufstand 1919 war er eine treibende Kraft, obwohl er bewaffnetem Putschismus eigentlich skeptisch gegenüberstand. Sein Biograf spricht in dem Zusammenhang von einem »Drahtseilakt« Ledebours, in dessen Innerem der Parlamentarier und der Revolutionär miteinander gekämpft hätten. Letztlich habe er sich von aufkeimender Euphorie anstecken lassen. Zugleich betont Czitrich-Stahl, Ledebours Einfluss auf die dynamische Entwicklung sei ohnehin begrenzt gewesen. Den naheliegenden Widerspruch zu seiner eigenen Einschätzung, dieser sei eine treibende Kraft des Aufstands gewesen, löst er nicht auf. Im Anschluss an die Niederschlagung des Aufstands verhaftet, wurde er in einem aufsehenerregenden Prozess freigesprochen. In den Flügelkämpfen innerhalb der USPD in den frühen 1920er-Jahren plädierte er für die organisatorische und politische Eigenständigkeit des Linkssozialismus, aber wie die Partei selbst geriet er zwischen die Mühlsteine der staatstragenden SPD einerseits und der radikal oppositionellen KPD andererseits. Auch mit dem kümmerlichen Rest der USPD ab 1922 überwarf er sich, was ihn auf Jahre ins politische Abseits stellte. Sein kleiner »Sozialistischer Bund« blieb ebenso ohne breite Resonanz wie sein punktuelles Engagement für die Internationale Arbeiterhilfe Willi Münzenbergs. Der Eintritt in die SAP in der Endphase der Weimarer Republik änderte daran wenig.

Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 musste er, als »Novemberverbrecher« verfemt, im hohen Alter von über 80 Jahren ins Schweizer Exil flüchten. Einzelne publizistische Aktivitäten im Exil konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er zunehmend vereinsamte. Krankheitsbedingt kam nach 1945 eine Rückkehr nach Deutschland nicht mehr infrage, wenngleich er 1946 den Zusammenschluss von KPD und SPD zur SED in der sowjetischen Besatzungszone öffentlich begrüßte. Der Biograf kommentiert diese Haltung und die sporadischen Kontakte zur SED etwas lapidar, Ledebour habe wohl mehr aus dem prinzipiellen Wunsch nach einer Einheit der Arbeiterbewegung und weniger im Wissen um die konkreten Umstände gehandelt.

Ein ausgewiesener Theoretiker war Ledebour nie; sein Fokus war stets auf die praktische Politik gerichtet. Das ist vielleicht auch der Grund, warum er keine bedeutenden Schriften vorlegte und sich stets der Abfassung einer Autobiografie verweigerte – bis ins Greisenalter übrigens mit dem Argument, er sei dafür noch zu jung. Stattdessen verfasste er eine Vielzahl an tagespolitischen Pressetexten, die eine zentrale Grundlage der vorliegenden Biografie bilden. Hinzu kam lediglich eine längere Aufsatzserie als Rückblick auf die Novemberrevolution 1918 und die Publikation seiner Ausführungen im Prozess gegen ihn nach dem Januaraufstand von 1919, die noch immer ein beachtenswertes Zeitdokument darstellen. Wichtig waren auch Ledebours Auftritte als Redner in Volksversammlungen, auf Parteitagen und auf der parlamentarischen Bühne. Positiv zu erwähnen ist, dass der Biograf die Inhalte dieser Wortmeldungen häufig mit deren Rezeption in der Tagespresse abgleicht und so die Wirkung von Ledebours politischer Kommunikation verdeutlicht.

Auf einer soliden Quellen- und Literaturbasis gelingt es Czitrich-Stahl, den Werdegang dieser schillernden Persönlichkeit der deutschen Arbeiterbewegung gut lesbar nachzuzeichnen. Der Fokus liegt dabei ganz eindeutig auf der politischen Biografie seines Protagonisten, wenngleich dessen lange und trotz materieller Nöte und Kinderlosigkeit durchaus glückliche Ehe mit Minna Ledebour knapp ebenso thematisiert wird wie die kurze Romanze mit Lou Andreas-Salomé. Der Band kann auf mehrere Vorarbeiten zu Ledebour aufbauen, deren Einschätzungen in differenzierter Weise in die Darstellung einfließen. Zu nennen sind vor allem eine Biografie von Ursula Ratz von 1969, eine unveröffentlichte Studie von Elke Keller aus der DDR und eine Studie des Nestors der USPD-Forschung, Hartfrid Krause, zu den 1920er Jahren.[2] Den selbstgestellten Anspruch, die bisherigen Arbeiten zu seinem Protagonisten als »fruchtbare Synthese auf erweiterter Materialbasis« (S. 19) zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen, ist Czitrich-Stahl zweifellos gerecht geworden. So konnte er einige Lücken der Ledebour-Biografie von Ratz, etwa bezüglich seiner Familiengeschichte, seiner linksliberalen Phase und seinem Exil, füllen. Keller wiederum schöpfte zwar aus den DDR-Archiven, blieb aber einer recht schematischen SED-Linie verpflichtet. Krause beschränkte sich explizit auf die spätere Phase in der »Rest-USPD«. Czitrich-Stahl präsentiert Ledebour als einen Mann von geradlinigem Charakter mit klaren Prinzipien, der sich durch seine Unbedingtheit, seine oftmals schroffen Umgangsformen und seine Unversöhnlichkeit aber oft selbst im Weg stand. Eine systematische Einordnung seines Protagonisten in die Geschichte der Arbeiterbewegung unternimmt er allerdings nicht.

Einzelne Kritikpunkte an der Studie müssen genannt werden. Gerade angesichts der breiten Literaturauswertung überrascht es ein wenig, dass der Autor an einzelnen Stellen für Hintergrundinformationen auf Wikipedia verweist. Das ist einer wissenschaftlichen Arbeit nicht angemessen. Darüber hinaus hätte man sich generell einen stärker analytischen Zugriff gewünscht. Manche zentralen Wegmarken hätten auch ausführlicher dargestellt werden dürfen. Das gilt insbesondere für die näheren Umständen von Ledebours gescheiterter Kandidatur für den Vorsitz der SPD-Reichstagsfraktion 1913, als er Philipp Scheidemann denkbar knapp unterlag. Die Besetzung dieser Schlüsselposition wird leider nur in wenigen Zeilen abgehandelt, obwohl sie später mit Blick auf den 4. August 1914 von eminenter Bedeutung war. Gleiches gilt für seine Rolle im Januaraufstand 1919: Was waren hier die Gründe für sein Agieren, welche Handlungsspielräume hatte er tatsächlich und wie groß war sein Einfluss auf das Geschehen überhaupt? Diese Einwände schmälern aber keineswegs den Verdienst, die maßgebliche Darstellung zu Leben und Wirken von Georg Ledebour vorgelegt zu haben.

 

Zitierempfehlung

Axel Weipert, Rezension zu: Holger Czitrich-Stahl, Der Oppositionelle. Georg Ledebour 1850–1947. Linksliberaler, Sozialdemokrat, Linkssozialist, Metropol Verlag, Berlin 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82023.pdf> [8.10.2024].

 

[1]Holger Czitrich-Stahl, Arthur Stadthagen – Anwalt der Armen und Rechtslehrer der Arbeiterbewegung. Biographische Annäherungen an einen beinahe vergessenen sozialdemokratischen Juristen, Frankfurt am Main 2011.

[2]Ursula Ratz, Georg Ledebour 1850–1947. Weg und Wirken eines sozialistischen Politikers, Berlin (West) 1969; Elke Keller, Georg Ledebour. Ein alter sozialistischer Haudegen, Berlin (Ost) 1987; Hartfrid Krause, Die USPD nach 1922. Zum 70. Todestag von Georg Ledebour, München 2017.

Sarina Hoff, Der lange Abschied von der Prügelstrafe. Körperliche Schulstrafen im Wertewandel 1870–1980

(Wertewandel im 20. Jahrhundert, Bd. 8)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2023 | 494 Seiten, gebunden | 79,95 € | ISBN 978-3-11-062761-9

rezensiert von

Norbert Grube, Pädagogische Hochschule Zürich

Rezension als pdf

An der »Schnittstelle von Bildungs- und Gewaltgeschichte« (S. 15) und als »Beitrag zur historischen Wertewandelsforschung« (S. 16) verortet Sarina Hoff ihre jüngst publizierte Dissertation. Diese untersucht Körperstrafen in der Volksschule in diskursiver, gesetzlicher, schulrechtlicher und schulpraktischer Hinsicht von 1870 bis 1980. Ziel der gut lesbaren Monografie ist es, »Debatten um körperliche Strafen über einen langen Zeitraum […] nachzuzeichnen« (S. 14) und so Aushandlungen über gesellschaftlich akzeptierte, aber auch umstrittene Züchtigungen durch Lehrpersonen zu analysieren. Die erkenntnisleitenden Fragen, »[w]arum sich in den frühen 1970er Jahren in der Bundesrepublik ein flächendeckendes Verbot körperlicher Schulstrafen durchsetzen [konnte] und warum […] zuvor entsprechende Forderungen nur begrenzt erfolgreich [waren]« (S. 13 f.), beziehen gesellschaftliche Erziehungsvorstellungen, Akteurskonstellationen in öffentlichen Debatten sowie den Wandel von rechtlichen Normen und schulischer Praxis ein.

Hoff kombiniert die Untersuchung der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurse mit Einzelfallanalysen schulischer Körperstrafen an preußischen, sächsischen und bayerischen Volksschulen bis 1945, während für die Zeit nach 1945 neben Bayern die westdeutschen Länder Rheinland-Pfalz und Hessen analysiert werden. Entwicklungen in der DDR bleiben begründet ausgeklammert. Für ihr Untersuchungssetting wählt die Autorin eine beeindruckende und sinnvolle Vielzahl an Quellen aus. Serielle Quellen, wie Zeitschriften der Lehrervereine und wissenschaftliche Periodika, auch Lexika, Handbücher, Ratgeber und Lehrbücher dienen zur Analyse der pädagogischen, psychologischen, juristischen und medizinischen Debatten. Parlamentsprotokolle, Gesetze und Verordnungen sowie Akten von Lehrerverbänden und Kultusministerien nutzt Hoff, um den politisch-rechtlichen Rahmen in seiner Komplexität zu erschließen, während mit schulbehördlicher Korrespondenz, Gerichtsakten, Personalunterlagen und den von preußischen Lehrpersonen seit 1900 zu führenden Strafbüchern Strafpraktiken im Unterricht nachgespürt werden.

In ihrer weitgehend chronologisch gegliederten Untersuchung kommt Sarina Hoff zu äußerst aufschlussreichen Befunden. Sie skizziert jahrzehntelange Auseinandersetzungen in ihren Kontinuitäten und Wendungen mitsamt den oftmals paradoxen Positionierungen der verschiedenen Akteursgruppen. Dabei geht es je nach diskursiver Dominanz um Fortbestand, Einschränkung oder Abschaffung körperlicher Züchtigungen an Volksschulen. Als »Wechsel der Wortführerschaft« (S. 319) zeigt Hoff auf, wie etwa Lehrerverbände für die Abschaffung der Körperstrafen an Schulen eintraten, jedoch Lehrpersonen (nach 1945 auch Teile der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) unter Maßgabe der Verhältnismäßigkeit zumeist für den eingeschränkten Fortbestand körperlicher Züchtigung und im Anklagefall für Rechtssicherheit oder gar Straffreiheit votierten. Ihre Argumentation verknüpften die Lehrer*innen mit ihrem Kampf um Aufrechterhaltung ihrer Autorität, berufliche Autonomie, verbesserte Unterrichtsbedingungen und Statuserhalt. Ihr primär auf Erfahrungen der Schulpraxis beruhender öffentlicher Expertenstatus wurde allerdings zusehends durch wissenschaftliche Expert*innen aus der Medizin, Psychologie und Pädagogik infrage gestellt, so Hoff. Deren Voten gegen Körperstrafen als Gefahr für die Kindesentwicklung erfuhren demnach seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts durch reformpädagogische Impulse eine neue Dynamik und erreichten vor einer kritischer werdenden Medienöffentlichkeit politische Sphären. Besonders die Arbeiterbewegung und die SPD setzten sich entschieden für die Abschaffung der Körperstrafen ein, die allerdings nur in Sachsen 1922 gesetzlich verboten, in Preußen 1928 lediglich per Erlass eingeschränkt wurden, während Bayern sich in dieser Frage als rückständig erwies.

Dass Körperstrafen in Volksschulen bei Unordentlichkeit, Unaufmerksamkeit, Faulheit und selbst bei Leistungsschwäche bis in die 1970er-Jahre – wenngleich abnehmend – weiter angewandt wurden, lag nach Hoff an den von vielen Lehrpersonen und Eltern goutierten Routinen und Gewohnheiten. Zudem wurden schlagende Lehrpersonen kaum strafrechtlich, sondern, wenn überhaupt, meist nur disziplinarrechtlich belangt. Körperstrafen wurden auch nach 1945 mit religiösen, historischen, pädagogischen und gewohnheitsrechtlichen Verweisen als erzieherische Notwendigkeit im gesellschaftlichen Interesse gegen die Verrohung der Jugend und als Hilfe für das ungehorsame Kind begründet. Dennoch galten körperliche Züchtigungen zunehmend als Ausdruck veralteter Autorität und als psychisch verletzender Verstoß gegen die Menschenwürde. Neben der kritischer werdenden Öffentlichkeit erkennt Hoff besonders in der schubweisen Verwissenschaftlichung der Debatte, die auch juristische Traditionen aufbrach, einen wesentlichen Faktor für das Verstummen der Züchtigungsbefürworter in den 1970er-Jahren, in deren Verlauf alle Bundesländer Körperstrafen gesetzlich verboten.

Hoffs Analyse besticht durch anschauliche Quellenauswertung und eine nuancierte Argumentation entlang der Untersuchungsfragen. Doch bleiben die erkenntnisleitenden Begriffe wenig konturiert, obwohl oder gerade weil sie fast geometrisch im gleichwohl kritisch reflektierten Mainzer Modell des Wertewandeldreiecks verortet werden.[1] Diskurs und Debatte (als Begriffe von Hoff teils synonym verwendet) werden häufig als Maßgaben verstanden, die Entscheidungen im politischen und rechtlichen Bereich gleichsam präformieren, während als dritte Etappe die soziale Praxis verzögert folgt. Die Formulierungsvarianten »Teildiskurs« und »Teildebatte« (etwa S. 194) überbetonen dabei fast die Trennlinien zwischen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen. Diese implizite Top-Down-Betrachtung reduziert die Praxis auf eine rückständige, verspätete »Rezeption« (so etwa S. 200) wissenschaftlicher Diskurse und politischer Entscheidungen. Mitunter imaginiert der Begriff der Praxis fast einen von Diskursen abgekoppelten »tatsächlichen Schulalltag« (S. 232).

Der auch in der Gliederung explizierte Dreischritt von Diskurs zu Gesetz/Recht und weiter zur Praxis erfährt im Verlauf der Untersuchung durch die dualistische Betrachtung von (wissenschaftlicher bzw. politisch-rechtlicher) Theorie versus Praxis eine antagonistische Zuspitzung. Problematisch erscheint auch der Finalität andeutende Buchtitel. Inhaltlich führt die Orientierung an Dekaden und geläufigen politikgeschichtlichen Zäsuren wie 1933, 1945 und 1968 zu Redundanzen, die durch eine stärkere Orientierung an den eigenen temporalen Taktungen von schulischer Praxis und Diskursen hätten vermieden werden können. So ist es etwa angesichts der bekannt spannungsreichen reformpädagogischen Diskurskontinuität in der NS-Zeit nicht neu, dass diese nicht einseitig als Renaissance traditioneller schulischer Körperstrafen gelten kann. Mit Blick auf das Konzept der »grammar of schooling«[2] könnte zudem diskutiert werden, wie die Veränderungsresistenz im Konflikt um die Körperstrafen im Kontext genereller institutioneller Beharrlichkeit gegenüber Bildungsreformen zu bewerten ist. Hoff betont zwar überzeugend Wechselbeziehungen und zeigt sich skeptisch gegenüber analytischen »Einbahnstraße[n]« (S. 407). Doch ihre Deutung, wonach vor allem die Verwissenschaftlichung der Debatte der züchtigungsablehnenden Position in der »herrschenden Meinung« (S. 386) den Weg bereitet habe, wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis die mit Bezug zu Elisabeth Noelle-Neumann verwendete holistische Formel von ›der‹ öffentlichen Meinung zu den von der Autorin selbst konstatierten Diskursambivalenzen steht. Waren die Züchtigungsverbote in den 1970er-Jahren nicht eher auf vermehrte Verschränkungen von Diskursen und Praktiken in politischen, gesellschaftlichen und fachlichen Debatten zurückzuführen?

Die Autorin selbst bietet schlüssige Hinweise, wie Konflikte um das Züchtigungsrecht von Lehrpersonen weitere gesellschaftliche Auseinandersetzungen berührten, etwa um generelle Befugnisse über das Kind und um das pädagogisch Zeitgemäße, Humane und Sagbare. Daher ist der Befund einer Dominanz des wissenschaftlichen (Expert*innen-)Diskurses in einer Zeit der Infragestellung traditioneller Autorität und heterogener sozialer Bewegungen (die Autorin führt die Schüler*innenbewegung an) zumindest ein spannungsreiches Paradox. Zudem agierten die wissenschaftsnah ausgebildeten Lehrpersonen in der Züchtigungsdebatte keineswegs nur als bloße Praktiker*innen gegenüber wissenschaftlichen Expert*innen. Ebenso wenig waren die psychologisch-therapeutischen Diskurse, die laut Hoff seit den 1960er-Jahren die Züchtigungsdebatte dominierten, rein wissenschaftlich geprägt, sondern mit esoterisch-neureligiösen Elementen und alternativen Milieus verflochten. Dass die Therapeutisierung der schulischen Praxis nicht nur alte Strafformen verdrängte, sondern teils präventiv gedachte Techniken des Selbst, Leitbilder der Responsibilisierung und Selbstoptimierungen hervorbrachten, betonen jüngere Studien, die das Narrativ des Wertewandels kritisch befragen.[3]

Es zählt zu den Stärken von Hoffs Arbeit, dass sie ihre Deutungsansätze im Gang ihrer Untersuchung immer wieder abwägt und etwa die Zwänge ihrer chronologischen Gliederung durch ein Kapitel »Längsschnitte« entschärft, in dem sie zeitübergreifend den Wandel von Autorität diskutiert. Die kritische Diskussion ihrer konzeptionellen Ansätze und analytischen Schlussfolgerungen in dieser Besprechung soll und darf denn auch den Blick nicht dafür verstellen, dass Sarina Hoff dank einer imponierenden Quellenanalyse eine anregende und nicht nur bildungshistorisch äußerst relevante Studie mit facettenreichen Befunden vorgelegt hat.

 

Zitierempfehlung

Norbert Grube, Rezension zu: Sarina Hoff, Der lange Abschied von der Prügelstrafe. Körperliche Schulstrafen im Wertewandel 1870–1980, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82022.pdf> [8.10.2024].

 

[1] Vgl. Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept, in: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/ders. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel sein den 1960er Jahren, München 2014, S. 17–39.

[2] Vgl. David Tyack/William Tobin, The »Grammar« of Schooling. Why Has It Been So Hard to Change?, in: American Educational Research Journal 31, 1994, S. 453–479.

[3] Vgl. Jens Elberfeld, Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2020; Pascal Eitler/Jens Elberfeld, Von der Gesellschaftsgeschichte zur Zeitgeschichte des Selbst – und zurück, in: Dies. (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung, Politisierung, Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 7-30.

Fabian Michl, Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912–1977). Juristin, Spitzenbeamtin, Verfassungsrichterin

Campus Verlag | Frankfurt am Main 2022 | 558 Seiten, Hardcover | 39,00 € | ISBN 978-3-593-51523-6

rezensiert von

Frieder Günther, Institut für Zeitgeschichte München–Berlin, Berlin

Rezension als pdf

Dieses Buch ist ein Glücksfall. Es behandelt die Biografie der nach Erna Scheffler zweiten Richterin am Bundesverfassungsgericht, Wiltraut Rupp-von Brünneck. Rupp-von Brünneck ist als »Great Dissenter« (Ernst Benda) am Bundesverfassungsgericht in Erinnerung geblieben. Durch zahlreiche pointiert formulierte Sondervoten hat sie sich während der 1970er-Jahre immer wieder als Gegengewicht zur konservativen Richtermehrheit hervorgetan. Aber der Autor Fabian Michl, Juniorprofessor für Öffentliches Recht an der Universität Leipzig, zeigt, dass die Biografie weit mehr enthält, das verdient, genau erzählt zu werden.

Der Lebensweg der 1912 geborenen Protagonistin ist geprägt von einer weitreichenden Anpassungsbereitschaft gegenüber den politischen Systemen, die sie erlebte. Nur die Weimarer Republik hatte Wiltraut von Brünneck im Einklang mit ihrem adligen familiären Umfeld abgelehnt. Diese Grundhaltung machte sie empfänglich für die Ideologie des Nationalsozialismus. Während des Jurastudiums engagierte sie sich speziell für den sozial-fürsorgenden Aspekt der Volksgemeinschaft, trat in zahlreiche NS-Organisationen ein, darunter die NS-Frauenschaft, und übernahm dort verschiedene Funktionen. Parteimitglied wurde sie trotz eines Aufnahmeantrags gleichwohl nicht. Als zu Beginn der 1940er-Jahre in den Ministerien kriegsbedingt Personalnot herrschte, bewarb sich von Brünneck selbstbewusst beim Reichsjustizministerium und wurde dort Referentin im Grundbuchreferat, einem Bereich also, der eng mit den Realitäten des »Maßnahmenstaates« und des Holocaust verknüpft war, da das Grundbuchreferat etwa mit der Abwicklung von »Judenvermögen« zu tun hatte. Auch aus der damaligen Perspektive galt sie somit nach 1945 als hochbelastet. Aufgrund falscher Angaben gelangte sie 1946 dennoch ins hessische Justizministerium, wurde dort eine der engsten Mitarbeiterinnen von Georg-August Zinn und stieg 1950 zur Abteilungsleiterin in der hessischen Staatskanzlei auf. Die Prinzipien der Demokratie eignete sie sich ab 1946 – wie es der Autor überzeugend formuliert – »by doing« an und entwickelte so früh ein »profundes Verständnis für das repräsentativ-demokratische System« (S. 445). Hinweise auf ein unterschwelliges Fortwirken nationalsozialistischer Ideen, wie es die jüngste Aufarbeitungsforschung immer wieder herausgearbeitet hat, gibt es bei ihr nicht. Als Bundesverfassungsrichterin wurde sie ab 1964 zur linksliberalen Vorkämpferin der pluralistischen und wohlfahrtstaatlichen Reformorientierung jener Zeit. Das gegenüber früheren Nationalsozialisten ausgesprochen großzügige Integrationskonzept der jungen Bundesrepublik scheint sich bei ihr also bewährt zu haben, wenngleich sie es für sich in dieser effizienten Weise nur nutzen konnte, weil sie über ihr politisches Engagement vor 1945 wissentlich log.

Dabei macht Michl deutlich, dass man diesen überaus erfolgreichen Lebensweg nur richtig verstehen kann, wenn man zugleich von Brünnecks Rolle als Frau berücksichtigt. Unter den für Frauen mit Karriereambitionen äußerst widrigen Rahmenbedingungen im Nationalsozialismus versuchte sie sich einen Tätigkeitsraum zu sichern, indem sie sich für die Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen engagierte und auf den unentbehrlichen Beitrag von Frauen und vermeintlich weiblicher Wesensart für die Rechtspflege in der NS-Volksgemeinschaft verwies. Hier agierte sie also pragmatisch gegen ihre Ausgrenzung; mit Gleichberechtigung hatte das allerdings nichts zu tun. Dass von Brünneck 1937 bei einem »Reichsberufswettkampf« mit einer Arbeit zu dem damals als hochpolitisch angesehenen Arbeits- und Sozialrecht Aufmerksamkeit erregte und auf diesem Gebiet auch promovieren wollte, gehört genau in diesen Kontext der pragmatischen Selbstbehauptung in einem Rechtsbereich, in dem Frauen ein besonderes Einfühlungsvermögen zugesprochen wurde. Als sich 1945 die Rahmenbedingungen grundlegend wandelten, schwenkte sie hingegen ohne Zögern auf den Gleichberechtigungskurs der Frauenbewegung um. Die neue Demokratie forderte aus ihrer Sicht nun die vollständige Gleichberechtigung der Geschlechter. Als streitbare Richterin am Bundesverfassungsgericht nutzte Rupp-von Brünneck (so ihr Name seit der Heirat mit ihrem Richterkollegen Hans Georg Rupp 1965) dementsprechend jede Gelegenheit, um die noch bestehenden Diskriminierungen von Frauen beispielsweise im Unehelichenrecht oder im Staatsangehörigkeitsrecht zu beseitigen. Wenn sie sich in einer Frage, die ihr am Herzen lag, bei der Mehrheit ihrer Kollegen des Ersten Senats hingegen nicht durchsetzen konnte, verfasste sie wiederholt ein Sondervotum – beispielsweise zum Abtreibungsurteil 1975. Es ist also eine Kombination verschiedener Faktoren, die ihre einzigartige Karriere als Frau erklärt: erstens eine große juristische Begabung und ein ausgeprägter Ehrgeiz, zweitens eine herausragende Kommunikationsfähigkeit, um sich in einem von Männern dominierten Ausbildungs- und Berufsumfeld durchzusetzen, sowie drittens die fortwährende Bereitschaft und Offenheit, sich immer wieder von Neuem mit den sich wandelnden politischen und sozialen Rahmenbedingungen zu arrangieren.

Nicht zuletzt arbeitet der Autor heraus, dass auch Rupp-von Brünnecks juristisches Denken von einem ausgeprägten Pragmatismus und einer starken Kontinuität geprägt war. Im Nationalsozialismus hatte sie gelernt, sich nicht den abstrakten juristischen Begriffen, sondern der konkreten Lebenswirklichkeit mit ihren handfesten sozialen Problemen zuzuwenden. Sie interessierte sich für das Ergebnis der juristischen Arbeit, nicht für die dogmatischen Argumentationsfiguren. Der für ihre Arbeit zunächst zentrale Begriff der Volksgemeinschaft, der – integrierend und exkludierend zugleich – ein homogenes soziales Ganzes versprach, wurde nach 1945 durch den Begriff der Wertordnung ersetzt, ohne dass sich ihr methodischer Zugriff veränderte. Mit Hilfe des Wertordnungsbegriffs ließen sich die Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes im Sinne einer »Zivilreligion« (Michael Stolleis) ins Zentrum der gesamten Rechtsordnung rücken und so der gesellschaftliche Wandel voranbringen. Zugleich war der Begriff vage genug, um pragmatische Erwägungen berücksichtigen zu können. Für traditionell denkende Juristen war eine so normativ offene, aktivistische und geradezu entgrenzte Grundgesetzinterpretation durch das Bundesverfassungsgericht gefährlich und wurde auch entsprechend kritisiert, da die juristische Arbeit damit ihre Berechenbarkeit einzubüßen schien.

Das Buch von Fabian Michl ist glänzend recherchiert. Auch in stilistischer Hinsicht ist es tadellos. Es zeugt von herausragender juristischer Expertise und zugleich von einem weiten historischen Interesse, denn es bezieht den zeithistorischen Kontext auf vorbildliche Weise mit ein. Einzig hätte man sich zuweilen einen beherzteren, thesenorientierteren Zugriff gewünscht. Aber das soll das Verdienst des Autors nicht schmälern. Der Reiz seines Buches besteht darin, dass es aus einer biografischen Perspektive Antworten auf zentrale Probleme der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gibt. Dies ist für einen historisch nicht geschulten Juristen eine ganz und gar ungewöhnliche Leistung, die weite Beachtung verdient.

 

Zitierempfehlung

Frieder Günther, Rezension zu: Fabian Michl, Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912–1977). Juristin, Spitzenbeamtin, Verfassungsrichterin, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82020.pdf> [8.10.2024].

Martin Mainka, »In Bonn ist Transparenz angesagt«. Die Flick-Affäre und die Durchsetzung eines neuen Politikideals, 1975–1987

(Zeitgeschichte)

Campus Verlag | Frankfurt am Main 2023 | 455 Seiten, gebunden | 39,00 € | ISBN 978-3-593-51722-3

rezensiert von

Thorsten Holzhauser, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Rezension als pdf

Geschichtswissenschaftliche Dissertationen sind selten politische Bücher. Bei Martin Mainkas Studie zur Flick-Affäre ist das anders. Nicht dass Mainka seine Untersuchung, wie man erwarten könnte, als Plädoyer für mehr Transparenz und Aufklärung in den Affären der Gegenwart nutzen würde. Im Gegenteil unterzieht er den aktuellen »Transparenzboom« (S. 12) einer Fundamentalkritik: Übersteigerte Transparenzforderungen dienten als Instrument der Sozialdisziplinierung, stellten Anonymität und Privatsphäre unter Generalverdacht und würden als Legitimationsmittel für unpopuläre Maßnahmen missbraucht, so Mainka. Aus Transparenz entstehe oft kein Mehr an Vertrauen und Klarheit, sondern ein Mehr an Intransparenz, weil die Regeln zu komplex seien oder zu einer verschleiernden Informationsflut führten. Und schließlich förderten »Transparenzadvokaten wie bspw. Wikileaks« mit ihrer Misstrauenshaltung »eine zunehmende politisch-kulturelle Affinität zu Verschwörungstheorien« in den westlichen Gesellschaften (S. 138). Kurz: Transparenz ist ein Problem.

Diese provokante Schlussfolgerung zieht Martin Mainka in seiner sehr lesenswerten Dissertationsschrift, die er im Mai 2022 an der TU Darmstadt verteidigte. Methodisch verortet Mainka seine Arbeit in der kritisch-historischen Transparenz- und Korruptionsforschung, deren Grundlagen in Deutschland maßgeblich sein Doktorvater Jens Ivo Engels gelegt hat.[1] Dessen Konzept, Transparenz als »politische und soziale Forderung in einem bestimmten historischen Kontext« (S. 15) zu beschreiben, folgt Mainka. Im Transparenzideal sieht er ein zentrales Merkmal eines »neuen Politikverständnisses« (S. 11), das in den 1980er-Jahren aufgekommen und in der Flick-Affäre mit älteren Politikvorstellungen kollidiert sei. Dieser Interpretationsansatz grenzt die Studie auch von vorangegangenen Arbeiten zum Flick-Konzern und zur Flick-Affäre ab, auf deren Ergebnisse Mainka aufbaut.[2] Die Flick-Affäre wird in der Arbeit also nicht als politischer Skandal, sondern als »Skandalkontext« perspektiviert (S. 49). Ohne dass er dies so benennt, erzählt Mainka damit die Flick-Affäre als Diskursgeschichte der Transparenz in der späten Bonner Republik, aus der er dezidiert Schlussfolgerungen für die Gegenwart ableitet. Für dieses Vorhaben stützt er sich auf zeitgenössische Presseartikel und Parlamentsprotokolle, auf Unterlagen aus Ministerien und aus den Parteien (vor allem von den Grünen) sowie auf Ermittlungsakten.

In einem Kapitel zu den »historischen Rahmenbedingungen« der Flick-Affäre (Kap. 2) malt Mainka zunächst ein Panorama der 1970er- und 1980er-Jahre, das kaum einen historiografischen Topos der jüngeren Zeitgeschichtsforschung auslässt: von der »Krise des Keynesianismus« (S. 55 f.) und der »Überforderung des Sozialstaates« (S. 57) über die »Krise der politischen Entscheidungsprozesse« (S. 58) bis zur »Repräsentationslücke der Volksparteien« (S. 59) und der »Erosion sozial-kultureller Milieus« (S. 59). Der Autor zeichnet so ein – etwas überspitztes – Bild seines Untersuchungszeitraums als einer fast präzedenzlosen Umbruchsituation, in das sich seine These vom Aufkommen eines neuen Politikideals gut einfügt. Wie dies im Verlauf der Flick-Affäre geschehen sei, zeigt Mainka nach einem knappen chronologischen Abriss (Kap. 3) sodann in vier ausführlichen Abschnitten, die sich mit der medialen Enthüllung der Affäre und der Medienarbeit der Justiz (Kap. 4), mit den Mechanismen der öffentlichen Empörung (Kap. 5), mit der Arbeit des Flick-Untersuchungsausschusses (Kap. 6) und schließlich mit den politischen Reformdebatten zur Parteienfinanzierung und zu Verhaltensregeln für Abgeordnete (Kap. 7) befassen.

Durchweg macht der Autor dabei auf die Problematik der Debatte um Transparenz aufmerksam. Transparenz wurde zum unerfüllbaren Standard überhöht und von allen Seiten mit ganz unterschiedlichen Motiven und Implikationen gefordert. Um gestiegenen Transparenzerwartungen aus der Öffentlichkeit gerecht zu werden, griffen Zeitschriften wie »Der Spiegel« zur Veröffentlichung vertraulicher Dokumente. Aber auch die Staatsanwaltschaften reagierten auf die sich verändernden Erwartungen an ihre Arbeit, indem sie offener als zuvor über den Ermittlungsstand informierten. Öffentliche Aufklärung wog nun nach Ansicht »von zahlreichen Akteuren« (S. 163) schwerer als etablierte Vertraulichkeitsnormen. Doch konnten letztlich weder Medien noch Justiz den gestiegenen Transparenzforderungen gerecht werden, wollten sie nicht die Grundlagen ihrer jeweiligen Arbeit gefährden. Die Folge steigender Transparenzforderungen sei daher – so Mainkas Schlussfolgerung – kein Mehr an Aufklärung gewesen, sondern ein Weniger, »geht es doch hauptsächlich um die Deutungshoheit über die Informationen und das Framing« (S. 187).

Große Aufmerksamkeit widmet die Studie den politischen Parteien, deren Verhalten in der Affäre aus naheliegenden Gründen besonders unter Beschuss stand. So wird nachgezeichnet, wie in den öffentlichen Debatten um die Flick-Affäre eine Form der Parteienkritik zum Ausdruck kam, die in der frühen Bundesrepublik noch kaum sichtbar gewesen sei. Anders als zuvor, erschienen die politischen Parteien nun nicht länger als Repräsentanten von Partikularinteressen, sondern allein als solche ihres Eigeninteresses; als parasitäre Institutionen, die sich mit dem Staat gleichsetzten und sich an diesem bereicherten. Die Parteienschelte Richard von Weizsäckers und die »Kartellparteien«-These der 1990er-Jahre wurden so vorweggenommen.[3] Zugleich konnte sich in der Affäre mit den Grünen ein neuer »Transparenzakteur« (S. 95) etablieren, der freilich oft genau das Gegenteil seiner Ziele erreichte: Mit ihren auf Misstrauen basierenden Forderungen nach mehr Basisdemokratie hätten die Grünen tatsächlich mehr Intransparenz verursacht, da sich Entscheidungsfindungen in den informellen Bereich verlagerten. Im Kontext der Flick-Affäre seien die Grünen aber in erster Linie durch eine »moralisierende« Korruptionskritik aufgefallen (S. 96).

Die Diagnose eines zunehmend »moralisierenden« Politikdiskurses wird in der Arbeit gleich mehrfach wiederholt, stellt aber auch ihre größte analytische Schwachstelle dar. Abgesehen davon, dass der Begriff der Moralisierung ein zentrales Schlagwort »anti-woker« Kulturkämpfe der Gegenwart ist und daher als historische Analysekategorie unglücklich gewählt scheint, erhält er bei Mainka auch keine brauchbare Definition. Das Urteil, die Debatte werde »moralisiert« und die Transparenzforderung zum »moralischen Begriff« (S. 334) erhoben, rückt den Untersuchungsgegenstand eher ins Zwielicht, als dass es zu seiner Aufklärung beiträgt. Dass politische Akteure versuchen, bestimmten Normen zum Durchbruch zu verhelfen, kann jedenfalls nicht als neuartige Entwicklung der 1970er- und 1980er-Jahre gewertet werden, ist das doch der Kern von Politik. Ebenso wenig kann dies für die Tatsache gelten, dass politisch Verantwortliche an einem moralischen Wert- und Verhaltensstandard gemessen werden. Gerade die zentralen Phänomene der Flick-Affäre – Lobbyismus, Korruption und Einflussnahme – wurden auch schon lange zuvor als moralische Fragen problematisiert; nicht zuletzt im Bundestag, der sich schon in den 1950er-Jahren an einer »Ehrenordnung« für Abgeordnete versuchte, um ihnen entsprechende Verhaltensregeln an die Hand zu geben.[4]

Das Besondere an der Flick-Affäre ist daher gerade nicht, dass in ihrer Folge bestimmte Verhaltensweisen in der Politik »moralisiert« wurden, sondern dass durch sie in der Öffentlichkeit erstmals das ganze, systemische Ausmaß des Missbrauchs in den Parteien bekannt wurde. Die Folge war, dass die Institutionen ihre Arbeit machten – die Justiz ermittelte, die Medien klärten auf und die Politik gab sich neue Regeln. Dass die Parteien wiederum die erweiterten Offenlegungspflichten nutzten, um sich die »Absolution« für höhere staatliche Zuschüsse zu erkaufen (S. 367), steht auf einem anderen Blatt, kann kritisiert, muss aber nicht moralisiert werden.

Sehr viel überzeugender ist dagegen Mainkas Befund, dass in der politischen Konsequenz aus der Flick-Affäre »Transparenz als Alternative zu Verboten« funktionalisiert wurde: »Anstatt bestimmte als potentiell problematisch erachtete Praktiken, wie Großspenden von Unternehmen oder Nebentätigkeiten von Abgeordneten, durch Verbote zu unterbinden, setzt die Transparenz auf Regulierung durch Öffentlichkeit« (S. 418). Unerwünschtes Verhalten sollte so durch die freie Wahl des rationalen Konsumenten auf dem politischen Markt sanktioniert werden. Dies deutet Mainka als Kennzeichen einer Neoliberalisierung des Politischen, die mit einem nachhaltigen Wandel der Demokratie einherging: Mit der zunehmenden Verschmelzung von Staat und Parteien stand – und steht – die repräsentative Demokratie vor offensichtlichen Legitimationsproblemen, weshalb sich Elemente der demokratischen Kontrolle aus dem Parlament in die Öffentlichkeit verlagerten. Um diese Kontrolle auszuüben, setzt die Öffentlichkeit seither auf Transparenz, was aber das Misstrauen gegenüber den Institutionen nur immer weiter erhöht. Mainkas Fazit ist daher ein durch und durch skeptisches: Der konstatierte Transparenzboom sei »zwar Indikator und Katalysator dieses Wandels der politischen Kultur« (S. 428), kann aus seiner Sicht aber keine Lösung sein.

 

Zitierempfehlung

Thorsten Holzhauser, Rezension zu: Martin Mainka, »In Bonn ist Transparenz angesagt«. Die Flick-Affäre und die Durchsetzung eines neuen Politikideals, 1975–1987, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82021.pdf> [8.10.2024].

 

[1] Vgl. Jens Ivo Engels, Alles nur gekauft? Korruption in der Bundesrepublik seit 1949, Darmstadt 2019.

[2] Vgl. Kim Christian Priemel, Flick. Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Göttingen 2007; Norbert Frei/Ralf Ahrens/Jörg Osterloh u.a., Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht, München 2009.

[3] Vgl. »Wo bleibt der politische Wille des Volkes?« Gespräch von Richard von Weizsäcker mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, in: Die Zeit, 19.6.1992; Peter Mair/Richard S. Katz, Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics 1, 1995, S. 5–28.

[4] Vgl. Andrea Perthen, Korruption kritisieren. Die Genese politischer Korruptionsskandale in der frühen Bundesrepublik Deutschland, Köln 2021; Volker Szmula, Eine »Ehrenordnung« für den Deutschen Bundestag, in: Paderborner Studien 1, 1975, S. 43–56.

Henrike Voigtländer, Sexismus im Betrieb. Geschlecht und Herrschaft in der DDR-Industrie

(Kommunismus und Gesellschaft, Bd. 13)

Ch. Links Verlag | Berlin 2023 | 472 Seiten, Hardcover | 35,00 € | ISBN 978-3-96289-204-3

rezensiert von

Jessica Bock, Digitales Deutsches Frauenarchiv, Berlin

Rezension als pdf

Der Mythos der emanzipierten »Ostfrau« bröckelt. Einen wesentlichen Anteil hat daran eine neue Generation von Historikerinnen, die sich mit den Geschlechterverhältnissen im Sozialismus kritisch befasst.[1] Zu dieser Generation gehört auch die Historikerin Henrike Voigtländer, die sich in ihrer Dissertation mit dem Thema des Sexismus in Betrieben in der DDR befasst hat. Obgleich zur Geschichte von Frauen und den Geschlechterverhältnissen in der DDR bereits eine kaum noch zu überblickende Menge an Forschungsliteratur vorliegt, bildete die Rolle von Sexismus im Sozialismus erstaunlicherweise bislang ein Desiderat.

In ihrer Studie »Sexismus im Betrieb. Geschlecht und Herrschaft in der DDR-Industrie« möchte Voigtländer untersuchen, wie »Sexismus in den DDR-Industriebetrieben legitimiert und verfestigt wurde« (S. 10). Dabei beschränkt sie sich nicht alleine darauf, den ideologischen Anspruch der SED auf Frauenemanzipation mit der Realität abzugleichen. Vielmehr will sie an konkreten Fallbeispielen den Funktionsweisen von Geschlecht und Herrschaft in ihren informellen Praktiken und ihrer Wirkmächtigkeit nachgehen. Dazu verbindet sie drei Themen, die bislang in der Forschung eher getrennt voneinander behandelt wurden: die Frauen(arbeits-)politik der SED, Sexualität in der DDR sowie Geschlecht und Sexualität im (post-)sozialistischen Ostmitteleuropa. Mit der stärkeren Verankerung der DDR-Geschichte in ihren ostmitteleuropäischen Kontext, verbunden mit der »Mahnung, die DDR nicht automatisch und allein nur der Bundesrepublik gegenüberzustellen« (S. 24), gelingt Voigtländer ein erfrischender Perspektivwechsel.

Die Erforschung von »sexualisierten und vergeschlechtlichten Praktiken« und die Frage, wie durch diese »patriarchale Herrschaft legitimiert und verfestigt wurde« (S. 10), erfordert ein komplexes definitorisches und methodisches Gerüst. Voigtländer kombiniert für ihre Analyse die Konzepte »Herrschaft als soziale Praxis«, »Eigen-Sinn« und »hegemoniale Männlichkeit« (S. 24). Zugleich entwickelt sie einen Sexismus-Begriff, der für ihre Fragestellung kompatibel ist. Sie definiert Sexismus als eine soziale Praxis, die Macht auf institutioneller, kulturell-epistemischer, individueller und struktureller Ebene herstellt und absichert. Während jedoch die Autorin auf die westliche Herkunft und Prägung des Sexismus-Begriffs sensibel hinweist, scheint sie mit der Verwendung des Gender-Sterns weniger Probleme zu haben. Dabei ist die geschlechtersensible Sprache mit ihren varianten Schreibweisen ebenfalls ein Resultat stark westlich geprägter Gender-Diskurse, was einen Hinweis wert gewesen wäre.

Um das komplexe und durchaus widersprüchliche Machtgefüge in den DDR-Industriebetrieben aufzuzeigen, unternimmt Voigtländer »mikrohistorische Tiefenbohrungen« (S. 23) anhand zweier ausgewählter Betriebe, nämlich dem VEB Carl Zeiss Jena und dem VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht«. Ihre Auswahl begründet sie mit dem »ausgewogenen Geschlechterverhältnis« (S. 43) bei den Beschäftigten in diesen Betrieben, mit weiteren strukturellen Ähnlichkeiten und mit der vergleichsweisen günstigen Überlieferung. Vor allem in den jeweiligen Betriebsarchiven bietet sich eine Vielfalt an Quellen, wie zum Beispiel Eingaben von Beschäftigten, Unterlagen der SED-Industriekreisleitungen, Protokolle des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds und von betrieblichen Frauenkommissionen sowie Akten von Konfliktkommissionen und dem Betriebsschutz. Hinzu kommen Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit. Zusätzlich führte die Autorin mit 14 Personen Interviews. Abgerundet wird die Akteursperspektive durch die Berücksichtigung belletristischer Zeugnisse von schreibenden Arbeiter/innen, die sich in ihren Texten kritisch mit den Folgen von Frauenpolitik auseinandersetzten. Die von Voigtländer vorgenommene Quellenkritik beschränkt sich erfreulicherweise nicht auf die Einleitung, sondern die Autorin lotet bis zum Schluss des Buches konsequent die Potentiale, aber auch die Grenzen des Materials aus.

Voigtländer unterteilt ihre Analyse in vier thematische Kapitel. Das auf die Einleitung folgende Kapitel II ist überschrieben mit »Geschlecht und Herrschaft in DDR-Industriebetrieben« und widmet sich innerbetrieblichen Auseinandersetzungen um die Auswirkungen der politischen Förderung von Frauenerwerbsarbeit. Dabei zeigt die Autorin auf, dass die Umsetzung von Gleichberechtigung in den Betrieben »alles andere als ein reibungsloser Prozess« war (S. 79). Männliche Kollegen reagierten auf die zunehmende Emanzipation der Frauen mit Unverständnis und Anfeindungen, wenn sie etwa ihren Kolleginnen mangelnde Leistung und Bevorteilung aufgrund ihres Geschlechts vorwarfen. Bei dieser Form des proletarischen Antifeminismus handelte es sich aber nicht um ein Spezifikum der männlichen Arbeiterschaft in der DDR. Voigtländer verweist in einem Exkurs auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert, wo männliche Akteure auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse und einen damit verbundenen Statusverlust ebenfalls mit Ablehnung reagierten.

In Kapitel III analysiert Voigtländer den Komplex von »Sexualität und Herrschaft« in den Industriebetrieben. Dabei gelingt es ihr an anschaulichen Beispielen nachzuzeichnen, wie in den Betrieben Kolleg/innen oder betriebliche und staatliche Organisationen in privaten Paarbeziehungen intervenierten, um sozialistische Idealvorstellungen von Paar- und Sexualbeziehungen durchzusetzen. Aufschlussreich lesen sich aber auch Voigtländers Ausführungen über die »Grenzen von Vergemeinschaftungsprozessen in Industriebetrieben« (S. 219) an den Beispielen von Alleinstehenden, Homosexuellen und migrantischen Arbeiter/innen. Als sich in den 1970er-Jahren staatliche und betriebliche Stellen aus der Kontrolle der privaten Paarbeziehungen zurückzogen, rückten zunehmend die migrantischen Arbeiter/innen in den Fokus von Kontrollen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Voigtländer die Situation und Perspektive migrantischer Arbeiter/innen in ihre Untersuchung einbezieht und damit der intersektionalen Dimension ihrer Fragestellung gerecht wird, ist besonders hervorzuheben – eine Vorgehensweise, die auch für künftige Forschungen zu wünschen ist. Auch hier gelingt es der Autorin, den Leser/innen das komplexe Gefüge von Herrschaft, Geschlecht und Herkunft nachvollziehbar aufzuzeigen. So erfuhren zum Beispiel migrantische Arbeiterinnen in doppelter Weise sexistische Diskriminierungen: durch die einheimischen Männer inner- und außerhalb des Betriebs und durch staatliche Vertreter sowie männliche Kollegen ihrer Herkunftsländer. Zugleich vermeidet es Voigtländer aber, die »Ränder der Mehrheitsgesellschaft« (S. 220) ausschließlich als Opfer darzustellen, sondern sie zeigt sie als handelnde Subjekte, die sich mit ihrer »Abweichung« selbstbewusst gegen Diskriminierungen behaupteten.

Ebenso eindrücklich sind Voigtländers Schilderungen über den betrieblichen und, damit verbunden, den gesellschaftlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt in den DDR-Industriebetrieben. Hier zeigt sich besonders die tiefe Verankerung und Hartnäckigkeit patriarchaler und sexistischer Strukturen und wie sehr die staatlichen Stellen in der DDR an ihren eigenen (frauen-)politischen Ansprüchen scheiterten. Anhand ausgewählter Fallbeispiele untersucht sie in Kapitel IV, welche Formen sexualisierter Gewalt es in den Betrieben gab und wie die Betroffenen sowie die übrige Belegschaft damit umgingen. Gleich zu Beginn verweist sie auf die schwierige Quellenlage, die verallgemeinernde Aussagen nur in einem begrenzten Umfang zulässt. Insbesondere die Interviews mit den Zeitzeug/innen demonstrieren, wie das propagierte und internalisierte sozialistische Emanzipationsideal verhindert, dass über (selbst-)erfahrene sexualisierte Gewalt in der Vergangenheit und Gegenwart gesprochen wird.

Das letzte thematische Kapitel (Kapitel V) widmet sich »Formen und Foren medialer Sexualität in DDR-Industriebetrieben«. Während noch bis in die 1960er-Jahre hinein das Teilen und Zeigen pornografischen Materials durch den Betriebsschutz geahndet wurde, hatte sich der Umgang im Betrieb mit medialer Sexualität zu Beginn der 1980er-Jahre grundlegend gewandelt. Henrike Voigtländer erklärt diesen, oftmals verkürzt als progressiv wahrgenommenen, Wandel als einen Versuch der Betriebsleitungen, die Beschäftigten stärker an Betrieb und Partei zu binden (S. 363). Während ihr die Beweisführung für diese These weniger gelingt, überzeugt die Kontextualisierung der zunehmenden Sexualisierung in den sogenannten »socialist third way« (S. 386). Mit etwas Verspätung folgte die DDR einem Trend, der in den ostmitteleuropäischen Ländern wie zum Beispiel Polen bereits in den 1970er-Jahren eingesetzt hatte, als sexualisierte und pornografische Bildinhalte dort zunehmend Eingang in die Medienlandschaft und die Unterhaltungskultur fanden.

Henrike Voigtländer hat eine überzeugende Studie zur longue durée patriarchaler Geschlechterverhältnisse in der DDR am Beispiel der Industrie vorgelegt. Ihre Untersuchung ist zugleich ein wertvoller Beitrag zur Geschichte der Arbeiterinnen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und deren von Sexismus und Rassismus geprägten Arbeitsalltag. Ihr gelingt es zudem, komplexe Zusammenhänge in einer verständlichen Sprache und mit einem flüssigem Schreibstil zu vermitteln, die trotz der Schwere des Themas von Anfang bis Ende ein Lesevergnügen bereiten.

 

Zitierempfehlung

Jessica Bock, Rezension zu: Henrike Voigtländer, Sexismus im Betrieb. Geschlecht und Herrschaft in der DDR-Industrie, Ch. Links Verlag, Berlin 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82017.pdf> [8.10.2024].

 

[1] Vgl. etwa Grit Bühler, Eigenmächtig, frauenbewegt, ausgebremst. Der Demokratische Frauenbund Deutschlands und seine Gründerinnen (1945‒1949), Frankfurt am Main 2022; vgl. von der Verfasserin Jessica Bock, Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980–2000, Halle 2020; vgl. auch die laufenden Forschungsprojekte von Stefanie Eisenhuth, »›Schönheit für alle!‹ Attraktivität und Distinktion im Staats- und Postsozialismus« (Habilitationsprojekt), undMaria Bühner, »Subjektivierung weiblicher* Homosexualitäten in Ostdeutschland 1945–1994« (Promotionsprojekt).

Johannes Mühle, Un-Friedensstaat DDR. Mobilmachung, Kriegsbereitschaft und Militarisierung zwischen 1970 und 1990

(Krieg in der Geschichte, Bd. 123)

Brill Schöningh | Paderborn 2024 | 502 Seiten, Festeinband | 118,00 € | ISBN 978-3-506-79387-4

rezensiert von

Tilmann Siebeneichner, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Rezension als pdf

Kein Plan überlebt die erste Feindberührung, lautet ein unter Soldaten gern zitiertes Bonmot, das dem preußischen Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke zugeschrieben wird. Für Johannes Mühle stellen die umfassenden Mobilmachungspläne und detaillierten Kriegsvorbereitungen, die das SED-Regime seit den 1970er-Jahren entwickelte und erprobte, um für den Ernstfall gewappnet zu sein, hingegen ein »ideales Instrumentarium dar, welches einen einzigartigen Zugang zur viel beschworenen, aber nie wirklich erfassten Militarisierung der DDR« eröffnet (S.2).

Dass insbesondere in der Ära Honecker die DDR zu den am stärksten militarisierten Gesellschaften ihrer Zeit zu rechnen war, zählte bereits Mitte der 1990er-Jahre zu den Allgemeinplätzen der DDR-Historiografie. Fast 30 Jahre lang ist diese Einschätzung immer wieder bemüht, kaum jedoch eingehender überprüft worden. Das mag daran liegen, dass für den Begriff der Militarisierung durchaus widersprüchliche Definitionen vorliegen. Es könnte aber auch damit zusammenhängen, dass die Invokation des Begriffs häufig einer normativen Perspektive das Wort redet, die zwar eine Menge über Absichten, Pläne und Vorsätze aussagt, die auf den Kommandohöhen der Macht getroffen wurden, weit weniger indes über historische Realitäten und die gesellschaftliche Reichweite dieser Absichten, Pläne und Vorsätze.

Johannes Mühles Arbeit über Kriegsbereitschaft und Mobilmachung in der Ära Honecker setzt diese Tradition eher fort, als dass sie mit ihr bräche. In seiner Einleitung fügt der Verfasser der Diskussion verschiedener relevanter Militarismus- und Militarisierungsdefinitionen ein eigenes Modell hinzu, das aus insgesamt neun Charakteristika besteht, sich in erster Linie jedoch durch eine normative Prämisse auszeichnet: Zentral für die historische Einordnung des »militarisierten Sozialismus« ist ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis der SED, so Mühle (S.23). Ungewöhnlich ist sein Militarisierungsmodell nicht nur, weil der Autor keinerlei Gründe dafür nennt, warum er das Sicherheitsbedürfnis der SED als »übersteigert« klassifiziert, und auch unbenannt bleibt, welche Kategorien und Maßstäbe seinem Urteil zugrunde liegen, sondern vor allem auch deshalb, weil die Ideologie – die in der Forschung üblicherweise als konstitutives Moment des »militarisierten Sozialismus« in der DDR betrachtet wird[1] – in Mühles Modell eine nur nachrangige Rolle spielt. Weitaus vordinglicher sind dem Autor die zeitgenössischen militär- und sicherheitspolitischen Erwägungen, die sich aus der Einbindung der DDR in den Warschauer Pakt ergaben und nach einer Verteidigungsfähigkeit verlangten, die nicht nur »in der Gefechtsbereitschaft der Streitkräfte, sondern mehr noch im Entwicklungsstand von Ökonomie, Wissenschaft, Technik und Bevölkerung sowie der jeweiligen Einsatzfähigkeit für einen Krieg« bestand (S.139).

Wie die DDR nicht nur ihre Streitkräfte, sondern ihre gesamte Bevölkerung möglichst rasch und umfassend in die Lage zu versetzen gedachte, einen konventionellen Krieg zu führen, ist die Leitfrage von Mühles Untersuchung, die sich in drei Teile gliedert. Das der Einleitung folgende zweite Kapitel zeichnet die konzeptionelle Genese des Mobilmachungssystems der DDR zwischen 1950 und 1990 nach. Erste organisierte Versuche, »eine Streitmacht beweglich und operationsfähig zu machen« (S.58) – so Mühles Definition von »Mobilmachung« – lassen sich bereits in den 1950er-Jahren ermitteln. Systematische Abstimmungen (wie die »Mobilmachungssicherstellungsanordnungen« für Verwaltungen und Wirtschaft vom Oktober 1975) und juristische Grundlagen (wie das Verteidigungsgesetz vom Oktober 1978) wurden hingegen erst im Laufe der 1970er-Jahre geschaffen und in den Folgejahren immer weiter ausgestaltet. Im Zuge dieses Prozesses erhöhte sich der Zugriff des Militärs auf alle Bereiche der DDR-Gesellschaft kontinuierlich und »geradezu krakenartig« (S.2). Handlungsleitend waren dabei die »Selbstperzeption der DDR-Führung« und die bündnisinterne bzw. sowjetische Vorgabe, »das Staatsgebiet eingehend als Frontgebiet und Hinterland personell wie materiell auf einen militärischen Konflikt vorzubereiten« (S.207).

Das dritte Kapitel »Mobilmachungsplanung und Kriegsvorbereitung« untersucht dann die Gewährleistung der »Operationsfreiheit« der in den Einsatz zu bringenden militärischen Einheiten als vorrangige Prämisse realsozialistischer Mobilmachungsabsichten. Diese zielte auf die uneingeschränkte Handlungsfreiheit aller im Konfliktfall mobilisierten Streitkräfte (der eigenen »bewaffneten Organe«, aber auch derjenigen der Warschauer Pakt-Staaten, die im Konfliktfall auf dem Territorium der DDR operieren sollten) und beinhaltete deshalb den militärischen Schutz des Hinterlandes, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, den Schutz von Produktionsanlagen und die Funktionsfähigkeit der Infrastruktur. Damit begründete sie zugleich einen umfassenden Zugriff des Militärs auf sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. »Der Einfluss der militärischen Mobilmachung auf die zivile Produktion durch den Abzug von Produktionskräften und -mitteln wäre erheblich gewesen. Die Blockierung der Straßen und Schienen durch Militärtransporte hätte die Produktions- und Verteilungsprobleme sowie Lieferbeziehungen zwischen einzelnen Wirtschaftsbereichen weiter erschwert«, so Mühles Charakterisierung eines Mobilmachungssystems, das die DDR an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit geführt hätte (S.319).

Ob diese Extrapolation schon hinreicht, Mühles These eines »übersteigerten Sicherheitsbedürfnisses« der SED zu belegen, bleibt zu diskutieren. Durchaus bedauerlich ist es, dass der Autor weder auf die sich im Sommer und Herbst 1989 formierende Protestbewegung und deren Perzeption innerhalb des SED-Sicherheitsapparates eingeht, noch die Frage nach der Rolle der Gewalt im revolutionären Herbst 1989 zum Anlass nimmt, danach zu fragen, ob diese zur Auslösung vorhandener Mobilmachungspläne führte und wie sich diese im Ernstfall bewährten.[2] Stattdessen widmet sich Mühle im vierten und letzten thematischen Kapitel seiner Untersuchung einer Fallstudie, in der er die Vorbereitungen und Mobilmachungspläne im Bezirk Frankfurt/Oder genauer untersucht – ein Bezirk, der sowohl als sicheres Hinterland als auch als Durchmarschgebiet bedeutsam war. Grundsätzlich ist der Vorsatz, die zuvor entfalteten komplexen und mitunter hochtheoretischen Vorbereitungen auf eine Fallstudie herunterzubrechen, absolut zu begrüßen. Angesichts der sich historisch zuspitzenden Situation in der DDR und eingedenk des eingangs zitierten Bonmots bleibt jedoch zu fragen, warum der Autor sich auf ›Trockenübungen‹ aus der Zeit bis 1988 beschränkt, wenn er doch auch den Ernstfall von 1989 hätte untersuchen und derart die empirische Probe aufs Exempel hätte vornehmen können. Warum das hochgerüstete SED-Regime trotz intensiver und ständig verfeinerter Vorbereitungen auf den Ernstfall seine Macht im Herbst 1989 so sang- und klanglos abgab, ist eine Frage, die die DDR-Historiografie weiterhin beschäftigt. So verdienstvoll Mühles Bemühungen sind, diese Vorbereitungen quantitativ und qualitativ aufzuarbeiten, so schematisch bleibt jedoch ein Zugriff, der Militarisierung mehr oder weniger mit militärischen Planspielen gleichsetzt und die historische Praxis weitgehend ausblendet.

Militarisierung droht derart gefasst zu einer eher technischen Analysekategorie zu werden, die aber immerhin noch den vom Autor in seiner Einleitung wiederholt geforderten Anschluss an eine Gesellschaftsgeschichte der DDR biete würde, wenn man die SED-Herrschaft als eine Art Kampagnen-Diktatur begreifen würde, deren Legitimation sich gerade nicht aus Wahlen speiste, sondern aus ihrer Fähigkeit, die Massen fortwährend und insbesondere in krisenhaften Zeiten in eigener Sache zu mobilisieren.[3] Ein Zugriff, der Militarisierung in erster Linie an Alarmierungszeiten, »Operationsfreiheiten« und verfügbaren Reserven bemisst, muss hingegen blind bleiben für die kulturellen Dimensionen des Begriffs, der sich im Falle des »Arbeiter-und-Bauern-Staates« eben nicht allein in der Einbindung in das Verteidigungssystem des Warschauer Pakts erschöpfte, sondern sich auch und insbesondere aus bis in das Kaiserreich zurückreichende Avantgarde-Fantasien innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung speiste, die daraus hinausliefen, über die eigene Klasse wie über eine disziplinierte Armee verfügen zu können.[4] Betrachtet man die DDR wiederum als »Organisationsgesellschaft«, in der die möglichst lückenlose Erfassung und Einbindung aller Angehörigen als zentrales Mittel der Herrschaftsausübung und Kontrolle fungierte[5], sind die umfangreichen und alle gesellschaftlichen wie staatlichen Bereiche mit einbeziehenden Pläne nicht allein als Ausweis militärischer Kriegsvorbereitungen zu betrachten, sondern offenbaren in erster Linie eine kulturell tradierte und mythisch überhöhte Allmachtfantasie, die im Herbst 1989, als es einmal mehr und in zugespitzter Form darum ging, die Massen in eigener Sache zu mobilisieren, die SED zum Opfer ihrer selbstgeschaffenen »Faktizität der Fiktionen« (Alf Lüdtke) werden ließ.[6] Es wäre jedenfalls spannend gewesen, danach zu fragen, inwiefern die umfassenden und detaillierten Mobilmachungspläne allein durch ihren dokumentarisch beglaubigten Umfang ein Maß an Stabilität und Sicherheit suggerierten, dessen Faktizität in der alltäglichen Herrschaftspraxis des Realsozialismus zunehmend infrage gestellt wurde.

 

Zitierempfehlung

Tilmann Siebeneichner, Rezension zu: Johannes Mühle, Un-Friedensstaat DDR. Mobilmachung, Kriegsbereitschaft und Militarisierung zwischen 1970 und 1990, Brill Schöningh, Paderborn 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82019.pdf> [8.10.2024].

 

[1] Vgl. Heribert Seubert, Zum Legitimitätsverfall des militarisierten Sozialismus in der DDR, Münster 1995.

[2] Vgl. dazu Martin Sabrow (Hrsg.), 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012.

[3] Vgl. dazu Monika Gibas/Rainer Gries, »Vorschlag für den Ersten Mai: die Führung zieht am Volk vorbei!« Überlegungen zur Geschichte der Tribüne in der DDR, in: Deutschland Archiv 28, 1995, S.481–494.

[4] Vgl. dazu Gerhard Hauck, »Armeekorps auf dem Weg zur Sonne« – Einige Bemerkungen zur kulturellen Selbstdarstellung der Arbeiterbewegung, in: Dietmar Petzina (Hrsg.), Fahnen, Fäuste, Körper. Symbolik und Kultur der Arbeiterbewegung, Essen 1986, S.69–89.

[5] Vgl. Detlef Pollack, Das Ende einer Organisationsgesellschaft. Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR, in: Zeitschrift für Soziologie 19, 1990, S.292–307.

[6]Alf Lüdtke, Sprache und Herrschaft in der DDR. Einleitende Überlegungen, in: Peter Becker/ders. (Hrsg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte, Berlin 1997, S.11–26.

Helke Rausch, Wissensspeicher in der Bundesrepublik. Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main 1945–1990

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 430 Seiten, gebunden | 40,00 € | ISBN 978-3-8353-5487-6

rezensiert von

Sven Kuttner, Universitätsbibliothek der LMU München

Rezension als pdf

Mit der zweibändigen Darstellung von Sören Flachowsky zur Geschichte der Deutschen Bücherei in Leipzig von 1912 bis 1945 und der Studie von Christian Rau zu ebendieser in der DDR von 1945 bis 1990, beide 2018 im Göttinger Wallstein Verlag erschienen, hat die wechselvolle Geschichte der deutschen Nationalbibliotheken deutlich an Kontur und Tiefenschärfe gewonnen.[1] Mit der Arbeit von Helke Rausch liegt nun auch der ergänzende Baustein zum Frankfurter West-Pendant bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 vor.

Die Deutsche Bibliothek erblickte 1946 als ein Kind des sich anbahnenden Kalten Krieges und der absehbaren Teilung Deutschlands das Licht der Welt. Ihre Eltern waren ein Westableger des ehemaligen Leipziger Börsenvereins und die Stadt Frankfurt am Main, als Geburtshelferin und Patin firmierte die US-amerikanische Besatzungsmacht. Die Bibliothek war nicht das ersehnte Wunschkind einer Liebesheirat, sondern wurde mit einem erkennbar pragmatisch-provisorischen Zuschnitt aus der Taufe gehoben. Als westlicher Zweig der Deutschen Bücherei in Leipzig sollte ihr Dasein auf Zeit begrenzt sein, solange die westlichen Besatzungszonen von der Sowjetischen Besatzungszone separiert waren. Für eine Entfaltung blieb ihr zunächst buchstäblich wenig Raum; sie kam notdürftig in einem Trakt der kriegszerstörten Rothschild’schen Bibliothek am Frankfurter Untermainkai unter, wo auch die altehrwürdige Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt ihr Notquartier bezogen hatte. Aus dieser Unterbringung ergab sich die anfängliche institutionelle Verklammerung in Gestalt des zweifachen Direktors Hanns W. Eppelsheimer, dessen Vita im Gegensatz zu der einiger anderer Repräsentanten der Bibliothekarszunft nach dem Ende des nationalsozialistischen Verbrecherregimes über alle politischen Zweifel erhaben war. Der Idee einer Bibliotheksgründung gewann die US-amerikanische Besatzungsmacht aus reinem Verwaltungskalkül eine positive Seite ab, denn von deren bibliografischen Verzeichnissen und magazinierten Veröffentlichungen versprach sie sich eine zusätzliche Kontrollinstanz über den streng überwachten westdeutschen Publikationsmarkt. Und auf das Angebot der Besatzungsmacht ließen sich westdeutsche Verleger und Buchhändler nur zu gerne ein, um unter den neuen politischen Bedingungen ihre Geschäftsstrukturen reaktivieren zu können. Alles in allem war die Gründung das Resultat eines nüchternen Pragmatismus, der für die frühen Jahre der Deutschen Bibliothek konstituierend sein sollte, wie die Autorin überzeugend herausarbeitet.

Erst das Gesetz über die Deutsche Bibliothek vom 31. März 1969 beantwortete deren mehr als zwei Jahrzehnte offene Statusfrage und verankerte sie unwiderruflich in der kulturellen Infrastruktur der Bundesrepublik. In ihrer neuen Form als bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts verblieben zwar Börsenverein und Frankfurter Stadtmagistrat in ihren Verwaltungsgremien, die unter anderem um Repräsentanten der Deutschen Forschungsgemeinschaft erweitert wurden; über die Haushaltsmittel entschied aber der Bund. Ferner integrierte das Gesetz Exil- und Musikarchiv als tragende Säulen der Frankfurter Bestandstektonik. Der Sammelauftrag wurde um die auditive Moderne erweitert, die als Dependance im DDR-nahen West-Berlin platziert wurde, und der Sammlungsbeginn von 1945 auf 1933 vorgezogen, um gegen den massiven Kulturverlust anzuarbeiten, den das NS-Regime als Scherbenhaufen hinterlassen hatte. Im Exilarchiv manifestierte sich die gewachsene Sensibilität für den Ausnahmecharakter der Exilliteratur mit ihrem identitätsstiftenden Potential für die Bonner Republik. Dank Pflichtexemplarrecht war die Deutsche Bibliothek nicht mehr als lästige Bittstellerin auf freiwillige Belegexemplare der Börsenvereinsmitglieder angewiesen, sondern konnte selbstbewusst ihren Bestandsaufbau mit überregionalem Sammelanspruch angehen. Wenngleich sie damit nationalbibliothekarische Funktionen erwarb, blieb sie doch, wie Rausch darlegt, im geteilten Deutschland stets eine Nationalbibliothek im Wartestand. Die unausgesprochenen Begriffe Nationalbibliografie und Nationalbibliothek als zentrale Protagonisten in der rhetorischen Kampfarena zwischen Frankfurt und Leipzig kontextualisierte das Gesetz mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik. Diesen Status sprach es dem Leipziger Pendant auf dem Staatsgebiet der DDR ex silentio ab, weil dieses sich – realsozialistisch korrumpiert und zensierend – einer authentischen und uneingeschränkten Sammlungsverantwortung entzog.

Dass der Zusammenbruch der DDR im Kontext der Implosion des gesamten Ostblocks 1989/90 die Bibliotheken in Frankfurt und Leipzig unter einem institutionellen Dach vereinen würde, traf beide Seiten gleichermaßen unvorbereitet. Die Wiedervereinigung firmierte im etablierten Kulturleben der Bonner Republik als abstraktes Konstrukt für politische Sonntagsreden und die jährliche pflichtübungsgleiche Gedenkveranstaltung zum 17. Juni, im anderen Teil Deutschlands allenfalls als ein Wolkenkuckucksheim, das im eingemauerten SED-Spitzelstaat kriminalisiert und unaussprechlich blieb. Die Darstellung der Freiburger Historikerin endet daher auch vor der Fusionsgeschichte der Bibliotheken im wiedervereinigten Deutschland; diese steht auf einem anderen, noch zu schreibenden Blatt.

Die Etablierung der Deutschen Bibliothek als eine strahlende westdeutsche Erfolgsgeschichte teleologisch zu interpretieren, hat die Autorin souverän vermieden. Eine solche war sie nämlich mitnichten, die Einrichtung hatte angesichts der Kulturhoheit der Bundesländer mit erheblichem föderalem Misstrauen und ebenso mit bundespolitischem Desinteresse zu kämpfen. Im Unterschied zu den Staatsbibliotheken in West-Berlin und München gebrach es ihrer Bestandstektonik an der historischen Tiefendimension, mit der man sich an Spree und Isar gerade in den 1970er- und 1980er-Jahren als kulturelle Schatzhäuser mit nationalbibliothekarischem Selbstverständnis sehr selbstbewusst und auf quasi internationaler Augenhöhe präsentierte. In dieser bibliothekarischen Königsklasse mit mittelalterlichen Prachthandschriften sowie singulären Textzeugen deutscher Kultur und Vergangenheit konnte die Deutsche Bibliothek nicht mitspielen. In Frankfurt residierte pragmatisch-nüchtern der Wissensspeicher des modernen Nachkriegsdeutschlands in seiner Westausgabe, ein akkurater und fleißiger Bibliograf sowie Vorreiter der EDV-gestützten Bibliotheksautomatisierung, der in der gesellschaftlich konsensfähigen Vergangenheitsverdrängungsschleife des CDU-Staats der Adenauer-Ära verharrte, bis sich in den 1960er-Jahren die Spielräume für das Publizieren und Sammeln deutlich erweiterten. Mit Kurt Köster stand der Bibliothek von 1959 bis 1975 auch ein Direktor vor, der sich als ein Repräsentant eines geläuterten Deutschlands verstand und die weltweit beachtete Ausstellung »Exil-Literatur 1933–1945« von 1965 verantwortete. Hier offenbarte sich der Wertekompass der Bibliothek mit seinem gewachsenen demokratischen Selbstverständnis und moralischen Gewissen nach dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch.

Mit einem dezidierten kultur- und wissenschaftshistorischen Ansatz bewegt sich Helke Rausch abseits der gängigen Pfade einer rein institutionsorientierten Bibliotheksgeschichtsschreibung. Ihre somit bisweilen aus unkonventionellem Blickwinkel erfrischend geschriebene, gut lesbare und stets fundierte Studie wird wohl nicht das letzte Wort zur Geschichte des Frankfurter Wissensspeichers und seiner Bedeutung für die Wissenschafts- und Kulturgeschichte Westdeutschlands sein, aber zweifelsohne ein überaus gelungenes sowie sehr gewichtiges.

 

Zitierempfehlung

Sven Kuttner, Rezension zu: Helke Rausch, Wissensspeicher in der Bundesrepublik. Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main 1945–1990, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 65, 2025, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82018.pdf> [8.10.2024].

 

[1]Sören Flachowsky, »Zeughaus für die Schwerter des Geistes«. Die Deutsche Bücherei in Leipzig 1912–1945, 2 Bde., Göttingen 2018; Christian Rau, »Nationalbibliothek« im geteilten Land. Die Deutsche Bücherei 1945–1990, Göttingen 2018.

Jeffrey Ahlman, Ghana. A Political and Social History

Zed Books | London 2023 | 272 Seiten, Paperback | £ 19.79 | ISBN 9780755601561

rezensiert von

Tristan Oestermann, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Rezension als pdf

Soll man die Geschichte einer postkolonialen Nation in Afrika schreiben? Hat nicht die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten hinreichend auf die Problematik der Nationalgeschichte hingewiesen? Haben nicht Forscherinnen und Forscher sowie panafrikanische Aktivistinnen und Aktivisten immer wieder die Künstlichkeit kolonialer Grenzen und die Bedeutung anderer, nur teilweise mit der Nation überlappender Zugehörigkeiten betont? Jeffrey S. Ahlman ist sich dieser Probleme bewusst und thematisiert sie in der Einleitung seiner Nationalgeschichte Ghanas. Der Nationalstaat als politisches Gebilde, so argumentiert der Autor, sei heute ein Faktum. Was es aber bedeute, Ghanaer bzw. während der Kolonialherrschaft ein »Gold Coaster« zu sein, habe sich angesichts konkurrierender Visionen und pluraler Zugehörigkeiten – von lokalen, ethnischen, religiösen, verwandtschaftlichen und nationalen bis zu panafrikanischen Identitäten – immer wieder verändert. Die Frage der Zugehörigkeit zur Nation und was dies eigentlich bedeute, so Ahlmans These, sei ein wichtiger Teil der Geschichte Ghanas – und das Thema des vorliegenden Überblickswerks. Einleitung, acht Kapitel und Schluss liefern eine Gesamtschau ghanaischer Geschichte von ca. 1500 bis heute für ein allgemeines, an der Geschichte Ghanas interessiertes Publikum.

Zuerst unterstreicht der Autor, wie bedeutsam die Integration der späteren Gold Coast in die Atlantische Welt war. Seit der Frühen Neuzeit orientierten sich die Menschen an der Küste und immer größerer Teile des Hinterlandes mehr und mehr in Richtung Atlantik. Denn der atlantische Handel mit Sklavinnen und Sklaven, später mit Palmöl, sorgte zwar einerseits für großes Leid, versprach andererseits aber auch großen Reichtum. Im 19. Jahrhundert gelang es den Briten dann zunehmend, die Herrschaft über die gesamte Gold Coast und ihr Hinterland zu übernehmen. Die frühe Kolonialzeit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, so der Autor, brachte große politische, soziale und wirtschaftliche Veränderungen, infolge derer die Menschen, vor allem die westlich gebildeten Schichten, begannen, mit einer neuen Identität als »Gold Coaster« und als Untertanen im britischen Empire zu experimentieren.

Die größte koloniale Veränderung war jedoch der Aufstieg der Kakaoproduktion. Gefördert durch die Kolonialmacht, in erster Linie aber durch die Initiative lokaler Produzentinnen und vor allem männlicher Produzenten stieg Kakao Anfang des 20. Jahrhunderts zum wichtigsten Exportprodukt der Kolonie auf. Einerseits knüpfte der Kakaoanbau an ältere soziale Muster an, etwa Migrations- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Asante und der Bevölkerung der nördlichen Gebiete. Andererseits besaß er aber auch eine gewaltige soziale Triebkraft, die neue Formen von Macht und Zugehörigkeit schuf.

Während der Autor merkwürdigerweise nur wenige Worte zum Ersten Weltkrieg und zur Zwischenkriegszeit verliert, nuanciert er im Anschluss das althergebrachte Narrativ zum Aufstieg der antikolonialen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Ghanaer einen wichtigen militärischen Beitrag auf Seiten der Alliierten geleistet hatten. Er zeigt, dass die Kräfte, die nun die Unabhängigkeit anstrebten, keine Monolithen waren. Sie wurzelten in einer breiten politischen Bewegung gegen soziale, politische und wirtschaftliche Missstände.

1957 wurde Ghana unter Kwame Nkrumah als erstes subsaharisches Land unabhängig. Ghana wurde zu einem panafrikanischen Symbol aber auch zu einem bedeutenden globalen, antikolonialen Akteur. Nkrumah verfolgte die Vision eines sozialistischen, panafrikanisch agierenden Ghana jenseits der Blockbildung des Kalten Krieges. Er wollte Ghana als leuchtendes Beispiel nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch unabhängig machen. Teure Entwicklungsprogramme wurden aufgelegt. Das Bedeutendste, das Volta River Project, sollte mithilfe von Wasserkraft die Energieversorgung Ghanas sicherstellen und eine Industrialisierung ermöglichen. Für diese Projekte verschuldete Ghana sich stark bei westlichen Gläubigern, während sich für große Teile der Bevölkerung die wirtschaftliche Lage ständig verschlechterte. Gleichzeitig wurden die Spielräume für Alternativen zu Nkrumahs Politik und für andere politische Akteure, etwa die Gewerkschaften, immer kleiner. Sie wurden von der Regierungspartei zunehmend unterdrückt. Die Repression sowie die schuldenfinanzierte Entwicklungspolitik Nkrumahs und deren Auswirkungen auf die Bevölkerung führten schließlich 1966 zu seinem Sturz.

Die neue, nach dem Rückzug der Militärs demokratisch gewählte Regierung demontierte Nkrumahs panafrikanischen Sozialismus und verfolgte eine westlich orientierte Politik, hatte aber weiter mit großen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, auch aufgrund sinkender Preise für das immer noch wichtigste Exportgut Kakao. Der Schuldendienst unterminierte, so Ahlman, die Souveränität Ghanas, da Teile seiner Politik nun von Geberländern diktiert wurden. Die politische und ökonomische Souveränität wiederherzustellen, so seine These, war das beherrschende Thema in Ghana während der 1970er-Jahre. Da jedoch keine der zivilen und militärischen Regierungen des Jahrzehnts dieses Ziel erreichen konnte, verloren sie alle schnell an Legitimität. Die 1970er-Jahre waren deshalb geprägt von Militärputschen, populistischer, auch xenophober Politik und von ökonomischen Härten für die Bevölkerung.

Das finale Kapitel beschreibt, wie Ghana in der Ära Jerry John Rawlings, der sich 1979 und 1981 zweimal an die Macht putschte, zwischen populistischer Politik und einem durch Weltbank und Internationalen Währungsfonds auferlegten neoliberalen Kurs schwankte. Das Buch endet mit der Re-Demokratisierung Ghanas durch Rawlings, der nach 1992 als nunmehr gewählter Präsident weiter im Amt blieb. Trotz wachsender Ungleichheit blieb Ghanas Demokratie von nun an stabil. Die Frage, die sich der Autor abschließend stellt, lautet, ob es dem Land gelingen wird, seine Demokratie in den kommenden Jahren gerechter und inklusiver zu gestalten – und ob es seine durch die historische Bedeutung Ghanas als antikoloniale, panafrikanische Avantgarde herausgehobene Position nutzen kann, um noch einmal in den Kontinent hineinzuwirken.

Trotz seines Titels handelt es sich bei dem vorliegenden Buch nicht um eine klassische Sozialgeschichte. Wirtschaft, Klassen und soziale Zusammenhänge stehen nicht im Mittelpunkt der Studie, sondern die Politik und die Frage nach Zugehörigkeit in Zeiten großer Veränderungen. Trotzdem ist Ahlmann ein großer Wurf gelungen, der in vielerlei Hinsicht vorbildlich ist. Obwohl für die interessierte Öffentlichkeit geschrieben, beschränkt sich der Autor nicht darauf, die aktuelle Forschung zusammenzufassen, sondern liefert eine eigene Interpretation der Geschichte Ghanas. Diese stützt er auf umfangreiches Quellenmaterial – etwa die schon im 19. Jahrhundert zahlreichen lokalen Zeitungen, zeitgenössische Publizistik, ghanaische Regierungsakten und archivierte »Oral History«-Interviews. Durchgängig lässt er Ghanaerinnen und Ghanaer ihre Sicht auf die historischen Ereignisse, ihre politischen Visionen und ihre Interpretationen der Geschichte schildern. Auf diese Weise zeichnet er die Debatten nach, die das Land vor und nach der Unabhängigkeit bewegten. Ahlman macht so die Gold Coast und Ghana als sich verändernde Gesellschaften fassbar. Auch auf die Gefahr hin, dass die zahlreichen Personen- und Ortsnamen Leserinnen und Leser zeitweise überfordern dürften, ist das Buch für Menschen, die sich für die Geschichte Afrikas interessieren und sich erstmals mit dem Thema befassen, von enormem Wert. Aber auch Historikerinnen und Historikern, die sich professionell mit Afrika und seiner Vergangenheit beschäftigen, ist es als Vorbild zu empfehlen, wie Geschichte aus afrikanischer Perspektive geschrieben werden kann.

 

Zitierempfehlung

Tristan Oestermann, Rezension zu: Jeffrey Ahlman, Ghana. A Political and Social History, Zed Books, London 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82011.pdf> [27.8.2024].

Ilko-Sascha Kowalczuk, Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893–1945) / Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator (1945–1973)

C.H. Beck | München 2023 | 1006 Seiten, Hardcover | 58,00 € | ISBN 978-3-406-80660-5

C.H. Beck | München 2024 | 956 Seiten, Hardcover | 58,00 € | ISBN 978-3-406-81396-2

rezensiert von

Martin Sabrow, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Rezension als pdf

Biografien kommunistischer Politiker sind häufig durch eine auffallend karge Quellenlage geprägt: Die oft genug mit Decknamen operierenden Akteure der kommunistischen Ära lassen sich nur schwer als Charaktere greifen; sie verbergen schon der Mitwelt und erst recht der Nachwelt ihr persönliches Denken und Fühlen hinter ihrer politischen Funktion, und sie verschwinden immer wieder gänzlich hinter der Partei, der sie dienen. Nicht zufällig ist auch derjenige Protagonist bislang von der zeithistorischen Diktaturforschung weitgehend randständig behandelt worden, der die Geschichte des deutschen Kommunismus stärker und länger als jeder andere geprägt hat: Walter Ulbricht. Von einstigen Weggefährten gern als »Genosse Zelle« und »Professor Unrat der Revolution« tituliert, der seine präzis funktionierenden Beamtenintrigen für machiavellistische Staatskunst hielt, sagte man Ulbricht schon in den Weimarer Jahren eine eisige Aura der Unnahbarkeit nach oder gar ein »vor Bosheit steifes Gesicht« (Gustav Regler). Wohl ist die Überlieferung im deutschen wie im russischen Parteiarchiv denkbar breit – doch die zahllosen Redemanuskripte, Zeitungsartikel und Sitzungsprotokolle und ebenso die in der DDR gesammelten und innerparteilich redigierten »Veteranenzeugnisse« einstiger Kampfgefährten bieten wenig Stoff für ein farbiges Persönlichkeitsbild; sie spiegeln vor allem die tote Blässe einer Bewegung, die ihre Lebendigkeit ganz auf die mythisierte Partei übertragen hat.

In seiner zweibändigen Ulbricht-Biografie sucht Ilko-Sascha Kowalczuk der Sprödigkeit seines Sujets und der Kargheit seiner Quellen mit einer langjährigen Recherche beizukommen, die ihresgleichen sucht. Schon im ersten, bis zur Zäsur von 1945 reichenden Band wird für die lebensgeschichtliche Nachzeichnung aufgeboten, was nur gefordert werden kann: empirische Ausdauer, analytische Präzision und Mut zur Neudeutung. Die eintausend Seiten und über viertausend Fußnoten des Bandes künden von dem hartnäckigen und andauernden Ringen mit einem historischen Akteur, dessen persönliche Verschlossenheit und dessen konspiratives Politikverständnis sich solcher Spurenverfolgung mit derselben Hartnäckigkeit verweigert, mit der der Biograf sie betreibt. Das Ergebnis ist beeindruckend. Detailliert und gründlich zeichnet der Autor die politische Karriere des Parteibürokraten nach, und er räumt mit vielen Unschärfen und Irrtümern der bisherigen Ulbricht-Biografik auf. Wie er eingehend belegen kann, folgte Ulbricht anders als bislang angenommen keineswegs sklavisch wechselnden Mehrheiten, sondern entwickelte sich als Parteichef erst in Thüringen und später in Berlin-Brandenburg zu einem eigenständigen Politiker, der in den Konflikten der Weimarer Jahre ebenso mutig Partei nahm wie später in den Fraktionskämpfen der Exilzeit, um schließlich in Moskau die Intrigen und Anschuldigungen während des Großen Terrors unbeschadet zu überstehen und so keineswegs zufällig zum eigentlichen Parteiführer der in Deutschland zerschlagenen KPD aufzusteigen.

Eine solche Urteilskorrektur war überfällig und sie ist Kowalczuks Verdienst. Doch der Autor will mehr – er ficht für eine umfassende Neuzeichnung des Ulbricht-Bildes. Der farblose Unsympath mit dem kalten Blick und der dünnen Fistelstimme, der politische Befreiung in autoritäre Organisation übersetzte, er wird in der Sicht seines Biografen zum wichtigsten deutschen Kommunisten in der Weimarer Republik und im späteren Moskauer Exil. Wie passt dieses Urteil zu den entgegenstehenden Eindrücken und Urteilen so vieler einstiger Weggefährten aus der Zeit vor 1945? Deren fast durchweg kritische, häufig feindselige Bewertung unterwirft Kowalczuk umstandslos den Wertmaßstäben der Gegenwart, um sie unglaubwürdig zu machen: Die herabsetzende Schilderung des unansehnlichen Mannes mit den schwimmenden Augen und der vermanschenden Sprache wird Kowalczuk zum irritierenden Bodyshaming; das Kehlkopfleiden, das Ulbricht so viel bösartige Häme eingetragen habe, deutet der Biograf als schmerzvoll erlittene Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrung. Zuweilen nimmt Kowalczuk in diesem Zusammenhang sogar argumentative Anleihe bei der Hagiografik aus der frühen DDR. So, wenn es etwa heißt, dass Walter Ulbricht »ganz glücklich« sei, einen Flugblattdruck zustande gebracht zu haben, oder der Autor findet, dass sein Held »vielleicht kein Bibliophiler, aber ein großer Bücherfreund« war. Auch die Feststellung, dass tschechoslowakische Fragen zeitlebens ein besonderes Augenmerk für Ulbricht blieben, wirkt angesichts von dessen Bereitschaft zur Beteiligung am sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 doch allzu glättend.

Angesichts der biografischen Unergiebigkeit der parteioffiziellen Überlieferung greift Kowalczuk dankbar auf die wenigen überlieferten Zeugnissen des privaten Lebens Ulbrichts zu. Doch selbst die etwa 60 Briefe, die er mit seiner Geliebten und späteren Ehefrau Lotte Kühn während der Moskauer Exiljahre wechselte, geben wenig Aufschluss. Sie bieten etwa den Einblick, dass Ulbricht nicht gern früh aufstand, und lassen den Biografen ernsthaft darüber rätseln, warum die beiden sich wechselseitig mit »Schufterle« anredeten. Mehr als die Erkenntnis, dass selbst ein Mann wie Ulbricht neben dem amtlichen ein privates Gesicht hatte, gibt auch diese Quellengattung nicht her. Blutlos bleibt in Kowalczuks Buch auch sonst das Personal, das die historische Bühne der KPD in der Weimarer Zeit und dann in der Illegalität bevölkerte. Wie Schemen huschen Ernst Thälmann und Herbert Wehner, Wilhelm Pieck und Franz Dahlem, Dmitri Manuilski und Georgi Dimitroff und eine Fülle weiterer plötzlich auftauchender und wieder verschwindender Namen durch eine unendliche Abfolge von Konflikten und Episoden, die sich nicht leicht zu einer zusammenhängenden Erzählung fügen. Es nimmt daher nicht wunder, dass der Autor vielfach überlang an Einzelthemen der KPD-Geschichte wie der Rolle des Bezirks Thüringen oder der Verhaftung Thälmanns im März 1933 verweilt, in denen Ulbricht selbst nur am Rande erscheint.

So verkörpert der frühe Ulbricht am Ende auch für seinen jüngsten Biografen nur jenen aktenfressenden Apparatschik par excellence mit dem phänomenalen Gedächtnis, als der er schon den Zeitgenossen erschienen war. Zu diesem Ergebnis trägt bei, dass Kowalczuk den einschneidenden Zäsuren der Weimarer KPD-Geschichte wenig Aufmerksamkeit schenkt und auch einer Unterscheidung von Leninismus und Stalinismus nichts abgewinnen kann. So gleicht sein Bild der kommunistischen Bewegung ungewollt dem ihres Parteisoldaten Ulbricht – auch in Kowalczuks Verständnis waren ihr stalinistische Zentralität und Moskauhörigkeit von Beginn an ebenso genetisch eingeschrieben wie die erbitterte Bekämpfung der unentwegt als »sozialfaschistisch« denunzierten Sozialdemokratie. Folgerichtig mischt sich auch in Kowalczuks Ulbricht-Porträt ein Farbton jener lebensgeschichtlichen Unwandelbarkeit, die das Grundmuster kommunistischer Ich-Erzählungen vor und nach 1989 bildet. Ganz in ihrem Duktus verfolgt er die unbeirrbare politische Haltung seines Helden bis in die Revolutionszeit 1918/19 zurück und schließt am Ende des ersten Bandes mit der Feststellung, dass Ulbricht wurde, was er werden wollte: der kommunistische Diktator in Deutschland.

Diesem Vorausblick sucht der im Frühjahr 2024 erschienene zweite Band gerecht zu werden, der nach dem »Genossen Zelle« nun dem ostdeutschen Machthaber gilt – Kowalczuk porträtiert ihn als Staatsmann, der auf Augenhöhe mit seinem Gegenspieler Konrad Adenauer agierte und in seiner historischen Bedeutung in eine Reihe mit Willy Brandt und Helmut Kohl zu stellen sei. Wieder begegnet Kowalczuk seiner Aufgabe mit beeindruckender Akribie. Kein noch so entlegenes Zeitzeugnis, keine noch so undeutliche Spur, der er nicht mit der Ausdauer eines Fährtenlesers nachgeht. Noch jedes der 3500 Bücher aus der nachgelassenen Bibliothek Ulbrichts mustert er in der vergeblichen Hoffnung durch, dass deren Zusammensetzung oder wenigstens die eine oder andere Widmung oder Eintragung Rückschlüsse auf individuelle Vorlieben und eigene Gedanken seines Protagonisten erlaubt. Die Wiedergabe des von Kowalczuk in vieljähriger Arbeit gesammelten Wissens droht den erzählerischen Rahmen zu sprengen. Der in sechs Zeitabschnitte mit jeweils bis zu siebzig Teilkapiteln gegliederte Stoff verwandelt die Biografie passagenweise geradezu in ein Ulbricht-Lexikon, das mit Exkursen über Ulbricht-Briefmarken, Ulbricht-Karikaturen und Ulbricht-Gemälden zu allem erschöpfend Auskunft erteilt, was nur irgend mit der Person und Vita des Porträtierten zu tun hat.

Kowalczuk folgt dem Ende April 1945 aus Moskau nach Berlin zurückgekehrten Parteiorganisator Ulbricht von der Wiederherstellung der Verwaltung in der zerstörten Reichshauptstadt über die unter sowjetischem Druck zustande gekommene Verschmelzung von KPD und SPD bis zur Festigung der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetischen Besatzungszone, die ihn 1952 auf einer Parteikonferenz unter tosendem Beifall der Delegierten den Aufbau des Sozialismus verkünden ließ. Nur ein Jahr später aber stand Ulbricht, der seine politische Vision gegen immer stärkeren Widerstand immer rücksichtsloser durchzusetzen suchte, nach Stalins Tod am Rande des Sturzes, vor dem ihn paradoxerweise eben die im Juniaufstand 1953 gipfelnde Empörung der unterdrückten Bevölkerung bewahrte: Als die Sowjets mit Panzermacht eingriffen, wussten sie in ihrer eigenen Herrschaftskrise niemanden, der die Macht besser zu sichern vermochte als er, und zu demselben Ergebnis kamen auch Ulbrichts Mitspieler und Kontrahenten in der SED-Spitze, die ihm zögernd neues Vertrauen entgegenbrachten und dennoch in der Folgezeit entmachtet wurden, sofern sie sich nicht willig unterordneten. In der Folge beschreibt Kowalczuk einen kommunistischen Herrscher, der unbeirrt sein persönliches Regime festigte und mit dem Mauerbau 1961 den Zenit einer unbeschränkten Machtfülle erreichte, die er erst am Ende jenes Jahrzehnts Stück um Stück einbüßte, bis ihm sein Nachfolger Erich Honecker 1971 schließlich das Szepter aus der Hand nahm.

Nichts an dieser Erzählung ist im eigentlichen Sinne neu, aber es malt das üblicherweise grau gehaltene Bild des Ost-Berliner Machthabers mit frischer Farbe neu aus. Bemerkenswert ist auch im zweiten Band, mit welcher Verve der Autor gegen das Klischee des beschränkten Funktionärs anschreibt, das sich bis heute im öffentlichen Gedächtnis hält. Der buchstäblich an allem interessierte Politiker Ulbricht habe in seiner Vielseitigkeit die Grundvoraussetzung für höchste Staatsämter erfüllt, urteilt der Biograf; sein Machtinstinkt und Herrschaftswille zeugten von einer außergewöhnlichen sozialen wie kognitiven Intelligenz, und der angeblich sture Parteibürokrat habe mehr ideologische Beweglichkeit besessen, als das tradierte biografische Klischee zuzugestehen bereit war.

Dennoch entgeht auch der zweite Teil nicht dem Grundproblem, der schon den ersten zu einer oft trockenen Lektüre macht. Es gelingt Kowalczuk trotz allen Bemühens nicht wirklich, die Persönlichkeit Ulbrichts hinter seiner politischen Rolle anschaulich werden zu lassen, weil das verfügbare Material es einfach nicht hergibt. Auch die Fülle der im SED-Parteiarchiv abgelegten Unterlagen aus der Ära Ulbricht, ergänzt um die von der Staatssicherheit gesammelten Informationen und die in Moskau archivierten Protokolle und Einschätzungen, geben kaum den Blick auf Ulbrichts Persönlichkeit und Innenleben frei. Er habe sich zeitlebens für Kunst und Kultur interessiert und ließ sich gern mit einem Buch in der Hand fotografieren, ging wohl auch in Theater- und Opernaufführungen, erfährt der Leser von Kowalczuk und bleibt doch im Ungewissen: »Über Ulbrichts diesbezügliche Erlebnisse ist wenig zu erfahren.« Folgerichtig fallen Kowalczuks Urteile immer wieder ambivalent aus. Zwar weist er das in der bisherigen Forschung vertretene Urteil zurück, dass Ulbricht nur der opportunistische Vollstreckungsbeamte Moskaus gewesen sei. Ob sein harter Kurs gegenüber der DDR-Bevölkerung aber innerer Überzeugung entsprach oder doch vor allem dem Willen der Sowjets folgte, »muss dahingestellt bleiben«; ob er selbst an seine vielen gesamtdeutschen Vorschläge glaubte, »ist nicht eindeutig zu beantworten«. So bleibt Kowalczuks Ulbricht-Biografie seltsam statuarisch; sie entwirft ein Standbild, das sich aus immer neuen politischen Strategie- und Taktikwechseln zusammensetzt, aber so gut wie nie lebensgeschichtliche Veränderung und Reifung sichtbar macht; ein einziges Mal entschlüpft dem Biografen die Feststellung, dass Ulbricht fünf Jahre vor seinem Tod »sichtlich gealtert« wirkt.

Mehr Erschließungstiefe verspricht ein anderer Zugang, der nicht den Verlockungen des »human interest« folgt, sondern den biografischen Zugang als Schlüssel zum Verständnis des politischen Systems nutzt. Auch ihn erprobt Kowalczuk und lässt nicht den geringsten Zweifel darüber aufkommen, dass es sich bei Ulbricht um einen kommunistischen Alleinherrscher von geradezu absolutistischer Macht gehandelt habe. Diese Macht habe sich allerdings nicht aus den inneren Verhältnissen entwickelt – Ulbricht war vielmehr, so der Autor, ein Diktator »neuen Typs«, der von einer fremden Macht eingesetzt worden war, weil er als Moskau-Emigrant die besten Voraussetzungen mitbrachte, den Willen der sowjetischen Besatzungsmacht zu vollstrecken. War die DDR also eine bloße Satrapie von Stalins Gnaden und ihr absolutistischer Herrscher in Wahrheit ein bloßer Diktaturgehilfe? Dieser inneren Widersprüchlichkeit seiner Typusbildung sucht Kowalczuk zu entkommen, indem er Ulbrichts Regime als allmähliche Emanzipation von der sowjetischen Besatzungsherrschaft auf dem Weg zu einer eigenständigen kommunistischen Diktatur auffasst. Nach der Abrechnung mit seinen innerparteilichen Widersachern von Rudolf Herrnstadt bis Wilhelm Zaisser wurde Ulbricht demnach noch in den 1950er-Jahren zu einem Teil des Moskauer Machtsystems mit eigenen Befugnissen. Die Schließung der Grenze nach West-Berlin 1961 forcierte er als entschiedenster Antreiber im Ostblock, und in den Folgejahren entwickelte der vom Politbürokraten zum technokratischen Reformer gewandelte DDR-Staatschef ein solches Maß an unbequemer Eigeninitiative, dass Moskau 1971 schließlich seiner Ablösung durch den leichter lenkbaren Honecker zustimmte, damit die ständigen Alleingänge der sowjetischen Satrapie fortan unterbunden würden.

Um die Konturen eines solchen Herrschaftstypus schärfer zu zeichnen, hätte sich der Vergleich mit anderen Machthabern im sowjetischen Herrschaftsbereich wie Władysław Gomułka in Polen oder János Kádár in Ungarn angeboten. Auf solche Blickerweiterungen verzichtet Kowalczuk jedoch, so wie er auch die permanente Herausforderung durch Ulbrichts westdeutsche Gegenspieler eher am Rande behandelt, um sich ganz auf dessen Rolle als kommunistischer Diktator zu konzentrieren. Dieser Schreibhaltung fallen freilich die Mitspieler zum Opfer. Undeutlich bleibt die Beziehung zum SED-Vorsitzenden und einzigem DDR-Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, den die Sowjets lange als zentrale Führungsfigur ansahen, und mehr noch zu Ulbrichts Zögling Erich Honecker, der in Kowalczuks Schilderung überhaupt erst im Zuge der Ablösung des sich sträubenden Diktators Profil gewinnt und dabei auf die Schurkenrolle des Königsmörders reduziert wird, der am Ende noch den entmachteten Greis in Pantoffeln zur Schau stellt, um sein eigenes Regime zu festigen.

Aber der Alleinherrscher Ulbricht bleibt in Kowalczuks Buch zugleich ein blasser Diktator. Nie fand in der DDR ein Attentat auf den ersten Mann im Staate statt; der Tyrannenmord spielt auf der kommunistischen Bühne keine Rolle. Hing dies womöglich mit dem Zweifel seiner Feinde zusammen, ob Ulbricht überhaupt ein ›richtiger‹ Diktator war, wie sich Kowalczuk selbst fragt? In der Tat: Sein Buch bezeugt, was der Autor nicht akzeptieren will: Die diktatorische Verfassung der DDR bedurfte nicht der Figur eines allmächtigen Diktators. Die Rolle des Alleinherrschers übernahm im Staatssozialismus die Partei. Sie war es, die mit all den vergötternden Attributen ausgestattet wurde, in denen sich ihre Repräsentanten sonnen konnten, bis sie sie im Namen der Partei wieder verloren. Selbstkritisch musste sich der unmittelbar vor dem Machtverlust stehende Ulbricht nach dem niedergeschlagenen Juniaufstand 1953 von dem um ihn entstandenen Personenkult distanzieren, um so seine Stellung als Erster SED-Sekretär zu behaupten; im Namen eines brüskierten SED-Führungskollektivs stieß Honecker knapp zwanzig Jahre später den Alten, der sich zunehmend für unfehlbar gehalten und sich selbst auf eine Stufe mit Marx gestellt hatte, aus seiner Machtstellung, um das System der kollektiven Führung zu erneuern. Weder in dem einen noch in dem anderen Fall ließ diese Entkleidung das Herrschaftssystem wanken; auch in der DDR blieb der Staatssozialismus noch in der zeitweiligen Machtkonzentration auf ihren Repräsentanten eine Parteidiktatur und nicht eine Tyrannenherrschaft.

Insgesamt erweist sich die überaus gründlich recherchierte Ulbricht-Biografie in ihrem ersten Band weniger als ein Politik und Persönlichkeit verknüpfendes Lebensbild denn als biografisch getönte Institutionsgeschichte und in ihrem zweiten Teil als biografische Suche nach einem Alleinherrscher, der in all seiner Machtfülle doch nur das Werkzeug einer kommunistischen Parteidiktatur blieb. Ungeachtet dieser konzeptionellen Einwände aber bleibt Kowalczuks Zweibänder über Ulbricht eine beeindruckende Leistung, die in ihrer empirischen Sättigung eine fühlbare Lücke der bisherigen DDR-Forschung schließt.

 

Zitierempfehlung

Martin Sabrow, Doppelrezension zu: Ilko-Sascha Kowalczuk, Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893–1945), C.H. Beck, München 2023; ders., Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator (1945–1973), C.H. Beck, München 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82016.pdf> [27.8.2024].

David Bebnowski, Kämpfe mit Marx. Neue Linke und akademischer Marxismus in den Zeitschriften »Das Argument« und »PROKLA« 1959–1976

(Geschichte der Gegenwart, Bd. 25)

Wallstein Verlag | Göttingen 2021 | 534 Seiten, gebunden | 46,00 € | ISBN 978-3-8353-5031-1

rezensiert von

Detlef Siegfried, Universität Kopenhagen

Rezension als pdf

Wie entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland eine »Neue Linke« und welche Rolle spielte dabei die Theorie? Diese Frage behandelt das Buch von David Bebnowski. Er konzentriert sich dabei auf die 1959 gegründete und bis heute bestehende Zeitschrift »Das Argument«, deren Erscheinen also auch das Jahr 1968 überschreitet und daher nicht nur die Entstehung, sondern auch Umgruppierungen innerhalb der Neuen Linken vor und nach dem annus mirabilis hervortreten lässt. In den 1970er-Jahren gilt dies auch im Kontrast zur Konkurrenz der Zeitschrift »Probleme des Klassenkampfs«(später kurz »PROKLA«), die 1971 aus politischen Dissoziationen entstanden war – und daher, anders als man den Titel des Buches deuten könnte, nicht gleichgewichtig behandelt wird, sondern nur in seinem letzten Drittel im Spannungsverhältnis zum »Argument«. Eines der wichtigsten Verdienste Bebnowskis besteht darin, dass er die politische Praxis der Linken prominent in die Analyse der Intellectual History einbezieht, also theoretische Konjunkturen und organisatorische Präferenzen zueinander in Beziehung setzt. Zu den maßgeblichen Kontexten gehört das räumliche Umfeld beider Zeitschriften, das »Biotop« West-Berlin, dessen politische Kultur zwar antikommunistisch geprägt war, aber gerade sozialistischen Positionen große Spielräume bot und überdies das Zentrum des zum Zweck der »Reeducation« eingerichteten neuen Faches Politikwissenschaft war. Immerhin besaß das Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität 1960 zehn der damals erst 14 in der Bundesrepublik und West-Berlin existierenden Lehrstühle dieses Faches und viele von ihnen waren mit linken Remigranten besetzt.

»Kämpfe mit Marx« ist, wie der auf praxeologische Aspekte abhebende Titel schon andeutet, mehr als die Geschichte einer Zeitschrift. Neben den unter Berufung auf Marx geführten innerlinken Auseinandersetzungen und dem Kampf um die Etablierung des Marxismus als Zugang zur Analyse der Gegenwart in der geistigen Welt der Bundesrepublik rekonstruiert Bebnowski über »Das Argument«die Entwicklung des theoretischen Horizonts der Neuen Linken in allen ihren Verzweigungen. So tritt für die frühen Jahre der kaum zu überschätzende Einfluss des Philosophen Günther Anders hervor, der der Zeitschrift die Ideen der Frankfurter Schule nahebrachte. Über Margherita von Brentano und Peter Fuhrt wurde »Das Argument« zum zentralen Ort der Beschäftigung mit Faschismustheorien, die Zusammenarbeit mit Schülern des Marburger Politikwissenschaftlers Wolfgang Abendroth bestimmte die Analyse des Kolonialismus. Ein wichtiger Katalysator für die weitere Entwicklung war die frühe Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität und Emanzipation, vermittelt durch Herbert Marcuse. Sie trug entscheidend dazu bei, dass der Gründer der Zeitschrift, Wolfgang Fritz Haug, und die »Argument«-Redaktion insgesamt von der Kultur her zu Marx kamen – eine Linie, die zum zentralen Kontinuitätsfaktor des Haugschen Marxismus werden sollte. Dass es sich dabei trotz Haugs herausgehobener Position als »geistige Autorität« (S. 153) um eine kollektive Suchbewegung handelte, wird besonders deutlich in der Tatsache, dass die Zeitschrift von einem Diskussionszirkel begleitet und vorbereitet wurde, dem »Argument«-Klub, der sich besonders mit den kulturellen Entstehungsbedingungen des Faschismus beschäftigte und Parallelen zu diesen in der Gegenwart sah. Demnach hatte autoritäre Erziehung, kombiniert mit Ablenkung durch Konsum und medialer Manipulation dazu geführt, dass die Menschen ihre Lage nicht mehr durchschauen konnten. Nun sollte es darum gehen, diesen Verblendungszusammenhang zu durchstoßen und Aufklärung zu betreiben. Haugs Medienkritik von 1963 antizipierte bereits die Grundthese seines 1971 erschienenen Klassikers »Kritik der Warenästhetik«. Immer wieder erhellen derartige Längsschnitte und Querverbindungen die Zusammenhänge. Exzellent arbeitet Bebnowski etwa heraus, wie Haug die Autoritäten der Kritischen Theorie imitierte. Der Bezug auf Max Horkheimers Aufsatz »Die Juden und Europa« (1939) – Wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch vom Faschismus schweigen, so Horkheimers berühmte These – präformierte die spätere Ausrichtung des »Argument« auf die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus.

Durch die Nähe zum SDS, dem alle Mitglieder der »Argument«-Redaktion angehörten, ließen dessen innerverbandliche Entwicklungen die Zeitschrift nicht unberührt. Als 1966 die aktionistische Subversive Aktion um Rudi Dutschke den West-Berliner SDS aufmischte, spaltete sich auch der »Argument«-Klub, dessen Mehrheit sich fortan im SDS engagierte und dort dem Primat der Praxis frönte. »Das Argument« hingegen wandte sich der Wissenschaft zu, um als Aktualisierung von Horkheimers »Zeitschrift für Sozialforschung« aus den 1930er-Jahren insbesondere jüngere Wissenschaftler anzusprechen. Im Ergebnis der Dissoziation trennte sich Haug von den Mitgliedern der alten Redaktion, die sich eher als SDS-Aktivisten betrachteten (Reimut Reiche war just zum SDS-Vorsitzenden gewählt worden), während der Herausgeber nach eigener Aussage »Theorie machen« wollte – und also, Bernhard Blanke zufolge, »nicht mehr Politik« in einem unvermittelten Sinne (S. 240). In der Folge wurde daraus das Konzept, »Wissenschaft als Politik« zu betreiben. Die Hinwendung zur Wissenschaft und zum Marxismus verstärkte auch die Verbindung zu den von den »Antiautoritären« als »Traditionalisten« geschmähten Abendroth-Schülern. Infolge der Querelen um die Ausrichtung des Blattes wurde 1969 die Zeitschrift »Sozialistische Politik« gegründet, aus der zwei Jahre später die »PROKLA« hervorging.

Seit Ende 1970 war der Einfluss der 1968 gegründeten DKP in der Zeitschrift manifest und sorgte dafür, dass »Wissenschaft als Politik« nun »durchaus als praktischer Dienst an der revolutionären Sache« verstanden wurde, wie Bebnowski formuliert (S. 286). Die Neigung zur Orthodoxie zeigte sich etwa daran, dass sich die Zeitschrift 1974/75 in einer Auseinandersetzung um die Widerspiegelungstheorie auf die Seite Lenins schlug und damit gegen dessen Kritiker, wie etwa Karl Korsch, Stellung bezog. Im Rückblick betrachtete Haug die Einseitigkeit zugunsten der DKP als »vielleicht größten taktischen Fehler in der Geschichte dieser Zeitschrift«, man hätte »für linke Pluralität und Diskussion« sorgen müssen (S. 287). Sehr schön arbeitet Bebnowski die bemerkenswerte Tatsache heraus, dass die zunehmende Ausrichtung auf die DKP-Linie von einer Steigerung der Auflage begleitet wurde, die sich von 1969 bis 1971 auf 15.000 Hefte fast verdreifachte. Dass mit dem Linksboom und dem Aufstieg der marxistischen Wissenschaftskritik nicht nur das Potenzial an Leserinnen und Lesern sprunghaft wuchs, sondern auch die Menge des Materials, zeigt der enorme Ausstoß an Heften von zum Teil mehreren hundert Seiten Umfang. Anhand der Dissoziation von »Argument« und »Sopo«bzw. »PROKLA« leitet Bebnowski die neue und weiterführende These ab, dass nicht der Zerfall des SDS die Diffusion der Neuen Linken entscheidend vorangetrieben habe, sondern die Gründung der DKP. Sie habe in der gesamten Linken eine Positionierung erzwungen, wobei »Das Argument« an seinem ursprünglichen Ansatz festhielt, anders als die meisten wissenschaftlichen Zeitschriften auch Kommunisten eine Publikationsmöglichkeit zu bieten, während die »PROKLA« sich in der Rolle eines dezidiert »antirevisionistischen«, also gegen die DKP gerichteten, »Zentralorgans« sah (S. 305) und sich 1973 auf das Sozialistische Büro als politisch-organisatorischen Bezugspunkt festlegte. In der Rückschau bewertete Haug das Verhältnis von DKP und »Argument« allerdings nicht als Zusammenarbeit, sondern als »Tauziehen um die Kontrolle der Zeitschrift« (S. 318).

Implizit ist Bebnowskis erstklassig recherchiertes und kluges Buch damit auch ein eindringliches Plädoyer für die intensivere historiografische Berücksichtigung der DKP als mit Abstand stärkster organisatorischer Kraft der Linken jenseits der SPD in den 1970er-Jahren. Im Gegensatz zum maoistischen Spektrum, zu Spontis und zum Alternativmilieu, ist der Forschungsstand zum »orthodoxen« Kommunismus ebenso bescheiden wie veraltet. Bebnowski zeigt überzeugend, wie die Gründung der DKP zu tektonischen Verschiebungen innerhalb der Neuen Linken führte, ja, er setzt sie in ihrer Bedeutung als Zäsur sogar mit dem Auftritt der RAF gleich: Beide Ereignisse verschoben die politischen Koordinaten und machten eine Positionierung unumgänglich. Zum Ende des Untersuchungszeitraums hin wird deutlich, wie die »Stamokap«-Debatte und das Aufkommen des Eurokommunismus 1977 Haug zur Adaption der politischen Theorie Antonio Gramscis führten, dessen »Gefängnishefte« er später in deutscher Übersetzung herausgab. Bebnowski datiert Haugs Bruch mit DKP und SEW auf das Jahr 1984, als Haug das Konzept eines »pluralen Marxismus« propagierte und die DKP einen ganzen Sammelband aufwandte, um sich davon zu distanzieren. Zu einer Reorientierung am Ursprungsimpuls der Neuen Linken trug schon ab Mitte der 1970er-Jahre auch der gewachsene äußere Druck durch den »Radikalenerlass« bei, der eine ernsthafte Bedrohung der marxistischen Intelligenz und ihrer Zeitschriften darstellte. Bereits 1976 plädierten »Das Argument« ebenso wie die »PROKLA« für ein sozialistisches Bündnis und eine offene Debatte, die die Schützengräben der frühen 1970er-Jahre wieder verlassen sollte.

»Kämpfe mit Marx« stellt den inzwischen vorliegenden Studien zum »Kursbuch«und zur »alternative«nicht nur eine weitere profunde Analyse einer wichtigen linken Zeitschrift an die Seite[1], es verortet die Geschichte von »Argument« und »PROKLA« auch in der spezifischen inneren Dynamik eines linken Mikrokosmos mit bundesweiter Strahlkraft und bestimmt überzeugend ihre Rolle für die Formierung und Umstrukturierung der Neuen Linken. Selten ist es gelungen, Theoriebildung und politische Praxis derart gekonnt miteinander zu verbinden, dass die Interdependenz theoretischer Schwerpunkte, politischer Positionen, Aktionsfelder und Organisationsformen der Neuen Linken geradezu plastisch hervortritt.

 

Zitierempfehlung

Detlef Siegfried, Rezension zu: David Bebnowski, Kämpfe mit Marx. Neue Linke und akademischer Marxismus in den Zeitschriften »Das Argument« und »PROKLA« 1959–1976, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82015.pdf> [27.8.2024].

 

[1] Vgl. Henning Marmulla, Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68, Berlin 2011; Kristof Niese, »Vademekum« der Protestbewegung? Transnationale Vermittlungen durch das Kursbuch von 1965 bis 1975, Baden-Baden 2017; Moritz Neuffer, Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift »alternative« 1958–1982, Göttingen 2021.

Wilfried Rudloff/Marc von Miquel, Das Bundessozialgericht und die Formierung des westdeutschen Sozialstaats. Akteure – Rechtsprechung – sozialrechtliche Prägungen

C.H. Beck | München 2024 | 584 Seiten, Hardcover | 129,00 € | ISBN 978-3-406-81215-6

rezensiert von

Eberhard Eichenhofer, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Rezension als pdf

Das vorzustellende Buch dient der historischen Selbstvergewisserung der nach 1945 entstandenen Sozialgerichtsbarkeit und ihrer zentralen Institution – dem Bundessozialgericht (BSG). Zwei erfahrene Autoren behandeln seine Gründungsphase und würdigen seine Bedeutung für den westdeutschen Sozialstaat in der Nachkriegszeit. War Rechtsstaatlichkeit ein bestimmender Ausdruck für den politischen Neuanfang nach 1945, diente soziale Sicherheit als Leitbild für den ökonomischen Wiederaufbau. Massenwohlstand auf rechtlich gesicherter Grundlage lautete das zentrale Ziel der westlichen Nachkriegsgesellschaften. In der Bundesrepublik entstand 1954 die Sozialgerichtsbarkeit als selbständiger Gerichtszweig. Das BSG wurde – wie das Bundesarbeitsgericht – in Kassel errichtet. Die Sozialgerichtsbarkeit trat anstelle der vormals mit dieser Aufgabe betrauten staatlichen Aufsichtsbehörden über Sozialversicherung und Versorgungsverwaltung, deren oberste Aufsichtsbehörde das Reichsversicherungsamt (RVA) gewesen war.

Das RVA wurde auch noch in der frühen Bundesrepublik als stilprägend für die Sozialgerichtsbarkeit erachtet. Der ersten Generation von Richtern am BSG gehörten zahlreiche ehemalige RVA-Bedienstete an. Das Buch geht fundiert der Frage der NS-Belastung der BSG-Gründergeneration nach: Die allermeisten waren im NS-Staat nicht nur als Fachleute, sondern sogar als Spitzenleute und maßgebliche Akteure in der NS-Sozialverwaltung tätig gewesen. Näher wird dies für den ersten Präsidenten des BSG Joseph Schneider und den bekannten BSG-Senatspräsidenten Walter Bogs veranschaulicht. Ihr Wirken im NS-Staat in führender Stelle im »Protektorat Böhmen und Mähren« oder im Reichsarbeitsministerium bei der sozialen Entrechtung von NS-Verfolgten wird detailliert nachgezeichnet; in der frühen Bundesrepublik blieb dieses Wirken unbekannt und zeitigte jedenfalls keine Nachwirkungen für die berufliche oder gesellschaftliche Stellung der Akteure. Insgesamt wird überdeutlich, dass die ursprüngliche Zusammensetzung des BSG auf die aus dem NS-Staat überkommenen Netzwerke zurückging. In der Zeit als das BSG entstand, brachten sich ehemalige Spitzenbeamten des RVA wechselseitig im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und in den neu entstehenden Bundesbehörden und -gerichten unter: Die Kontinuität in den Funktionseliten wurde gewahrt.

Weitere biografische Stichproben gelten etwa dem vor 1933 ebenfalls am RVA tätigen August Teutsch. Er wurde 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Staatsdienst entlassen, überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt, wurde nach 1945 beruflich rehabilitiert und wirkte danach in der Sozialverwaltung Badens. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Franz Böhm – einsamer Vorkämpfer in seiner Fraktion für die Wiedergutmachung – setzte sich mit Erfolg für Teutschs Berufung an das BSG ein. Er blieb der einzige NS-Verfolgte am BSG. Ebenfalls portraitiert wird Horst Hunger: Er wirkte ebenfalls am RVA, war im Zweiten Weltkrieg als Wehrmachtsrichter tätig und wurde deswegen nach seiner Rückkehr nach Sachsen von der sowjetischen Besatzungsmacht interniert. In den »Waldheimer Prozessen« wurde er zum Tode verurteilt, anschließend aber zu lebenslanger Haft begnadigt, aus der er 1955 entlassen wurde. Er floh in den Westen, fand als Sowjetverfolgter zunächst eine Anstellung am BSG, aus der er unmittelbar in ein Richteramt ebendort berufen wurde. Das Buch schildert ferner eingehend mehrere Begebenheiten im Umgang des BSG mit den aus der DDR und von einer kritischer werdenden westdeutschen Öffentlichkeit gegen einzelne Richter erhobenen Vorwürfen einer NS-Belastung. Das Gericht stellte sich in jedem Fall schützend vor die Beschuldigten. Diesen drohten deswegen auch keine dienstlichen Sanktionen. Bei der Regelung seiner Nachfolge als BSG-Präsident versuchte Joseph Schneider 1968 den vom Richterwahlausschuss auf Vorschlag der SPD nominierten Kandidaten Georg Wannagat zu verhindern. Schneider scheute sich dafür nicht, seine persönlichen Kontakte zu Bundeskanzler Kiesinger zu nützen und Wannagat Verfehlungen während der NS-Zeit vorzuhalten. Dieser wusste die haltlosen Vorwürfe indes auszuräumen.

Im zweiten Teil des Buchs untersuchen die Autoren die Rechtsprechung des BSG und deren prägende Kraft für den westdeutschen Sozialstaat. Zunächst lag ein Schwerpunkt der Rechtsprechung auf der Grundlegung des sozialgerichtlichen Rechtsschutzes. Hierfür waren Neuansätze nötig und das RVA konnte daher nicht traditionsbegründend wirken. Das BSG entwickelte die Maßstäbe für die gerichtlichen Kontrolle vielmehr im Kontrast zum vordem herrschenden Rechtsschutzsystem der verwaltungsinternen Selbstkontrolle. Hierauf verwandte die Sozialgerichtsbarkeit viel Mühe, um sich in der ihr anfänglich skeptisch gegenüberstehenden Öffentlichkeit – namentlich im Hinblick auf die traditionsreichen Gerichte – die nötige Anerkennung zu verschaffen. Da die Sozialgerichte außerdem kostenfrei waren, wurden sie seit Anbeginn stark in Anspruch genommen. Schon in den ersten Jahren sah sich das BSG durch einen unerwartet hohen Geschäftsanfall in seinem Wirken beeinträchtigt.

Im Mittelpunkt der Spruchpraxis stand die Kriegsopferversorgung. Millionen von Menschen hatten wegen einer Kriegsverwundung oder als Witwen und Waisen Ansprüche auf soziale Entschädigung. Der totale Krieg schuf zahlreiche Lebensumstände außerhalb von Militär und Kriegseinsatz, die zur Versorgung berechtigten, etwa für die Opfer von Bombenangriffen, Belagerungen, Tieffliegergeschossen, marodierender Banden oder von Blindgängern. Darüber hinaus waren NS-Verfolgte und »Displaced Persons« – also KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter, Internierte – ebenso wie Flüchtlinge und Vertriebene durch Sozialleistungen zu bedenken und so gesellschaftlich zu integrieren. Die sozialrechtliche Verantwortlichkeit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft hatte kriegsbedingt ein vordem unbekanntes Ausmaß erreicht. Dementsprechend war es schwierig, den Kreis der Entschädigungsberechtigten nach abstrakt-generellen Maßstäben zu bestimmen. Wenn es in Deutschland eine Zeit gab, in welchem der Sozialstaat sich umfassend zu bewähren hatte, so waren es die unmittelbaren Nachkriegsjahre.

Des Weiteren veranschaulicht das Buch die zentrale Rolle der neu entwickelten Gerichte für ein zunehmend von Recht – und das hieß: Rechtsprechung – geprägtes Sozialleistungssystem. Das BSG stellte von Beginn an seine rechtsfortbildende Rolle heraus. In der Rechtsprechung zeigte sich die Entwicklung der Wohlfahrtsgesellschaft. Die gerichtliche Auslegung des Krankheitsbegriffs in der Krankenversicherung verwies auf den Entwicklungsstand der Medizin; in dem Maße wie deren Möglichkeiten wuchsen, expandierten auch die Behandlungsleistungen. In der auf Vollbeschäftigung beruhenden Wirtschaft, in der auch Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen Erwerbschancen erhielten, war der Begriff der Erwerbs- und Berufsunfähigkeit neu zu bestimmen. In der Rechtsprechung kam die Vorstellung zur Geltung, dass die Rente den Menschen ihren im Erwerbsleben erlangten sozialen Status schützen und ihn bei dauerhafter gesundheitlicher Beeinträchtigung kompensieren müsse. Die Modalitäten, unter denen dies zu geschehen habe, blieben aber bis zum Ende der 1970er-Jahre in der Sozialgerichtsbarkeit und auch im BSG umstritten.

Im dritten Teil des Buchs befassen sich die Autoren mit den Charakteristika der Sozialgerichtsbarkeit. Diese erkannte früh die Bedeutung von Weiterbildung für die Richterschaft. Das Buch illustriert dies anhand der anspruchsvollen Konzeptionen für die vom BSG seit 1972 regelmäßig veranstalteten »Richterwochen«. Ebenso beschreibt das Buch den erheblichen Einfluss, den einzelne Angehörige der Richterschaft in Reformkommissionen sowie als Autoren von Handbüchern, Kommentaren und Aufsätzen auf die Auslegung der Sozialgesetze und den öffentlichen Diskurs über Sozialgesetzgebung und Sozialpolitik nahmen. Das BSG nahm sich auch früher als andere oberste Bundesgerichte der Pressearbeit an. Legendär und eingehend geschildert ist zudem der Beitrag der Sozialgerichtsbarkeit zur elektronischen Erschließung des Rechts. Das in Deutschland entwickelte elektronische Recherchesystem für Recht »Juris« wäre ohne den Vorlauf durch die Verarbeitung sozialrechtlicher Normen und Entscheidungen, wie sie seit Anfang der 1970er-Jahre federführend am und vom BSG betrieben wurde, nicht vorstellbar.

Das Buch fördert manche bisher nicht hinreichend bekannte Begebenheit aus der Gründungsphase von BSG und Sozialgerichtsbarkeit zutage. Es gibt einen Einblick in die Lebensläufe von Führungspersönlichkeiten des BSG und zeichnet die westdeutsche Justiz in ihrer Kontinuität zur NS-Zeit nach, wobei es eingehend die diese ermöglichenden politischen, sozialen und professionellen Faktoren beschreibt. Die Untersuchung ist um die historische Einordnung der Epoche bemüht. Dabei werden zwar die Leitperspektiven jener Zeit – Neuaufbau im Zeichen sozialer Sicherheit und unter Garantie von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten – nicht hinreichend plastisch. Gelungen ist indessen die Darstellung der wachsenden Eigenständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit als Teil der allgemeinen Gerichtsbarkeit. Sie wird als technikaffin gekennzeichnet, ebenso als auf öffentliche Profilierung bedacht. Sie vermochte, die Sozialverwaltung aus dem Verständnishorizont der Gerichtsbarkeit neu zu bestimmen. Die Sozialgerichtsbarkeit überführte die Sozialverwaltung damit in eine hochspezialisierte Expertendisziplin. Anschaulich vergegenwärtigt das Buch so am Beispiel des Bundes- sozialgerichts die Geschichte der Nachkriegszeit in Westdeutschland und ihre sozialpolitischen Themen. Es zeichnet die Wiederbegründung von Verwaltung und Justiz auf dem Boden der NS-Vergangenheit nach und lässt in ersten Umrissen das Profil einer Sozialgerichtsbarkeit erkennen, die sich als neuer, eigenständiger und eigensinniger Zweig der Justiz verstand und als Alternative zur herkömmlichen ordentlichen Gerichtsbarkeit darstellte.

 

Zitierempfehlung

Eberhard Eichenhofer, Rezension zu: Wilfried Rudloff/Marc von Miquel, Das Bundessozialgericht und die Formierung des westdeutschen Sozialstaats. Akteure – Rechtsprechung – sozialrechtliche Prägungen, C.H. Beck, München 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82010.pdf> [27.8.2024].

Manuela Rienks, Ausverkauft. Arbeitswelten von Verkäuferinnen in der Bundesrepublik Deutschland

(Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 143)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2024 | 539 Seiten, gebunden | 84,95 € | ISBN 978-3111141350

rezensiert von

Daniela Rüther, Ruhr-Universität Bochum

Rezension als pdf

In der Corona-Pandemie wurden sie als »Heldinnen des Alltags« bezeichnet und als »systemrelevant« beklatscht: die Verkäuferinnen in der Bundesrepublik Deutschland. Bislang hat sich die historische Forschung indes nur wenig mit ihrer Geschichte befasst. Umso verdienstvoller ist das Anliegen der vorliegenden Dissertation, sie ans Licht zu bringen. Das Vorhaben fügt sich ein in aktuelle Bestrebungen, die Geschichte der Arbeit, die lange Zeit eine Geschichte der vorwiegend industriell geprägten Arbeiterbewegung war, neu zu beleben und dabei auch geschlechtergeschichtliche Themen verstärkt in den Blick zu nehmen.[1]

Ausdrücklich will Manuela Rienks in ihrer Untersuchung die Entwicklung des Einzelhandels nicht aus wirtschafts- und konsumgeschichtlicher Perspektive, sondern aus arbeitsgeschichtlicher Perspektive erzählen. Methodischer Fluchtpunkt der Studie sei, so Rienks, »eine geschlechtergeschichtlich inspirierte Zeitgeschichte der Arbeit, die kultur- und sozialhistorische Fragestellungen und Methoden miteinbezieht«. Die Untersuchung solle einen Beitrag leisten, eine bestehende Forschungslücke zu schließen. Dass Frauen im 20. Jahrhundert besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten als »verschiebbare Manövriermasse auf dem Arbeitsmarkt« genutzt wurden, sei bekannt. Die Studie zeige jedoch darüber hinaus, dass sie durch die Art ihrer Tätigkeiten und Anstellungsformen auch in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität »in einem gläsernen Käfig aus struktureller Ungleichheit und Geringschätzung feststeckten, die sich in einer insgesamt schlechteren sozialen Positionierung manifestierte« (S. 12).

Ausgehend von dem seit dem 19. Jahrhundert verbreiteten Kinderspiel »Kaufladen« sucht die Autorin den »Automatismus« zu erklären, warum der Einzelhandel traditionell mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert würde. Sie konstatiert, dass »Tante Emma« stereotypisch den Einzelhandel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland geprägt habe. Aber auch der durch die Insolvenz der gleichnamigen Drogeriekette im Jahr 2012 geprägte Ausdruck der »Schlecker-Frau« zählt für die Autorin zu den weit verbreiteten »Stereotypien des Verkaufspersonals«. Die Entstehungsgeschichte und Hintergründe solcher Stereotypien zu untersuchen und zu ergründen, wie sich die Arbeitspraktiken der Verkaufenden zwischen »Tante Emma« und »Schleckerfrau« entwickelt haben, ist – »verknüpft mit der Frage, welche Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten sich für die Akteurinnen und Akteure ergeben« haben – das Ziel ihrer Studie. Im Fokus stehen dabei die Umstände und Rahmenbedingungen, unter denen Frauen im Untersuchungszeitraum von den 1950er-Jahren bis in die 1990er-Jahre im bundesdeutschen Einzelhandel arbeiteten, die Veränderung ihrer sozialen Rolle in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und die daraus abzuleitenden Aussagen über die Geschlechterordnung in der westdeutschen Demokratie (S. 4f.). Ausdrücklich soll sich die Untersuchung der Arbeitswelt also nicht auf reine Arbeitsplatz- und Betriebsanalysen beschränken, sondern auch soziale Prozesse und gesellschaftliche Kontexte mit einbeziehen (S. 10).

Theoretisch-methodisch orientiert sich die Arbeit an der historischen Raumanalyse von Susanne Rau und fokussiert den Verkaufsraum und den Kassenarbeitsplatz als wesentliche Räume im Einzelhandel.[2] Gleichzeitig verschreibt sie sich einer praxeologischen Perspektive, indem sie den Betrieb als Ort von Erwerbsarbeit als zentrales »soziales Handlungsfeld« denkt (S. 10). Im Detail behandelt die Autorin die Branchen Lebensmitteleinzelhandel und Textileinzelhandel als im Untersuchungszeitraum größte Branchen des Einzelhandels.

Die Untersuchung ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil befasst sich mit der »Sozialfigur der Verkäuferin«. Die Autorin sieht sie konstituiert durch Selbstbeschreibungen, den Diskurs innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung, der Gewerkschaften, der Sicht der Unternehmen und der Gesellschaft sowie durch die Gehälter als »offensichtlichstem Element sozialer Ungleichheit« (S. 29). Der zweite Teil thematisiert die sozialen Strukturen im Verkauf sowie den Zusammenhang zwischen Arbeitswelt und Sozialleben der Verkäuferinnen. Dabei werden die Ausbildungswege, betriebliche Sozialstrukturen, die Arbeit der Betriebsräte wie auch die Position der Männer in der geschlechtlichen Hierarchie im Einzelhandel betrachtet. Der dritte Teil beleuchtet die Arbeitsräume der Verkäuferinnen. Im Fokus stehen die Auswirkungen der Selbstbedienung auf die Arbeitsweisen. Dabei werden neben Gemeinsamkeiten auch branchenspezifische Unterschiede zwischen Lebensmitteleinzelhandel und Textileinzelhandel aufgezeigt. Besondere Beachtung schenkt die Autorin dem Kassenarbeitsplatz. Der vierte Teil untersucht die Arbeitszeiten der Verkäuferinnen, tarifliche, unternehmerische und individuelle Arbeitszeitregelungen ebenso wie Teilzeitarbeit, aber auch die Debatten um den Ladenschluss.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Geschichte der Arbeitswelten von Verkäuferinnen im Untersuchungszeitraum die einer Marginalisierung sei (S. 478). Sie führt dies darauf zurück, dass die vergeschlechtlichten Strukturen der Arbeit festgefahren gewesen seien und sie durch ihre »Manifestation auf der Mikroebene des Betriebs geschlechtsspezifische Ungleichheit in der Arbeit« immer wieder neu hervorgebracht hätten. Die Autorin konstatiert, dass die praxeologische Perspektive der Untersuchung »die Dichotomie aus Struktur und individuellem Handeln bei der Analyse von Ungleichheit in der Arbeit aufgelöst« habe. Deutlich geworden sei, dass es auch die Arbeitspraktiken selbst gewesen seien, die eine geschlechtsspezifische Segmentierung des Arbeitsraums sowie ein geschlechtsspezifisches Arbeitszeitregime erzeugten (S. 485). Die Arbeitspraktiken entwickelt die Autorin anhand eines abstrahierten Modells der Verkaufspraxis, wobei sie von sieben Teilpraktiken der Verkaufspraxis ausgeht: dem Begrüßen der Kund*innen, dem Bedienen, Kassieren, Verpacken der Ware, Verabschieden der Kundschaft, Verwalten der Waren und dem Instandhalten des Ladens (S. 206). Der Verkaufsraum wird darauf hin analysiert, wie er sich konstituierte, durch wen er verändert wurde und wie die Akteure sich den Raum aneigneten, sich in ihm bewegten und räumliche Praktiken ausbildeten (S. 207). Dieser praxeologische Ansatz überzeugt nicht, zumal die Autorin nur Fotos von Verkaufsräumen verwendet, um ihre Fragen zu beantworten. Unverzichtbar wären an dieser Stelle Zeugnisse von Verkäuferinnen gewesen.

Das grundlegende Problem der Arbeit ist die Quellenlage, da – wie die Autorin konstatiert – bei den  bestehenden großen Lebensmitteleinzelhandelsunternehmen die Archive, sofern sie überhaupt existierten, für Außenstehende nur schwer zugänglich seien (S. 26). Die Entscheidung für die beiden nicht mehr bestehenden Lebensmittelunternehmen Latscha und Gaissmaier fiel denn auch aufgrund der vergleichsweise günstigen Aktenlage in kommunalen Archiven und Wirtschaftsarchiven. Die Quellenlage im Textileinzelhandel sei insgesamt besser. In Wirtschaftsarchiven fand die Autorin Akten der Unternehmen C.F. Braun in Stuttgart und des Kaufhauses Beck in München. Die Firmenarchive von Hirmer und C&A waren der Autorin nicht frei zugänglich. Zugang bestand nur in Rücksprache mit dem Archivar bzw. zu Quellen, die die Archivarin vorausgewählt hatte. Im Falle von C&A konnten Akten aus der Zeit nach 1961 nur in Einzelfällen eingesehen werden. Bedauerlicherweise konnte daher etwa der Vorgang rund um die Aufhebung des Verbots für Verkäuferinnen, Hosen zu tragen, nicht aufgedeckt werden.

Für das ambitionierte Forschungsvorhaben ist die Quellenlage für die gewählten Fragestellungen insgesamt sehr dünn, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Die zentrale Quellengattung sind Fotos, Bilder und Grundrisse der Verkaufsräume, Personalstatistiken sowie in Einzelfällen Korrespondenzen zwischen Geschäftsleitung und Filialleitungen. Quellen aus den Bereichen der Unternehmensführung, etwa zur strategischen Geschäftsausrichtung oder allgemein zum Personalbereich, standen nicht zur Verfügung. Als Ersatz dienten Betriebszeitschriften, die als Medien der internen Kommunikation jedoch nur beschränkt aussagekräftig sind, was von der Autorin nicht immer quellenkritisch reflektiert wird. Zugriff bestand immerhin auf von den Unternehmen beauftragte Umfragen und Studien. Dagegen lagen der Autorin leider nur wenige Selbstzeugnisse von Verkäuferinnen vor, lediglich einzelne, auf Betriebsausflügen entstandene Gedichte aus den frühen 1950er-Jahren, die sich in einem Unternehmensbestand erhalten haben, sowie (ebenfalls in Unternehmensbeständen überliefert) einzelne Interviews (S. 28).

Insofern leidet die Untersuchung daran, dass ihre Protagonistinnen, die Verkäuferinnen, keine Stimme erhalten. Oftmals ist die Autorin auf Mutmaßungen angewiesen, wenn es um die Selbstwahrnehmung der Verkäuferinnen bzw. Kassiererinnen in ihren Arbeitspraktiken geht (vgl. etwa S. 305). Ähnlich verhält es sich mit Quellen aus der Sicht der Unternehmen. Das führt bisweilen zu einer einseitigen Betrachtung. So wird die Rationalisierung im Einzelhandel durch technische Innovationen beim Kassieren allein unter dem Aspekt der Überwachung und Kontrolle der Mitarbeiterinnen dargestellt, obwohl die Autorin selbst eine Quelle zitiert, die eine wichtige Unternehmensperspektive nahelegt: Ein ehemaliger Mitarbeiter des Textilfachgeschäfts Hirmer habe berichtet, dass es mit dem neuen Warenbewirtschaftungssystem den Verkäufer*innen nicht mehr möglich gewesen sei, »ein bisschen zu tricksen«, wenn die Verkaufszahlen dem Abteilungsleiter mitgeteilt werden mussten (S. 387). Aus Sicht des Unternehmens geht es hier um notwendiges »Fraud-Management« im Interesse von Wirtschaftlichkeit und günstigen Preisen für die Konsument*innen. Bedauerlich ist darüber hinaus, dass die Autorin die Studie zum Unternehmen Tengelmann im »Dritten Reich« nicht rezipiert hat.[3]

Auch wenn die Untersuchung ihren Anspruch, »ein Gesamtbild der Arbeitswelt des bundes- deutschen Einzelhandels von den 1950er Jahren bis in die 1990er Jahre« zu liefern, aufgrund der schmalen Quellenbasis nicht einlösen kann, ist sie ein wichtiger erster Aufschlag für Forschungen zu diesem Zeitraum, der durch den Einbezug von Zeitzeug*innen in »Oral History«-Projekten noch weiter erschlossen werden könnte.

 

Zitierempfehlung

Daniela Rüther, Rezension zu: Manuela Rienks, Ausverkauft. Arbeitswelten von Verkäuferinnen in der Bundesrepublik Deutschland, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82013.pdf> [27.8.2024].

 

[1] Vgl. Stefan Berger, »German Labour History is Back« – Announcing the Foundation of the German Labour History Association, in: International Labor and Working-Class History 97, 2020, S. 185-189; Lutz Raphael, Deutsche Arbeitswelten zwischen globalen Problemlagen und nationalen Handlungsbezügen. Zeitgeschichtliche Perspektiven, in: VfZ 69, 2021, S. 1-23.

[2] Vgl. Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, 2. aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main/New York 2017.

[3] Vgl. Lutz Niethammer (Hrsg.), Tengelmann im Dritten Reich. Ein Familienunternehmen des Lebensmittel- handels und der Nationalsozialismus, Essen 2020.

Felix Römer, Inequality Knowledge. The Making of the Numbers about the Gap between Rich and Poor in Contemporary Britain

(Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London/Publications of the German Historical Institute London, Bd. 89)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2024 | 377 Seiten, gebunden | 59,95 € | ISBN 978-3-11-110014-2

reviewed by

Mike Savage, London School of Economics and Political Science

Rezension als pdf

This book initially appears to be a worthy, rather dry and technical book, reporting a long-term, painstaking project to consider how official statistics regarding inequality, poverty, and distributional outcomes were constructed and mobilised by successive British governments between 1948 and 2000. Drawing on many years of research in the public archives, buttressed by witness interviews and an astonishing command of government papers and official reports, Römer rarely strays from a careful, mostly restrained, narrative, in the tradition inspired by historians of statistics such as Theodore Porter or Alain Desrosières.[1]

However, to treat this book only as a dry historical case study massively understates its significance and importance. In fact, this is the most illuminating and at times startling historical study of post-war Britain that I have read for many years. The historical narrative that Römer presents is utterly compelling. Above all, he demonstrates just how recent the shift towards open and public data has been. Today, we are saturated by inequality data, whether published in academic journals by social scientists, presented in open access websites such as »Our World in Data«or the »World Inequality Database« or routinely publicized by newspapers such as »The Guardian« or »The Financial Times«. But this is all startlingly new. Until the 1960s, even basic competence regarding how to conceptualise or measure inequality was lacking. Politicians disparaged the use of the Gini coefficient by humorously wondering, in racist terms, if it was anything to do with rubbing Aladdin’s lamp. Attempts to develop inequality metrics were at this period largely driven by international efforts such as those of the International Labour Organization (ILO) and the Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD), to which British civil servants were largely unresponsive or indeed resistant, sometimes deliberately seeking to thwart the worthy efforts of these bodies, for instance to develop the kind of »social indicators« which could be used to measure inequality.

The story then shifts to the rapid - though brief – ratcheting up of inequality statistics by Harold Wilson’s Labour Government after the 1974 election. This identified robust measures as utterly necessary to measure how far its social democratic politics were being effective. In Römer’s account the radicalism and creativity of Wilson’s government comes over very clearly. The Royal Commission on the Distribution of Income and Wealth is well known, but this was only the tip of the iceberg. Every proposed government policy had to be scrutinized to consider its distributional effects (i.e. to what extent any policies were likely to be regressive or progressive). It was under Wilson’s government that income shares were broken down by percentile groups in the official statistics, thus providing the basis of the approach that economists such as Tony Atkinson and Thomas Piketty made so effective in the 21st century. Nonetheless, this effort was short-lived and was running out of steam even before the election of Thatcher in 1979. Callaghan, perhaps feeling threatened by Wilson’s more cerebral approach, weakened this remarkable apparatus, though he was not able to completely kill it.

But it is Römer’s discussion of the abrupt change of course which took place under Margaret Thatcher’s Conservative administration between 1979 and 1990 that takes one’s breath away. This government deliberately carefully controlled the presentation of statistics on poverty and inequality to prevent any effective public scrutiny of the Government’s record. In recent years economists have clearly demonstrated that it was during the 1980s that inequality substantially increased in the United Kingdom, driven by the reduction of top rates of income tax. However, during this same period, the Government was pretty much able to keep the lid on any serious public awareness of this striking trend. Indeed, it continued to publicly deny that the gap between rich and poor was increasing – even though they knew well enough that it was.

Römer’s dispassionate tones fail him when discussing the deliberate obfuscation that Thatcher’s Conservative Government oversaw. He reflects on the determined campaign to resist defining a clear poverty line, and their campaign to discredit the idea of relative poverty that Peter Townsend had managed to establish in the 1970s. He exposes the sheer hypocrisy of Thatcher’s Government. If they genuinely believed that they were creating incentives for business which would provide economic prosperity for all, they would surely have been happy to have their record scrutinized. But in fact, the Tory government was clearly class prejudiced, and was far more sympathetic to business interests than to the wellbeing of employees, and went to great lengths to cover up how far their policies benefitted the better off. Sleights of hand included using 1981 rather than 1979 as the benchmark year to assess changes in poverty rates during the 1980s (as civil servants knew very well that this would put the Government’s record in a better light). Survey responses were doctored to eliminate the data of respondents who recorded unusually high incomes, as it was assumed that respondents must have entered these in error. Nothing, it seems, was too small to escape »air-brushing« attention.

Nonetheless, ultimately, the attempt to control inequality knowledge rapidly unravelled during the early 1990s. This was partly due to the development of the »Luxemburg Income Study« which could provide data independent of UK government surveys and became increasingly prominent during the later 1980s. More specifically in 1991, the government lost its monopoly on control of inequality statistics. The Institute of Fiscal Studies, and economists at the LSE, found ways of replicating government estimates, which ultimately allowed them to expose the basis on which these were constructed. The formation of the »British Household Panel Study« in 1989 also allowed a robust and independent source of inequality data to be established. Thus, even though Blair’s 1997 »New Labour« government did not demonstrate the same serious interest in measurement that Wilson’s Labour Government did, this made far less difference because by the 21st century, inequality statistics lay outside government control. It is interesting that Conservative governments since 2010 have been less effective in following Thatcher’s lead in trying to re-establish control over inequality metrics. Indeed, researcher access to government data has been facilitated, notably through HMRC Datalab and the ONS Secure Research Service.

Although Römer rarely elaborates his theoretical perspective, he makes notable contributions to wider scholarship. Above all, he shows the inadequacy of any teleological perspective which assumes that the growing scientism of statistical expertise will by itself necessarily lead to an enhancement of knowledge. Instead, he insists on the contingent political factors which shape the statistical landscape. He conveys how the culture of the civil service was far more embedded in a belief in its governing mission, requiring close collaboration with the government of the day, rather than any paramount belief in the power of science. On the other side, he draws out the decisive impact of a few academics and politicians. The heroes of this book are the economist Tony Atkinson, the social policy academic Peter Townsend, and the Labour MPs Michael Meacher and Frank Field. These all tirelessly waged a campaign over many decades to enhance inequality data and measurement. Römer has written a wonderful book which draws out this vital work and provides the most systematic analysis of the history of UK post-war official statistics on poverty and inequality that currently exists. It will not be easily surpassed.

 

Zitierempfehlung

Mike Savage, Rezension zu: Felix Römer, Inequality Knowledge. The Making of the Numbers about the Gap between Rich and Poor in Contemporary Britain, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82008.pdf> [27.8.2024].

 

[1] Cf. Theodore M. Porter, The Rise of Statistical Thinking, 1820–1900, Princeton, NJ, 2020 (first edition 1986); Alain Desrosières, The Politics of Large Numbers. A History of Statistical Reasoning, Cambridge, Mass., 1998.

Aurélie Dianara Andry, Social Europe, the Road not Taken. The Left and European Integration in the Long 1970s

(Oxford Studies in Modern European History)

Oxford University Press | Oxford 2022 | 336 Seiten, Hardback | £ 81.00 | ISBN 978-0-19-286709-4

reviewed by

Benjamin Thomas, University of Nottingham

Rezension als pdf

Criticism of the neoliberal character of the European Union and its institutions has been a common refrain on the political left, and has increased in intensity since the 2008 financial crisis. By portraying the Community as designed for the interests of business and capital, workers and social protection are identified as the great losers in a race to the bottom. By contrast, supporters of the European project emphasise that European social legislation is an incomplete but nonetheless progressive project, and that supranational institutions are the best possible bulwark against the power of multinational capital. Aurélie Dianara Andry’s book »Social Europe, the Road not Taken« situates this debate in a historical context by revisiting debates from the long 1970s to examine mobilisations and thinking at the time around an alternative vision of a social Europe centred on workers, economic and industrial democracy, and the upwards harmonisation of social policies. These debates make the reforms of the 1980s, Jacques Delors’ much fêted »Social Europe«, look like a weak and incomplete project, lacking the radicalism of earlier visions and conceding to the neoliberalisation of the European institutions.

Andry outlines a constellation of actors and projects building this vision, from Stuart Holland’s »Alternative Economic Strategy« in the United Kingdom and »Beyond Capitalist Planning« to the Bonn »Theses for a Social Europe«. In doing so, the author challenges the depiction of the 1970s as a dark age of intellectual barrenness among the left or of complacency against neoliberalism, as well as stereotypical portrayals of Britain and West Germany as undifferentiated blockers to the development of a progressive Europe. Here a worker’s Europe, typified by a policy of worker control in companies, a reduction in weekly working hours and the orientation of further integration away from reliance on a productivism paradigm, presents itself as an alternative both to the European post-war order and to the neoliberal market hegemony, that was still emerging at the time. It also represents a very different vision from those associated with Eurocommunism.

Arguing against portrayals of the 1970s as barren for the left/centre-left, we can read »Social Europe« as in keeping with a wave of excellent recent scholarship on transnational left organising, on conceptions of social policy in Europe, and on the alternatives articulated to neoliberalism.[1] The real strength of this book, however, lies in its synthesis, bringing together its archival sources with a wide range of multilingual literature and thus demonstrating the scope of this alternative vision and its by no means marginal character. Moving between different layers - national, supranational and international – as well as different arenas of politics - trade unions, intellectuals, parties, policy committees and high political discussions – Andry demonstrates an impressive command of these interrelated discourses and the dynamics of the underlying power structures. Marshalling these levels and structures makes the claim of a distinctive vision for Europe centred on the worker compelling as it is traced from the grassroots to elite policy debates.

The second line of argument in the book deals with the long 1970s as a transition point in power structures within Europe. With the neoliberal right still emerging, the left sees a period of resurgence before it collapses. A key factor, according to the book, is organised labour, with trade unions actively seeking to influence policy developments. As Andry explains, the 1970s represent a period in which both the political left/centre-left and trade unions grapple with the limitations of national organising in the face of economic rationales, the forces of globalisation, and organised business and begin more active forms of transnational and supranational organising and collaboration. Andry details the formation of new parties, their conferences and organisations, as well as the power struggles between and within new trade union institutions. As such, the worker’s Europe was not just a policy proposal, but a social movement driving forward new forms of organisation and engagement, and thus a genuine form of European integration.

Lingering in the background as Andry presents these developments is the ultimate failure of the project to be adopted or implemented at European level. As the title states, this road was not taken. Andry explains the failure of proposals for a worker’s Europe as multi-faceted and stemming from the failings of political elites, the inability for the European left to organise collectively as well as internal disagreements. While there was strong support for the language and the general idea of a worker-centred social Europe, the specifics of this framework – worker self-management or co-management, management or planning – split the political coalitions. This multiplicity of causes may indicate that failure was overdetermined. It could be argued that the internal fissures within the coalition campaigning for a worker’s Europe suggest that the internal coherence of the project and its viability as an alternative path were never as strong as its proponents thought. In terms of revising the image of Jacques Delors, this could represent the difference between seeing him as a villain betraying earlier commitments to radical change, or a bit player constrained by larger structural and political pressures. Nonetheless, this kind of strategic analysis is useful to understand the variety of challenges facing such a progressive vision in the 1970s, and, as the author suggests, also for analysis of our contemporary moment, with weaker organised labour and with institutional structures concretised through path dependencies.

To be clear: any doubts about the viability of a worker’s Europe do not undermine the general thrust of »Social Europe, the Road not Taken«. The core argument, presenting the existence of an alternative vision among the Left in the 1970s of a socially oriented European community prioritising workers and democracy, is clearly demonstrated. The second argument, the formation of a supranational left, is likewise clearly made, irrespective of the question of its coherence in this period. Andry’s book presents historical precursors to the lively contemporary political debates about the viability of Europe as a progressive project, industrial democracy, working time, degrowth and more. Simultaneously, it highlights the structural, ideational and political obstacles that actors face when attempting to put these ideas and visions into practice.

 

Zitierempfehlung

Benjamin Thomas, Rezension zu: Aurélie Dianara Andry, Social Europe, the Road not Taken. The Left and European Integration in the Long 1970s, Oxford University Press, Oxford 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82014.pdf> [27.8.2024].

 

[1] Cf. Christian Salm, Transnational Socialist Networks in the 1970s. European Community Development Aid and Southern Enlargement, Basingstoke 2016; Michele Di Donato/ Mathieu Fulla (Eds.), Leftist Internationalisms. A Transnational Political History, London 2023; Kiran Klaus Patel, Bridging the Void. Social Justice in the History of the European Union, in: Martin Conway/Camilo Erlichman (Eds.), Social Justice in Twentieth Century Europe, Cambridge 2024; Colm Murphy, Futures of Socialism. »Modernisation«, the Labour Party, and the British Left, 1973–1997, Cambridge 2023.

Doppelrezension: Jonas Kreienbaum, Das Öl und der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung / Henning Türk, Energiesicherheit nach der Ölkrise

Jonas Kreienbaum, Das Öl und der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung. Die Bedeutung der Ölkrisen der 1970er Jahre für die Nord-Süd-Beziehungen (Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 53)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2022 | 354 Seiten, Paperback | $ 40,00 | ISBN 978-3-11-076970-8

 

Henning Türk, Energiesicherheit nach der Ölkrise. Die Internationale Energieagentur 1974–1985 (Geschichte der Gegenwart, Bd. 34)

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 220 Seiten, gebunden | 32,00 € | ISBN 978-3-8353-5484-5

 

rezensiert von

Petra Dolata, University of Calgary

Rezension als pdf

Rund fünfzig Jahre nach der ersten Ölkrise – und in einer Zeit, in der Klimawandel und Ukrainekonflikt nationale Abhängigkeiten von Energie erneut in den Vordergrund rücken – haben die Historiker Jonas Kreienbaum und Henning Türk zwei wichtige Studien publiziert, die zeigen, wie die Weichenstellungen der 1970er-Jahre bis heute die Rolle des Themas Energiesicherheit und besonders der Beziehung zwischen Ölproduzenten und Ölkonsumenten in der internationalen Politik und politischen Ökonomie prägen. Beide Autoren wollen mit ihren Beiträgen die Energiegeschichte von einer primär nationalen Betrachtungsweise der Energiekrisen der 1970er-Jahre wegbewegen, hin zu einer globalen Bestandsaufnahme. Obwohl ihr Hauptaugenmerk jeweils unterschiedlichen Entwicklungen im Zuge der Energiekrisen gilt, ergänzen sich ihre Studien hervorragend, insbesondere weil beide die Bedeutung internationaler Solidarität in einer Zeit zunehmender globaler Interdependenz hervorheben.

Das sprachlich sehr zugänglich geschriebene Buch von Jonas Kreienbaum, das auf seiner Habilitationsschrift basiert, widmet sich in sechs empirischen Kapiteln zum einen den Verbindungen zwischen den beiden Ölkrisen in den Jahren 1973/74 und 1979/80, zum anderen der zeitgenössischen Forderung nach einer alternativen Weltwirtschaftsordnung. Er geht der Frage nach, welche Auswirkungen die Krisen auf die Nord-Süd-Beziehungen hatten, und argumentiert, dass insbesondere die Ölkrise von 1973/74 ein »window of opportunity« eröffnete, welches es den Staaten des globalen Südens erlaubte, ihren Forderungen nach einer neuen, gerechteren Weltwirtschaftsordnung mehr Gehör zu verschaffen und »den Westen effektiv unter Druck zu setzen« (S. 1). Der Erfolg der koordinierten Aktionen von OPEC (Drosselung der Produktion) und den arabischen OPEC-Mitgliedern (Ölembargo) während der ersten Ölkrise hätte gezeigt, wie solidarisches Handeln westlichen Industrieländern Eingeständnisse abringen konnte und damit eine »qualitativ neue Phase in den Nord-Süd-Beziehungen« (S. 6) eingeleitet. Gleichzeitig führte die Vervierfachung des Ölpreises zu massiv verschlechterten Zahlungsbilanzen für diejenigen Entwicklungsländer, die kein Öl produzierten. Ihre Verschuldung stieg während der Dekade zusehends an, während die Bemühungen um eine neue Weltwirtschaftsordnung letztendlich im Sande verliefen. Mit dem Blick auf die internationalen wirtschaftlichen Dimensionen und speziell der Sicht des globalen Südens und seiner politischen Eliten liefert Kreienbaums Studie neue und wichtige Perspektiven auf die ansonsten relativ gut erforschten Ölkrisen.

Um die jeweiligen Einstellungen von Industrieländern, OPEC-Mitgliedern und weiteren Entwicklungsländern auch in relativer Schärfe und Tiefe darstellen zu können, hat sich Kreienbaum für einige Fallbeispiele entschieden, die er näher untersucht: die USA, Westdeutschland und Großbritannien für die Industriestaaten, Saudi-Arabien und Algerien für die OPEC, und das zentralafrikanische Sambia für die Entwicklungsländer, kontextualisiert durch weitere Beispiele wie etwa Indien. Einem Trend in der Globalgeschichte folgend, untersucht er damit sehr spezifische Orte, Institutionen und Akteure sozusagen als »selektive analytische Sonde[n]« (S. 13). Es ist insbesondere ein Verdienst Kreienbaums, neben Archiven in Deutschland, den USA und Großbritannien auch Primärquellen in Sambia und Bestände supra- und internationaler Institutionen wie der Europäischen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen konsultiert zu haben. Es wäre hier sicherlich interessant gewesen, auch Frankreich über Archivquellen einzubeziehen, da das Land in jener Zeit eine distinkte Rolle im europäischen Einigungsprozess spielte und in der Frage einer Energieverbraucherorganisation von den anderen westlichen Staaten abwich.

Nach einem historischen Abriss zur Entwicklung der Nord-Süd-Beziehungen im Zuge der Dekolonisation und zur Gründung der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) 1964 im ersten Kapitel, erläutert Kreienbaum im zweiten Kapitel äußerst kenntnisreich die Auswirkungen der ersten Ölkrise von 1973/74 und zeigt, dass die Krise zwar half, der kurz zuvor eingeforderten Neuen Weltwirtschaftsordnung (NIEO) zur Stabilisierung von Rohstoffpreisen durch Produzentenkartelle und Nationalisierung politisches Gewicht zu verleihen, gleichzeitig aber auch den wirtschaftlichen Graben zwischen erdölexportierenden und erdölimportierenden Entwicklungsländern vertiefte. Insgesamt wurden die Nord-Süd-Beziehungen konfrontativer, auch gegenüber multinationalen Unternehmen. Im Unterschied zum Westen bezeichneten Vertreter der OPEC-Staaten die Ereignisse nicht als Ölkrise, sondern als Ölrevolution.

Anders gestalteten sich die Auswirkungen des Ölschocks auf Sambia, wo die negativen Konsequenzen erst später eintraten, sich dann aber zu einer existentiellen wirtschaftlichen Krise entwickelten, insbesondere weil die Ölkrise eine Inflation auslöste und eine Rezession in Gang setzte, welche die Rohstoffpreise in den Keller fielen ließ. So musste Sambia mehr für Importe bezahlen, während seine Kupferexporte nur noch wenig Einkommen für die Staatskasse generierten. Diese aufschlussreiche und ausgewogene Diskussion der ökonomischen Auswirkungen der Ölschocks auf erdölimportierende Entwicklungsländer ist eine der herausragenden analytischen Leistungen Kreienbaums. Er zeigt, dass diese Länder nicht nur direkt durch die hohen Ölpreise betroffen waren, sondern dass sich ihre wirtschaftlichen Probleme durch sekundäre Effekte noch potenzierten und so zur Schuldenkrise beitrugen. Politisch führte dies nicht unmittelbar zu einer Kluft zwischen der OPEC und den anderen Entwicklungsländern, wie der Autor in den nachfolgenden Kapiteln skizziert. Trotz US-amerikanischer Versuche, die Entwicklungsländer zu spalten, bestand deren Allianz bis 1975 weiter, auch weil die OPEC die wirtschaftlichen Probleme im globalen Süden erfolgreich als Folge des bestehenden ungerechten Weltwirtschaftssystems darstellen konnte.

Dieses Framing wie auch die verschiedenen Initiativen zur Erneuerung der Weltwirtschaftsordnung im Rahmen der UN-Sondergeneralversammlungen 1974 und 1975, der Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit (CIEC), die Industrie- und Entwicklungsländer von 1975 bis 1977 zusammenbrachte, sowie zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und ehemaligen Kolonialländern werden im dritten und vierten Kapitel untersucht. Kreienbaum verweist dabei auf die Formbarkeit der geforderten neuen Ordnung. Je nach Zeitpunkt und je nach Akteur beinhalte die Neue Weltwirtschaftsordnung ganz unterschiedliche Akzente. Sie diente somit eher als Sammelbegriff – und wenn sich auch die Nord-Süd-Beziehungen ab 1975 insgesamt kooperativer gestalteten und sogar Erfolge wie das Lomé-Abkommen zwischen der EWG und 77 Entwicklungsländern erreicht werden konnten, so zeigte sich doch bereits zu Beginn der CIEC-Verhandlungen, dass die Industrieländer, allen voran die USA, nur dem Anschein nach zu Verhandlungen über eine neue, gerechtere Weltwirtschaftsordnung bereit waren.

Allerdings, so Kreienbaum, sei 1975 noch nicht das Ende der Neuen Weltwirtschaftsordnung gewesen. Er widerspricht damit einer Studie von Christopher Dietrich von 2017.[1] Erst in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre zerbröckelte die Solidarität des globalen Südens. Nun traten nicht nur zwischen OPEC-Staaten und erdölimportierenden Entwicklungsländern, sondern auch innerhalb der OPEC Konflikte offen zutage, die zum Scheitern der OPEC-Konferenz im Dezember 1976 führten. Der Verlust einer einheitlichen Front der Entwicklungsländer sowie die Auswirkungen der globalen Rezession hatten das revolutionäre Moment erstickt. Die Industrieländer waren nicht gewillt, Eingriffe in Marktmechanismen zu billigen. Die Pariser Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit endete somit 1977 ohne nennenswerte Ergebnisse.

Die zweite Ölkrise 1979/80, die auch wieder eine Preiskrise war, läutete eine weitere globale Wirtschaftskrise ein. Wie Kreienbaum im fünften Kapitel überzeugend nachzeichnet, wurden die Ereignisse am Ende der Dekade trotz vieler Parallelen anders wahrgenommen als noch 1973/74 – zum einen, weil man nun die Erfahrungen der ersten Krise heranzog, um die neue Krise zu deuten, zum anderen, weil diesmal für die USA mehr auf dem Spiel stand und schließlich, weil sich nun auch in den Augen der OPEC-Staaten wirklich eine Ölkrise und keine Ölrevolution ereignete. Diese Krise traf vor allem die ohnehin schon verschuldeten Entwicklungsländer wie Sambia, so dass »[an]statt zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung und Selbstständigkeit […] die späten 1970er Jahre zunehmende Abhängigkeit von den internationalen Finanzinstitutionen« (S. 259) brachten.

Im sechsten Kapitel beschreibt Kreienbaum detailliert, wie die fehlgeschlagene Nord-Süd-Kommission und der folgende Nord-Süd-Gipfel zum Verschwinden der Neuen Weltwirtschaftsordnung Anfang der 1980er-Jahre beitrugen. Als Gründe für das Scheitern nennt der Autor vor allem den neuen neoliberalen Zeitgeist wie auch die Zerstrittenheit und die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation der Entwicklungsländer. Somit versteht Kreienbaum nicht die Ölkrisen der 1970er-Jahre, sondern erst die frühen 1980er-Jahre als entscheidenden Einschnitt, erstickten sie doch jegliche Hoffnung auf eine andere, gerechtere Art der Globalisierung. Insgesamt zeigt Kreienbaum, wie wichtig es ist, die 1970er-Jahre als »distinkte Phase« (S. 309) anzusehen, oder eben auch als Zwischenphase des Kalten Krieges, in der die Nord-Süd-Beziehungen teils konfliktreicher waren als die Ost-West-Beziehungen, die im Zuge der Détente in dieser Dekade kurzzeitig auftauten. Wenngleich sich heute nur wenige an die Neue Weltwirtschaftsordnung erinnern, so muss man dem Autor Recht geben, dass ihre Geschichte hilft, »die Genese der heutigen Welt zu verstehen« (S. 27).

Als Vorgeschichte der Gegenwart kann auch Henning Türks Studie zur Geschichte der 1974 gegründeten Internationalen Energieagentur (IEA) gelesen werden. Anders als die Neue Weltwirtschaftsordnung hat diese Institution den Ölpreisverfall und die marktliberale Trendwende der 1980er-Jahre gut überlebt und besteht bis heute. Auch sie ist ein Resultat der Ölkrisen der 1970er-Jahre, wurde aber maßgeblich von den USA geformt. Türk beschreibt detailgenau und kenntnisreich die Entstehungsgeschichte dieser neuen internationalen Organisation, die eine ganz andere Solidarität beschwor als die von Kreienbaum skizzierte. Hier ging es darum, eine Spaltung der westlichen Verbündeten zu vermeiden und ihre Ölabhängigkeit gemeinsam zu bewältigen. Während für Kreienbaum die Ölkrisen die Nord-Süd-Beziehungen ins Zentrum politischer Aufmerksamkeit rückten, konstatiert Türk eine ähnliche Dynamik für die Energiepolitik, die sich als internationales Politikfeld erst in den 1970er-Jahren etablierte. Trotz ihrer bedeutsamen Rolle für die westlichen Industrienationen gab es bislang keine eigenständige historische Studie zur Entstehung der IEA – eine Lücke, die Türk schließen kann, weil er Zugang zum IEA-Archiv hatte, das er zusätzlich zum OECD-Archiv sowie unveröffentlichten deutschen und britischen Primärquellen konsultierte.

Auf dieser breiten Quellenbasis untersucht Türk nicht nur die Entstehung und die ersten zehn Jahre der neuen internationalen Organisation, sondern ihn interessieren vor allem die normativen Grundlagen der institutionellen Energiepolitik sowie die Rolle bürokratischer Akteure, die diese energiepolitischen Normen und Werte aushandelten. Dabei entleiht Türk auch Ansätze aus der Disziplin der Internationalen Beziehungen. Während er die Frage nach den normativen Grundlagen mit Hilfe der konstruktivistischen Theorien von Martha Finnemore empirisch zu beantworten sucht, analysiert er zugleich das Zusammenspiel nationaler und internationaler Akteure der Energiepolitik. Ohne Robert Putnam namentlich zu nennen, referenziert er dessen berühmte Metapher des »Two-Level-Game«[2], wenn er fragt, inwieweit »Regierungen die internationale Ebene [nutzten], um bestimmte unpopuläre Maßnahmen […] in ihren Ländern besser durchsetzen zu können« (S. 19). Ein weiteres Erkenntnisinteresse der Studie gilt den Vorstellungen einer sicheren Energieversorgung, die sich in ganz unterschiedlichen energiepolitischen Entscheidungen niederschlugen.

Auch wenn die Ölkrise von 1973/74 den Ausschlag gab, die Zusammenarbeit der westlichen Industrieländer im Energiebereich durch eine neue internationale Organisation zu fokussieren, gab es auf Seiten der USA bereits ein Jahr zuvor Überlegungen für eine solche Energie- gemeinschaft, wie Türk im zweiten Kapitel seines Buchs darstellt. Zwar habe es mit dem Ölausschuss in der OECD schon seit über einem Jahrzehnt ein Instrument gegeben, um seitens der Industrieländer auf Embargos wie etwa das der arabischen Erdölproduzenten 1967 zu reagieren. Allerdings hatte genau dieses Ölembargo gezeigt, wie schwierig eine zeitnahe und koordinierte Reaktion war. Zudem hatte sich die energetische Lage Anfang der 1970er-Jahre fundamental verändert. Die OECD hatte sich durch den Beitritt Japans und Australiens geografisch nach Asien und Ozeanien erweitert, die heimische Ölproduktion der USA wurde ab 1970 von der rasant gestiegenen Binnennachfrage eingeholt und konnte daher in Krisensituationen nicht mehr als Ausgleichsproduzent einspringen und die Macht der arabischen Erdölnationen hatte sich durch Nationalisierungen und gestiegene Einflussnahme auf Ölpreismechanismen vergrößert.

Wie Türk auf der Basis akribischer Quellenarbeit zeigen kann, war es vor allem Henry Kissinger, zu diesem Zeitpunkt US-Außenminister und Sicherheitsberater, der auf eine neue institutionalisierte Zusammenarbeit im Energiebereich pochte. Er lud zu der Washingtoner Energiekonferenz im Februar 1974 ein und setzte die europäischen Bündnispartner öffentlich unter Druck, um eine Einigung für die Gründung der Internationalen Energieagentur zu erwirken. Oberstes Ziel war es, eine geeinte Front gegen die OPEC und zukünftige Embargos zu etablieren. Wenngleich dieser Teil der Geschichte bekannt war, vermag Türk doch neue wichtige Entwicklungen hervorzuheben So hätte neben Kissinger und den USA auch die Bundesrepublik Deutschland eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der IEA gespielt, etwa bei der Gründung einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe zur Transparenz der Ölmärkte und zur Kontrolle internationaler Ölfirmen – ein Thema, das nicht auf der Agenda der USA stand.

Nach der Gründung und dem organisatorischen Aufbau der IEA, widmet sich Türk in den folgenden Kapiteln der eigentlichen Zusammenarbeit im Rahmen der Organisation. Das dritte Kapitel untersucht insbesondere die (von Kreienbaum ebenfalls analysierten) Nord-Süd-Beziehungen, aber auch die Schwierigkeit Solidarität unter den IEA-Mitgliedern zu organisieren. Dabei hatten vor allem die USA mit »konkurrierende[n] Solidaritätsansprüche[n]« (S. 62) zu kämpfen, etwa seitens Frankreichs, das ja nicht nur die Pariser Nord-Süd-Konferenz initiiert hatte, sondern auch auf eine europäische Ölverbrauchersolidarität pochte. Auch die IEA-Mitglieder Großbritannien und Kanada entwickelten sich zu Erdölproduzenten, die bei der Diskussion um Mindestpreise für Importöl teils andere Interessen als ihre Verbündeten vertraten.

Im vierten Kapitel diskutiert Türk anhand der energiepolitischen Ziele der IEA die Durchsetzung bestimmte Normen und Werte, allen voran der Energiesicherheit. Hätten sich die Bemühungen der IEA zunächst vor allem auf Öleinsparungen konzentriert, so ging es ab 1977 häufig um alternative Energieressourcen, wie etwa Kohle oder, wesentlich kontroverser, Atomenergie. Um die Einhaltung energiepolitischer Ziele überprüfen zu können, wurden 1977 ein IEA-Gruppenziel sowie zwölf energiepolitische Prinzipien formuliert, die auch einen Einblick in die Wertvorstellungen der Organisation erlaubten. Zu diesem Zeitpunkt sah man noch den Staat als wichtigsten Akteur. Die Energiepolitik eines jeden Mitgliedslandes sollte regelmäßig in einer Art Peer-Review-Verfahren evaluiert werden. Allerdings zeigt Türk am Beispiel der Bundesrepublik auch, dass dies lediglich ein Soft-Power-Instrument war, das gegebenenfalls »aus ordnungspolitischen Gründen oder aus Rücksicht auf starke Wirtschaftszweige ignorier[t]« (S. 98) werden konnte.

Besonders interessant für die Bundesrepublik schien auf den ersten Blick die IEA-Kohlepolitik, die seit 1977 Kohle als alternative Energieressource zwecks Ölimportreduzierung zu fördern suchte. Wie im fünften Kapitel beleuchtet wird, standen sich dabei allerdings ganz unterschiedliche Energiesicherheitsargumente gegenüber. Während Bonn auf die Absicherung heimischer Kohle abzielte, die nicht zu Weltmarktpreisen produziert werden konnte, präferierte die IEA den Import wettbewerbsfähiger Kohle, um die erwarteten Ölengpässe in den 1980er-Jahre abfedern zu können. Diese Einschätzung der globalen Energiesituation sollte sich alsbald als Irrtum erweisen, auch wenn sie zunächst durch die Ereignisse im Iran und der resultierenden Ölkrise von 1979/80, die im sechsten Kapitel diskutiert wird, bestätigt schien.

Die zweite Ölkrise war nicht Resultat eines Embargos, sondern eines Produktionsausfalls (Iran). Dies zeigte die Probleme einer Strategie auf, die starr auf ein weiteres Embargo ausgerichtet war. Wie schon Kreienbaum gezeigt hatte, traf diese Krise die USA weit mehr, die deshalb alle IEA-Mitglieder zu Öleinsparungen anmahnten. Laut Türk stellten die höheren Ölpreise jedoch für die Bundesrepublik ein weit geringeres Problem dar, weshalb diese Einsparmaßnahmen eher zurückhaltend gegenüberstand. Waren die Verhandlungen darüber schon nicht reibungslos vonstattengegangen, erwies sich der gemeinsame Krisenmechanismus als äußerst umstritten. Obwohl man sich geeinigt hatte, automatisch ein gemeinsames Ölverteilungssystem in Gang zu setzen, wenn ein Mitgliedsland um mehr als sieben Prozent unter die normale Ölversorgung rutschte, entschied man sich im Fall Schwedens nach hitziger Debatte dagegen. Die USA setzten von nun an auf ein anderes Instrument zur Sicherung der Energieversorgung in Krisenzeiten: strategische Ölvorräte. Die IEA hatte eingesehen, dass die veränderte Art der Krise auch neue Maßnahmen erforderte. Womöglich ist es auch dieser Flexibilität zu verdanken, dass die IEA bis heute als wichtige internationale Organisation im Energiebereich besteht.

Diese Flexibilität zeigte sich ebenso im Umgang mit neuen Herausforderungen Anfang der 1980er-Jahre, wie Türk im siebten Kapitel anhand der Erdgaspolitik der IEA näher beleuchtet. Erdgas wurde als alternative Energiequelle anerkannt, jedoch sollten keine neuen Abhängigkeiten von einzelnen Produzenten entstehen. Dies war natürlich vor allem gegen die Sowjetunion gerichtet. Türk nutzt die IEA-Gasstudie von 1983, um die divergierenden Interessenlagen der verschiedenen Akteure zu veranschaulichen. Hier gab es vor allem Differenzen zwischen dem westdeutschen Wirtschaftsministerium und dem IEA-Direktor Ulf Lantzke, der früher in eben diesem Ministerium für die Energiepolitik zuständig gewesen war. Türk vermutet folgerichtig, dass die konsequente Haltung des IEA-Sekretariats in dieser Frage den USA signalisieren sollte, dass man auf der gleichen Seite stehe, was für den Fortbestand der Behörde zu diesem Zeitpunkt sicherlich dienlich war.

Wie bereits von Kreienbaum dargelegt, relativierten sich die Lehren aus den Energiekrisen der 1970er-Jahre während der 1980er-Jahre – zum einem, weil Mitte der Dekade der Ölpreis auf ein Rekordtief rutschte und zum anderen, weil wirtschaftsliberale westliche Regierungen, allen voran in Großbritannien und den USA, nun fast ausschließlich auf Marktinstrumente setzten. Die 1984 als Nachfolgerin von Lantzke von den USA durchgesetzte IEA-Direktorin Helga Steeg verkörperte die neue »marktliberale Position der IEA« (S. 177). Die IEA habe sich, so Türk, »erfolgreich angepasst« (S. 184). Neben der zentralen Rolle der USA, gehören die politische und strategische Bedeutung des oft als rein technisches Instrument verkannten IEA-Sekretariats und der Wandel der geopolitischen und geo-ökonomischen Position der IEA im gewählten Betrachtungszeitraum zu den Hauptergebnissen der überaus lesenswerten Studie. Türk hebt als weiteres Ergebnis die handlungsweisende Signifikanz der Energiesicherheit hervor, die unter anderem Umweltüberlegungen ins Abseits gedrängt habe. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Studie noch mehr auf die verpasste Chance der Verknüpfung von Energie und Umwelt eingegangen wäre.

Liest man Türks und Kreienbaums Studien zusammen, so zeigt sich methodisch der Mehrwert transnational und international angelegter Analysen der Ölkrisen der 1970er-Jahre. Nicht nur, dass diese Krisen überhaupt erst den politikwissenschaftlichen Begriff der Interdependenz ins Leben riefen[3], auch der rege internationale Handel von Erdöl und seine Auswirkungen auf nationale Zahlungsbilanzen erfordern es, dass die Geschichte der Ölkrisen jenseits nationaler Kontexte geschrieben wird. Weiterhin schaffen es beide Autoren, diese »Dekade der Energiepolitik« (Türk, S. 21) als eine eigenständige historische Periode zu untersuchen, in der energiehistorisch wichtige normative Konzepte geformt wurden und institutionelle Weichenstellungen erfolgten. Historisch genauso wichtig sind allerdings auch die nicht erfolgten Veränderungen und gescheiterte Initiativen wie die Neue Weltwirtschaftsordnung. Sie helfen uns zu verstehen, wo wir uns heute befinden. In diesem Sinne sind die 1970er-Jahre weit mehr als eine Übergangsphase. In dieser Dekade betrat ein neues Politikfeld, die Energiepolitik, die internationale Bühne und während die 1980er-Jahre, wie von beiden Autoren überzeugend dargestellt, fundamentale Veränderungen mit sich brachten, verließen Fragen der Energieversorgung diese Bühne auch nicht mehr. Um also die Genese heutiger energiepolitischer Verflechtungen und Diskurse zu verstehen, sind diese Studien, die sich den 1970er-Jahren widmen unumgänglich. Es bleibt nur zu hoffen, dass beide Studien auch einem nichtdeutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht werden, so wie 2018 das zuerst 2014 erschienene Werk von Rüdiger Graf.[4] Aus kanadischer Sicht wäre es schön, wenn dann auch ein bisschen mehr zu den Positionen Kanadas als Erdölproduzent in der IEA gesagt würde und die Rolle von Allan MacEachen als kanadischer Ko-Präsident der Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit stärker behandelt würde.

 

Zitierempfehlung

Petra Dolata, Doppelrezension zu: Jonas Kreienbaum, Das Öl und der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung. Die Bedeutung der Ölkrisen der 1970er Jahre für die Nord-Süd-Beziehungen, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2022; Henning Türk, Energiesicherheit nach der Ölkrise. Die Internationale Energieagentur 1974–1985, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82009.pdf> [27.8.2024].

 

[1]Christopher R. W. Dietrich, Oil Revolution. Anticolonial Elites, Sovereign Rights, and the Economic Culture of Decolonization, Cambridge 2017.

[2]Robert D. Putnam, Diplomacy and Domestic Politics. The Logic of Two-Level Games, in: International Organization 42, 1988, S. 427–460.

[3] Vgl. Robert O. Keohane/ Joseph S. Nye, Power and Interdependence. World Politics in Transition, Boston 1977; vgl. aus der zeithistorischen Forschung Martin Deuerlein, Das Zeitalter der Interdependenz. Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren, Göttingen 2020.

[4]Rüdiger Graf, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin/München etc. 2014; ders., Oil and Sovereignty. Petro-Knowledge and Energy Policy in the United States and Western Europe in the 1970s, New York 2018.

Sophie Lange, Deutsch-deutsche Umweltpolitik 1970–1990. Eine Verflechtungsgeschichte im internationalen und gesellschaftlichen Kontext des Kalten Krieges

(Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 140)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2024 | 489 Seiten, gebunden | 69,95 € | ISBN 9783111086200

rezensiert von

Martin Bemmann, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Rezension als pdf

Als die westdeutsche Bundesregierung, die Ministerpräsidenten mehrerer Bundesländer, Industrievertreter*innen und auch der Bundespräsident den ostdeutschen Staatschef Erich Honecker im September 1987 offiziell empfingen und »hofiert[en]« (Petra Weber)[1], war das nicht nur eine persönliche Genugtuung für den aus dem Saarland stammenden Kommunisten sowie der Gipfel jahrzehntelanger diplomatischer Bemühungen seitens der DDR um Anerkennung. Der Besuch des SED-Generalsekretärs markierte auch den Höhepunkt von Verhandlungen zur Ausgestaltung der deutsch-deutschen Umweltbeziehungen, die im engeren Sinne seit den späten 1960er-Jahren geführt worden waren. Denn im Zuge des Besuchs unterzeichneten die Regierungen beider deutschen Staaten eine Vereinbarung über die »weitere Gestaltung der Beziehungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes«.

Sophie Lange will in ihrem Buch nachzeichnen, wie es zu der Vereinbarung von 1987 kam und sie fragt »nach den generellen Beziehungen« beider Länder »im Bereich der Umweltpolitik« (S. 4). Sie führt damit zum einen den seit einigen Jahren anhaltenden Forschungstrend fort, die DDR-Umweltgeschichte von dem einseitig negativen Fokus auf die Umweltverschmutzung zu emanzipieren (ohne diese wegdiskutieren zu wollen!) und die ostdeutsche Entwicklung in breitere europäische Kontexte einzubinden. Zum anderen ist es ihr Anliegen, fokussiert auf umweltpolitische Beziehungen eine Verflechtungsgeschichte beider deutscher Gesellschaften zu verfassen, wie sie immer wieder eingefordert wurde. Beiden Ansprüchen wird sie gerecht.

Neben Arbeiten von Tobias Huff, Christian Möller oder Martin Stief, die sich ganz auf umweltbezogene Aspekte in der DDR konzentrieren[2], knüpft Lange vor allem an Studien wie etwa jene von Julia Ault, Astrid Eckert oder Frank Uekötter an, die die deutsch-deutschen Verflechtungen im Umweltbereich in den Blick nehmen.[3] Viele Debatten und Verhandlungen, die sie in den Fokus rückt, haben die genannten Autor*innen bereits behandelt. Das betrifft etwa die Auseinandersetzungen um die durch den Kalibergbau versalzte Werra, um die Mülldeponie Schönberg in Mecklenburg oder um Luftreinhaltung, es betrifft aber auch die Beziehungen zivilgesellschaftlicher Akteure aus der Bundesrepublik zu Umweltaktivist*innen sowie Umweltbehörden und -verbänden in der DDR.

Langes Arbeit besticht jedoch durch ihre intensive Nutzung einer breiten, vor allem archivalischen Quellenbasis, mit deren Hilfe sie die Komplexität der Verhandlungen zwischen Akteuren aus Ost und West verdeutlichen kann. Sie betrachtet das Interagieren staatlicher, zivilgesellschaftlicher und wirtschaftlicher Akteure und interessiert sich für die Dynamiken, die sich durch die Überschneidung von Auseinandersetzungen auf der lokalen, regionalen, zwischenstaatlichen und internationalen Ebene ergaben. Insbesondere die Wechselverhältnisse zwischen westdeutschen Bundesländern und der Bundesregierung in Bonn in ihren Verhandlungen mit ostdeutschen Akteuren verdeutlichen, dass die Annahme ›bilateraler‹ Aushandlungsprozesse der Realität nicht gerecht wird. Dass sich die Wasserqualität des kleinen grenzüberschreitenden Flüsschens Röthen/Röden Anfang der 1980er-Jahre verbessern konnte, hatte beispielsweise sehr viel mit den Eigeninteressen der bayerischen Landesregierung zu tun, die diese gegenüber Bonn und Ost-Berlin zugleich verfolgte. Im Gegensatz dazu war die westdeutsche Kali + Salz AG nicht ganz unschuldig daran, dass die Verhandlungen über die Werra nie wirklich greifbare Resultate zeitigten. Obendrein offenbart Lange mit dieser mehrdimensionalen Betrachtung, dass die deutsch-deutschen Umweltverhandlungen kaum jemals in den 1970er- und 1980er-Jahren zum Erliegen kamen.

Nachdem beide Regierungen den Grundlagenvertrag unterzeichnet hatten, begannen sie im November 1973 bilaterale Verhandlungen über ein deutsch-deutsches Umweltabkommen. Trotz eines vielversprechenden Starts stoppten sie diese Verhandlungen jedoch abrupt, als Bonn im Juli 1974 das Umweltbundesamt mit Sitz in West-Berlin einrichtete. Im Einverständnis mit der Sowjetunion sah die DDR dadurch das Viermächteabkommen über den Status Berlins verletzt und protestierte bis in die späten 1980er-Jahre vehement dagegen. Ost-Berlin habe von da an, so Lange mit Bezug auf einen 1990 geprägten Begriff, gegenüber der Bundesrepublik eine »Nicht-Umweltpolitik« (S. 71) betrieben. Auf der internationalen Ebene aber, insbesondere im Zuge der KSZE-Verhandlungen und im Rahmen der Economic Commission for Europe der Vereinten Nationen (UN/ECE), habe nie Funkstille geherrscht. Dem 1974 von allen Anrainerstaaten inklusive der Bundesrepublik und der DDR unterzeichneten Ostseeabkommen folgten die umweltbezogenen Aktivitäten im KSZE-Prozess. Beide deutsche Regierungen, so Lange, hätten sich je nach Thema mehr oder weniger engagiert an Debatten über Luftreinhaltung, Wald- und Gewässerschutz oder Müllvermeidung beteiligt und damit auf lange Sicht zur Bildung einer gesamteuropäischen »epistemic community« des Umweltschutzes beigetragen. Im Falle der Luftreinhaltung kam es sogar zur bekannten Genfer Konvention von 1979, die die DDR in den Folgejahren zunehmend internationalem Druck aussetzte, ihre Schwefeldioxyd-Emissionen zu senken und ihren äußerst restriktiven Umgang mit Umweltdaten zu ändern. Aufgrund enger werdender ökonomischer Spielräume und ideologischer Inflexibilität resultierte dieser Druck zwar weniger darin, genau diese Ziele zu erreichen. Doch wie bereits Tobias Huff, arbeitet auch Sophie Lange überzeugend heraus, dass sich dank solcher intensivierten internationalen Austauschprozesse der interne politische Handlungsspielraum des DDR-Umweltministeriums sukzessive erweiterte.

Der Hauptteil des Buches ist den 1980er-Jahren und den vielgestaltigen Beziehungen zwischen Akteuren beider deutscher Staaten gewidmet. Politischer Gegenwind unterbrach zwar immer wieder die direkten Kontakte beider Regierungen. Doch das Schweigen auf oberster Ebene konnte durch die seit Ende der 1970er-Jahre sukzessive entstandenen Verbindungen auf niedrigerem Level und durch solche zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren in der BRD mit Aktivist*innen und mehr oder minder staatlich kontrollierten Umwelteinrichtungen und -verbänden in der DDR aufgefangen werden; der Dialog brach nie völlig ab. Ob Langes Bezeichnung dieses Phänomens als »Ökologisierung« und »ökologischer Verflechtung« (etwa auf S. 22 und 223) passend ist, wird angesichts der vielfältigen Motive, die hinter den Verhandlungen standen und die das Buch auch thematisiert, zu diskutieren sein. An der Tatsache an sich aber ist ebenso wenig vorbeizukommen, wie an dem im letzten Kapitel sehr kurz skizzierten Niederschlag, den die deutsch-deutschen Umweltverhandlungen im Einigungs- und Transformationsprozess hinterlassen haben.

Darüber hinaus verdeutlicht Lange zwei weitere wichtige Aspekte. Zum einen wird klar, dass die deutsch-deutschen Umweltverhandlungen zwar im Kontext des Kalten Kriegs stattfanden, mit dessen Entwicklung aber nicht zu allen Zeiten in gleicher Weise korrespondierten. In den 1970er-Jahren dienten sie überwiegend als Mittel der Entspannungspolitik. Doch die erneute Verschärfung des Ost-West-Konflikts in den frühen 1980er-Jahren ging konträr eher mit einer Verdichtung der deutsch-deutschen Umweltkontakte auf verschiedenen Ebenen einher. Zum anderen deutet Lange an, wie wenig bisher über die Zusammenarbeit der sozialistischen Länder im Umweltbereich bekannt ist, insbesondere jene im Rahmen des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Mit Blick auf eine zumindest in den 1970er-Jahren offenbar beabsichtigte Koordinierung von Umweltpolitik und Umweltschutztechnik innerhalb des RGW unterstreicht sie, welch fruchtbares Forschungsfeld die grenzüberschreitenden Austausch- und Verflechtungsprozesse in Ostmittel- und Osteuropa in Zukunft werden könnten.

Die empirische Dichte der Darstellung stellt zweifelsohne einen Gewinn von Langes Studie dar. Die detaillierten Erläuterungen zur komplexen Problemlage der Versalzung der Werra und zu den bergbaubedingten seismischen Bewegungen an der thüringisch-hessischen Grenze etwa sind im Einzelnen nötig, um die Argumentationen der Beteiligten nachvollziehen zu können. Gleichwohl hätten eine Straffung manch kleinteiliger Passagen und eine Konzentration auf das Argument den Lesefluss gefördert. Das gilt umso mehr, als vor allem die Kapitel III und IV, die mit fast 250 Seiten den empirischen Kern der Arbeit darstellen, konkrete Fallbeispiele – des Gewässerschutzes, der Luftreinhaltung und der Müllexporte in die DDR – mit kontextualisierenden Ausführungen zu anderen umweltrelevanten Kontakten und Verhandlungen vermischen, ohne dass immer deutlich ist, wie diese unterschiedlichen Phänomene und Prozesse miteinander in Beziehung standen.

Gleichwohl: Wer sich auf Langes Darstellung der vielfältigen Umweltverhandlungen einlässt, wird die Details schätzen lernen. Denn vor allem sie verdeutlichen, wie umweltbezogene Debatten über die deutsch-deutsche Grenze hinweg in den 1980er-Jahren Arbeitsroutinen und Vertrauen zwischen Expert*innen erzeugten, die die Regierungen in Bonn und Ost-Berlin zwangen, eigene Standpunkte zu verändern.

 

Zitierempfehlung

Martin Bemmann, Rezension zu: Sophie Lange, Deutsch-deutsche Umweltpolitik 1970–1990. Eine Verflechtungsgeschichte im internationalen und gesellschaftlichen Kontext des Kalten Krieges, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82012.pdf> [27.8.2024].

 

[1]Petra Weber, Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945–1989/90, Berlin 2020, S. 870.

[2] Vgl. Tobias Huff, Natur und Industrie im Sozialismus. Eine Umweltgeschichte der DDR, Göttingen 2015; Christian Möller, Umwelt und Herrschaft in der DDR. Politik, Protest und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur, Göttingen 2020; Martin Stief, »Stellt die Bürger ruhig«. Staatssicherheit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle-Bitterfeld, Göttingen 2019.

[3] Vgl. Julia Ault, Saving Nature under Socialism. Transnational Environmentalism in East Germany, 1968–1990, Cambridge 2021; Astrid Eckert, West Germany and the Iron Curtain. Environment, Economy, and Culture in the Borderlands, New York 2019; Frank Uekötter, Ökologische Verflechtungen. Umrisse einer grünen Zeitgeschichte, in: Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970-2000, Göttingen 2015, S. 117-152.

Christof Dipper/Heinz Duchhardt (Hrsg.), Generation im Aufbruch. Die Geschichtswissenschaft in Deutschland im Spiegel autobiographischer Porträts

Böhlau Verlag | Köln 2024 | 484 Seiten, gebunden | 59,00 € | ISBN 978-3-412-52694-8

rezensiert von

Thomas Etzemüller, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Rezension als pdf

»Generation im Aufbruch« enthält autobiografische Berichte von 26 einflussreichen, zumeist westdeutschen Historikern (und zweier Historikerinnen) wie Arnold Esch, Eberhard Kolb, Hartmut Zwahr oder Hartmut Kalble. Sie sind zwischen 1933 und 1942 geboren worden und haben Weltkrieg, deutsche Zweistaatlichkeit sowie die Entwicklungen der Geschichtswissenschaft erlebt. »[U]nbestrittene Dignität in der Zunft« und »die aktive Beteiligung an der Neukonturierung des Fachs nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 1960er und 1970er Jahren« waren entscheidende Auswahlkriterien (S. 17). Der Band ist bemerkenswert. Ich bin verblüfft, wie umstandslos dessen (auto-)biografischer bzw. wissenschaftshistorischer Ansatz in den 1950er-Jahren situiert ist. Er ragt wie geronnene Geschichte in die Gegenwart hinein. Die beiden Herausgeber formulieren als Ziel der Texte, »Aufschluss [zu] geben über die geistige Entwicklung und die wissenschaftlichen und menschlichen Einflüsse auf sie [die Historiker] aus subjektiver Perspektive« (S. 18). Die Beiträger sollten aus derselben Distanz über sich schreiben, die sie zu den historischen Figuren ihrer Forschungen einnehmen, um ihre wissenschaftlichen Laufbahnen in der jüngeren deutschen Geschichte zu verorten. In diesem Sinne identifizieren die Herausgeber zusammenfassend eine Reihe biografischer und sozialer Muster und notieren, was die Verfasser des Bandes für nicht erzählenswert gehalten haben, etwa die Kriegszeit. Die Forschung zur Wissenschaftsgeschichte und zu (auto-)biografischem Schreiben lassen Dipper und Duchhardt vollständig außer Betracht. Sie zitieren im Wesentlichen Autoren ihrer eigenen Alterskohorte. Den Begriff »Aufbruch« im Titel erläutern sie nicht weiter. Vielleicht bezieht er sich auf »die geradezu weltweite Aufbruchstimmung als Folge des (geglaubten) Endes zweier Machtblöcke« nach 1989 (S. 34).

Die Beiträge folgen dann zumeist konventionellen Formen wissenschaftlicher Selbstdarstellung, sie beginnen mit der Kindheit und gehen zu den eigenen Erfolgen über: Was man gemacht hat, was man erreicht hat, in welchen Archiven man war, in welche Ausschüsse und Akademien man gewählt wurde, ob man gar die Titelseite eines »Spiegel«-Heftes schmückte, ob Kanzler und Bundespräsidenten einen in Erinnerungen erwähnten oder zu runden Geburtstagen gratulierten, in welchen Ländern man Aufsätze publiziert hat. »Frankreich fehlt«, musste Alexander Demandt feststellen. »Kann man dort genügend Deutsch?« (S. 196) Lebensstationen werden aberzählt, und es fallen viele Namen bedeutender Historiker – die männliche Form ist beabsichtigt –, bei denen man studiert oder die man selbst ausgebildet hat.

Es handelt sich also – von einer Ausnahme abgesehen – definitiv nicht um das mittlerweile etablierte Genre der Autosoziobiografie, in der die eigene Lebensbeschreibung als Sonde dient, um soziale Verhältnisse auszuloten.[1] Machtstrukturen im Feld der Geschichtswissenschaft werden eher abstrakt angedeutet, wenn nicht gleich ausgeblendet. Manchmal werden individuelle, persönliche Animositäten mit Doktorvätern und Vorgesetzten skizziert. Letztlich lesen wir nur von Karrieren, die, im Rückblick betrachtet, erfolgreich verlaufen sind. Die Beiträge beschwören eine ideale Form der Universität als einer Gemeinschaft der allein der Sache Dienenden, und sie zementieren mit Aplomb das alte Rollenmodell des deutschen Ordinarius.

Frauen glänzen weitgehend durch Abwesenheit (einige angefragte Historikerinnen haben offenbar einen Beitrag abgelehnt oder zurückgezogen). In vielen Beiträgen werden Ehefrauen gar nicht erwähnt; wenn doch, dann öfters ohne Namen. Welche Rolle haben sie für die Karrieren ihrer Männer gespielt, wie viele Manuskripte haben sie getippt, was haben sie intellektuell geleistet? Marlies Gummert hatte 1979 die produktive Verniemandung der Professorengattin aufgespießt, die ihrem Mann den Rücken freihält und nach Außen dessen Seriosität verkörpert, aber als eigenständiges Subjekt ausgelöscht wird.[2] Die meisten Beiträge des Bandes belegen Gummerts Beobachtung, obwohl man hätte denken sollen, dass Texte, die in den frühen 2020er-Jahren verfasst wurden, über alte Geschlechterrollen zumindest ein Wort verlieren. Es ist schon merkwürdig, von lauter Rufen und Auslandsaufenthalten zu lesen, in diesem Zusammenhang aber nichts Relevantes über die Familien zu erfahren. Stattdessen schreibt beispielsweise Hartmut Lehmann nur einen kurzen Satz zu diesem Thema, und es ist faszinierend, mit welcher Selbstverständlichkeit er für sich stehen bleibt: »1970 gab meine Frau ihre Stelle [als wissenschaftliche Assistentin] in Köln auf und folgte mir [nach Kiel]« (S. 131). Alexander Demandt hatte offenbar nur männliche Assistenten, förderte keine Habilitandin, unter seinen 30 Doktoranden waren ganze zwei Frauen; Frauenbeauftragte empfindet er als »Hohn auf GG Art. 3« (S. 189). Bei Peter Herde und Werner Eck erfahren wir immerhin, dass die Wohnorte der Familie nach den Arbeitsplätzen der Frauen, in beiden Fällen Lehrerinnen, gewählt wurden; die Männer mussten pendeln. Jörn Rüsen war Assistent bei einer Professorin und hatte später eine Assistentin; er dankt seiner Frau für ihre intellektuelle Unterstützung (und dafür, dass sie ihm den Rücken freigehalten hat); drei andere Kollegen tun es ihm gleich. Heinrich August Winkler wurde der Weg in die Geschichtswissenschaft durch seine bei Theodor Schieder promovierte Mutter erleichtert. Insgesamt gewinnen Frauen nur in wenigen Beiträgen Konturen als Professorinnen, Lehrerinnen oder Kulturreferentinnen.

Anders ist es im Beitrag von Adelheid von Saldern. Sie legt ihrem Bericht Pierre Bourdieus Analysen des wissenschaftlichen Feldes zugrunde und skizziert, wie eine Wissenschaftlerin in den 1960er-Jahren ihren Familienalltag optimieren musste, um in der Wissenschaft zu reüssieren. In ihrem Fall wurde sie durch den Ehemann und durchaus konservative Professoren unterstützt, durch Franz Schnabel, der sie promovierte, und Wilhelm Treue, der keine Vorbehalte gegen eine Mutter mit Kleinkind habe erkennen lassen. Gisela Bock hebt die Bedeutung der seltenen weiblichen »role models« hervor; für ihre männlichen Kollegen waren Vorbilder offenbar so selbstverständlich, dass sie diese in ihren Beiträgen nicht thematisieren.

Zwischen den Zeilen findet man Andeutungen über das Funktionieren des Wissenschaftsbetriebes, beispielsweise über den Habitus männlicher Wissenschaftler, die sich ganz der Sache hingeben und ihren Geburtstag mit Kollegen im D-Zug auf dem Weg zu einer Tagung feiern oder feststellen, dass sie als über Achtzigjährige nun weniger Gutachten schreiben und Tagungen besuchen als früher. Hans Medick berichtet selbstkritisch, dass die Identifikation mit dem Gegenstand die quellenkritische Reflexionsfähigkeit beeinträchtigen kann (in diesem Fall gegenüber der gefälschten »Laichinger Hungerchronik«). Wolfgang Benz und Reinhard Spree machen deutlich, dass zur Wissenschaft auch gescheiterte Projekte sowie zerbrochene Ehen gehören. Soziale Aufstiegsgeschichten werden kaum erzählt, umgekehrt wird die Herkunft aus einer Professorendynastie, wenn überhaupt, nur nebenbei erwähnt. Allein Heinz Reif hat eine Autosoziobiografie im Duktus von Ulla Hahns »Geschichte der Hilla Palm« verfasst, die eine Suchbewegung erkennen lässt: Distanz zur Bildungsschicht als Jugendlicher, Ausweichen, Schulversagen, Nachholen, Maschinenbauingenieur, erneutes Studium, Befremdung über das Missionarische und Humorlose der »Bielefelder Schule«, die Austreibung seiner ästhetischen Interessen aus seinen wissenschaftlichen Texten, Leitung des Ruhrlandmuseums und schließlich Professur an der TU Berlin.

Das oben erwähnte »name dropping« macht den vielleicht wichtigsten (allerdings nicht reflektierten) Punkt des Bandes deutlich, nämlich die Bedeutung sozialer Beziehungen für die Rezeption und die inhaltliche Ausrichtung wissenschaftlicher Arbeit. Keiner der Beiträger geht näher darauf ein, dass bloßes Gelesenwerden das eine ist, aktiv rezipiert zu werden aber entscheidend von persönlichen Netzwerken abhängt. Als Habilitand war Alexander Demandt kein Rotarier und fand deshalb keinen Zugang zum Arbeitskreis »Poetik und Hermeneutik«, zu dem seine Forschungen eigentlich passten. An der FU Berlin war dann sein gesellschaftlicher »Umgang unter den Kollegen, oft auch fachübergreifend: einmal wöchentlich Fußball, dreimal Tischtennis. Unvergesslich das gemeinsame Musizieren zu meinem Blüthner-Klavier in wechselnder Besetzung: Kurt Raaflaub Querflöte, Hartmut Leppin Tenor, Michael Strocka Cello«, und offenbar keine Frauen in diesen Kreisen (S. 187). Solche Szenen enthüllen, wie über Soziabilität in Rezeptionszirkel ein- und ausgeschlossen wird.

Hin und wieder gibt es Bedenken, in der Ich-Form zu schreiben. Werner Eck führt seinen Lehrer Helmut Berve als Gewährsmann an, dass in wissenschaftlichen Texten Argumente, nicht Meinungen zählten. Dass dieses Ideal eines subjektfreien Textes trotzdem die Quellen nicht schützt, »einer ideologischen Interpretation« (S. 288) anheimzufallen, zum Beispiel bei Berve im »Dritten Reich«, thematisiert Eck nicht weiter. Dabei macht die Ich-Form autobiografische Texte immerhin geschmeidig, das zeigt im umgekehrten Fall die Ego-Laudatio des »Querkopfes« Wolfgang Reinhard, der sein Selbstporträt in der dritten Person verfasst hat. Das ist umständlich zu lesen und lässt die ordinariale Erfolgsbilanz erst recht manieriert klingen, wenn er von den »drei anspruchsvollen Gesamtdarstellungen« und den »innovativen Arbeiten Reinhards« berichtet, die seinem »glatten Aufstieg in der deutschen ›Historikerzunft‹ im Wege« gestanden hätten (S. 169-171). 1973 Habilitation, 1974 Universitätsdozent, 1977 Lehrstuhlinhaber – so muss sich der heutige Nachwuchs eine nicht glatte Karriere vorstellen.

Schließt der Band zufällig mit diesen Worten von Werner Paravicini? »Nachdem die Sternstunden verblichen sind, veraltet unaufhaltsam des Historikers Werk […]. Endet es gut, stirbt der Meister verehrt, aber bereits als ein Museumsstück. Und dann wird er vergessen. Es sei denn, er sei ein Genie oder Dichter gewesen.« (S. 458)

 

Zitierempfehlung

Thomas Etzemüller, Rezension zu: Christof Dipper/Heinz Duchhardt (Hrsg.), Generation im Aufbruch. Die Geschichtswissenschaft in Deutschland im Spiegel autobiographischer Porträts, Böhlau Verlag, Köln 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82007.pdf> [27.8.2024].

 

[1] Vgl. exemplarisch Carlos Spoerhase, Politik der Form. Autosoziobiographie als Gesellschaftsanalyse, in: Merkur 71 (2017), S. 27–37.

[2] Marlies Gummert, Rede einer selbstbewußten Professorenfrau. Ein Dokument, in: Kursbuch Nr. 58 (1979), S. 85–100.

Maximilian Buschmann, Die Erfindung des Hungerstreiks. Eine transnationale Geschichte, 1880–1950

(Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 247)

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2023 | 378 Seiten, gebunden | 65,00 € | ISBN 978-3-525-37105-3

rezensiert von

Gisela Diewald-Kerkmann, Universität Bielefeld

Rezension als pdf

Die Geschichte des Hungerstreiks als politische Protestform in transnationaler Perspektive steht im Zentrum der Studie von Maximilian Buschmann, wobei sich der Fokus auf die Vereinigten Staaten im Zeitraum von 1880 bis 1950 und auf die Praxis der Hungerstreikenden richtet. Beim Hungerstreik verweigern Einzelne oder Gruppen die Nahrungsaufnahme und nehmen dafür bewusst das Risiko bleibender gesundheitlicher Schäden, die nach etwa drei oder vier Wochen eintreten, oder sogar den Tod in Kauf. Eine verschärfte Variante dieser Protestform ist der ›trockene Hungerstreik‹, also die Verweigerung von Flüssigkeitsaufnahme. Die Überlebenszeit beträgt in diesem Fall nur wenige Tage, da der Wasserverlust im Körper (Dehydratation) zu Bewusstlosigkeit und bald darauf zum Tod führt. Buschmann hebt hervor, dass die Verweigerung der Nahrungsaufnahme eine körperliche Praxis darstellt, »um die politische und individuelle Souveränität eines handelnden Subjekts zu demonstrieren – eine Form der Selbstbeherrschung und Selbstverteidigung, die nur um den Preis der Selbstschädigung und der Potentialität der Selbstopferung zu haben schien.« (S. 10).

Es geht beim Hungerstreik nicht nur um eine politische Aktion gegen den Staat, sondern auch um die Aufmerksamkeit des politisch-sozialen Umfelds und der medialen Öffentlichkeit. Insoweit erfordert die kommunikative Dimension von Hungerstreiks, seine Einbettung in ein wirkungsvolles Narrativ, den Zugang zu Medien und Netzwerken. Tatsächlich bedeutet das Mittel des Hungerstreiks eine Ultima Ratio im politischen Kampf respektive einen ›Kampf mit dem eigenen Körper‹ bis zu dessen massiven Schwächung. Aus dieser letzten Konsequenz erklären sich das eigentümliche Pathos und die Radikalität des Hungerstreiks. Der Verfasser hebt zu Recht hervor, dass weder die russischen politischen Gefangenen noch die britischen und amerikanischen Suffragetten, noch die Kriegsdienstverweigerer in den Vereinigten Staaten im 19. und 20. Jahrhundert als erste Hungerstreikende weltweit gelten können. Das sei nur bei zwei großen Verdrängungen möglich: Zum einen hätten Afrikaner:innen auf der erzwungenen Überfahrt über den Atlantik regelmäßig die Nahrungsaufnahme verweigert, um sich ihrer Versklavung zu widersetzen. Zum anderen sei die Nahrungsverweigerung eines der vieldiskutierten Probleme der sich im 19. Jahrhundert etablierenden Psychiatrie gewesen. Aber Hungerstreiks gehören nicht nur der Vergangenheit an, vielmehr treten sie nach wie vor weltweit auf. Vor allem in der Zeit von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre erlebten sie eine Hochkonjunktur: »Nicht nur in den USA, auch in anderen Staaten wie Frankreich, Südafrika, Nordirland, Westdeutschland und Indien kam es wiederholt zu Hungerstreiks.« (S. 317).

Leitende Fragestellungen, die den Aufbau der Arbeit bestimmen, sind beispielsweise: »Welche Bedeutung besaß der Körper als Leib und als Objekt der Reflexion und des Diskurses für die politische Praxis? Welche Selbstverhältnisse formten sich mit und durch Hungerstreiks? Welche Bedeutung hatten spezifische räumliche Konstellationen und bestimmte Routinen innerhalb eines Raums für das Auftreten von Hungerstreiks?« (S. 13).

Die Untersuchung ist in vier Teile mit insgesamt zwölf Kapiteln gegliedert. Während sich der erste Teil auf die transnationale Begriffsgeschichte, die wissenschaftliche Entzauberung des Nicht-Essens im späten 19. Jahrhundert, sowie auf »verschwiegene Traditionen« des Hungerstreiks konzentriert, geht es im zweiten Teil um die Etablierung des Hungerstreiks als mediale Figuration, Körpertechnik und politische Subjektivierung sowie um den Hungerstreik als Protestform von Anarchist:innen und Feministinnen im frühen 20. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang werden Hungerstreiks als ›Propaganda der Tat‹, die Formen politischer Subjektivierung bei Hungerstreiks von Feministinnen, aber als entgegengesetzter Akt auch die Genealogie der Zwangsernährung im medizinisch-psychiatrischen Wissen im 19. Jahrhundert thematisiert. Im dritten und vierten Teil untersucht Buschmann diverse Hungerstreikkampagnen und ihre mediale Rezeption im Zeitalter der Weltkriege, von den Hungerstreiks US-amerikanischer Kriegsdienstverweigerer im Ersten Weltkrieg über anarchistische Kampagnen während des Bürgerkriegs in Russland in den 1920er-Jahren bis hin zur weltweiten Rezeption von Gandhis »politischer Askese« in Indien. Dabei stützt sich der Autor auf ein weit gefächertes Bündel an Quellentypen unterschiedlicher Provenienz, insbesondere aus US-amerikanischen Archiven, von staatlicher Überlieferung über Presseberichterstattung und wissenschaftliche Diskussionen bis hin zu Korrespondenzen, Memoiren und Tagebücher von Hungerstreikenden selbst. In diesem Zusammenhang spricht Buschmann selbst von einer diffusen Quellenlage.

Als wichtige Konstante von Hungerstreiks werden im siebten Kapitel politische Subjektivierungen thematisiert. Hungerstreiks hätten auf unterschiedliche Weise als eine Praxis der Subjektivierung fungiert, »in dem Sinne, dass die Individuen im Hungerstreik mit und durch diesen auf sich selbst Bezug nahmen, über sich und ihre Handlungsmöglichkeiten nachdachten und schließlich sich selbst als politische Subjekte in einem gesellschaftlichen Kampf um Macht positionierten.« (S. 160) So hätten die britischen Suffragetten Hungerstreiks in ihrem Kampf um demokratische Partizipation genutzt, um ihr konstitutionelles Ziel, das Erlangen des Frauenwahlrechts, zu untermauern. Aber den Frauen ging es in den 1910er-Jahren nicht nur um die Erlangung des Wahlrechts, ihr Kampf richtete sich ebenso gegen Prostitution, Alkoholismus, sowie gegen sexuelle und häusliche Gewalt. Insoweit seien die Erfahrungen von Haft, Hungerstreik und Zwangsernährung zu zentralen Ereignissen der feministischen Kämpfe geworden. Nach Ansicht des Autors hätten die individuellen Erlebnisse von Missachtung zu einer Ressource des Subjektes geführt, sich gegen die Unterdrückung zu wehren. In diesem Kontext klammert Buschmann nicht aus, dass Hungerstreiks häufig durch eine Zwangsernährung gebrochen wurden, was mit einer erheblichen Tortur verbunden war. Mittels eines Schlauchs wurde den Streikenden flüssige Nahrung durch Nase oder Mund eingeflößt. Das war ein schmerzhafter Prozess, da die zu ernährende Person hierfür fixiert werden musste. Solche Maßnahmen riefen heftige Kontroversen und Debatten in der britischen Öffentlichkeit hervor. Kritische Stimmen sahen in der Zwangsmaßnahme »einen schweren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und Würde der Gefangenen« (S. 319). Umso wichtiger ist der Hinweis von Buschmann, dass der Weltärztebund im Jahre 1975 ausdrücklich erklärte, dass eine künstliche Ernährung gegen den Willen eines zurechnungsfähigen Gefangenen zu unterlassen sei.

Dass es zahlreiche skeptische Stimmen gegen die Durchführung von Hungerstreiks gab, dokumentiert die politische Kampagne für zwei der bekanntesten Häftlinge in den USA. Es geht um die in den 1920er-Jahren zum Tode verurteilten italienstämmigen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Wegen eines angeblichen Überfalls auf einen Geldtransporter und der Tötung von Wachmännern waren sie am 14. Juli 1921 zum Tode verurteilt worden. Da sie sich während des Prozesses zu ihren anarchistischen Idealen bekannten, lag die Vermutung nahe, dass mit dem Todesurteil ein Exempel gegen die radikale Linke in den Vereinigten Staaten statuiert werden sollte. Trotz der ablehnenden Haltung von Vanzetti und der Verteidigung entschloss sich Sacco zum Hungerstreik. »Während manche meinten, Vanzetti hätte ebenfalls in den Hungerstreik treten sollen, glaubten andere, Saccos Nahrungsverweigerung sei weniger ein politischer Akt als eine individuelle Verzweiflungstat, die nicht politische Agitation, sondern medizinischen Beistand benötige.« (S. 270) Tatsächlich wurde Sacco in der Psychiatrie eine Zwangsernährung angedroht, woraufhin er den Hungerstreik nach 31 Tagen beendete. Ungeachtet dessen entwickelte sich die Kampagne für die Freilassung von Sacco und Vanzetti zur zeitgenössisch wohl weltweit größten linken Mobilisierungskampagne. Inmitten der internationalen Proteste entschieden sich die beiden Anarchisten am 17. Juli 1927 zu einem gemeinsamen Hungerstreik, auch weil sie auf eine Begnadigung durch den gegen sie eingestellten Gouverneur nicht rechnen konnten und ihnen so nichts anderes mehr übrig zu bleiben schien, als auf diese Weise zu protestieren.

Buschmanns Studie endet Mitte des 20. Jahrhunderts, aber nicht, »weil die Geschichte des Hungerstreiks hier ihr Ende gefunden hätte, sondern weil sich die Praxis nun international und in zahlreichen verschiedenen politischen Bewegungen fest im Repertoire der Aktions- und Protestformen etabliert hatte.« (S. 317) Aber nicht nur in der Praxis von politischen Bewegungen hat sich der Hungerstreik etabliert, auch in der Forschung wird das Phänomen des Hungerstreiks zunehmend problematisiert. Insgesamt zeugt die Arbeit von einer intensiven Auseinandersetzung des Autors mit der Geschichte des Hungerstreiks. Zwar wäre partiell eine noch stärkere Fokussierung auf einzelne Aspekte der Thematik, insbesondere auf die »Genealogie der Zwangsernährung«, sinnvoll gewesen, aber diese Kritik ändert kaum etwas am Gesamteindruck.

 

Zitierempfehlung

Gisela Diewald-Kerkmann, Rezension zu: Maximilian Buschmann, Die Erfindung des Hungerstreiks. Eine transnationale Geschichte, 1880–1950, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82004.pdf> [1.7.2024].

Jenny Sprenger-Seyffarth, Kriegsküchen in Wien und Berlin. Öffentliche Massenverpflegung und private Familienmahlzeit im und nach dem Ersten Weltkrieg

(Histoire, Bd. 208)

transcript | Bielefeld 2023 | 576 Seiten, gebunden | 59,00 € | ISBN 978-3-8376-6724-0

rezensiert von

Sebastian Merkel, Stadtarchiv Buxtehude

Rezension als pdf

Im Zuge der 100. Jährung des Ersten Weltkriegs erschienen zwischen 2014 und 2018 zahlreiche Publikationen zu diversen Aspekten jener weltgeschichtlichen Zäsur. Zwar wurde der Erste Weltkrieg auch zuvor schon vielfach beforscht. Nichtsdestotrotz bestehen nach wie vor in einigen Bereichen größere Forschungslücken, so etwa hinsichtlich der städtisch organisierten Lebensmittelversorgung an der »Heimatfront«. In ihrer umfangreichen Dissertation widmet sich nun Jenny Sprenger-Seyffarth dieser Thematik in vergleichender Perspektive für Wien und Berlin.

Laut Sprenger-Seyffarth bietet sich ein Vergleich zwischen den beiden Hauptstädten an, da beide zugleich kulturelle Zentren darstellten, eine ähnliche Bevölkerungszahl und Bevölkerungsstruktur aufwiesen, wichtige Standorte der Kriegsindustrie waren und auch hinsichtlich der Kriegsfürsorge Parallelen aufwiesen. Zugleich verfolgten die Stadtverwaltungen beider Orte ab Sommer 1916 unterschiedliche Ansätze, um die Lebensmittelversorgung der notleidenden Massen zu organisieren. Neben ergänzender Fachliteratur greift die Autorin in ihrer Studie auf Aktenbestände des Berliner Magistrats und des Wiener Gemeinderats sowie auf Denkschriften und Tätigkeitsberichte verschiedener involvierter Vereine und Organisationen zurück. Für die Donaumonarchie war darüber hinaus die Auswertung von Tageszeitungen besonders relevant, da in diesen sehr viel ausführlicher als in den deutschen Pendants über die Frage der Lebensmittelversorgung berichtet wurde.

Das »Hauptanliegen« ihrer Studie sieht die Autorin entsprechend »darin, die gegensätzliche Entwicklung der Berliner und Wiener Massenverpflegung zu erklären und mit Blick auf einen Wandel der Ernährungsgewohnheiten einzuordnen« (S.12). Dazu richtet sie den Fokus ihrer Untersuchung auf drei Bereiche: Erstens auf Vereine und insbesondere Frauenhilfsorganisationen, die die kommunal organisierten Verpflegungssysteme unterstützen; zweitens auf die Adressat:innen der Hilfe - also Personen aus Proletariat und Mittelstand - sowie drittens auf soziale und politische Entwicklungen der frühen Nachkriegsjahre, die besonders von sozialdemokratischer Seite geprägt wurden.

Hinsichtlich des ersten und des zweiten Schwerpunkts bescheinigt Sprenger-Seyffarth sowohl der Wiener als auch Berliner Stadtverwaltung einen äußerst wichtigen Beitrag zum Überleben vieler Personen geleistet zu haben, wobei hieran auch philanthropische Vereine und Frauenorganisationen einen essentiellen Anteil hatten. Schließlich trugen vor allem Letztere maßgeblich zur praktischen Umsetzung der Massenspeisungen sowie zur Akzeptanz der Kriegsküchen zumindest bei Teilen der notleidenden Bevölkerung bei. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass sich die Kriegsküchen nicht zu einem Erfolgsmodell entwickelten. Denn laut der Autorin war »die Bevölkerung [bestrebt,] ihr Leben so gewohnt wie möglich fortzusetzen und an der den sozialen Status repräsentierenden privaten Tischgemeinschaft festzuhalten«, und dies gerade, »weil die Ernährung zu einem Bereich des täglichen Lebens gehörte, der vielerorts noch relativ lange die Aufrechterhaltung alter Gewohnheiten ermöglichte« (S. 498).

So gelang es weder in Berlin noch in Wien, die jeweiligen Stadtbevölkerungen mehrheitlich für den regelmäßigen Besuch der Gemeinschaftsküchen zu gewinnen. Für die österreichische Hauptstadt ermittelte die Autorin aber eine durchaus größere Akzeptanz der öffentlichen Massenverpflegung. Dies erklärt sie mit einem entschlosseneren Handeln seitens der Stadtverwaltung und einem insgesamt flexibleren Netzwerk an Massenspeiseeinrichtungen, das in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen privaten Speiseanbietern (also Frauenorganisationen und wohltätigen Vereinen) den Bedürfnissen der jeweiligen Adressat:innen besser angepasst werden konnte. Im Unterschied zu Berlin kam es in Wien außerdem nicht im Verlauf des Krieges zu einer Umorganisation der Massenspeisung, sodass die Wiener Stadtbevölkerung sich über die Kriegsjahre hinweg an die öffentlichen Versorgungsangebote gewöhnen konnte. In der deutschen Hauptstadt dagegen betrachtete die Stadtverwaltung die Massenverpflegung ab Sommer 1916 nicht länger als eine Aufgabe, die es gemeinsam mit privaten Speiseanbietern zu bewältigen galt. Kurzfristig wurde ein neues Speisungssystem aufgebaut, ohne dabei Rücksicht auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der proletarischen und mittelständischen Adressat:innen zu nehmen. Die Absicht dahinter war, »eine gerechte und gleichmäßige Versorgung« unabhängig von Klassenunterschieden zu erreichen. Jedoch überlagerten auch in den Kriegsjahren die wahrgenommenen Klassenunterschiede dermaßen die individuelle wirtschaftliche Not, dass für die meisten Berliner:innen der Besuch von Kriegsküchen nur in Frage kam, wenn sie »beim Besuch der Einrichtungen ihre soziale Identität gewahrt sahen« (S. 489). Die starke Frequentierung von Mittelstandsküchen, die von Wohltätigkeitsorganisationen neben den städtischen Kriegsküchen weiter betrieben wurden, durch Bürgerliche zeugte hiervon.

Wie Sprenger-Seyffarth herausarbeitet, blieb die öffentliche Massenverpflegung aufgrund der wirtschaftlich anhaltend schwierigen Verhältnisse sowie aufgrund der neuen, von der Sozialdemokratie dominierten Politik in beiden Metropolen auch in den Nachkriegsjahren bestehen – wobei die Akzeptanz in Wien nach wie vor deutlich größer war. Die sozialdemokratischen Parteien erkannten in der öffentlichen Massenspeisung ein Mittel, die eigene Politik umzusetzen. In dem Konzept der Gemeinschaftsküche sahen sie eine Möglichkeit der Entlastung nicht allein von proletarischen Haushalten, sondern explizit auch von werktätigen Frauen in ihrer Doppelbelastung durch Lohnarbeit und familiäre Reproduktionsarbeit. In Berlin wurden die reformistischen Absichten der Sozialdemokratie jedoch auf Verwaltungsebene durch bürgerlich-konservative Beamte unterlaufen und auch die sich rasch wieder ändernden politischen Machtverhältnisse auf Republikebene führten letztlich dazu, dass die »Volksspeisung [...] ein unbeliebtes Relikt der Kriegszeit [blieb], das ausschließlich von mittellosen Bewohnern der Stadt in Anspruch genommen wurde« (S. 492).

In Wien gelang es hingegen, die Massenspeisung erfolgreicher neu zu organisieren. Mit der Wiener öffentlichen Küchenbetriebsgesellschaft (WÖK) wurde gar eine Institution geschaffen, die mehr als fünf Jahrzehnte lang Bedürftigen als Anlaufstelle diente. Die Gründe für das Gelingen sieht die Autorin unter anderem in der in Wien erheblich länger andauernden politischen Dominanz der Sozialdemokratie sowie in einem Imagewandel der Gemeinschaftsküche, der sowohl durch US-amerikanische Hilfslieferungen als auch durch die finanzielle Absicherung der städtischen Aufwendungen durch den österreichischen Zentralstaat befördert wurde. Nichtsdestotrotz wurde das Konzept der Gemeinschaftsverpflegung auch in Wien nur von einer Minderheit der Gesamtbevölkerung in Anspruch genommen. Die Essensgewohnheiten der Bevölkerung hatten sich demnach auch langfristig nicht grundlegend verändert.

Jenny Sprenger-Seyffarths Studie stellt eine große Bereicherung für die Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs und insbesondere für die Konsumgeschichte- und die kommunale Verwaltungsgeschichte an der Wiener bzw. Berliner »Heimatfront« dar. Stets quellengesättigt weiß die Autorin nachvollziehbar und überzeugend zu argumentieren. Ein ausführlicheres Inhaltsverzeichnis, das auch die Unterkapitel auflistet, sowie ein Orts- und Sachregister wären jedoch dringend ratsam gewesen. Das Fehlen einer detaillierten Übersicht erschwert die Orientierung in dem mehr als 570 Seiten starken Werk erheblich. Dieses Manko wird leider auch nicht durch die Möglichkeit der Stichwortsuche in der kostenlos zugänglichen E-Book-Version auf der Internetpräsenz des Verlages gemindert.

 

Zitierempfehlung

Sebastian Merkel, Rezension zu: Jenny Sprenger-Seyffarth, Kriegsküchen in Wien und Berlin. Öffentliche Massenverpflegung und private Familienmahlzeit im und nach dem Ersten Weltkrieg, transcript, Bielefeld 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82002.pdf> [1.7.2024].

Gottfried Niedhart, Pionier und Außenseiter. Gustav Mayer. Deutsch-jüdischer Historiker des Sozialismus

Dietz | Bonn 2023 | 248 Seiten, Broschur | 24,00 € | ISBN 978-3-8012-4257-2

rezensiert von

Mike Schmeitzner, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

Rezension als pdf

Häufig genug sind Verlagsankündigungen nichts anderes als mehr oder weniger gelungene Werbemaßnahmen. Auch im konkreten Fall wirbt der Dietz-Verlag damit, dass diese Biografie »längst überfällig« sei. Hat diese Eigenwerbung mit der tatsächlichen Erwartungshaltung im Fach und in interessierten Kreisen zu tun? Die Frage kann eindeutig positiv beantwortet werden: Ja, diese Biografie zu Gustav Mayer ist tatsächlich überfällig!

Und wer sonst sollte sie schreiben als Gottfried Niedhart? Bereits seit vielen Jahren hat der Historiker immer wieder verschiedene Aspekte der Biografie von Mayer in Zeitschriften und Jahrbüchern thematisiert. Mit seiner im Jahre 2009 vorgelegten Edition der Tagebücher, Aufzeichnungen und Briefe Mayers aus den Jahren 1914 bis 1920 hat er der Öffentlichkeit eine aufschlussreiche Quelle zur Verfügung gestellt.[1]

Nur in den späten 1960er- und 1970er-Jahren hatte es schon einmal ein kurzes Interesse an Mayer gegeben – und zwar in beiden deutschen Staaten. Der maßgebliche Protagonist der Bielefelder Schule, Hans-Ulrich Wehler, hatte in seiner Anthologie über »Deutsche Historiker« den deutsch-jüdischen Historiker aufgenommen und gewürdigt. Wehler war es auch, der in der Edition Suhrkamp 1969 zwei bedeutende kleinere Studien Mayers als Band herausgab und so versuchte, Mayers Pioniertätigkeit dem Vergessen zu entreißen.[2] In der DDR hatte der Historiker Hans Schleier 1976 in einem größeren Aufsatz die Bedeutung Mayers für das Fach herausgestellt. Schleier tat dies ohne ideologische Scheuklappen, was nicht verwundert, hatte er doch zur selben Zeit mit seiner Studie über die deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik und vor allem deren linksliberale Vertreter ein profundes Werk veröffentlicht.[3] Als ein ›Wegbereiter‹ der DDR-Geschichtswissenschaft galt Mayer trotzdem nicht.

Dass Mayer nicht so recht in Schubladen passte und zu Lebzeiten nie eine ordentliche Professur erhielt, hatte bestimmte Gründe, die in Niedharts gut gewähltem Titel deutlich werden – er war »Pionier und Außenseiter«. Mayer stammte aus einer jüdischen Familie in Prenzlau, wo er im Reichsgründungsjahr 1871 als Sohn eines Kaufmanns geboren wurde. Zeit seines Lebens trug er ungelöste Identitätsfragen mit sich herum: War er nun Jude, Deutscher oder deutscher Jude? Die nazistische Rassenpolitik nahm ihm die letzten Hoffnungen, dass eine deutsch-jüdische Symbiose möglich sei. Mayer studierte Nationalökonomie und schloss das Studium in Basel mit einer Promotion zu den sozialökonomischen Ansichten Ferdinand Lassalles ab. Damit hatte er ein fachspezifisches Terrain betreten, das er bis zu seinem Lebensende 1948 in London weiter beackern und als Pionier ausbauen sollte. Zunächst aber arbeitete Mayer für die linksliberale „Frankfurter Zeitung“; erst die Hochzeit mit Flora Wolff ermöglichte es ihm ab 1905, als Privatgelehrter seine historischen Studien zu betreiben. Auf einen Lehrstuhl für Geschichte berufen zu werden, sollte ihm nicht gelingen. Obwohl er von anerkannten Vertretern seines Fachs wie den Linksliberalen Hermann Oncken und Friedrich Meinecke gefördert wurde, zu Anfang sogar vom nationalkonservativen Erich Marcks, scheiterte ein Habilitationsversuch an der Berliner Universität 1917. Erst nach der Revolution wurde er 1921 zum Extraordinarius für das Lehrgebiet der Demokratie und des Sozialismus an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin berufen, wo er nun neben dem befreundeten Meinecke lehrte.

Auf dem Forschungsgebiet der Demokratie und des Sozialismus wirkte Mayer nicht erst seit 1921 als ein Pionier seines Fachs. Nach der Promotion zu Lasalle hatte er bereits 1909 als zweites Buch eine Biografie über den ADAV-Präsidenten Johann Baptist von Schweitzer und sein Verhältnis zur deutschen Sozialdemokratie vorgelegt. 1911 folgte seine bedeutende Studie über die »Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland« in der Zeit von 1863 bis 1870.[4] Anfang der 1920er-Jahre gelang ihm dann die als Sensation begriffene Entdeckung des Lassalle-Nachlasses, dessen Inhalt er in sechs Bänden herausgab. 1928 veröffentlichte er als Nachtrag noch den Briefwechsel Bismarck-Lassalle.[5] Den Gipfel seines historiographischen Schaffens erreichte Mayer, der selbst nie SPD-Mitglied (aber Sympathisant) war, jedoch mit der zweibändigen, voluminösen Biografie über Friedrich Engels, deren erster Band 1920 und deren zweiter Band 1934 bereits im Exil erschien.[6] Dass Mayer mit diesem Forschungsschwerpunkt und seiner jüdischen Herkunft im überwiegend konservativ und nationalistisch geprägten Fach vielfach als Außenseiter betrachtet wurde, überrascht kaum.

Niedharts Biografie ist mit 248 Seiten eine gut geschriebene und vor allem handliche Studie, die das Leben Mayers in den Fokus rückt und es nicht durch eine überwölbende Werkanalyse erstickt. Behutsam schildert er Mayers Lebensstationen und verschränkt sie mit einzelnen seiner Werke. Bei manchen dieser Werke – vor allem bei der Engels-Biografie – nimmt sich Niedhart jedoch selbst sehr weit zurück und lässt vor allem die damaligen Rezensenten sprechen, die sich einerseits über die historiografische Leistung beeindruckt zeigten, aber andererseits und sehr zu Recht eine »urteilende Auseinandersetzung« vermissten. Es war tatsächlich Mayers eigener historiografischer Anspruch, nicht als »Autor das Wort zu ergreifen und in den Lauf der Darstellung hineinzusprechen«. Ihm kam es darauf an, die »Geschlossenheit der Erzählung« zu wahren, was auf Kosten kritischer Distanz ging (S. 158).  Hier lag ein Schwachpunkt seiner Engels-Studie, auch wenn dieselbe mit stupender Quellenkenntnis und beeindruckender Spracheleganz zu überzeugen wusste. Mit Blick auf Mayers gescheiterte Habilitation in Berlin kann Niedhart zeigen, dass hier nicht nur Intrigen und antisemitische Vorurteile von konservativ-alldeutschen Kollegen im Spiel waren, sondern auch Schwächen Mayers selbst. Er zögerte das Verfahren hinaus und unterschätzte letztlich das Kolloquium.

So sehr Niedhart mit seinem Protagonisten sympathisiert, so sehr spart er doch kritische Aspekte nicht aus. So benennt er Mayers eigenen Anspruch, eine »Synthese von Ranke und Marx« zu bilden, als nicht wirklich eingelöst (S. 157). Mayers wichtiger Hinweis, in der Geschichtsschreibung nicht nur die Sphäre des Politischen gelten zu lassen (wie es in der deutschen Historiographie trotz Karl Lamprechts Interventionen damals immer noch dominant war), sondern auch und gerade die Sphäre der Wirtschaft einzubeziehen und so Wirkungszusammenhänge sichtbar zu machen, vermochte er selbst kaum umzusetzen. Mayers Fokus richtete sich auf herausragende Protagonisten der Arbeiterbewegung, womit er sich trotz der Darstellung komplexer Sachverhalte doch wieder im methodischen Fahrwasser der in Deutschland Ton angebenden Biografik befand. Niedharts Biografie über Mayer zielt über diese »klassische« Biografik hinaus. Sie ist auch eine urteilende Auseinandersetzung, die Schwächen und offene Flanken benennt, die tiefe Tragik des Protagonisten aber eindrücklich und warmherzig beschreibt. Wie stark Mayer der Holocaust erschüttert hatte und wie sehr ihn seither ein Abgrund vom »Volk der Dichter und Denker« trennte, das zeigen seine Briefe an Friedrich Meinecke 1946/47 (S. 224).

Niedharts Biografie ist letztendlich mehr als nur eine spannende Lebensbeschreibung eines innovativen Historikers, sie ist zugleich auch ein Lehrstück über limitierte Aufstiegsmöglichkeiten eines deutsch-jüdischen Historikers und damit über Antisemitismus an den Universitäten wie in der deutschen Gesellschaft insgesamt. Zugleich informiert sie über Kontroversen und Netzwerkbildungen in der deutschen Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es bleibt zu hoffen, dass diese Biografie auch über das Fach hinaus eine gebührende Resonanz erfährt.

 

Zitierempfehlung

Mike Schmeitzner, Rezension zu: Gottfried Niedhart, Pionier und Außenseiter. Gustav Mayer. Deutsch-jüdischer Historiker des Sozialismus, Dietz, Bonn 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82005.pdf> [1.7.2024].

 

[1]Gottfried Niedhart (Hrsg.), Gustav Mayer. Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914-1920. Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe, München 2009; ders., Gustav Mayers Blick auf die Sozialdemokratie 1890-1914, in: Peter Beule/Stefan Müller (Hrsg.), Kohäsionskräfte in der deutschen Sozialdemokratie vor 1914, Bonn 2022, S. 111-122.

[2]Gustav Mayer, Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt am Main 1969; Hans-Ulrich Wehler, Gustav Mayer, in: ders. (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 2, Göttingen 1973, S. 228-239.

[3]Hans Schleier, Zu Gustav Mayers Wirken und Geschichtsauffassung. Klassenkampf – Sozialreform – Revolution, in: Horst Bartel/Heinz Helmert/Wolfgang Küttler u.a. (Hrsg.), Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Bd. 1, Berlin (Ost) 1976, S. 301-326; ders., Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin (Ost) 1975.

[4]Gustav Mayer, Johann Baptist von Schweitzer und die Sozialdemokratie. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jena 1909; ders., Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland (1863-1870), Leipzig 1911.

[5]Gustav Mayer (Hrsg.), Ferdinand Lassalle. Nachgelassene Briefe und Schriften. 6 Bde., Berlin 1921-1925; ders. (Hrsg.), Bismarck und Lassalle. Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche, Berlin 1928.

[6]Gustav Mayer, Friedrich Engels. Eine Biographie. Bd. 1: Friedrich Engels in seiner Frühzeit, 2. Aufl., Den Haag 1934; ders., Friedrich Engels. Eine Biographie. Bd. 2: Engels und der Aufstieg der Arbeiterbewegung in Europa, Den Haag 1934.

Riccardo Altieri, »Antifaschisten, das waren wir…« Rosi Wolfstein und Paul Frölich. Eine Doppelbiografie

Büchner-Verlag | Marburg 2022 | 566 Seiten, gebunden | 39,00 € | ISBN 978-3-96317-282-3

rezensiert von

Thilo Scholle, Berlin

Rezension als pdf

Rosi Wolfstein und Paul Frölich sind für Interessierte an der Geschichte der Arbeiterbewegung zwar geläufige Namen, die Zahl der biografischen Arbeiten ist insbesondere zu Wolfstein dennoch außerordentlich gering. Zu Frölich ist die Lage auch aufgrund einiger Selbstzeugnisse etwas besser, aber auch hier lag bislang keine umfassende wissenschaftliche Biografie vor. Vor diesem Hintergrund ist es sehr zu begrüßen, dass mit Riccardo Altieris bei Mario Keßler und Frank Jacob an der Universität Potsdam entstandenen geschichtswissenschaftlichen Dissertation nun gleich eine Doppelbiografie beider Persönlichkeiten vorliegt, zumal Wolfstein und Frölich nicht nur langjährige politische Gefährten, sondern ab Anfang der 1920er-Jahre bis zu Paul Frölichs Tod auch privat ein Paar waren.

Einleitend hält der Autor fest, Wolfstein habe bei verschiedenen Gelegenheiten darauf bestanden, hinter Paul Frölich zurückzutreten, da dieser »das politische Agens ihrer Beziehung gewesen sei« (S. 13f.). Dieser Wunsch, im Hintergrund zu bleiben, könne, so Altieri, vermutlich am höflichsten durch eine Doppelbiografie auf Augenhöhe umgangen werden. Eine wichtige Fragestellung für den Band stellen die politischen Entwicklungen respektive die Kontinuitäten beider Biografien dar: Beide wechselten im Laufe ihres Lebens mehrfach die politische Partei, von der SPD über die Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) (Frölich) bzw. die USPD (Wolfstein) gemeinsam in die KPD und später über die KPD-Opposition (KPO) und die SAP zurück zur SPD. Blieben sie durchgehend Sozialdemokraten beziehungsweise Sozialisten oder sahen sie sich selbst als Kommunisten?

Altieri erzählt das Leben seiner Protagonisten weitgehend chronologisch, wobei sich die parallelen Biografien ab dem Eintritt beider in die Arbeiterbewegung zunehmend verknüpfen. Der 1884 in Leipzig geborene Frölich war seit 1902 Mitglied der SPD, gehörte seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 aber zur innerparteilichen Opposition. Sein Weg führte ihn über die IKD zunächst in die KPD, wo er dem Parteivorstand angehörte. Zu Beginn noch auf dem linken Flügel der KPD verortet, bewegte er sich als Befürworter einer Einheitsfront mit der Sozialdemokratie in die Mitte und damit in einen harten Konflikt mit der ultralinken KPD-Führung. Seit 1921 Mitglied des Reichstags geriet er innerparteilich immer mehr ins Abseits und schloss sich 1928 der KPO an, doch endete auch diese Etappe 1932 im Zerwürfnis. Frölich schloss sich der SAP an, zu deren Exil-Leitung er nach 1933 gehörte. Rosi Wolfstein wurde im Jahr 1888 in eine gläubige jüdische Familie in Witten geboren. 1908 trat sie in die SPD ein und wurde unter anderem über die SPD-Parteischule in Berlin mit Rosa Luxemburg bekannt. Während des Ersten Weltkriegs wurde sie als Kriegsgegnerin und Mitglied der Duisburger Spartakusgruppe mehrfach inhaftiert. Sie nahm am Gothaer Gründungsparteitag der USPD teil, ebenso am Gründungsparteitag der KPD in Berlin. Von 1921 bis 1924 war sie für die KPD Mitglied des Preußischen Landtags, geriet aber ebenfalls in Konflikt mit der ultralinken Führung der Partei und wurde 1929 Mitglied der KPO und 1932 der SAP. Im Jahr 1933 ins Exil gezwungen, wandten sich Frölich und Wolfstein zusammen über Belgien und die Tschechoslowakei zunächst nach Frankreich. Zwischen 1939 und 1941 als feindliche Ausländer interniert, gelang ihnen anschließend die Weiterreise in die USA. Nach Deutschland kehrte das Paar erst im Dezember 1950 zurück. Dort gehörten beide bis zu ihrem Tod wieder der SPD an.

Altieri postuliert, Frölich und Wolfstein hätten, wenn sie denn im Jahr 1914 schon Mitglieder des Reichstags gewesen wären, beide zu denjenigen in der SPD-Fraktion gehört, die gegen die Kriegskredite stimmten. Der Autor verweist dazu etwa auf einen von Wolfstein gemeinsam mit Duisburger Genossen im Juni 1915 unterzeichneten Protestbrief an den Parteivorstand. Ob dies wirklich so gewesen wäre, muss Spekulation bleiben. Völlig zwangsläufig erscheint das von Altieri vermutete Verhalten nicht, da es die im August 1914 offensichtlich noch über alle Strömungen der Partei hinweg bestehende Disziplinvorstellung außer Acht lässt. Gegen Altieris Gedankenspiel ist zudem einzuwenden, dass es bei der ersten Abstimmung über die Kriegskredite im Plenum des Reichstags keine abweichend abstimmenden Abgeordneten gab, die als Beispiel für das Verhalten anderer ›Linker‹ in der Partei hätten dienen können.

Etwas unglücklich ist auch die Einführung von Paul Levi in den Text. Hier mag es eine Rolle gespielt haben, dass Frölich Levi außerordentlich kritisch, wenn nicht feindselig gegenüberstand. Für Frölich sei das Verhältnis erledigt gewesen, als er mit Levi bei einem Gang durch Berlin auf einen revolutionären Matrosen getroffen sei, den Levi »wohl recht herablassend behandelte« (S. 174). Als Levi dann im Anschluss angeblich vor einem Schaufenster stehen blieb und sich für ein Stück Seidenstoff begeisterte, sei das Maß voll gewesen. Hier scheint der Autor Frölichs subjektiver Einschätzung zu folgen, ohne zu erwähnen, dass Levi als Wahlkreisabgeordneter bis zu seinem frühen Tod 1930 große Popularität unter seinen proletarischen Wählerinnen und Wählern besaß. Später zitiert Altieri ergänzend aus Frölichs Erinnerungen, in denen dieser schreibt, von Levi habe man sich wie Luft behandelt gefühlt. Rosi Wolfstein scheint hier differenzierter gewesen zu sein. So schrieb sie später in einem Brief, der Ausschluss Levis aus der KPD sei ein großer Fehler gewesen, und ordnet sich selbst dem Lager zu, das sich für Levi eingesetzt habe. Noch härter ist das Urteil des Autors über Herbert Wehner, den er als Zuträger des sowjetischen Geheimdienstes bezeichnet, der sich in einigen Fällen durch Denunziationen des Mordes mitschuldig gemacht habe. Die durchaus komplexe Rolle Wehners im Moskauer und später im schwedischen Exil wird damit einseitig und ohne Hinweis auf andere Einordnungen in der Forschung dargestellt.[1]

Wolfsteins Verhältnis zur Nachkriegs-SPD beschreibt Altieri als vorsichtig und eher distanziert, so habe sie wegen ihrer Gegnerschaft zum Godesberger Programm von 1959 und insgesamt zum politischen Kurs der Partei in den frühen 1960er-Jahren eigentlich mit ihrem Ausschluss gerechnet. Dies ist aus ihrer persönlichen Sicht plausibel. Andererseits wurde Wolfstein von der Frankfurter SPD durchaus gewürdigt, was sich etwa daran zeigt, dass 1987 mit Holger Börner immerhin ein früherer hessischer Ministerpräsident die Trauerrede am Grab Wolfsteins hielt. Und bei einer Trauerfeier Anfang 1988 sprach mit Willy Brandt ein alter politischer Freund Wolfsteins. Brandt schloss seine Rede laut seiner überlieferten Notizen mit den Sätzen »Wenn wir uns an R(osi) W(olfstein) erinnern, sollten wir dieses Luxemb(urgische) Erbe immer wach(zu)halten suchen + (uns) gleichzeitig klarmachen, wieviel ärmer D(eutsch)l(an)d + die deutsche A(rbeiter)B(ewegung) dadurch geworden sind, dass die Nazis uns durch die Vernichtung fast ganz um den Nachwuchs von Soz(ialisten) jüd(ischer) Herkunft brachten. Ich sage dies in großer Hochachtung vor einer verdienten Soz(ialistin), Soz(ial)dem(okratin) sehr eig(ener) Prägung: Rose W(olfstein)-Fr(ölich).« (zit. nach S. 473)

Riccardo Altieri ist ein gut geschriebenes Buch gelungen. Das Modell der Doppelbiografie ist anspruchsvoll, aber ohne große Schnörkel umgesetzt. Anhand der Lebenswege von Wolfstein und Frölich lassen sich die politisch-organisatorischen Suchbewegungen von Linkssozialisten über die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nachvollziehen. Ein inhaltlicher Orientierungspunkt für beide Protagonisten blieb dabei über die ganze Zeit Rosa Luxemburg. So arbeiteten Frölich und Wolfstein in den 1920er-Jahren gemeinsam für die KPD an der Herausgabe von Luxemburgs Gesammelten Werken – eine Arbeit, die durch ihre innerparteiliche Isolation immer schwieriger wurde. Im französischen Exil schrieb Frölich zudem intensiv an einer Biografie Luxemburgs. Am Verhalten beider wird eine politische Linie deutlich, die letztlich nicht bereit war, demokratische Organisationsformen gegen die Chance auf eine Umwälzung der Wirtschaftsordnung auszuspielen. Dies, verbunden mit dem Anspruch, Politik doch auch mit Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse und mögliche Bündnisse zu entwickeln, brachte sie in Konflikt mit der sich bolschewisierenden KPD. Im Vergleich zu manchen anderen Weggefährten erfolgte der Schritt zurück in die Bundesrepublik zwar recht spät, erscheint aber dennoch konsequent. Das Festhalten am Ziel einer sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaftsordnung führte Wolfstein freilich später in der Nachkriegs-SPD erneut an den Rand.

 

Zitierempfehlung

Thilo Scholle, Rezension zu: Riccardo Altieri, »Antifaschisten, das waren wir…«. Rosi Wolfstein und Paul Frölich. Eine Doppelbiografie, Büchner-Verlag, Marburg 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81999.pdf> [1.7.2024].

 

[1] Vgl. Christoph Meyer, Herbert Wehner. Biographie, München 2006.

Benny Morris, 1948. Der erste arabisch-israelische Krieg

Hentrich & Hentrich | Berlin/Leipzig 2023 | 646 Seiten, Klappenbroschur | 32,00 € | ISBN 978-3-95565-609-6

rezensiert von

Alban Sharkey, Universität Leipzig

Rezension als pdf

Der erste arabisch-israelische Krieg von 1948 ist auch in der Geschichtsschreibung ein äußerst kontroverses Thema. Auf der einen Seite gibt es zwei gegensätzliche nationale Narrative, die beide gelegentlich religiös gefärbt sind. Auf der anderen Seite stehen sich aber auch innerhalb der jeweiligen nationalen Gemeinschaften verschiedene politische und theoretische Parteien gegenüber. Dementsprechend soll das bereits 2008 auf Englisch erschiene Buch[1] von Benny Morris, das jetzt unter dem Titel »1948: Der erste arabisch-israelische Krieg« auch in deutscher Übersetzung vorliegt, als Teil einer andauernden Debatte gesehen werden, in der Fragen des Verhältnisses von Geschichtsschreibung und Politik intensiv debattiert werden. Weil es dabei um Frieden und Krieg, Wahrheit und Mythos, Verantwortung und Rechtfertigung geht, führt jeder spezifische geschichtstheoretische Ansatz große Konsequenzen mit sich.

Das ganze Buch hindurch bemüht sich Morris um eine objektive und faktenbasierte Betrachtung aller Kontroversen rund um den Krieg von 1948. Dabei analysiert er zuerst dessen Vorgeschichte von 1881 bis 1947 einschließlich des arabischen Aufstands (1936–1939) und des United Nations Special Committee on Palestine(UNSCOP), blickt anschließend auf die sich gegenseitig verstärkenden Nationalbewegungen, beschreibt den Weg zum ersten Teilungsplan der UN-Generalversammlung von September 1947, die zweigeteilte Bürgerkriegsphase 1947/48, die panarabische Invasion ab Mitte Mai 1948, das Scheitern der UN-Vermittlung im Sommer 1948, die israelischen Operationen der zweiten Jahreshälfte 1948 und schließlich die bilateralen Waffenstillstandsabkommen Anfang 1949, die bekanntlich die nachfolgenden Kriege nicht verhindern konnten. Das Buch endet mit einer Übersicht jener Probleme, die quer durch die ganze Studie behandelt werden: die Rolle der Ablehnung der UN-Resolution 181 durch die arabischen Entscheidungsträger als unmittelbarer Auslöser des Krieges, die militärischen und organisatorischen Gründe des israelischen Siegs, die Rolle der internationalen Gemeinschaft, die Tötungen und Vergewaltigungen von Zivilisten mehrheitlich durch die Haganah und die Israeli Defence Force (IDF), die kollektiven Vertreibungen der arabischen Bevölkerung, aus der die andauernde palästinensische Flüchtlingskrise resultierte. Abschließend gibt Morris auch einen Überblick über die kollektiven Vertreibungen der jüdischen Einwohner aus der arabischen Welt bis in die 1970er-Jahre und geht auf die sozialen und militärischen Umwälzungen ein, die die arabische Welt seit dem Ende des ersten israelisch-arabischen Krieges geprägt haben.

Das Buch fügt sich in eine andauernde Debatte innerhalb der israelischen akademischen und politischen Szene ein, deren Rahmen die Schule der »New Historians« bildet – ein Begriff, der erstmal 1988 von Benny Morris selbst verwendet wurde. Der akademische Anstoß für die Erneuerung der israelischen Staatsgeschichte war damals die Öffnung der 30 Jahre lang geheimen Regierungsarchive für den Zeitraum von 1947 bis1956, die auch Israels militärische und administrative Aufzeichnungen aus der Zeit des ersten arabisch-israelischen Krieges enthielten. Der Krieg von 1948 stand von Anfang an im Zentrum der Forschungen der New Historians. Denn dieser Krieg war sowohl der Anlass für die Gründung Israels überhaupt als auch die Quelle eines grundlegenden und die kollektive Erinnerung in Israel bis in die 1980er-Jahre prägenden nationalen Mythos von der »Unschuld der [israelischen] Waffen«. Die von den New Historians ans Licht gebrachten Militärdokumente zeigten jedoch ein völlig anderes Bild, bei dem die empirisch belegten Vergewaltigungen, Plünderungen, Vertreibungen und Massaker an palästinensischen Zivilisten für die Schuld der Waffen sprechen. Die Infragestellung des nationalen Mythos durch die New Historians war somit zugleich eine grundlegende Kritik sowohl des israelischen Staates als auch der Basis der kollektiven Erinnerung in der israelischen Gesellschaft.

In dieser Debattenlandschaft ist Benny Morris wiederum eine einzigartige Figur, auch wenn er auf den ersten Blick die Grundannahmen der New Historians zu teilen scheint. Sein Buch »The Birth of the Palestinian Refugee Problem (1947–1949)« war 1987 die erste systematische und archivgestützte Studie der kollektiven Vertreibungen palästinensischer Zivilbevölkerung durch israelische Streitkräfte im Jahr 1948. Nach der Öffnung weitere Archivbestände von IDF und Haganah 1998, die das Ausmaß der kollektiven Vertreibungen und Massaker erneut verdeutlichten, aktualisierte Morris sein Buch 2004 in einer zweiten Auflage.[2] Morris scheut sich also offensichtlich nicht, gegen den nationalen Mythos der »Unschuld der Waffen« anzugehen. Dies zeigt sich auch im vorliegenden Buch, in dem er lakonisch die sowohl von IDF-Einheiten als auch von arabischen Streitkräften begangenen Gräueltaten auflistet.

Der zentrale Unterschied zwischen Morris und anderen New Historians wie Ilan Pappé, Avi Shlaim und Simha Flapan besteht in der Interpretation der präsentierten Fakten. Die Arbeit der anderen New Historians ist im Wesentlichen staatskritisch. Für Pappé war die Entdeckung der Vertreibungen und Massaker durch die IDF ein Grund, den israelischen Staat einer ethnischen Säuberung zu beschuldigen.[3] Morris hingegen weicht einer radikalen Staatskritik aus, sowohl auf rechtshistorischer als auch auf sozial- und kulturgeschichtlicher Ebene. Auf der rechtshistorischen Ebene betont er vor allem das Fehlen einer klaren Verbindung zwischen den offiziellen Befehlen der israelischen Militärführung und den tatsächlichen Kriegsverbrechen der IDF-Einheiten. Gäbe es eine solche Verbindung, würden die Gräueltaten als Umsetzung eines Masterplans erscheinen, was ein wesentlicher Bestandteil der Definition eines Kriegsverbrechens in Artikel 8, Absatz 1, des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs von 2002 ist. Auf sozial- und kulturgeschichtlicher Ebene streicht Morris die fragmentierte Verantwortung für die Zunahme der Gewalt heraus, in der die Kriegsbereitschaft der arabischen Akteure und die gewaltsame Antwort Israels sich gegenseitig bedingten und verstärkten. Während die anderen New Historians in erster Linie auf eine innere Kritik des israelischen abzielen, scheint Morris' Ziel woanders zu liegen, nämlich in einer desillusionierten Kritik am Menschen selbst, als dessen letzter Retter sich der Staat entpuppt. Laut Morris war der Grund, warum die IDF-Einheiten »weitaus mehr Gräueltaten als die Araber« begingen, dass der Kriegsverlauf den arabischen Streitkräften einfach weniger Gelegenheiten dazu bot. Nachweis dafür sei die deutlich blutigere und oft antisemitische Rhetorik in jordanischen, syrischen, irakischen und ägyptischen Regierungskreisen und Medien, welche ihre Absichten im Fall eines arabischen Siegs ahnen lassen. Es ist also kein Zufall, dass das Buch mit dem Gedicht »David« von Marie Syrkin beginnt, das den Leser auffordert, sich Davids Niederlage vorzustellen. Die implizite Frage lautet: Was wäre geschehen, wenn der Jischuv den Krieg verloren hätte? Die Antwort ist ebenso implizit: Massaker, Massenvertreibungen und das endgültige Verschwinden der jüdischen Bevölkerung in Palästina. Zerstören oder zerstört werden, so lautet die Schlussfolgerung des Buches – ein Gefangenendilemma.

Zweifelsohne besteht der Hauptanspruch dieses Buchs darin, ein realistisches und unparteiisches Bild des ersten arabisch-israelischen Kriegs zu vermitteln. Dieser Anspruch auf Objektivität lässt das Buch aber mitunter wie eine reine Sammlung historischer Fakten erscheinen. Das ist sowohl die größte Stärke als auch die größte Schwäche des Buches. Eine Stärke insofern, als es das Bedürfnis nach sachlicher Information über einen weltweit umstrittenen Konflikt befriedigt. Eine Schwäche, weil es Aufgabe des Historikers zur Sinnstiftung durch Interpretation vernachlässigt und verschleiert. Bei allem Objektivitätsanspruch lässt sich Geschichtsschreibung aus mindestens zwei Gründen niemals auf eine einfache Sammlung von Fakten reduzieren. Erstens werden die Fakten und ihre Quellen zwangsläufig nach sprachlichen und kategorialen Gesichtspunkten ausgewählt. Morris ist dafür bekannt, dass er nur hebräische und englischsprachige Schriftquellen verwendet. Die palästinensischen Zivilisten bleiben in diesem Buch daher weitgehend stumm. Ihre Stimme kann allerhöchstens in den Erzählungen anderer, oft israelischer Soldaten, erahnt werden. Es wird daher empfohlen, das Buch »Nakba« von Ahmad H. Sa'di und Lila Abu Lughod als Ergänzung zu lesen.[4] Zweitens beinhaltet die Geschichtsschreibung unvermeidlich immer auch die Interpretation der präsentierten Fakten, aber in diesem Buch bleibt sie zweideutig. Es scheint, als ob Morris' Hauptanspruch darin besteht, die jeweiligen nationalen Mythen negativ zu konterkarieren. Die Studie sagt: dies und jenes ist falsch, dies und jenes ist ein Mythos. Welche positive historische Interpretation daraus folgt, bleibt unklar. Die über mehrere Seiten gehende Aufzählung der Waffen auf beiden Seiten ist zwar Ausdruck der enzyklopädischen Absicht des Autors. Ebenso ist die stichpunktartige Abhandlung der Massaker, Plünderungen, Vertreibungen und Vergewaltigungen durch die IDF-Streitkräfte sicherlich Ausdruck einer mehr oder weniger unvoreingenommenen Sichtweise auf die einfachsten Fakten des Krieges. Dies scheint jedoch zu einer impliziten Rechtfertigung staatlicher Gewalt zu führen, die die Gräueltaten des Krieges als unerwünschte Begleiterscheinungen der Selbstverteidigung erscheinen lässt. »Der Krieg setzt Moralität aus«, schrieb Emmanuel Lévinas 1961.[5] Morris' Buch scheint diesen Eindruck an vielen Stellen zu bestätigen. Doch wer immer noch glauben will, dass der Krieg überhaupt überwunden werden kann, findet in diesem Buch weder Hoffnung noch Erkenntnis. Und wie so oft nach der Lektüre eines wissenschaftlichen Werks, das sich durch eine Fülle von Fakten auszeichnet, lässt das Buch die Leser am Ende mit vielen offenen Fragen zurück.

Wie ehrlich es Morris mit seinem Objektivitätsanspruch auch sein mag, er verschleiert letztlich nur die Position des Historikers, kann ihn aber nicht von der Last der Erzählerposition befreien. Solange Geschichte von Menschen geschrieben wird und nicht von einer künstlichen Intelligenz, wird sie die Schwächen des Menschseins enthalten: Hoffnung, Faszination und Angst. Und solange Geschichte von Menschen und nicht von Maschinen gelesen wird, wird sie nach ihrer Menschlichkeit beurteilt und bewertet werden. Morris' Studie zeichnet sich durch ihre Fülle an Fakten aus. Dass diese Fakten nützlich und wichtig sind, wird hier nicht bestritten. Doch sind sie für sich genommen ausreichend? Wohl kaum.

 

Zitierempfehlung

Alban Sharkey, Rezension zu: Benny Morris, 1948. Der erste arabisch-israelische Krieg, Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82001.pdf> [1.7.2024].

 

[1]Benny Morris, 1948. A History of the First Arab-Israeli War, New Haven/London 2008.

[2]Ders., The birth of the Palestinian refugee problem, 1947-1949, Cambridge1987; ders., The birth of the Palestinian refugee problem revisited, Cambridge 2004.

[3]Ilan Pappé, The ethnic cleansing of Palestine, Oxford 2006.

[4]Ahmad H. Sa’di/Lila Abu-Lughod, Nakba. Palestine, 1948, and the claims of memory, New York 2007.

[5] Zit. nach Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 2014 (zuerst frz. 1961).

Norbert Frei, Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit

C.H.Beck | München 2023 | 377 Seiten, Hardcover | 28,00 € | ISBN 978-3-406-80848-7

rezensiert von

Ernst Wolfgang Becker, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Rezension als pdf

Die Geschichte der Bundesrepublik als »Erlösungs-, Erfüllungs- und Ankunftsgeschichte«[1] einer geglückten Demokratisierung und Liberalisierung zu erzählen, dieses Erfolgsnarrativ prägt ungeachtet aller kritischen Urteile im Einzelnen die großen Synthesedarstellungen seit den 1990er-Jahren.[2] Auch die Entwicklung der Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur steht unter diesem Narrativ einer fortschreitenden Lernerfahrung. Dieser Erzählung widersteht die jüngste, von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Auftrag gegebene Studie des Jenaer Historikers Norbert Frei ein Stück weit. Die Auseinandersetzung der ersten sechs Bundespräsidenten, die als Erwachsene Nationalsozialismus und Krieg erlebt hatten, mit der NS-Vergangenheit blieb von Kontinuitäten geprägt. Den normativen Setzungen und aufklärerischen Ambitionen von Theodor Heuss folgten seine Nachfolger bis Richard von Weizsäcker ebenso wie seinen Tendenzen einer Relativierung von NS-Belastungen. Dieses Thema à la longue zu untersuchen ist das Verdienst dieser Darstellung, die auf ein breiteres Publikum abzielt, der Geschichtswissenschaft aber auch viel Bekanntes aus der reichhaltigen Forschung präsentiert.

Am Anfang war Theodor Heuss, dem Frei allein ein Drittel des Buches widmet. In seinen vergangenheitspolitischen Reden wandte er sich gegen das Vergessen der NS-Verbrechen und zeigte Empathie mit den Verfolgten und Überlebenden. Anstelle einer Kollektivschuld forderte er von den Deutschen eine ›Kollektivscham‹ ein, eine moralische Kategorie, mit der er den Erwartungen des Auslands entgegenkam und eine Aussöhnung mit den Juden anstrebte. Er vergegenwärtigte öffentlich und früh den Zivilisationsbruch des Holocaust und machte deutlich, dass die Judenverfolgung keinem Deutschen entgangen sein konnte. Diese erinnerungspolitischen Interventionen zogen scharfe Kritik aus der Bevölkerung auf sich. Doch selbst Heuss pflegte eine »frührepublikanische Schuldabwehr-Erzählung« (S. 37), indem er Hitler und seine Machtclique dämonisierte und die sonstigen deutschen Täter verschwieg.

In diesem Rahmen bewegte sich auch Heinrich Lübke. In seinen Reden blieb das Leid der Juden weitgehend täterlos, die Verbrechen seien unter »Missbrauch des deutschen Namens« begangen worden. Der wachsenden kritischen Sicht der jüngeren Generation auf die Vergangenheitspolitik stand Lübke hilflos gegenüber, doch in seiner Ablehnung eines Schlussstrichs bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen war er wiederum auf der »Höhe der Zeit« (S. 136). Gustav Heinemann blieb nach Freis Einschätzung eher blass bei seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Er nahm vor allem die demokratische Tradition Deutschlands in den Blick und verband sie mit einem »emanzipatorischen Fortschrittsglauben« (S. 183). Walter Scheel führte für das Kriegsende den Begriff der ›Befreiung‹ ein, doch gleichzeitig orientierte sich sein Erinnern an dem Gebrauchswert für die Gegenwart, um eine polarisierte Gesellschaft zu versöhnen. Karl Carstens setzte sich für die Anerkennung der Sinti und Roma als Opfergruppe ein, hielt aber sonst die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit für weitgehend abgeschlossen und wollte lieber an die hellen Momente deutscher Geschichte erinnern. »Wirkliche Lernerfahrungen« (S. 261) blieben ihm laut Frei versagt. Und auch ›die Rede‹ von Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestages des Kriegsendes weiß der Autor in ihrer Ambivalenz einzuordnen, war sie doch 1985 eigentlich kein Tabubruch mehr, überzeugte aber durch ihre persönliche Note und ihren erhabenen, religiös grundierten Ton. Anachronistische Formeln wie die vom Einzeltäter Hitler oder der ›Verstrickung‹ der Deutschen standen neben der Erwähnung neu in den Fokus gerückter Opfergruppen wie jener der Zwangsarbeiter.

Die vergangenheitspolitische Großzügigkeit bei Verleihung des Bundesverdienstordens ging bereits auf Heuss zurück und ließ sich in Einzelfällen als Anerkennung von Integrationsleistungen ehemaliger Nationalsozialisten nach 1945 verstehen. Wurden die Ordensvergaben des ersten Bundespräsidenten noch kaum öffentlich kritisiert, so zeigten unter Lübke mehrere Skandale, dass die Ordenspolitik zunehmend unter dem aufmerksamen Blick einer sich wandelnden Gesellschaft stand. In manchen Fällen war Lübke aber bei Ordensverleihungen auch kritisch gegenüber politisch Belasteten. Heinemann begann, auch Menschen zu ehren, die sich durch »Courage und kritischen Eigensinn« (S. 207) in der NS-Zeit Verdienste erworben hatten. Über Heinemann hinaus verfolgt Frei diese vergangenheitspolitisch sensible Symbolpolitik leider nicht. Auch ist es schwer nachvollziehbar, warum der Autor den gescheiterten, aber symbol- und vergangenheitspolitisch höchst aufschlussreichen Versuch von Heuss übergeht, nach der Diskreditierung des »Liedes der Deutschen« durch die Nationalsozialisten eine neue Nationalhymne einzuführen.

Seit Heuss engagierten sich die Bundespräsidenten für verurteilte Kriegsverbrecher und vermeintliche ›Opfer einer Siegerjustiz‹. Von eigenen Präferenzen geleitet, setzten sie sich selektiv für die Begnadigung von ›geläuterten‹ Massenmördern mit bürgerlichem Hintergrund (so Heuss beim Einsatzgruppenleiter Martin Sandberger) oder von NS-Größen wie Rudolf Heß (so noch Mitte der 1980er-Jahre durch von Weizsäcker) ein. Hingegen ihre eigene Rolle in Nationalsozialismus und Krieg reflektierten sie kaum, verschleierten, relativierten und leugneten sie oder stellten sich als Opfer oder Widerständler dar. Dies betraf bereits Heuss‘ Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz 1933, setzte sich bei den Funktionsträgern in der Rüstungswirtschaft Lübke und Heinemann sowie bei NSDAP-Mitgliedern wie Scheel und Carstens fort und machte auch nicht bei von Weizsäcker halt, der seine eigenen Erfahrungen als Wehrmachtssoldat im Osten verschwieg und vorbehaltlos seinen verurteilten Vater verteidigte. Blieb bereits Heuss nicht gänzlich von kritischen Nachfragen verschont, so standen vor allem seine Nachfolger Lübke und partiell Carstens im Fokus einer polarisierten Öffentlichkeit und – im Falle Lübkes – einer Skandalisierung durch die DDR.

Deutlich wird aber auch, wie es seit dem ersten Bundespräsidenten gelang, auf Staatsbesuchen allen Fallstricken zum Trotz durch expressive Versöhnungsgesten und Ehrung der Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft ein anderes, ziviles und geläutertes Deutschland zu repräsentieren. Die von Heuss beabsichtigte »Entkrampfung« (S. 312) im Verhältnis zu den einstmals besetzten Ländern wirkte sich auch auf den Binnendiskurs in der Bundesrepublik aus. Dies verfolgt Frei leider nur anhand von Heuss, Heinemann und von Weizsäcker und spart vergangenheitspolitisch relevante Auslandsreisen anderer Staatsoberhäupter im europäischen und außereuropäischen Raum aus.

Hinter den Bundespräsidenten stand ein zunächst kleines Amt, das Frei im Hinblick auf die vergangenheitspolitische Dimension genauer in den Blick nimmt. Wenig überraschend ist der Befund, dass der Anteil ehemaliger Mitglieder von NS-Organisationen vergleichbar ist mit anderen Bundesministerien und sich Ex-Parteigenossen vor allem in den höheren Diensträngen fanden. Heuss stellte sich von Beginn an schützend vor seinen Amtschef Manfred Klaiber, dem seine Vergangenheit als NSDAP-Mitglied und Diplomat im ›Dritten Reich‹ vorgeworfen wurde. Aufschlussreich ist, dass sich bereits unter Heuss vier von sieben Referaten im Bundespräsidialamt mit Themen der NS-Vergangenheit beschäftigten. Ihren Einfluss auf die Präsidentenreden, bei der Vergabe von Orden an belastete Personen wie auch auf die Begnadigungskampagnen für verurteilte Kriegsverbrecher zeichnet Frei punktuell nach. Hier müssten künftige Forschungen weitergehen, um das Zusammenspiel des Bundespräsidialamts mit anderen Bundesministerien und mit der Kriegsverbrecherlobby genauer zu analysieren.

Frei ist es mit seiner flüssig geschriebenen und sich mitunter schmissiger Werturteile bedienenden Studie gelungen, die Kontinuitätslinien einer ambivalenten Vergangenheitspolitik der ersten sechs Bundespräsidenten aufzuzeigen. Als »Avantgarde« (S. 309) setzten sie politische und gesellschaftliche Standards und wagten sich bis an die Grenzen des Sagbaren vor. Zugleich machten sie sich exkulpatorische Positionen einer ›Schlussstrich‹-Politik und einer schweigenden Mehrheit in der Bevölkerung zu eigen. Auch als seit den 1960er-Jahren der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit kritischer wurde, folgten die Bundespräsidenten weiterhin einem zweideutigen »Skript« (S. 308), an dem viele Deutsche seit 1949 mitgeschrieben hatten. Diese vergangenheitspolitische Persistenz, die hinter den gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen zurückblieb, arbeitet Frei klar heraus, doch sie bleibt erklärungsbedürftig: Folgten die Staatsoberhäupter damit ihrer Idee von Staatsräson? War das Festhalten an diesen Ambivalenzen Teil einer Integrationsaufgabe, die seit Heuss als entscheidende Funktion des Bundespräsidenten angesehen wird?

Nicht überzeugend ist es, wenn Frei die Bedeutung des ersten Bundespräsidenten stark relativiert und sie vor allem Pfadabhängigkeiten unterwirft. Sicherlich: Die Rede vom ›Glücksfall‹ Heuss ist angesichts der nun schon länger bekannten Kehrseiten seiner Erinnerungspolitik nicht mehr uneingeschränkt zu vertreten. Und natürlich war auch er den politischen Rahmenbedingungen der frühen Bundesrepublik unterworfen und einem Zeitgeist des Verschleierns und Beschweigens verhaftet. Aber es waren eben nicht nur »der Auftrag des Grundgesetzes und die Logik der Institution« (S. 309), die das Amt prägten, denn die wenigen Verfassungsartikel zum Amt des Bundespräsidenten boten große Gestaltungsspielräume für das Selbstverständnis und die Amtspraxis des Staatsoberhauptes. So versuchte Heuss zunächst, in machtpolitische Leerstellen vorzustoßen, scheiterte aber am Widerstand Adenauers. Es bildete sich somit eine Verfassungswirklichkeit heraus, in der er sich vor allem auf symbol- und geschichtspolitischem Felde eine große moralische Autorität sicherte. Diese Entwicklung war eng mit seiner Person verbunden: Seine intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten, sein ausgeprägtes Denken in historischen und nationalen Kategorien, sein tiefsitzender Anspruch eines Erziehers zur Demokratie, sein fast unübersehbares Geflecht von Beziehungen zu Menschen unterschiedlicher politischer Couleur, gerade auch zu Juden und Emigranten, eine sich volkstümlich gebende Bürgerlichkeit und schließlich eine nicht ganz lupenreine Vergangenheit im ›Dritten Reich‹ – all dies waren individuelle Voraussetzungen, die den Pfad für einen ambivalenten Umgang mit der NS-Vergangenheit ebneten. Hinter die Standards der Erinnerungspolitik von Heuss fielen seine Nachfolger nicht mehr zurück, gingen aber auch kaum über ihre Grenzen hinaus.

Der Titel des Buches »Im Namen der Deutschen« ist offensichtlich zweideutig: als zeitgenössischer Topos des Verschleierns der Täterschaft von NS-Verbrechen, die eben nicht von Deutschen, sondern ›im deutschen Namen‹ verübt worden seien; dann wiederum als Anspruch der Bundespräsidenten, für das gesamte deutsche Volk zu sprechen. Dies hätte freilich auch die Deutschen in der DDR einbeziehen und auf eine deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte der Erinnerungspolitik der Staatsoberhäupter in beiden deutschen Staaten zulaufen müssen. Das wäre dann Gegenstand weiterer Forschungen, die auf der Studie von Frei aufbauen können.

 

Zitierempfehlung

Ernst Wolfgang Becker, Rezension zu: Norbert Frei, Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit, C.H.Beck, München 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81998.pdf> [1.7.2024].

 

[1]Paul Nolte, Von Glück und Streit, Lernen und Stabilität. Historiografische Meistererzählungen deutscher Demokratie, in: Thomas Hertfelder/Ulrich Lappenküper/Jürgen Lillteicher (Hg.), Erinnern an Demokratie in Deutschland. Demokratiegeschichte in Museen und Erinnerungsstätten der Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 121–137, hier S. 131.

[2] Vgl. Thomas Hertfelder, Erfolgsgeschichte Bundesrepublik. Aufstieg und Krise einer Meistererzählung, Stuttgart 2020.

Angela Schwarz/Heiner Stahl, Kontaktzone Bonn. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und die staatliche Öffentlichkeitsarbeit 1949–1969

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 498 Seiten, gebunden | 39,00 € | ISBN 978-3-8353-5373-2

rezensiert von

Stefanie Palm, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Berlin

Rezension als pdf

»Hörer fragen – Bundesbehörden antworten«, »Sorgen des Alltags« oder »Postfach 100 – Die Bundesregierung antwortet« waren vorproduzierte Sendungen des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, die im Süddeutschen Rundfunk, im NWDR oder im Hessischen Rundfunk ausgestrahlt wurden, ohne auf die Regierungsproduktion hinzuweisen. Selbst die Fragen der vermeintlichen Hörerinnen und Hörer waren fingiert und dienten dem Zweck, regierungsamtliche Verlautbarungen im Rundfunkprogramm zu platzieren, ohne dass dies für die Zuhörenden erkennbar war. Das Amt beschränkte sich nicht darauf, potentielle Themen vorzugeben und Gesprächspartnerinnen und -partner an die Medien zu vermitteln, sondern gestaltete auch selbst aktiv Hörfunk- und Fernsehprogramme.

Die vielfältigen Bemühungen des Bundespresseamts (BPA) in der frühen Bundesrepublik, durch ein komplexes System aus Vorabinformationen, finanziellen Zuwendungen und Kontrolle von Medienschaffenden Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen, sind bereits bekannt. Angela Schwarz und Heiner Stahl füllen nun jedoch Leerstellen in der bisherigen Erzählung mit einer dichten und geistreichen Analyse der Praktiken und Wissensbestände des Amts. Der biografische und vergangenheitspolitische Fokus ihrer Untersuchung ermöglicht ein vertieftes Verständnis der staatlichen Informationspraktiken.

Das knapp 600 Seiten starke Werk des Siegener Historikerteams ist in fünf Kapitel gegliedert (zuzüglich Einleitung und Schluss). Es zeichnet nach, vor welchen Herausforderungen, die sich aus der diktatorischen Vergangenheit Deutschlands und dem Kalten Krieg ergaben, die Regierungskommunikation in der frühen Bundesrepublik stand. Der Band fügt sich damit in eine Reihe von Studien der neuen Behördenforschung ein, die sich mit der NS-Vergangenheit der obersten Bundesbehörden und dem Umgang ihrer Akteure damit beschäftigen.[1] Das Projekt entstand im Rahmen des Forschungsprogramms zur NS-Vergangenheit zentraler deutscher Behörden der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Der Fokus der Untersuchung zur »Kontaktzone Bonn« liegt auf den 1950er-Jahren (Kapitel zwei bis vier), wobei auch die Zeit der Großen Koalition und des Regierungswechsels zur sozialliberalen Koalition personell und strukturell betrachtet wird (Kapitel fünf und sechs). Wie die meisten der jüngeren Behördenstudien endet die Untersuchung im Jahr 1969.

Die quellengesättigte Analyse stützt sich unter anderem auf Sach- und Personalakten aus den Bundesarchiven sowie dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts. Da die Personalakten im Bestand des Bundespresseamts vernichtet wurden, fehlt allerdings ein wichtiger Baustein für die Analyse der Personalpolitik. Schwarz und Stahl nutzen stattdessen Parallelüberlieferungen. Insbesondere die Nachlässe aus den Parteiarchiven (ACDP, AdsD, ADL) erweisen sich dafür als ergiebig. Allerdings führt dies nicht immer zum Erfolg, sodass einige biografische Analysen dünn und Handlungszusammenhänge unklar bleiben.

Nach einer knappen Einleitung und einem kurzen Abriss über die Gründung der Behörde tauchen die Autorin und der Autor direkt in die Realpolitik des Amts ein (Kapitel zwei). Anhand der »Wege […], die das Geld nahm« (S. 47) untersucht das Historikerteam die Haushaltsposten des Amts, darunter den sogenannten Reptilienfonds Titel 300, um darüber thematische Schwerpunkte zu identifizieren. Anhand prägnanter Beispiele legen sie dar, wie das BPA die Verwendung von Haushaltsmitteln zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung gegenüber den Rechnungsprüfern im Bundesfinanzministerium verschleierte. So erhielt der Journalist Hanns Küffner monatlich 1.850,- DM für zustimmende Artikel zur Wiederbewaffnung. Die Zeitschrift »Die Wildente«, in der ehemalige Kriegsberichterstatter der Wehrmacht sowie der Waffen-SS ihre Perspektiven dar- legten, wurde jährlich mit 2.400,- DM unterstützt. Es wäre aufschlussreich gewesen, wenn die verdeckten Subventionen des Bundespresseamts stärker im Kontext der generellen Förderpraxis der Adenauerregierung betrachtet worden wären. Ähnliche Methoden wurden auch in anderen Behörden angewendet und basierten auf einer Grundsatzentscheidung Adenauers von 1950.

Im folgenden Kapitel werden die Lebensläufe der ersten drei Chefs des Bundespresseamts beleuchtet. Anschließend untersucht das Buch Memoranden, insbesondere der FDP und von Journalisten, die alle ähnlich lautend eine Zentralisierung und Intensivierung der staatlichen Informationspolitik forderten. Der Band vertieft sodann die bereits gut erforschten Pläne von Otto Lenz zum Aufbau eines Informationsministeriums. Die Berücksichtigung widerstreitender Positionen aus den Oppositionsparteien sowie konkurrierender Bundes- und Länderinstitutionen hätte hier geholfen, Lenz‘ letztlich gescheiterte Pläne breiter zu kontextualisieren, insbesondere mit Blick auf den Konflikt zwischen dem Bundesinnenministerium (BMI) und dem Bundeskanzleramt. Denn es war anfangs das Innenressort, das den umfassenden Aufbau der Kanzlerdemokratie kritisch hinterfragte und gegensätzliche Auffassungen zur Ausrichtung der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit vertrat: Sollte diese die Bevölkerung von der Regierungspolitik überzeugen (Lenz) und somit Adenauers Aufbau der Kanzlerdemokratie unterstützen, oder sollte sie überparteilich ausgerichtet demokratische Meinungsbildung fördern (BMI)? Die Autorin und der Autor legen gar fälschlich nahe, dass keine Institution existierte, die »den Herrschaftsanspruch des Kanzleramtes herausforder[te]« (S. 276). Eine genauere Betrachtung dieses Konflikts hätte auch erklären können, warum das BPA in dieser Zeit versuchte, seine Aktivitäten auf andere gesetzgeberische Zuständigkeiten auszuweiten.[2]

Das vierte Kapitel widmet sich der Arbeit der verschiedenen Abteilungen des BPA und zeigt auf, wie die Behörde ihre Zuständigkeiten erweiterte, etwa durch die Einführung einer wöchentlichen interministeriellen Koordinierungskonferenz mit den Pressereferenten aller Bundesministerien. Die Auswertung der überlieferten Protokolle offenbart, wie die Teilnehmenden beabsichtigten, Journalistinnen und Journalisten zu disziplinieren, die sich nicht an die vorgegebenen Sprachregeln hielten. Die Staatsdiener sahen die Presseschaffenden lediglich als ausführendes Organ und betrachteten deren Kontrolle als legitimes Mittel der staatlichen Informationspolitik.

Gelungen sind die biografischen Studien zu verschiedenen Akteurinnen und Akteuren inner- und außerhalb des BPA im fünften Kapitel. Der Fokus auf Frauenbiografien ist besonders hervorzuheben. In diesem Abschnitt wird deutlich, wie Wissensbestände aus der NS-Vergangenheit im demokratischen Staat aktualisiert wurden. Der Fall von Inge Deutschkron ist in Bezug auf den Umgang mit ehemals NS-Verfolgten besonders aufschlussreich. Als sie 1956 um ein Interview mit Adenauer bat, riet der zuständige Referent seinem Kollegen, dem früheren SS-Untersturmbannführer Eberhard Ritter, zur Vorsicht: die Journalistin sei Jüdin (S. 359). Ein Kanzlerinterview wurde Deutschkron bis Ende der 1960er-Jahre verwehrt. Zudem dauerte es zwanzig Jahre, bis in der Auslandsabteilung ein Referat für Israel eingerichtet wurde. Während des Eichmann-Prozesses 1961 beschränkte sich die Kommunikationsstrategie des BPA entsprechend auf die Abwehr von Kritik an der Bundesregierung und die Vermeidung einer öffentlichen Diskussion zu Personalkontinuitäten in der Ministerialbürokratie. Obwohl sich das BPA in den 1960er-Jahren zu einem zentralen Regierungsakteur in medienpolitischen Debatten entwickelte, konstatieren Schwarz und Stahl, dass es kaum öffentlicher Kritik ausgesetzt war. Sie führen dies auf die Strategie finanzieller und immaterieller Zuwendungen an Medienschaffende zurück, wie den privilegierten Zugang zu Regierungsinformationen für ›zuverlässige‹ Journalistinnen und Journalisten.

Ein knappes sechstes Kapitel beleuchtet den versäumten Umbau des BPA in den späten 1960er-Jahren. Das Amt schottete sich von Veränderungen ab, was ihm nur durch die fehlende parlamentarische Kontrolle und sein Agieren im »rechtsfreien Raum« möglich war – so das abschließende Urteil des Historikerteams (S. 442).

Insgesamt hätte dem Buch ein etwas nüchternerer Stil gutgetan, vor allem bei der Bewertung von NS-Belastungen. So wird ein Journalist von Schwarz und Stahl bereits deshalb als NS-belastet eingestuft, weil er nach der Einführung des Schriftleitergesetzes einen »Ariernachweis« vorlegte (S. 59). Die angelegte Definition des Begriffs »Belastetheit«[3] differenziert nicht ausreichend die verschiedenen zeitlichen und relationalen Dimensionen des Terminus. Eine Historisierung des Belastungsbegriffs müsste stärker die unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten des Begriffs ausloten und fragen, welche Tätigkeiten für wen, wann und unter welchen Bedingungen als (zu) belastend galten.[4] Schwarz und Stahl fokussieren überwiegend auf die Perspektive des NS-belasteten Personals, für das »Belastetheit« mitunter als »Ressource, die Verbindung und Vertrauen« schafft, diente (S. 307). Diese Sichtweise vernachlässigt negative Konsequenzen, die sich aus der NS-Belastung ergeben konnten – wie Nicht-Beförderung, Nicht-Einstellung oder juristische Strafverfolgung. Nach Einschätzung der Autorin und des Autors »begünstigte« eine NSDAP-Mitgliedschaft gar eine Einstellung in den bundesdeutschen Staatsdienst (S. 452). Damit überbewerten sie den Einfluss von Seilschaften auf die Personalpolitik des Amtes. Die Bezeichnung »Ingenieure und Ingenieurinnen der Verlautbarung« ist ebenfalls nicht ausgereift, da sie unbeabsichtigt die Selbstwahrnehmung des NS-belasteten Personals als unpolitische Experten reproduziert. Hier wäre eine kritische Reflexion des Expertenbegriffs vonnöten gewesen.

Der Fokus der Studie auf das Amt lässt mitunter den Blick für außerbehördliche Diskurse zu den behandelten Themen vermissen. Eine stärkere Einbettung in die bisherigen Ergebnisse der Behördenforschung und eine klarere Verortung des BPA als einer von vielen Akteuren in der Medienlandschaft der frühen Bundesrepublik hätten die Studie abgerundet. Die gegensätzlichen Positionen der Oppositionsparteien, die Ansichten anderer Bundes- und Länderinstitutionen sowie internationale Perspektiven (etwa der Alliierten und der DDR) werden nicht oder nur am Rande behandelt. Auch über die Gründe für Adenauers Unzufriedenheit und mangelndes Vertrauen in das BPA hätte man gern mehr erfahren.

Schwarz und Stahl nehmen an, dass die staatliche Informationspolitik erfolgreich war und der Bundesregierung damit direkter Einfluss auf die öffentliche Meinung zugeschrieben werden kann. Dies wird vor allem mit der vermeintlichen Abwesenheit von Kritik am Amt selbst und an der Bundesregierung im Allgemeinen begründet. Allerdings setzte bereits in den 1950er-Jahren eine kritische öffentliche Berichterstattung ein, die explizit Kritik am Regierungshandeln übte. Der Einfluss der staatlichen Informationspolitik sollte daher nicht überschätzt werden.

Diese Mängel sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schwarz und Stahl eine beeindruckende Studie zur staatlichen Informationspolitik in der Nachkriegszeit vorgelegt haben. Sie zeigen überzeugend, wie das Bundespresseamt aus einer »ad-hoc-Konstruktion« (S. 247) durch ein System aus Anbindung, Kontrolle und Disziplinierung der Medienschaffenden mithilfe von NS-belastetem Personal zu einem wichtigen medienpolitischen Akteur wurde. Der Band erweitert unser Verständnis der Medienpolitik der Adenauerregierung und zeichnet durch den Fokus auf autoritäre Praktiken und belastete Kontinuitäten ein bedrückendes Bild der Regierungskommunikation in der frühen Bundesrepublik.

 

Zitierempfehlung

Stefanie Palm, Rezension zu: Angela Schwarz/Heiner Stahl, Kontaktzone Bonn. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und die staatliche Öffentlichkeitsarbeit 1949–1969, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82006.pdf> [1.7.2024].

 

[1] Vgl. Stefan Creuzberger/Dominik Geppert (Hrsg.), Die Ämter und ihre Vergangenheit. Ministerien und Behörden im geteilten Deutschland 1949–1972, Paderborn 2018; Magnus Brechtken (Hrsg.), Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Göttingen 2021.

[2] Vgl. Stefanie Palm, Fördern und Zensieren. Die Medienpolitik des Bundesinnenministeriums nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2023, S. 137–155.

[3] Zit. nach S. 15: »Kenntnisse, Tätigkeiten und Erfahrungen [...], die in der Zeit des NS-Regimes [...] erworben bzw. ausgeführt wurden und in die eigenen Nachkriegskarrieren überführt werden konnten[.]«

[4] Vgl. zur Begriffsverwendung in anderen Studien Frank Bösch/Andreas Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin, Göttingen 2018, S. 20 f.; Thorsten Holzhauser, Demokratie, Nation, Belastung. Kollaboration und NS-Belastung als Nachkriegsdiskurs in Frankreich, Österreich und Westdeutschland, Berlin/Boston 2022, S. 11.

Sebastian Edwards, The Chile Project. The Story of the Chicago Boys and the Downfall of Neoliberalism

Princeton University Press | Princeton, NJ, 2023 | 376 Seiten, Hardcover | $ 32,00 | ISBN 978-0-691-20862-6

rezensiert von

Stefan Rinke, Freie Universität Berlin

Rezension als pdf

Der Autor des vorliegenden Buches, Sebastian Edwards, lehrt Betriebswirtschaft an der University of California in Los Angeles (UCLA). Er war zuvor Chefökonom der Weltbank für die Region Lateinamerika und stammt ursprünglich aus Chile. Diesen Hintergrund muss man kennen, wenn man das zu besprechende Buch einordnen will. Der Untertitel ist durchaus überraschend, geht es doch nicht wie sonst üblich um den Aufstieg des Neoliberalismus unter dem Einfluss der Chicago Boys – jener Gruppe von Ökonomen, die an der University of Chicago von Professoren wie Milton Friedman und Arnold Harberger (seit 1984 ebenfalls an der UCLA – ihm ist nebst anderen das Buch gewidmet) ausgebildet wurde und die in den 1970er- und 1980er-Jahren maßgeblichen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der chilenischen Militärdiktatur hatten –  sondern um dessen Untergang.

Schon die ersten Seiten des Buches machen klar, wo Edwards steht. In wenigen Absätzen präsentiert er die Wirtschaftspolitik der Chicago Boys als Erfolgsgeschichte: »In less than two decades the Chicago Boys had created a modern capitalist economy […]« (S. 2), auch wenn er einräumt, dass diese Politik durch eine brutale Diktatur umgesetzt wurde. Wie er dazu kommt, den Boys eine Stärkung des Rechtsstaats zuzuschreiben, bleibt sein Geheimnis. Allerdings, so betont Edwards, setzten nach Ende der Militärherrschaft die demokratischen Regierungen in Chile die Wirtschaftspolitik der Chicago Boys fort. Seiner Meinung nach waren die Chicago Boys daher kein Diktaturphänomen. Laut Edwards wurde Chile aufgrund dieser Politik zum mit Abstand wohlhabendsten Staat in Lateinamerika und im Jahr 2010 auch OECD-Mitglied. Die Kehrseite dieses Erfolgs ist jedoch – das muss Edwards zugeben – eine zunehmend ungleiche Verteilung des Wohlstands.

2019 explodierte die Unzufriedenheit über diesen Zustand in einem sozialen Aufstand, der die Grundfesten des Landes erschütterte und in einen Verfassungskonvent mündete, dessen neuer Verfassungsentwurf allerdings bei einem anschließenden Referendum keine Mehrheit fand. Die zentrale Forderung des Aufstands war das Ende des Neoliberalismus und einer Wirtschaftspolitik nach dem Muster der Chicago Boys. Edwards hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Santiago auf, mischte sich unter die Protestierenden und – oh Graus – ruinierte sich seine »fancy clothes« (S. 9). Der Schock jener Erlebnisse motivierte ihn zu diesem Buch, denn er machte ihm klar, dass mit dem neoliberalen Modell trotz der offensichtlichen makroökonomischen Erfolge etwas nicht stimmte, obwohl es Chile im Durchschnitt doch viel besser ging als dem Rest Lateinamerikas. Die Ungleichheit und das Gefühl von fehlender Anerkennung und Demütigung in weiten Teilen der Bevölkerung hatten die sozialen Proteste befeuert.

Das Thema der Chicago Boys ist in der Forschung bereits ausgiebig bearbeitet. Es liegt eine Fülle von Studien vor, die Edwards zum Teil auch kennt.[1] Was also soll sein Beitrag sein? Er will die Unterschiede zwischen neoliberalen Hardlinern wie Friedman und pragmatischen Neoliberalen wie Harberger herausarbeiten und den Einfluss ihrer jeweiligen Schulen auf Chile vermessen. Interessant ist, dass die Chicago Boys, die er dafür interviewt, den Begriff ›neoliberal‹ weit von sich weisen und stattdessen das Ziel einer sozialen Marktwirtschaft für sich reklamieren. Außerdem will er herausfinden, wie es dazu kommen konnte, dass sich eine große Mehrheit der chilenischen Bevölkerung zuletzt für eine Abkehr vom neoliberalen Modell aussprach.

Edwards gliedert sein Buch chronologisch in drei Teile, wobei er keine Überraschungen bietet. Die Frühphase setzt er von den Anfängen des Chile-Projekts in den 1950er-Jahren bis zum Sturz der Allende-Regierung 1973 an. Hier erzählt der Autor die bekannte Geschichte vom Plan des Aufbaus einer Wirtschaftsfakultät nach US-Vorbild an der Universidad Católica de Chile. Das liest sich bei ihm im Wesentlichen wie eine Heldengeschichte, in der die jungen Chilenen von ihren US-amerikanischen Lehrern praktisch alles lernten, was eine moderne Wirtschaftsfakultät ausmachte, und dieses Wissen dann erfolgreich in Chile institutionalisierten. Laut Edwards waren sie in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre so etwas wie die jungen Wilden in einer ansonsten unterentwickelten Wissenslandschaft, die von planwirtschaftlichen Ideen bestimmt war. Nach Meinung des Autors betrieben die Chicago Boys in dieser Phase einen »Krieg der Ideen« im Sinne ihrer neuen ökonomischen Lehre aus den Vereinigten Staaten, der aber unter der Präsidentschaft des Sozialisten Allende aussichtslos war.

Nach dem Militärputsch wendete sich das Blatt. Die Chicago Boys kamen – schrittweise, nicht sofort – an die Schaltstellen der Macht. Im Gegensatz zu einigen anderen Stimmen in der Forschungsliteratur betont Edwards, dass der Besuch von Milton Friedman in Chile 1975 wegweisend für den Aufstieg der Chicago Boys gewesen sei. Folgt man Edwards, dann ging den chilenischen Generälen erst durch Friedman ein Licht auf, wie sie ihre Wirtschaftspolitik zu gestalten hatten, wenngleich Edwards auch behauptet, dass sich der Kopf der Gruppe, Sergio de Castro, dem Befehl der Militärs bereits vor dem Putsch nicht hatte entziehen können. Weiter im Heldenepos: »Fast jeder wäre angesichts der anstehenden Aufgabe eingeschüchtert gewesen aber nicht de Castro.« (S. 74) Und natürlich war der berüchtigte Chef des chilenischen Sicherheitsdiensts DINA, Manuel Contreras, einer der »mächtigsten Feinde« (S. 107) der Chicago Boys.

Im dritten Teil geht es um die Fortdauer der neoliberalen Wirtschaftspolitik im demokratischen Chile vom Ende der Militärdiktatur 1988 bis zur Wahl des linksgerichteten Gabriel Boric zum Präsidenten im Jahr 2022. Edwards benutzt für diesen Zeitraum den Begriff des »inklusiven Neoliberalismus« und meint damit die flankierenden Maßnahmen der Regierungen zur Armutsbekämpfung und zum sozialen Ausgleich. Dass diese Maßnahmen zu kurz griffen, weil sie das Grundübel der chilenischen Gesellschaft, nämlich die fehlenden Möglichkeiten zu sozialer Mobilität, nicht beseitigt haben, räumt er ein. Doch ist es, wie sollte es anders sein, wiederum der Pate der Chicago Boys, sein enger Freund »Al« Harberger, der auf dieses Problem hinweist, als es darum geht, die sozialen Proteste von 2019 einzuordnen. Nun könnte man meinen, es brauche keinen US-amerikanischen Ökonomen, um das zu erkennen, doch das würde Edwards‘ Heldenepos Abbruch tun, denn mit Harberger ist er überzeugt, dass die neoliberale Politik dennoch richtig war und ist. Den Chicago Boys und ihren Nachfolgern, die die von ihnen konzipierte Politik fortsetzten, ging es nämlich nicht um eine ausgewogenere Verteilung der Einkommen, sondern lediglich um die Bekämpfung der größten Armut. Der Aufstieg in die untere Mittelschicht war jedoch, wo er erfolgte, in den meisten Fällen prekär, wie Edwards richtig erkennt. Die Angst vor dem Wiederabstieg aus der Mittelschicht war eine zentrale Triebfeder für die Proteste von 2019.

Zweifellos hat Edwards seine Hausaufgaben gemacht. Er kennt die meisten Personen, über die er schreibt persönlich und hat die Möglichkeit mit ihnen zu sprechen weidlich genutzt. Auch Kritiker der Chicago Boys wie etwa Aníbal Pinto hat er interviewt, doch bleibt die Wiedergabe von deren Meinung blass und lässt die Gesprächspartner in einem schlechten Licht erscheinen. Die Boys sind die jugendlichen Draufgänger mit dem typischen US-amerikanischen Optimismus und haben immer ein Lächeln auf den Lippen. Die Kritiker sind die verstaubten Dogmatiker. Besonders ausgewogen ist das alles nicht. In der umfassenden Literatur zur Geschichte der Chicago Boys ist dies nur ein weiterer Beitrag, der wenig Neues zu bieten hat. Da gibt es, wie gesagt, gehaltvollere Beiträge zum Thema. Interessant wird es dennoch, je mehr der Autor sich der Gegenwart nähert. Seine abgewogene Diskussion der Faktoren, die zum Ausbruch der sozialen Proteste von 2019 geführt haben, ist durchaus lesenswert.

 

Zitierempfehlung

Stefan Rinke, Rezension zu: Sebastian Edwards, The Chile Project. The Story of the Chicago Boys and the Downfall of Neoliberalism, Princeton University Press, Princeton, NJ, 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82000.pdf> [1.7.2024].

 

[1] Vgl. etwa Juan Gabriel Valdés, Pinochet’s Economists. The Chicago Boys in Chile, Cambridge 1995; nicht rezipiert werden dagegen: Patricio Silva, In the Name of Reason. Technocrats and Politics in Chile, University Park, Pa., 2008; sowie Manuel Gárate, La revolución capitalista de Chile, 1973-2003, Santiago 2012.

Christian Rau, Die verhandelte »Wende«. Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik

(Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt, Bd.3)

Ch. Links Verlag | Berlin 2022 | 592 Seiten, Hardcover | 38,00 € | ISBN 978-3-96289-168-8

rezensiert von

Jary Koch, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Rezension als pdf

Wer den andauernden Aufstieg der AfD in Ostdeutschland verstehen möchte, müsse auch einen Blick in die Arbeitswelt werfen, resümierte zuletzt eine soziologische Forschungsgruppe des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts an der Universität Leipzig ihre Studienergebnisse. Die Soziolog:innen hatten den Zusammenhang von betrieblichen Mitbestimmungsmöglichkeiten einerseits und der Offenheit von Beschäftigten gegenüber rechten Ideologien und Ressentiments andererseits untersucht. Ihre Schlussfolgerung: Die »Demokratisierung der Wirtschaft« sei »unabdingbarer Baustein«, um der »Verbreitung rechtsextremer Einstellungen vorzubeugen.« Gleichzeitig mangele es insbesondere in vielen ostdeutschen Betrieben an derlei Erfahrungen der Handlungsfähigkeit.[1]

Mit Christian Raus Studie über »Die verhandelte ›Wende‹. Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik« liegt seit 2022 eine zeithistorische Arbeit vor, auf deren Grundlage diese Problematik auch historisch erfasst werden kann. Raus Monografie entstammt den »Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt«, dem bis dato größten Forschungsprojekt zur historischen Aufarbeitung dieser Behörde, das am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin angesiedelt ist.[2] Es wird mit Recht in den kommenden Jahren als Standardwerk zur Thematik gelten. Gleichwohl lädt der pointierte Titel zu Missverständnissen ein, wie ich im Anschluss an die Rekapitulation von Raus Erkenntnissen und Thesen argumentieren möchte.

Angelegt als Politik- und Kulturgeschichte, fragt Raus fast 600 Seiten starkes Werk nach der Rolle der Gewerkschaften in der Geschichte der Treuhandanstalt und andersherum. Dazu nimmt der Autor die »Handlungsstrategien« der Gewerkschaften »gegenüber und in der Treuhand« sowie die »parallelen innerverbandlichen Aushandlungsprozesse« in den Blick, um anschließend die Bedeutung der kurzen Beziehungsgeschichte von Treuhand und Gewerkschaften für die »politische Kultur der Berliner Republik insgesamt« zu diskutieren (S. 30). Mit der Wiedervereinigung, so Raus zentrale These, habe der »Tripartismus« von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Staat als »eingeübtes Muster der Kontingenzbewältigung« eine »unwahrscheinliche Renaissance« erlebt (S. 529). Die verbreitete Vorstellung einer Krise gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit in den 1990er-Jahren müsse daher differenziert werden, da die Gewerkschaften die Umbruchsjahre über ihre Minderheitenrolle im Verwaltungsrat der Treuhand hinaus mehr mitgestaltet hätten als bislang angenommen. Folglich spricht Rau von einer »verhandelten ›Wende‹«.

Diese Leitthese erläutert der Berliner Historiker in fünf Kapiteln, die von einer umfangreichen Einleitung und einer lesenswerten Bilanz gerahmt werden. Im ersten Kapitel widmet Rau sich der (Vor-)Geschichte des »Modells Deutschland«, was im Hinblick auf seine zentrale These nachvollziehbar erscheint, da die Revolution von 1989/90 auch »das feinjustierte Verhältnis von Arbeit und Kapital im Westen zur Disposition [stellte]« (S. 75). Entsprechend skizziert Rau überblicksartig die gewerkschaftlichen Diskussionen über Strukturpolitik und den Wandel der Industriegesellschaft in Westdeutschland in den 1970er- und 1980er-Jahren und stellt dazu fest, dass die Gewerkschaften zwar nicht geschwächt in die Jahre von Revolution und Transformation gingen, von jenen Umbrüchen aber kalt erwischt wurden und folglich »zunächst sprachlos« reagierten (S. 74).

Abseits des Höhenkamms der Gewerkschaftsvorstände wendet sich Rau im zweiten Kapitel dann den oftmals vernachlässigten betrieblichen Demokratisierungsprozessen von 1989/90 zu und ordnet sie, anknüpfend an eine Begriffsbildung von Annette Schuhmann, anschaulich in die Geschichte der »verbetrieblichten« Gesellschaft der DDR ein (S. 79).[3] Im dritten und vierten Kapitel stellt Rau die Gewerkschaften als Partnerinnen der Treuhand vor, die mitbestimmten und mitgestalten. Beleuchtet werden die Strategien der vier Gewerkschaftsrepräsentanten im Verwaltungsrat sowie gewerkschaftliche Einflüsse auf die Sozialpolitik der Treuhand. So stellt Rau etwa dar, wie sich die IG Metall durch die Arbeit im Verwaltungsrat der pragmatischen Herangehensweise des Vorsitzenden der IG Chemie-Papier-Keramik Hermann Rappe annäherte. Auch am Beispiel der Sozialplandebatten der Jahre 1990 bis 1993 kann er die bislang wenig beachteten, aber gleichwohl intensiven, Kooperationen von Treuhand und Gewerkschaften illustrieren.

Im fünften Kapitel analysiert Rau die Aushandlung einer neuen Ordnung der Sozialpartnerschaft im Konflikt zwischen Treuhand, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Betriebsräten. Neben den ersten Tarifrunden beleuchtet er als besonderes Fallbeispiel den Aufstieg und Niedergang der ostdeutschen Betriebsräteinitiative und diskutiert entlang dieser Entwicklung das Verhältnis der westdeutschen Gewerkschaften zu den ostdeutschen Belegschaftsprotesten Anfang der 1990er-Jahre. In seiner Bilanz wagt sich Rau schließlich an die »langen Linien einer kurzen Beziehungsgeschichte« (S. 527), die bei ihm von den Spezifika der ostdeutschen Arbeits- und Gewerkschaftsgeschichte über die Agenda 2010 bis zum Erfolg der AfD führen. Wer eine pointierte und anregende Zusammenfassung der Studienergebnisse sucht, wird hier fündig.

Rau gelingt es, ein differenziertes und aufschlussreiches Bild der kurzen Beziehungsgeschichte von Treuhand und Gewerkschaften zu zeichnen, das in seiner Betonung historischer Kontingenz gängige Narrative herausfordert. Eine besondere Stärke der Studie stellt ihre breite Quellenbasis dar, die neben dem Treuhandbestand auch zahlreiche Akten der Landesregierungen und -verwaltungen Thüringens und Brandenburgs enthält. Der gewerkschaftlichen Repräsentation im Verwaltungsrat der Treuhand folgt Rau mithilfe von Quellenmaterial des DGB, der IG Metall, der IG Chemie-Papier-Keramik sowie der DAG. Einem bisher wenig verwendeten Archivbestand der Robert-Havemann-Gesellschaft entnimmt er eindrückliche Erkenntnisse über die bereits erwähnte ostdeutsche Betriebsräteinitaitve. Der Soziologe Martin Jander hatte diese seinerzeit wissenschaftlich begleitet und auch an ihren Sitzungen teilgenommen. Rau nutzt diese Aufzeichnungen, um die Dynamik der behandelten Ereignisse nicht nur aus der Perspektive von Gewerkschaftsvorständen, sondern auch ›von unten‹ zu beleuchten.

Gerade diese Perspektive ›von unten‹ gerät allerdings im Begriff der »verhandelten ›Wende‹« als titelgebender Kennzeichnung der Beziehungsgeschichte von Treuhand und Gewerkschaften etwas in den Hintergrund. So nachvollziehbar die Betonung der bislang selten diskutierten Verhandlungserfolge der Gewerkschaften ist, spricht der Begriff eben nur eine von mehreren gewerkschaftlichen Erfahrungsebenen an – nämlich die der Führungsverantwortlichen. Das lädt zu Missverständnissen ein, denn mit Blick auf die gewerkschaftliche Basis in den Betrieben erscheint das Bild der »verhandelten ›Wende‹« weniger angemessen. Zwar erlebten zahlreiche Beschäftigte tatsächlich einen demokratischen Aufbruch und organisierten umfangreiche Proteste, wie Rau selbst an anderer Stelle griffig analysiert hat.[4] Vielerorts aber endeten dies auch deshalb in Enttäuschung und Resignation, weil alternative und stärker auf Mitbestimmung orientierte Konzepte zum wirtschaftlichen Umbau seitens der Bundesregierung und der Treuhand auf Ablehnung stießen. Inwieweit diese vor allem auf lokaler Ebene als Demokratiedefizit gedeutete Anlage der wirtschaftlichen Transformationsprozesse auch langfristig defizitär auf die demokratische Verfasstheit der ostdeutschen Arbeitswelt wirkte, müsste im Hinblick auf die eingangs zitierten soziologischen Befunde weiter untersucht werden. Im Begriff der »verhandelten ›Wende‹« jedenfalls gehen die vielfältigen gewerkschaftlichen Erfahrungen der Umbruchsjahre nicht vollends auf.

Dennoch sei das Buch nicht nur allen, die sich mit der Geschichte der ostdeutschen Transformation auseinandersetzen, nahegelegt. Indem Rau detailliert herausarbeitet, wann, worüber und auf welche Art und Weise die »Wende« auch ein Ergebnis von Verhandlungen zwischen Treuhand, Gewerkschaften und Politik war, gelingt es ihm auch das zeithistorische Verständnis der politischen Kultur in der Berliner Republik insgesamt zu schärfen.

 

Zitierempfehlung

Jary Koch, Rezension zu: Christian Rau, Die verhandelte »Wende«. Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik, Ch. Links Verlag, Berlin 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82003.pdf> [1.7.2024].

 

[1]Johannes Kiess/Alina Wesser-Saalfrank/Sophie Bose u.a., Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland. Erlebte Handlungsfähigkeit im Betrieb und (anti)demokratische Einstellungen, OBS-Arbeitspapier 64 (hrsg. Von der Otto-Brenner-Stiftung), Dezember 2023, hier S. 49, URL: <https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AP64_IC_Ostdeutschland_WEB.pdf> [18.6.2024].

[2] Siehe URL: <https://www.ifz-muenchen.de/publikationen/reihen/studien-zur-geschichte-der-treuhandanstalt> [18.6.2024].

[3] Vgl. Annette Schuhmann, Die Zukunft der Arbeit in der Übergangsgesellschaft. Überlegungen zur Produktion von (Zukunfts-)Erwartungen in der DDR, in: Franziska Rehlinghaus/Ulf Teichmann (Hrsg.): Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert, Bonn 2019, S. 157-178

[4]Christian Rau, Transformation von unten. Zur Gesellschaftsgeschichte der ostdeutschen Belegschaftsproteste 1989–1994, in: Dierk Hoffmann (Hrsg.): Die umkämpfte Einheit. Die Treuhandanstalt und die deutsche Gesellschaft, Berlin 2022, S. 117-182; vgl. allgemein Detlev Brunner/Michaela Kuhnhenne (Hrsg.), Proteste, Betriebe, Gewerkschaften. Beiträge zur ostdeutschen Transformation seit 1990, Berlin 2023.

Wiebke Wiede/Johanna Wolf/Rainer Fattmann (Hrsg.), Gender Pay Gap. Vom Wert und Unwert von Arbeit in Geschichte und Gegenwart

(Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 113)

Dietz | Bonn 2023 | 288 Seiten, Broschur | 32,00 € | ISBN 978-3-8012-4258-9

rezensiert von

Wibke Rhein, Universität Konstanz

Rezension als pdf

Fast schon so zuverlässig wie der kalendarische Frühlingsanfang fällt auch der Equal Pay Day in Deutschland in jedem Jahr in den März. Er soll seit 2008 symbolisch den Tag markieren, bis zu dem Frauen ›unbezahlt‹ arbeiten und basiert auf den seit 1995 vom Statistischen Bundesamt nach EU-Richtlinien erhobenen Daten zum Gender Pay Gap, den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Entlohnung von Männern und Frauen. Die Zahl liegt für Deutschland relativ stabil bei 18 Prozent und gilt der EU als wichtiger Indikator für den Stand der Gleichstellung der Geschlechter.

In seinem Plädoyer für eine Neubefassung der Zeitgeschichte mit der Arbeitsgeschichte hat unlängst Lutz Raphael an die zentrale Rolle von Erwerbsarbeit für gesellschaftliche Ungleichheiten und speziell an die vielfältigen Verbindungen zwischen der Geschichte der Geschlechter und der Geschichte der Arbeitswelten erinnert.[1] Umso erfreulicher ist es, dass sich nun das vorliegende Werk den Ursachen und Ausprägungen des Gender Pay Gap historisch annähert. Der von Wiebke Wiede, Johanna Wolf und Rainer Fattmann herausgegebene Sammelband folgt dabei der sogenannten Devaluationsthese, die die Beständigkeit der Lohndifferenz auf die schlechtere Bewertung ›frauentypischer‹ Arbeit zurückführt. Zeitlich reichen die Beiträge vom späten 19. Jahrhundert bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den 1970er-Jahren. Geographisch liegt der Fokus des Bandes auf dem Gebiet der ›alten‹ Bundesrepublik.

Thematisch gliedert sich der Sammelband in drei Abschnitte. Der erste und zugleich umfangreichste Abschnitt fragt unter dem Titel »Bedingungen und Anerkennung bezahlter und unbezahlter Arbeit« danach, wie Betroffene Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen zu erkämpfen suchten und mit welchen Hindernissen und Erwartungshaltungen sie dabei konfrontiert waren. Mit Fallstudien zur Krankenpflege (Susanne Kreutzer), Tagesmüttern (Laura Moser), städtischen Hausgehilfinnen (Mareike Witkowski) und ehrenamtlichen Pastorenfrauen (Michaele Bräuninger) konzentriert sich dieser erste thematische Block auf den Care-Bereich. Ergänzt werden diese Studien zu einzelnen Arbeitsbereichen durch den Beitrag von Michaele Kuhnhenne, die am Beispiel Bremens in der ersten Nachkriegsdekade darlegt, wie Kindern verschiedenen Geschlechts aufgrund vermeintlich geschlechtsspezifischer Wesenseigenschaften verschiedene Bildungswege zugewiesen wurden und wie diese Ausbildungswege wiederum geschlechtsspezifische Berufsfelder und Entlohnungen rechtfertigten. In der Geschichtswissenschaft ist dieser Zusammenhang bekannt, spätestens seit Karin Hausen 1976 die zentrale Funktion der »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« für die moderne Erwerbsgesellschaft herausgearbeitet hat.[2] Insofern sind die Befunde dieses ersten Abschnitts des Bandes als solche nicht neu. Die Stärke der Fallstudien liegt vielmehr in der Sichtbarmachung komplexer Zusammenhänge, die sich hinter einer statistischen Größe verbergen.

Besonders erhellend ist in dieser Hinsicht der Beitrag von Laura Moser. Am Beispiel des Modellprojekts »Tagesmütter«, das von 1974 bis 1978 unter der Federführung des Bundes- ministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit elf Standorte mit je 15 bis 20 Tagesmüttern umfasste, fragt Moser nach dem Einfluss von Geschlechternormen auf die Ausgestaltung und die Finanzierungssystematik des Projekts. Sehr deutlich wird dabei, dass weiblicher Erwerbstätigkeit auch nach der Ehe- und Familienrechtsreform von 1977 durch das vorherrschende Ernährer-Modell sowohl diskursiv als auch strukturell deutliche Grenzen gesetzt waren. So sollten die im Projekt beschäftigten Tagesmütter zunächst zwar sozialversicherungspflichtig tätig sein, keinesfalls aber sollte ein neuer Ausbildungsberuf begründet werden. Die arbeits- und steuerrechtliche Unvereinbarkeit dieser Positionen wurde schlussendlich dadurch gelöst, dass die Frauen als Selbstständige besteuert wurden, was in Verbindung mit dem Ehegattensplitting zu einer erheblichen steuerlichen Mehrbelastung der Betroffenen führte. Diese Lösung stieß in den meisten Modellorten auf Protest, doch bestand Uneinigkeit über die Alternativen. Während etwa die Reutlinger Tagesmutter-Gruppe sich unter Verweis auf die Sozialabgaben für die Anerkennung ihrer Tätigkeit als Lohnarbeitsverhältnis einsetzte, sah ein Großteil der organisierten Frauen die beste Lösung in einer steuerfreien Entschädigungszahlung, da diese ihnen eine höhere Entlohnung ermöglichte, ohne das Ehegattensplitting selbst in Frage zu stellen. Ein solcher Kompromiss ergab für verheiratete Frauen aus der Mittelschicht, die den Großteil der Tagesmütter in dem Projekt ausmachten, ökonomisch durchaus Sinn. Er führte aber die Kindertagespflege letztlich in die prekäre Selbstständigkeit. Die Geschichte des Modellprojekts lässt sich so auch als Plädoyer dafür lesen, mehr nach den Zusammenhängen zwischen Geschlecht und prekären Beschäftigungsformen zu fragen.[3]

Die vier Beiträge des zweiten Abschnitts ergründen, wie durch gesetzliche und tarifliche Regelungen ungleiche Arbeitsbewertungen festgeschrieben wurden. Während die ersten zwei Beiträge einen Blick zurück auf die Entwicklung rechtlicher Vorschriften für preußische Volksschullehrerinnen (Leonie Kemper) und der Rechtsprechung zur Entgeltgleichheit in der Bundesrepublik (Anna Quadflieg) werfen, nehmen die zwei anderen Beiträge eine aktuellere Perspektive ein. Andrea Jochmann-Döll, Christina Klenner und Alexandra Scheele untersuchen die Chancen und Risiken der Digitalisierung für eine geschlechtsneutrale Bewertung der Erwerbsarbeit. Mit Karin Schönpflugs Beitrag wiederum erhält der Band eine begrüßenswerte Erweiterung um queere und intersektionale Perspektiven. Basierend auf Erkenntnissen einer in Wien durchgeführten Erhebung, gibt die Ökonomin einen Überblick über die Forschung der letzten Jahre zu Lohnungleichheiten abseits eines binär und cis-normativ gedachten Gender Pay Gap. So haben Studien etwa signifikante Lohnunterschiede zwischen trans- und cis-Personen festgestellt, und auch Lohnunterschiede entlang der sexuellen Orientierung werden vermehrt unter dem Begriff des Gay Pay Gap untersucht.

Insbesondere Schönpflugs Ausführungen zu Erhebungsproblematiken rufen ins Gedächtnis, dass der Gender Pay Gap als statistischer Indikator ebenso Ergebnis historisch geformter Vorstellungen über Geschlecht ist, wie er selbst an der Ordnung von Gesellschaften entlang der Kategorie Geschlecht beteiligt ist. Er macht(e) die Lohndifferenz zwischen abhängig beschäftigten Männern und Frauen sichtbar, ebenso wie er andere Lohnungleichheiten in der Unsichtbarkeit beließ. So erlaubt der Gender Pay Gap, wie er vom statistischen Bundesamt seit 1995 erhoben wird, etwa keine Aussagen über Selbstständige, Beschäftigte im öffentlichen Dienst oder abhängig Beschäftigte in Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten. Die Tagesmütter aus Laura Mosers Beitrag würden hier also ebenso wenig repräsentiert werden wie die städtischen Haushaltshilfen in bürgerlichen Haushalten, die Mareike Wittkowski in ihrem Beitrag behandelt.[4]

In allen Beiträgen wird deutlich, dass gesetzliche oder tarifliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Lohnungleichheit nur bedingt von Wirksamkeit waren. So führte die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts von 1955, wonach Frauen für gleiche Arbeit auch gleichen Lohn erhalten sollten, zwar zu einer Abschaffung von Lohnabschlagsklauseln für Arbeitnehmerinnen. De facto wurden diese aber durch neu geschaffene Niedriglohnkategorien fortgeführt. Noch deutlicher aber verweist das Kapitel auf den zugrundeliegenden Zankapfel: Was bedeutet Lohngleichheit und wie ist sie zu messen und sicherzustellen?

Wie nationale und internationale Gewerkschaftsorganisationen diese Fragen diskutierten, ist schließlich Thema des letzten Abschnitts, der damit zugleich den geographischen Rahmen des Bandes über die Bundesrepublik hinaus ausdehnt. Johanna Wolf beschäftigt sich mit den Diskussionen im Weltgewerkschaftsbund über Entgeltgleichheit und liest diese als »Kondensat weltweit geführter Diskussionen« um die Berufstätigkeit von Frauen (S. 221). Judith Holland fragt am Beispiel gewerkschaftlicher Diskussionen in Frankreich nach der Länderspezifik von Gleichheitsvorstellungen und zeigt, wie diese auch die Datenerhebung zum Gender Pay Gap beeinflussten. Damit zeigt sie einmal mehr die Wichtigkeit nationaler Besonderheiten von Statistiken auf. Indem sie die Auswirkungen des 1975 von den Vereinten Nationen ausgerufenen »Internationale Jahrs der Frau« auf Debatten um Entlohnungsgleichheit in Island, Indien und Südafrika untersuchen, nehmen Silke Neunsinger und Ragnheiður Kristjánsdóttir im letzten Beitrag des Bandes die Dreiecksbeziehung zwischen transnationalen Aktivist:innen, dem Staat und internationalen Organisationen in den Blick. Dabei argumentieren sie, dass die UN-Kampagne von 1975 als »Globalisierungskatalysator« für die Forderung nach Lohngleichheit fungierte, indem sie wichtige Gelegenheitsstrukturen für Aktivist:innen in den jeweiligen Ländern schuf.

Insgesamt legen die Herausgeber:innen einen thematisch und auch methodisch breit gefächerten Sammelband vor, der die Vielschichtigkeit von genderspezifischen Ungleichheitsstrukturen auf dem Arbeitsmarkt verdeutlicht. Indem der Band der Komplexität des Gegenstandes gerecht wird, bietet er viele Anknüpfungspunkte für weitere Beschäftigungen mit dem Gender Pay Gap. Zu hoffen bleibt schließlich, dass die Erforschung des Gender Pay Gap nicht selbst geschlechterspezifisch bleibt, so erfreulich die überdurchschnittlich hohe Präsenz von Forscherinnen in diesem Sammelband auch ist.

 

Zitierempfehlung

Wibke Rhein, Rezension zu: Wiebke Wiede/Johanna Wolf/Rainer Fattmann (Hrsg.), Gender Pay Gap. Vom Wert und Unwert von Arbeit in Geschichte und Gegenwart, Dietz, Bonn 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81989.pdf> [27.5.2024].

 

[1]Lutz Raphael, Deutsche Arbeitswelten zwischen globalen Problemlagen und nationalen Handlungs- bezügen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 69, 2021, S. 1-23, hier S. 11-14.

[2]Karin Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363-393.

[3] Dafür plädiert am Beispiel Italiens auch: Eloisa Betti, Gender and Precarious Labor in a Historical Perspective. Italian Women and Precarious Work between Fordism and Post-Fordism, in: International Labor and Working-Class History 89, 2016, S. 64-83.

[4] Vgl. Christina Klenner/Susanne Schulz/Sarah Lillemeier, Gender Pay Gap – die geschlechtsspezifische Lohnlücke und ihre Ursachen, in: Policy Brief WSI Nr. 07/2016, (07/2016), S.5. Ökonomische Studien lassen vermuten, dass der Gender Pay Gap bei Selbstständigen noch größer ist als bei abhängig Beschäftigten. Vgl. Moritz Drechsel-Grau/Andreas Peichl/Kai D. Schmid u.a., Inequality and Income Dynamics in Germany, in: Quantitative Economics 13, 2022, S. 1593-1635.

Jenny Baumann, Ideologie und Pragmatik. Die DDR und Spanien 1973–1990

(Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 142)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2023 | 405 Seiten, gebunden | 64,95 € | ISBN 978-3-11-114121-3

reviewed by

Xavier María Ramos Diez-Astrain, Universidad Complutense de Madrid

Rezension als pdf

Until recently, the history of relations between Spain and the German Democratic Republic (GDR) was a little-studied topic in historiography. The secondary position of both players in the Cold War meant that neither Spanish nor German historians paid much attention to bilateral relations between the two countries. In recent years, however, several studies have shed new light on the role of subordinate actors in the bloc dynamics of the Cold War. In this context, several studies on relations between Spain and the GDR have been published, most of them in Spain.[1] Jenny Baumann’s study »Ideologie und Pragmatik. Die DDR und Spanien 1973–1990« from 2023 is the first major contribution on this topic from German historiography (although there had already been some previous studies on partial aspects).[2] Her work reflects a broad knowledge of both areas, supported by a solid analysis of the sources.

The book’s subtitle seems modest in relation to the book’s content, as »Ideologie und Pragmatik« deals quite extensively also with the period between 1949 and 1973. In those years, Spain and the GDR had no direct relations and did not officially recognise each other. However, their mutual existences were very relevant for both. The GDR based part of its self-portrayal as anti-fascist state on the struggle of several German interbrigadists in the Spanish Civil War, which was seen as a vital episode of the anti-Hitler struggle in Germany itself. In addition, there was constant East-German support for the anti-Franco struggle of the Communist Party of Spain (PCE). Franco's anti-communist regime, for its part, found an important ally in the Federal Republic of Germany (FRG) in its rapprochement with the European communities and NATO. It was therefore particularly zealous in its support for the West-German Hallstein Doctrine. Against this difficult background, only lukewarm economic and cultural relations developed.

The establishing of diplomatic relations between Spain and the GDR in 1973 was then, as Baumann reconstructs, the result of a combination of internal and external factors, such as the relaxation of the West German position and the loss of influence of the most ideological actors on both sides. The GDR was the first socialist country to establish diplomatic relations at the highest level with Franco's Spain. But the relationship remained difficult. The GDR suspended relations again as early as 1975 in a gesture of protest against the last five executions in Spain; a gesture which, in the author's opinion, was essentially propagandistic and whose consequences were not properly assessed. Diplomatic relations were not re-established until April 1977, when Spain (in the midst of transition to democracy) had already normalized its relations with the other Warsaw Pact states.

From 1977 onwards, Baumann distinguishes two phases in relations between Spain and the GDR. The first phase corresponds to the period of government of the Union of the Democratic Centre (UCD) from 1977 to 1982, a coalition that included the reform-oriented factions of the former Franco regime. The author describes how the SED regime built up a network of contacts in Spain with a large number of dialogue partners during this period, while the Spanish government showed only little interest in the relationship. Among these dialogue partners was also the Spanish Socialist Workers' Party (PSOE), which won the 1982 elections under the leadership of the young Sevillian lawyer Felipe González. Under the González government, relations between Spain and the GDR underwent a phase of expansion. The GDR paid close attention to relations with Spain, despite its entry into NATO in 1982 and its ratification in a referendum on 12 March 1986. For its part, Spain maintained a friendly attitude towards the GDR and other socialist states despite its increasing integration into the Western sphere (including joining the European Communities in 1986), but without giving it priority. When the East German regime went into terminal crisis in 1989, Spain concentrated its efforts on supporting unification.

Reconstructing effectively the general features of the history of relationships, the book reveals many strengths but also some weaknesses. The main challenge for a study that deals with a topic that has already been investigated is to bring novelty to it. This is not always achieved by Baumann. Nevertheless, »Ideologie und Pragmatik« does provide some relevant new perspectives. One of the aims Baumann sets herself in the introduction is to analyze the relationship between Spain and the GDR, including the triangular relationship with the Federal Republic - and in doing so to take into account above all the East German endeavour to take an independent, not secondary, position as a state representative of German culture in Madrid. Meticulous work on the sources makes this aspect (which has been dealt with in lesser depth in other studies) perhaps the most striking aspect of this book. In contrast, »Ideologie und Pragmatik« does not shine as brightly in its analysis of GDR-Spain relations as part of the socialist countries' relations with Spain. Multilateral issues are somewhat blurred compared to the weight of bilateral aspects. The role of the GDR as an integral part of the Warsaw Pact is present in the book, but does not form its actual backbone. Greater attention to the efforts of the GDR and the Soviet bloc to prevent Spain's entry into NATO or to qualify its membership of the alliance would contribute, however, to a better understanding of some issues. These include, for example, the efforts made by the GDR to win the recognition of the Spanish public through cultural and propaganda activities (in competition with West Germany), or the willingness of the SED to reorganize relations with the PCE when the latter had lost its former significance.

Another strength of »Ideologie und Pragmatik« is its detailed analysis of the many different factors in the relationship between the GDR and Spain. Baumann has done a great job in weighing up the weight of the various political and social actors, both internal and external: the respective governments, political parties, cultural actors, social organizations, economic actors, and, in particular, the FRG. The book thus quite convincingly combines a very comprehensive overview with the transnational approaches of recent historiography of international relations. However, the result has also some weaknesses. Occasionally there is an excess of zeal in the individualization of each actor in the play. This is the case, for example, with the PSOE leaders involved, whose differences (which were sometimes simply based on different functions in the apparatus) lead the author to differentiate between »friends« and »sympathisers« of the GDR and the rest. Alfonso Guerra can hardly be considered a friend or sympathiser of the GDR or of communism in general. Moreover, the separate consideration of the individual actors and factors leads to numerous leaps in time, which often make it difficult to follow the narrative thread (especially for reader unfamiliar with the subject).

As already noted, the work on sources is very extensive and meticulous. With references from thirteen archives and fifty-two periodicals from Spain and Germany, Baumann has accomplished an overwhelming feat in analyzing primary sources. In addition, there is an abundant bibliography. However, the bibliographical apparatus could have been strengthened, which in turn would have made the work more robust. What is missing is a stronger dialogue with the existing literature on the subject, which is scarcely considered, and especially with the literature that deals with other issues of relations (political or economic) between Spain and Eastern Europe. This would also have helped to avoid some minor errors, such as the assertion that the bilateral trade agreement was denounced by Spain in 1986 as a consequence of the declining attractiveness of the East German market (in reality, it was a consequence of Spain's entry into the EEC, which monopolized this type of agreement, and had been anticipated by the GDR). It would also have been useful to pay more attention to the abundant literature on Spanish communism.

Finally, it is worth mentioning a problem that affects this book as well as other research on this subject. Access to Spanish sources is considerably more difficult than to German sources. As a result, all studies tend to overemphasize the East German perspective over the Spanish one, whose actors cannot be examined with the same meticulousness. It is to be expected, however, that the gradual opening of Spanish sources will resolve this problem sooner rather than later. As for »Ideologie und Pragmatik«, Baumann's efforts to circumvent this limitation as far as possible should be emphasized.

Despite some weaknesses, »Ideologie und Pragmatik« is a solid, coherent work that makes valuable contributions to knowledge about relations between Spain and the GDR. Its differentiated approach sets it apart from other works on this and similar topics. As such, the book is highly recommended reading.

 

Zitierempfehlung

Xavier María Ramos Diez-Astrain, Rezension zu: Jenny Baumann, Ideologie und Pragmatik. Die DDR und Spanien 1973–1990, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81996.pdf> [27.5.2024].

 

[1] Cf. José M. Faraldo/Carlos Sanz Díaz (Eds.), La otra Alemania. España y la República Democrática Alemana (1949-1990), Granada 2022; Xavier Maria Ramos Diez-Astrain, A través del Telón de Acero. Historia de las relaciones políticas entre España y la RDA (1973-1990), Madrid 2021; cf. id., Las relaciones entre España y la República Democrática Alemana: un campo de estudio en auge, in: Blog del CEPC, 22.11.2022, URL: <https://www.cepc.gob.es/blog/las-relaciones-entre-espana-y-la-republica-democratica-alemana-un-campo-de-estudio-en-auge> [24.05.2024].

[2] Cf. Andreas Jüngling, Alternative Außenpolitik. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund der DDR und Franco-Spanien (1947-1975), Berlin 2017; Tim Haberstroh, Die DDR und das Franco-Regime. Außenpolitik zwischen Ideologie und Pragmatismus, Schkeuditz 2011; Michael Uhl, Mythos Spanien. Das Erbe der Internationalen Brigaden in der DDR, Bonn 2004.

Jan Kellershohn (Hrsg.), Der Braunkohlenbergbau im 20. und 21. Jahrhundert. Geschichte – Kultur – Erinnerung

(Landesgeschichtliche Beiträge, Nr. 1)

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt | Halle (Saale) 2023 | 298 Seiten, gebunden | 45,00 € | ISBN 978-3-948618-52-0

rezensiert von

Charlotte Kalenberg, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Rezension als pdf

So wie das Ende des Steinkohlenbergbaus in Deutschland 2018 zum Rückblick einlud, so gibt nun auch das für das Jahr 2038 geplante Ende der Kohleverstromung Anlass, den Braunkohlenbergbau historisch zu untersuchen. Die Verteilung der Braunkohlereviere in Deutschland über verschiedene Regionen und Bundesländer hinweg ermöglicht dabei vielseitige regional- und kulturgeschichtliche Perspektiven auf den Bergbau, ob in Mitteldeutschland, der Lausitz, der Oberpfalz oder im Rheinischen Revier.

Der hier besprochene Band basiert auf einer Tagung zum Braunkohlenbergbau, die im Dezember 2021 im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle stattfand, und ist als erster Band der neuen Reihe »Landesgeschichtliche Beiträge« des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt erschienen. Der Band hat das Ziel, eine transregionale Perspektive auf den Braunkohlenbergbau zu fördern und interdisziplinäre Ansätze zu entwerfen, mit denen die Geschichte des Braunkohlenbergbaus und der mit ihm verbundenen Industriekultur geschrieben werden kann. Jan Kellershohn, der Herausgeber des Bandes, skizziert einleitend den Begriff der Industriekultur und betont dabei die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Quellensprache und Analysebegriff. Zugleich gibt er einen Überblick über die bisherige Geschichtsschreibung zum Braunkohlenbergbau und identifiziert lohnende noch unbearbeitete Untersuchungsfelder.

Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert, wobei die Beiträge im ersten Abschnitt den Braunkohlenbergbau nur indirekt betreffen. Stattdessen stehen hier Vergleichsperspektiven im Mittelpunkt. Der zweite Abschnitt untersucht den Braunkohlenbergbau aus landesgeschichtlicher Perspektive, während der dritte einen aktuelleren Blickwinkel einnimmt und ethnologische und kulturanthropologische Untersuchungen umfasst. Im letzten Abschnitt geben Beiträge einen Ausblick auf die Herausforderungen, die künftig auf die museale Arbeit in Bergbauregionen zukommen werden.

Zu Beginn des ersten Teils führt Felicitas Weiss in die Konzepte Raum und Region als Untersuchungsperspektiven ein und gibt Anregungen, wie diese mit Erkenntnisgewinn für die Untersuchung von Montanregionen eingesetzt werden können. Sie veranschaulicht dies für das Bergbaurevier im Fichtelgebirge, in dem vornehmlich Eisenerz abgebaut wurde und das man sowohl als Wirtschaftsraum wie auch als kulturellen Raum beschreiben und analysieren kann. Auch Sabine Breer beschäftigt sich indirekt mit dem Bergbau, indem sie die sogenannte Mansfeld-Galerie vorstellt, eine zu DDR-Zeiten im VEB Mansfeld-Kombinat »Wilhelm Pieck« entstandene Gemäldesammlung, die derzeit weitgehend ungenutzt im Kreisarchiv Mansfeld-Südharz liegt. Ihre Beschreibung veranschaulicht das sozial-, kultur- und politikgeschichtliche Potential dieser Sammlung für die Bergbaugeschichte, handelt es sich bei den Auftragsarbeiten doch in großer Zahl um Darstellungen von Angestellten und Arbeitern, welche die Arbeitsatmosphäre im Bergbau und dessen Industrielandschaften widerspiegeln. Helen Wagner diskutiert am Beispiel des vom Steinkohlebergbau geprägten Ruhrgebiets die Neuausrichtung von Industriekultur, die sich in der Hochphase auf den Denkmalschutz von ungenutzten Bauwerken und die Umnutzung von Industriestätten konzentrierte. Sie erklärt den Geschichtsboom, diskutiert die Ausrichtung der Geschichtskultur im Ruhrgebiet auf Industriekultur und gibt schließlich Denkanstöße, wie Braunkohleregionen nach dem Ausstiegmit ihrer industriellen Vergangenheit umgehen könnten.

Im ersten Beitrag des zweiten Teils macht Jan Kellershohn auf die komplexe Beziehung zwischen dem Braunkohlenbergbau und der Erzeugung von geologischem Wissen aufmerksam. Zum einen habe die Zerstörung von Landschaften durch den Braunkohlenbergbau die Schaffung eines als ›Heimat‹ bezeichneten Raums erst etabliert und die wissenschaftliche Beschäftigung mit demselben begünstigt. Zum anderen sei auch der Kolonialismus ein Auslöser für die Erforschung des heimischen Bodens gewesen, da in den Kolonien neue Erfahrungen gesammelt und Praktiken (beispielsweise zur Auffindung von Wasserquellen) entwickelt wurden, die dann auch in der ›Heimat‹ eingesetzt wurden. Davon etwas losgelöst, identifiziert er zuletzt einen Zusammenhang zwischen dem Wandel der geologischen Wissensproduktion und einem sich ebenfalls veränderten Körperverständnis, vom individuellen und talentierten Forscher hin zu einer ›Wissen‹ schaffenden Gemeinschaft.

Martin Baumert erzählt die Geschichte der Rekultivierung von Flächen, die für den Braunkohlenbergbau genutzt wurden. Er konzentriert sich vor allem auf Forschungsaktivitäten zur Wiedernutzbarmachung in der DDR und attestiert dem ostdeutschen Staat eine führende Rolle in der Entwicklung und Testung neuer Methoden. Die Bedeutung regionaler Verflechtungen für den Braunkohlenbergbau verdeutlicht Benedikt Martin Ertl anhand der strukturpolitischen Rolle des Wackersdorfer Tagebaus und des Wärmekraftwerks bei Schwandorf für die bayerische Energiepolitik. Zwar konnte Wackersdorf nicht mit den großen europäischen Braunkohlerevieren mithalten, war in Krisenzeiten wie nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg jedoch durchaus relevant. Die Bedeutung der Braunkohle für die Energieversorgung in Bayern und für die Reduzierung von Importabhängigkeiten veranschaulicht etwa der Umstand, dass der Ort Wackersdorf 1948 bis 1952 komplett umgesiedelt wurde, um die darunterliegende Braunkohle abbauen zu können. Erst Ende der 1950er-Jahre verlor der Wackersdorfer Tagebau durch die verstärkte Nutzung konkurrierender Energieträger wieder an Bedeutung.

Christian Möller betrachtet den Umgang mit Konflikten um den Braunkohlenbergbau und insbesondere die Umweltfolgen des Tagebaus aus demokratiehistorischer Perspektive. Am Beispiel des Braunkohlenausschuss (BKA), in dem seit 1950 Akteure aus Politik und Unternehmen sowie Betroffene zusammenkamen, untersucht er die Entwicklung korporatistischer Konfliktlösung, aber auch die Grenzen dieses politischen Instruments. War der BKA als Vermittlungsinstanz zwischen Verursachern und Betroffenen zunächst in gewisser Weise erfolgreich, veränderte sich dies im Laufe der Zeit durch veränderte Ansprüche an demokratische Beteiligung etwa infolge der Entstehung von Bürgerinitiativen. Interessant ist in Bezug auf heutige Proteste im Rheinischen Revier, dass die generelle Notwendigkeit des Braunkohleabbaus in den 1950er-Jahren auch von Kritikern noch nicht angezweifelt wurde.

Der dritte Teil des Bandes hat einen ethnologischen Schwerpunkt. Felix Schiedlowski gibt mit zahlreichen Interviewzitaten einen lebendigen Einblick in die Situation der Menschen, die heute im Mitteldeutschen Revier von Strukturwandel und Braunkohleausstieg betroffen sind. Material für seine ethnologische Forschung sammelte er 2020/21 und untersuchte anhand dessen, welche Rolle die Braunkohle in der Orientierung der Menschen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spielt. Er betont, dass man die Erfahrungen von 1989/90 zum Verständnis des Mitteldeutschen Reviers nicht außer Acht lassen könne. Ähnlich ist der Ansatz von Katharina Schuchardt, die im deutsch-polnischen Braunkohlerevier Lausitz ebenfalls ethnologische Feldforschung betrieb. Auch sie bezieht den Faktor Zeit stark in ihre Untersuchung ein. Am Beispiel der Bemühungen im ehemaligen Kurort Opolno Zdrój (Bad Oppelsdorf), die eigene Geschichte im Ort sichtbar zu machen, veranschaulicht sie den Umgang der Menschen in der Region mit dem ungewissen Transformationsprozess. Valeska Flor blickt aus kulturanthropologischer Perspektive auf die Umsiedlungen im Rheinischen Revier und erkennt dabei drei Bewältigungsstrategien zur Verarbeitung der Erlebnisse. Dazu gehören das bewusste Erzählen, was immer auch Selbstreflexion und Identitätsschaffung bedeute, Partizipation, im Speziellen die Beteiligung an der Planung des neuen Ortes, und zuletzt Erinnerungsobjekte wie beispielsweise Straßenschilder der umgesiedelten Ortschaft.

Im vierten und letzten Teil des Bandes kommen Autorinnen und Autoren aus dem musealen Bereich zu Wort. Ein kollektiv von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt verfasster Artikel gibt einen kurzen Einblick in die Geschichte des Geiseltals sowie in eine Auswahl von Funden aus dem dortigen Bergbau, die derzeit in einem großen Projekt mit weiteren materiellen Zeugnissen des Braunkohlenbergbaus erfasst und dokumentiert werden. Danny Könnicke schreibt ein Plädoyer für die Rolle des Museums, das sich aktiv in die Gestaltung der Zukunft einbringen könne, indem es anschaulich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Region miteinander verknüpft. Gerade für die Braunkohleregionen im Strukturwandel erfüllten Museen eine wichtige gesellschaftliche Funktion, weil sie Raum für Diskurse schafften. Jenny Hagemann diskutiert die Historisierung des Braunkohlentagebaus in der Lausitz, die sowohl durch ihre industrielle Geschichte geprägt als auch das Siedlungsgebiet der Sorbinnen und Sorben war und ist. Dass beides untrennbar miteinander verbunden ist und die Lausitz dadurch auch nach Ende des Braunkohlenbergbaus ein »hybrider Raum« sein wird, betont sie als Prämisse für die historische Forschung, aber auch für die aktuelle Welterbeinitiative »Lausitzer Tagebaufolgelandschaft«. Zuletzt gibt Alrun Berger Einblick in ein Projekt des Landschaftsverbands Rheinland »geSCHICHTEN Rheinisches Revier«, bei dem das kulturelle Erbe des Reviers nicht nur mit Blick auf die Braunkohle vermittelt werden soll, sondern andere Transformationen in der Region, beginnend mit der Durchsetzung von Ackerbau und Viehhaltung und endend mit der aktuellen Dekarbonisierung, mit einbezogen werden.

Somit liefert der Band in der Tat zahlreiche Perspektiven auf den Braunkohlenbergbau, von denen allerdings nur die kleinere Zahl einen im engeren Sinne landesgeschichtlichen Ansatz verfolgen. Jeder Beitrag ist für sich lesenswert, einige tragen aber weniger zur wissenschaftlichen Debatte bei, sondern sind vielmehr Aufrufe zum Nachdenken oder informieren über die aktuellen Herausforderungen im Umgang mit dem Braunkohlenbergbau. Die sprachgewandten Kapitelüberschriften (z.B. »Vergangene Gegenwart« und »Gegenwärtige Vergangenheit«) hätten aussagekräftiger sein und präziser den Inhalt des Bandes beschreiben können. Zwar ergibt sich in der Gesamtschau eine gewisse chronologische Einteilung, da zunächst historische Aspekte des Braunkohlebergbaus und anschließend seine historischen Spuren in der Gegenwart und die Frage ihrer künftigen Musealisierung erörtert werden. Doch hätten das inhaltliche Konzept des Bandes und sein Gliederungsprinzip einleitend klarer erläutert werden können. Dennoch erfüllen der Band und die einzelnen Beiträge ihr Ziel und geben Inspiration und viele Antworten auf die komplexe Frage, wie die Geschichte des Braunkohlenbergbaus geschrieben werden kann.

 

Zitierempfehlung

Charlotte Kalenberg, Rezension zu: Jan Kellershohn (Hrsg.), Der Braunkohlenbergbau im 20. und 21. Jahrhundert. Geschichte – Kultur – Erinnerung, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81997.pdf> [27.5.2024].

Olaf Kistenmacher, »Gegen den Geist des Sozialismus«. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik

ça ira | Freiburg/Wien 2023 | 156 Seiten, Französisch Broschur | 23,00 € | ISBN 978-3-86259-146-6

rezensiert von

Mario Keßler, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Rezension als pdf

Vor acht Jahren erschien Olaf Kistenmachers Bremer Dissertation »Arbeit und ›jüdisches Kapital‹. Antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung ›Die Rote Fahne‹ während der Weimarer Republik«.[1] Das Buch wurde in der Fachwelt und der Öffentlichkeit insgesamt positiv rezipiert, obwohl der weitgehende Verzicht auf Archivquellen auffiel. Im nun vorliegenden Buch knüpft der Autor an sein damaliges Forschungsthema an, wechselt jedoch die Perspektive: Nunmehr stehen im Zentrum der Analyse die Kritiker der KPD, insbesondere Anarchisten, aber auch die innerparteiliche Kritik an der, laut Kistenmacher, »Judenfeindschaft« in der KPD.

Das Buch setzt nach einer kurzen Erwähnung der Kommunistischen Arbeiterpartei (KAPD) und ihrer Protagonisten Fritz Wolffheim und Heinrich Laufenberg intensiver erst in der zweiten Phase der KPD-Geschichte ein, im Jahr 1923. Die ersten innerparteilichen Kritiker wie Paul Levi, dem einige antisemitisch gefärbte Schmähungen hinterhergerufen wurden, hatten die Partei da bereits verlassen. Diese hatte sich mit der unvermeidbaren Annahme der 21 Bedingungen der Komintern einem rigiden, mehr noch als von Lenin durch den Komintern-Vorsitzenden Sinowjew geprägten Verständnis von Politik unterworfen. Noch aber war die innerparteiliche Diskussion keineswegs ganz abgetötet, und auch spätere bizarre Politik-Rituale, so der Huldigung der jeweiligen Parteiführer, lagen noch in der Zukunft.

Das Jahr 1923 war ein Schlüsseljahr in der deutschen Geschichte, in der das Schicksal der Weimarer Republik auf der Kippe stand. Die permanente Krisenstimmung führte zur Verstärkung des latenten Antisemitismus, galten doch die Juden nun nicht mehr nur – fälschlicherweise – als Profiteure der Krise und als Kriegsgewinnler, galt die deutsche Republik bei ihren rechten Feinden nicht nur als Judenrepublik, sondern das janusköpfige Zerrbild des jüdischen Kapitalisten und jüdischen Bolschewiken wurde von der rechtsradikalen Propaganda überdimensional aufgeblasen. Die Arbeiterklasse erwies sich noch am ehesten immun gegenüber diesem Propaganda-Monster. Die machtvollen Demonstrationen aller Arbeiterparteien im Jahr zuvor, mit denen sie gegen den Mord am jüdischen Reichsaußenminister Walther Rathenau protestierten, legten davon Zeugnis ab.

Dennoch zeigte sich auch die Linke, insbesondere die von Kistenmacher untersuchte KPD, gegenüber dem Antisemitismus nicht immun. Sie nahm ihn zudem als eigenständige Größe innerhalb der deutschen Gesellschaft nur unzureichend wahr. Hingegen suchte sich die KPD als nationale Kraft im Widerstand gegen Frankreich zu präsentieren und keinen Nihilismus in der nationalen Frage zuzulassen. In diesem Sinne pries Karl Radek den von französischen Truppen im Ruhrgebiet hingerichteten rechtsradikalen Untergrundkämpfer Leo Schlageter als mutigen Soldaten der Konterrevolution, der von den Soldaten der Revolution zu würdigen sei. Radek gab sich überzeugt, dass die große Mehrheit der national empfindenden Massen nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehöre. Daran anschließend öffnete »Die Rote Fahne« ihre Spalten für zwei Beiträge des völkischen Nationalisten Ernst Graf Reventlow, die auch als Broschüre erschienen, gemeinsam mit Radeks Rede sowie Aufsätzen des Kommunisten Paul Frölich (und, wie ergänzt sei, des neokonservativen Nationalisten Arthur Moeller van den Bruck). Dies leitete eine Reihe von Versammlungen ein, auf denen kommunistische und völkische Redner gemeinsam auftraten. Besonders tat sich der KPD-Reichstagsabgeordnete Hermann Remmele hervor, der sich nicht scheute, Anfang August 1923 auf einer Versammlung der NSDAP zu sprechen. »Wie dieser Antisemitismus entsteht«, rief er laut einem Bericht der »Roten Fahne« aus, »kann ich ja sehr leicht begreifen. Man braucht nur einmal auf den Stuttgarter Viehmarkt, nach dem Schlachthof zu gehen, um dort zu sehen, wie Viehhändler, die größtenteils zum Judentum gehören, zu jedem Preise das Vieh aufkaufen, während die Stuttgarter Metzger wieder leer abziehen müssen, weil sie einfach nicht so viel Geld haben, [um] Vieh kaufen zu können. (Sehr richtig! bei den Faschisten.).« (zit. nach S. 33) Wie Kistenmacher detailliert zeigt, verwendete die KPD-Presse den Begriff des »Volkes« als Schlüsselkategorie, um die Zustände in Deutschland anzuprangern. Doch damit desorientierte die KPD die eigenen Genossen, während die nationalistische Rechte nur höhnisch Beifall spendete oder ablehnend reagierte.

Dabei verurteilte die Partei weiterhin den Antisemitismus. Dessen Stoßtrupps bestünden aus deklassierten Offizieren, Studenten, Sekundanern, Lockspitzeln und sonstigem Gesindel, schrieb die KPD-Presse ein um das andere Mal. Die Finanzierung der antisemitischen Hetze würde größtenteils das industrielle und agrarische Großkapital besorgen, das im antisemitischen Lumpenproletariat einen Schutz gegen die soziale Revolution sehe. Doch fanden sich, wie aussagekräftige Illustrationen zeigen, immer wieder auch antijüdische Karikaturen, auf denen etwa zufrieden lächelnde, stereotyp gezeichnete jüdische Kapitalisten einer Nazidemonstration Beifall spendeten (S. 36).

Einigen Raum widmet Kistenmacher Ruth Fischer. Sie machte auf ihrem Weg an die Spitze der KPD vor populistischer Stimmungsmache nicht Halt, wobei sie auch antisemitische Klischees einsetzte. In einer Rede, der kommunistische wie völkische Studenten zuhörten, stellte sie am 25. Juli 1923 fest, wer »gegen das Judenkapital« aufrufe, sei »bereits Klassenkämpfer.« (zit. nach S. 31) Nachdem der Rätekommunist Franz Pfemfert auf diese Rede aufmerksam gemacht hatte, zitierte auch die SPD-Zeitung »Vorwärts« sie und vergaß nicht den Hinweis, dass Ruth Fischers bürgerlicher Name Elfriede Friedländer lautete (S. 40). Der Anarchist Rudolf Rocker warnte davor, solche »Vorgänge in ihrer Tragweite unterschätzen zu wollen. Hier waren furchtbare Kräfte an der Arbeit, die durchaus nicht harmlos sind, sondern eine furchtbare Gefahr für die allernächste Zukunft dieses Landes bedeuten.« (zit. nach ebd.) Der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler, von seinen innerparteilichen Gegnern als Rechter bezeichnet, suchte ebenso wie August Thalheimer und Clara Zetkin dieser bedrohlichen Entwicklung entgegenzuwirken. So schrieb Clara Zetkin Ende März 1924 aus Moskau an den bevorstehenden IX. Parteitag der KPD: »Die radikalisierten Parteimassen werden zum größten Teil von revolutionären Gefühlen und Stimmungen beherrscht, sie sind grundsätzlich nicht geschult, nicht klar und fest. Die ›linke‹ Parteimehrheit vereinigt brüderlich reichlichst KAPisten, Syndikalisten, Antiparlamentarier, bei Lichte besehen – horrible dictu – sogar Reformisten und neuerdings – faschistische Antisemiten.« (zit. nach S. 51)

All dies bewies die völlige Unterschätzung des Antisemitismus, auch des akademischen Rechtsradikalismus, durch Teile der KPD. Beide Arbeiterparteien, auch die SPD, reagierten recht spät auf das Pogrom gegen jüdische Kleinhändler und Subproletarier Anfang November 1923 im Berliner Scheunenviertel. Die Erfahrung der jüngsten Geschichte hätten indes gerade die KPD mahnen sollen: Die Revolution von 1918/19 war zur Geburtsstunde der mörderischen Losung vom »jüdischen Bolschewismus« geworden. Antikommunismus und Antisemitismus gingen seitdem Hand in Hand. Doch die Mystifizierung der angeblich nur irregeleiteten, doch potentiell revolutionären Massen vernebelte nicht nur Ruth Fischer und ihrem damaligen Bündnispartner Hermann Remmele den Blick. Mit dem Parteiausschluss der von Ruth Fischer angeführten Richtung traten ab 1925 die antisemitischen Stimmen innerhalb der KPD zurück, ohne ganz zu verstummen. Clara Zetkins Befürchtungen bewahrheiteten sich jedoch nicht. Denn anders als in der Sowjetunion, deren innere Entwicklung Kistenmacher in gebotener Kürze behandelt, wurde der Antisemitismus innerhalb der KPD kein Mittel in Fraktionskämpfen.

In der existentiellen Krise der Weimarer Republik ab 1929/30 verhielt sich die KPD zunächst auffallend defensiv gegenüber der von den Nationalsozialisten verbreiteten Behauptung, sie sei jüdisch durchsetzt und ihr Marxismus ein von Hebräern ausgeklügeltes Instrument zur Zersetzung der germanischen Rasse. Die KPD sah im Judenhass nur ein nazistisches Ablenkungsmanöver. Hitlers Antisemitismus sei nicht genuin, sondern lediglich ein Schwindel. Jüdische Bankiers seien ebenso wie »arische« Unternehmer Nutznießer des Hitlerfaschismus, denn Kapital bleibe Kapital. All dies zeigte erneut die Ignoranz der Partei gegenüber den vielschichtigen Dimensionen des Judenhasses.

Am weitesten entfernt schien jedoch die Auseinandersetzung zwischen Juden und Arabern in Palästina. Der erste arabisch-jüdische Bürgerkrieg in Palästina, der im August 1929 Hunderte von Menschenleben auf beiden Seiten kostete, war für die KPD-Führung der einzige Anlass, zum politischen Zionismus Stellung zu nehmen. Am 24. und 25. Oktober 1929 behandelte das Zentralkomitee der KPD die Ereignisse. Im Referat zum Tagesordnungspunkt gab Hermann Remmele zu, »innerhalb der Partei« sei wenig Kenntnis darüber vorhanden, welche Rolle in Palästina die Komintern spiele. »Unsere Partei« habe »in Palästina 160 Mitglieder, davon 30 Araber, die anderen 130 Zionisten.« Deswegen sei es ganz klar, dass die KP Palästinas »nicht eine solche Einstellung haben kann, wie sie dem Gesetz der Revolution entspricht. Gerade das unterdrückte Volk, jene Schicht des Volkes, die das revolutionäre Element, den Verhältnissen entsprechend, überhaupt ausmachen kann, sind nur die Araber.« (zit. nach S. 103) Ganz abgesehen von der pauschalen Kategorisierung von »Juden« und »Arabern« ohne Verweis auf die Klassenlage bestürzt in Remmeles Referat vor allem die Unterstellung, die jüdischen Parteimitglieder seien Zionisten. Auch ohne Kenntnis der inneren Lage der illegal arbeitenden KP Palästinas hätte ein Blick in die »Inprekorr«, die internationale Zeitung der Komintern, genügt, um zu sehen, dass gerade die jüdischen Kommunisten inner- wie außerhalb Palästinas die schärfsten Gegner des Zionismus waren. Die Uninformiertheit, aber wohl auch Desinteresse und mangelnde Sensibilität der ZK-Mitglieder an dieser für die internationale Politik wahrlich nicht peripheren Problematik zeigte sich darin, dass niemand diesen falschen Aussagen widersprach. »Aus Zeitgründen« fand keine Diskussion darüber statt. Die Palästina-Berichte der»Roten Fahne« waren entsprechend einseitig. Da es im Buch um die Kritik der KPD-Politik geht, wäre hier ein Blick auf sozialdemokratische und oppositionell-kommunistische Publikationen geboten gewesen, in denen diese Probleme oftmals weit klarer wahrgenommen wurden.

Das Buch vermittelt ein plastisches Bild der widersprüchlichen Haltung der KPD zum Antisemitismus. Dennoch erscheint dem Rezensenten der Terminus »Judenfeindschaft« hier übertrieben. Die KPD wies, wie auch die SPD, alle rassistischen Deutungen der sogenannten jüdischen Frage zurück, die die zeitgleich im bürgerlichen politischen Spektrum immer mehr an Boden gewannen. Die jüdische Frage war für die Arbeiterparteien die Frage nach gleichberechtigter Teilhabe der Juden am Leben Deutschlands. Es war deshalb logisch, dass Hitler und die Seinen zuerst die Arbeiterbewegung zerschlagen mussten, bevor sie an das grauenvolle ›Werk‹ der Judenvernichtung gingen.

 

Zitierempfehlung

Mario Keßler, Rezension zu: Olaf Kistenmacher, »Gegen den Geist des Sozialismus«. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik, ça ira, Freiburg/Wien 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81990.pdf> [27.5.2024].

 

[1]Olaf Kistenmacher, Arbeit und »jüdisches Kapital«. Antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung »Die Rote Fahne« während der Weimarer Republik, Bremen 2016.

Sylvia Köchl, Delikt Abtreibung. Frauenarmut, ungewollte Schwangerschaften und illegale Abbrüche

Mandelbaum | Wien 2024 |  254 Seiten, Broschur | 22,00 € | ISBN 978399136-043-8

rezensiert von

Susanne Krejsa MacManus, Wien

Rezension als pdf

Zum besseren Verständnis zuerst die rechtlichen Voraussetzungen: Der Schwangerschafts- abbruch unterliegt in Österreich auch im Jahr 2024 noch dem Strafgesetzbuch und kann laut Paragraph 96 mit Gefängnis bestraft werden. Jedoch gilt seit 1. Januar 1975 die so genannte Fristenlösung. Nach Paragraph 97 des Österreichischen Strafgesetzbuchs ist demnach die Tat nicht strafbar, »wenn der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft nach vorhergehender ärztlicher Beratung von einem Arzt vorgenommen wird; oder […] wenn der Schwangerschaftsabbruch zur Abwendung einer nicht anders abwendbaren ernsten Gefahr für das Leben oder eines schweren Schadens für die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren erforderlich ist oder eine ernste Gefahr besteht, daß das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde, oder die Schwangere zur Zeit der Schwängerung unmündig gewesen ist […].«[1] Zur Klarstellung: Als Beginn der Schwangerschaft versteht das Strafgesetzbuch den Tag der abgeschlossenen Einnistung des befruchteten Eies.

Ob man es hören mag oder nicht: Die Natur will sich fortpflanzen, durchschnittlich 15 Schwangerschaften pro Frauenleben sind ›natürlich‹ bzw. ›naturgewollt‹. Mangels sicherer und zugänglicher Verhütungsmittel fanden Abtreibungen entsprechend häufig statt. Der Nationalratsabgeordnete Gustav Zeilinger bemerkte beispielsweise 1955 im Budgetausschuss des Österreichischen Parlaments: »Da an jeder Abtreibung etwa drei Personen beteiligt sind, begehen in Österreich rund 600.000 Personen im Jahr ein Verbrechen. Das bedeutet, dass in neun Jahren das ganze Bundesvolk - mit Ausnahme der Kinder - dieses Verbrechen begeht.«[2]

Nun legt Sylvia Köchl, Politikwissenschafterin und Journalistin in Wien, eine gründliche Aufarbeitung des Themas »Verbotene Abtreibung« vor. Aus biografischen Gründen, aus schierer Neugier und als linke Feministin gilt ihr spezielles Interesse der Situation derjenigen Frauen, die sich keine ärztliche Abtreibung leisten konnten und deren Lebenssituationen aufgrund sozialer Herkunft, fehlender (Aus)Bildung und anderer Umstände (etwa häuslicher Gewalt) prekär waren. »Arme Frauen […] konnten Schwangerschaften und Abtreibungen schon allein aufgrund ihrer Lebens- und Wohnsituationen ›schlechter verbergen‹ und mussten aus finanziellen Gründen zu Abtreiber*innen in der Nähe gehen […]. So gerieten die ungewollt Schwangeren wie auch die Abtreiber*innen schnell in den Fokus der Polizei.« (S. 11)

Wie viele Strafverfahren es zu verbotenen Schwangerschaftsabbrüchen bzw. zu Neugeborenen- tötungen (im Sinne verschleppter Abtreibungen) gab, ist nicht erfasst. Im Verhältnis zur riesigen Anzahl der durchgeführten Abtreibungen waren es aber wenige. Für das Jahr 1955 finden sich im Wiener Stadt- und Landesarchiv 582 Akten unter den Stichworten »Abtreibung« bzw. »Kindsmord«, für das Jahr 1965 22 Akten zu den Stichworten »Abtreibung«, »Kinderleiche« bzw. »Säugling«. Für diese niedrigen Zahlen gibt es mehrere Gründe: einerseits die erfolgreichen Selbstabtreibungen, andererseits die auch von medizinischen Gutachtern anerkannte Geschicklichkeit und Fürsorglichkeit der Abtreiber*innen.[3] Und schließlich: Gerüchten oder Verdachtsfällen wurde in vielen Fällen gar nicht nachgegangen, denn auch die Gendarmen und die ganz überwiegend männlichen Mitglieder der Polizei sind Väter, Ehemänner, Liebhaber, haben Freundinnen, Töchter, Frauen, Mütter, Tanten und andere weibliche Familienmitglieder oder Bekannte, die im Fall einer ungewollten Schwangerschaft auf Tipps angewiesen waren.

Köchl stellt aus dem Zeitraum von 1923 bis 1974 anhand von Gerichtsakten 49 Gerichtsfälle aus unterschiedlichen Siedlungsbereichen Wiens sowie aus den benachbarten Bundesländern Niederösterreich und Burgenland vor. Sie breitet die Fakten aus, legt die Begleitumstände dar, schildert den zeitlichen Kontext und ergänzt um ausführliche Lesetipps, Erläuterungen und Erklärungen. Das Buch ist trotz aller Dramatik des Dargestellten gut lesbar, sogar spannend – wenngleich das in diesem Zusammenhang herablassend klingen mag, schließlich handelt es sich ja nicht um einen Unterhaltungskrimi. Tatsächlich gehen die ›unterhaltsamen‹ Details in meinen Augen zu weit: Mit personenbezogenen Informationen sollte man sensibler umgehen und es den Familien bzw. Nachkommen überlassen, ob sie die Identifizierbarkeit ihres Familienmitgliedes/ ihrer Familienmitglieder gestatten. Erfahrungsgemäß ist es für Familien mitunter schmerzhaft, über Abtreibungen oder Neugeborenentötungen zu sprechen, auch wenn das Geschehen schon länger zurückliegt.

Vor der Darstellung der individuellen Gerichtsakten beschreibt die Autorin ausführlich ihren Weg der Materialsammlung aus dem Wiener Stadt- und Landesarchiv sowie dem Straflandesgericht, ferner den Aufbau der gefundenen Unterlagen, den daraus gelernten Ablauf der Gerichtsverfahren und die Hierarchie der beteiligten Personen. Sie schildert die Argumentationen vor Gericht, die Urteilsfindung und die Gefängnissituationen. Die genaue Angabe der Aktensignaturen macht das Material für weitere Forschung auffindbar. Allerdings kann Köchls Verzicht auf eine Unterteilung ihres langen Untersuchungszeitraums leicht zu Verwirrung führen. Zumindest die NS-Zeit stellte eine so wesentliche Unterbrechung und eine Veränderung aller Werte dar, dass eine Unterteilung ratsam gewesen wäre.

Präzise beschreibt Köchl die Methoden und Begleitumstände der Abtreibungen, was ihr Buch auch für thematisch Versierte wertvoll macht. Heimliche Selbstabtreibungen führten seltener zu Aufdeckungen, nur dann, wenn jemand sie ausplauderte (mitunter aus Rache), oder wenn es zu Selbstverletzungen kam, die eine Spitalsbehandlung nötig machten. Die Autorin hat auch die Suche nach Abtreiber*innen, den Umgang mit ihnen und die Art der Geschäftsbeziehungen untersucht: »Wer nicht selbst eine Abtreiberin kannte, kannte andere, die etwas wussten. Es kursierten praktisch überall Informationen darüber: innerhalb von Familien, unter Freund*innen, Nachbar*innen, Schüler*innen und Arbeitskolleg*innen – und an diesem Austausch waren sowohl Frauen als auch Männer rege beteiligt. Frauen, die bereits Kinder hatten, wandten sich in der Regel als Erstes ratsuchend an ihre Hebammen.« (S. 66)

Die Autorin deklariert, wie gesagt, ihre politische Position, die sowohl ihre Wortwahl als auch ihre Auswahl der Quellen erklärt. Anderes ist unverständlich: Warum erwähnt sie lediglich ein einziges Mal und nur in einer Fußnote das Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch (MUVS) in Wien, das seit rund 20 Jahren Unmengen von Objekten, Büchern und Dokumenten zusammengetragen hat? Schwer vorstellbar, dass die Autorin niemals einen Blick riskiert hat, um ihr Wissen zu erweitern oder ihre Vermutungen zu überprüfen, beispielsweise zu den erwähnten »Schautafeln«, auf denen die gängigen Abtreibungsinstrumente dargestellt waren, damit die Beamten bei den Ermittlungen wussten, worauf sie achten sollten (S. 122). Unsachlich und unnötig ist die Anprangerung und Ausgrenzung des Wiener Gynäkologen Christian Fiala wegen seines kritischen Hinterfragens der Maßnahmen während der Corona-Pandemie (S. 7), weil sich daraus kein Zusammenhang mit seinem Engagement für die Freigabe der Abtreibung, für die Kostenübernahme von Verhütung und Abtreibung sowie zu seinen Forschungen für die laufende Verbesserung von Abtreibungsmethoden erkennen lässt. Und mit dem Terminus »Abtreibungsarzt« übernimmt sie die abwertende Diktion der religiösen Fundamentalisten, gegen deren Aktivitäten sie sich ja eigentlich wendet. Hier scheint Köchl persönliche Antipathien über die Tatsache gestellt zu haben, dass die beiden eigentlich in so vielen Punkten am selben Strang ziehen.

Sylvia Köchl hat ihre Untersuchungen mit Akribie und Sachverstand durchgeführt. Da passieren auch manchmal kleine Fehler, etwa ihre Wortschöpfung »Skartierungslisten« (S. 14), mit der sie die Arbeitsprotokolle des Wiener Stadt- und Landesarchivs meint. Der Embryo gilt medizinisch erst ab der elften Schwangerschaftswoche als »Fötus« – und nicht bereits ab der neunten Schwangerschaftswoche (S. 94). Diese Kritik soll Köchls verdienstvolle Arbeit in keiner Weise kleinreden, aber Leserinnen und Leser bei eigenen Forschungsvorhaben vor vermeidbaren Irrtümern und Sackgassen bewahren.

Viele Menschen versuchen, so viel wie möglich über ihre Vorfahren herauszufinden. Nicht selten klaffen aber Lücken, die Rätsel aufgeben. Warum ›verschwand‹ eine Tochter oder Frau? Warum war die Reihenfolge der Geburten offenbar ›gestört‹? Warum gab es unerklärliche Selbstmorde in frühem Alter etc.? Doch Abtreibungen und Neugeborenentötungen wurden in den meisten Familien totgeschwiegen, sodass Familienforscher*innen diese Möglichkeit gar nicht bewusst ist. Sie werden bei der Lektüre von Köchls Buch ein großes Aha-Erlebnis haben, weil sich plötzlich eine mögliche Erklärung für das Fehlende eröffnet. Dies ist nur eine der Zielgruppen, die großen Gewinn aus Köchls Buch ziehen werden. Die einfühlsame Beschreibung der Lebensumstände armer Frauen in Notlagen eröffnet Einblicke, die ansonsten nur schwer zugänglich sind: Wie haben ›Arme‹ gelebt – und vor allem arme Frauen? Köchls Buch gibt wertvolle Antworten.

 

Zitierempfehlung

Susanne Krejsa MacManus, Rezension zu: Sylvia Köchl, Delikt Abtreibung. Frauenarmut, ungewollte Schwangerschaften und illegale Abbrüche, Mandelbaum, Wien 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81991.pdf> [27.5.2024].

 

[1] Zit. nach URL: <https://www.jusline.at/gesetz/stgb/paragraf/97> [15.5.2024].

[2] Zit. nach Austria Presse Agentur, Meldung 1.182 vom 25.11.1955.

[3] Vgl. Katharina Riese, In wessen Garten wächst die Leibesfrucht. Das Abtreibungsverbot und andere Bevormundungen, Wien 1983, S. 113 (dort Zitat: »Keine von den Frauen ist ernsthaft erkrankt, die Vorsicht ging so weit, daß bei den auswärtigen Fällen eigene Blutstillungsmittel mitgegeben wurden […].«).

Gerhard Paul, Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte

wbg Theiss | Darmstadt 2023 | 600 Seiten, gebunden | 60,00 € | ISBN 978-3-8062-4615-5

rezensiert von

Miriam Zlobinski, Berlin

Rezension als pdf

Rechtzeitig zum 75. Geburtstag der Bundesrepublik nähert sich mit Gerhard Paul ein renommierter Vertreter der Visual History ihrer Bilderwelt an. Seine zahlreichen Publikationen, darunter das Opus Magnum »Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel« mit 760 Seiten und über 900 Abbildungen, belegen eindrucksvoll sein weit reichendes Verständnis von Visualität.[1] Paul definiert die Visual History als ein Forschungsfeld, dass »Bilder in einem weiten Sinne sowohl als Quellen als auch als eigenständige Gegenstände der historiografischen Forschung betrachtet und sich gleichermaßen mit der Visualität von Geschichte wie mit der Historizität des Visuellen befasst.«[2] Der nun vorliegende Band umfasst 75 Jahre Geschichte und bietet auf 600 Seiten mit über 500 Abbildungen abermals eine umfangreiche Materialsammlung. Herausgekommen ist eine vielschichtige Zwischenbilanz der bundesrepublikanischen Bilderwelt.

Die visuelle Geschichte der Bundesrepublik zwischen zwei Buchdeckeln manifestieren zu wollen, legt den Versuch einer Kanonbildung nahe. Paul beginnt jedoch die Geschichte im Sprachbild des Familienalbums und vermittelt dadurch eine besondere Nähe zum Untersuchungsgegenstand: »Die Geschichte unserer alten Dame ist in einem Album mit vielen schwarz-weißen und noch mehr farbigen Bildern festgehalten.« (S.15) Der Autor, Jahrgang 1951, kann und will sich seiner visuellen Zeitzeugenschaft nicht entziehen. So stellt Paul gleich zu Anfang fest, dieses Buch sei »keine Widerspiegelung der Bildgeschichte der Republik und schon gar keine repräsentative.« (S.18) Zugleich verweist der Einstieg indirekt auf die kritische Sichtweise des Historikers Habbo Knoch, der 2009 seine Thesen zum »kollektiven Bildhaushalt« der Bundesrepublik als »Album mit Unschärfen« betitelte.[3]

Paul greift für die Gliederung seines Bandes auf politische Intervalle zurück und teilt die betrachteten 75 Jahre in »Bonner Republik« (bis 1989), »Berliner Republik« (ab 1990) und »Ampelrepublik« (ab 2021) ein. Die ersten beiden Intervalle entsprechen gängigen Zäsursetzungen in der Zeitgeschichte. Die »Ampelrepublik« erscheint noch ohne historischen Abstand als weitere Zäsur im Buch. Laut Autor verkörpert die »Ampelrepublik« neue »Identitätspunkte« wie »die ökologische Transformation der Wirtschaft, eine neue feministische Außenpolitik, eine antikoloniale Identität sowie Diversität und geschlechtliche Gleichstellung.« (S.17) Thematisch verfolgt der Autor die Geschichte der Bundesrepublik auf drei Ebenen: der »ästhetischen Selbstdarstellung der jeweiligen Republik«, »der Geschichte der bildenden Kunst, der Kunstfotografie und der technischen und elektronischen Bildmedien« sowie der »Bildpraxen«. Dieser Ansatz verweist laut Autor auf den Zusammenhang zwischen den betrachteten Medien und der »kollektiven Identitätsfindung und -bildung« (S.16). Paul versteht die visuelle Geschichte als eine umfassende Bilderwelt, die sich aus Kunstwerken, Bauwerken und verschiedenen Medien wie Fotografien, Plakaten, Film-Stills, Printmedien, Fernsehbildern und Plattformbildern zusammensetzt. So zeigt das Buch zugleich, wie sich die medialen Techniken im Laufe der Jahrzehnte verändert haben und in welchem Neben- und Miteinander verschiedene mediale Einflüsse stehen: vom Plakat und der Zeitung über das Fernsehen bis zum digitalen Zeitalter in einer Welt omnipräsenter Medien. Paul stützt sich hierfür auf Ausstellungskataloge und einschlägige Bildarchive, auf tagesaktuelle Berichterstattung in Print und Fernsehen sowie auf seine eigene stattliche Bildersammlung.

Besonders interessante Zusammenhänge zwischen Bild und Symbolik, technischen Entwicklungen und Publikationsformen ergeben sich für den Zeitraum der Bonner Republik. Hier greift Paul auf die von der Visual History katalysierten Forschungsansätze zur Film-, Fernseh- und Fotogeschichte zurück. Dabei werden unterschiedliche Ebenen der Bildanalyse aufgezeigt. Das Bildmaterial dient zum einen als Quelle für die Verortung gesellschaftlicher Normen und Vorstellungen. Zum anderen schreibt Paul auch eine Beziehungsgeschichte der zeitgenössischen Visualitäten, indem er u.a. auf Funktionen und Bedingungen der jeweiligen Medien eingeht. Ein gutes Beispiel dafür ist das Kapitel »Vom Zuschauer zum Teleflaneur« (S. 124-160). Entsprechend haben die verwendeten Abbildungen im Buch teils eher illustrativen, teils einen belegenden und teils einen eigenständigen Objektcharakter mit kontextualisierenden Qualitäten. Dabei lässt sich fragen wie »jugendlich, braungebrannt« Willy Brandt nun wirklich war, wenn die Rezensentin im Buch auf vier Schwarz-Weiß-Fotografien und ein dezent koloriertes Wahlplakat eines gestandenen Herren schaut, dessen Gesicht hier eher den Farbton »Eierschale« hat (S.49). Eine Petitesse der Bildredaktion oder treffen hier bereits unterschiedliche Bildgedächtnisse aufeinander?

Eine besondere Stärke des Buches besteht darin, zeitgenössische Sichtweisen und übergeordnete Betrachtung mithilfe von lokalen und persönlichen Beispielen zu verknüpfen. Die visuelle Geschichte der Bundesrepublik lebt von symbolhafter Visualität einzelner Motive wie ganzen Konzepten der Darstellung. Dies fließt bei Paul in das Buch ein, indem er in 21 Einzelanalysen nah am Objekt den symbolischen Gehalt der Bilder und dessen Verschiebungen unter verschiedenen Aspekten erörtert. So wird etwa das HB-Männchen zwischen den rauchenden heroischen Darstellungen von Camel und Marlboro eingeordnet (S.196). Das Atom-Ei von Garching wiederum diente in der Modefotografie und auf Wahlplakaten als »Fortschrittsikone« und architektonischer Hinweis auf eine bessere Zukunft, bevor der Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 zu einer Umdeutung führte (S.189-191). Auch ein Bild aus Pauls eigenem Familienalbum findet sich unter den Beispielen. Das unverfängliche Familienbild zeigt eindrucksvoll, wie selbst aus Familienfotos die Spuren des Nationalsozialismus verschwanden. Das unbeschnittene Original zeigte ein Hitler-Porträt an der Küchenwand, im überlieferten Familienalbum verschwand dieser Teil des Fotos (S.107). Bereits in den Publikationen »Bilder einer Diktatur« und (gemeinsam mit Michael Wildt) im Band »Nationalsozialismus« der bpb-Reihe »Zeitbilder« hatte Paul vor der Schablone der weiterlebenden propagandistischen Bilderwelt eindrucksvoll gezeigt, dass und wie Bilder eine eigene Realität generieren.[4]

Während Paul seinen Untersuchungsgegenstand inhaltlich mit der »Ampelrepublik« bis an die unmittelbare Gegenwart heranführt, bleiben jüngere methodische und bildethische Debatten im Buch unerwähnt, obwohl sich etwa künstlerische Interventionen an kolonialen Bildbeständen mittlerweile etabliert haben. Gerade bei den neueren Beispielen zieht das Erzähltempo an, zu Lasten der konkreten Kontextualisierung am Bild. Verkürzt wirkt etwa Pauls Argumentation im Fall der Politikerin Aminata Touré, die laut ihm zum »personalisierten Ausdruck« eines »neuen Diversity-Diskurses« wurde (S.524f.). Gezeigt wird das Vogue-Cover mit ihrem Porträt; doch eine Thematisierung von Selbstermächtigung im Bild, der Tradition der Politikerinnen-Darstellung, der Fotografin oder der Symbolkraft dieses Aktes, wie sie durch die Besprechungen zum Vogue-Cover von Kamala Harris vielen Leser*innen noch präsent sein mag, findet nicht statt. Eine Betrachtung oder ein Kommentar zur visuellen Darstellung von schwarzen Bundesbürger*innen fehlt.

Das Buch »Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte« ist weitaus vielschichtiger, als es ein Jubiläumsrückblick gemeinhin verspricht, und bietet eine beeindruckende Materialfülle. Die kontextualisierenden Darstellungen im Sinne einer Visual History überzeugen vor allem für Medien wie Fotografie und Fernsehen, insbesondere im Bereich der politischen Darstellungskonventionen. Pauls Wissens und Leistung sind beeindruckend. Aus der Perspektive der jüngeren Forschung lässt die gewählte Betrachtung aber auch Bedürfnisse offen. So benennt Paul etwa selbst die Unterrepräsentation von Arbeitsmigrant:innen in der Bundesrepublik (S. 103), präsentiert jedoch selbst auch keine Fotograf:innen aus eben dieser Gruppe, obwohl private Fotopraktiken ebenso wie künstlerische Ausdrücke existieren. Spätestens wenn über die Zeit der »Ampelrepublik« gesprochen wird, sind auch Diskurse über Plattform-Algorithmen, »For you-Pages« (FYP) und Meme-Kultur unumgänglich. Hier scheinen die traditionellen Methoden der Bildanalyse kaum noch aussagekräftige Rückschlüsse für ein einzelnes Land zuzulassen. Inwiefern eröffnet die Visual History auch Perspektiven für eine nicht mehr rein national zu fassende Mediengesellschaft? Und in Anbetracht der zu Beginn vom Autor eingeräumten Subjektivität wäre schließlich ein selbstreflexives Fazit nützlich gewesen zur Beantwortung der Frage, wie die eigene Zeitzeugenschaft die Arbeit von Historiker:innen an der visuellen Geschichte beeinflusst.

 

Zitierempfehlung

Miriam Zlobinski, Rezension zu: Gerhard Paul, Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte, wbg Theiss, Darmstadt 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81992.pdf> [27.5.2024].

 

[1]Gerhard Paul, Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen 2016.

[2]Ders., Visual History. Version 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.3.2014, URL: <http://docupedia.de/zg/paul_visual_history_v3_de, 2014> [15.5.2024].

[3]Habbo Knoch, Album mit Unschärfen, 18.5.2009, URL: <https://www.boell.de/de/demokratie/zeitgeschichte-6780.html> [15.5.2024].

[4]Gerhard Paul, Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des »Dritten Reiches«, Göttingen 2020; ders./Michael Wildt, Nationalsozialismus. Aufstieg – Macht – Niedergang – Nachgeschichte, Bonn 2022.

Olga Sparschuh, Fremde Heimat, fremde Ferne. Italienische Arbeitsmigration in Turin und München 1950–1975

Wallstein Verlag | Göttingen 2021 | 718 Seiten, gebunden | 74,00 € | ISBN 978-3-8353-5012-0

rezensiert von

Christoph Lorke, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

Rezension als pdf

Das Buch beginnt mit einer Gegenüberstellung: Die Ankunftserfahrungen an den Bahnhöfen Turin und München, an denen Menschen aus dem Süden Italiens eintrafen, dem sogenannten Mezzogiorno oder Meridione – jenem Teil des Landes also, der Regionen wie Apulien, Kampanien, Basilikata, Kalabrien oder die Inseln Sizilien und Sardinien umfasst. In Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs in den Zielregionen kamen zahlreiche Menschen aus Süditalien in die Industriezentren Europas nördlich der Alpen (Frankreich, Schweiz, Bundesrepublik) oder in das industriell geprägte Dreieck aus den norditalienischen Städten Genua, Mailand und Turin. Schätzungsweise neun Millionen Italiener migrierten zwischen Mitte der 1950er- und den frühen 1970er-Jahren innerhalb Italiens; noch einmal etwa zwei Millionen wanderten in dieser Zeit in die Bundesrepublik aus. Diesen Befund nimmt Olga Sparschuh in ihrer Dissertation zum Anlass, die Bedingungen und Ausformungen dieser Migrationsbewegungen analytisch miteinander zu vergleichen. Eine solche Annäherung an das Thema erscheint zunächst ungewöhnlich, erweist sich jedoch als ein innovativer und weiterführender Zugriff – denn beide migrantischen Gruppen wurden an ihrer neuen Wirkungsstätte als »Fremde« begriffen. Auch bei einer Binnenwanderung innerhalb Italiens mussten nicht allein geographische, sondern immer auch teils erhebliche soziale und kulturelle Grenzen überschritten werden. Obwohl die Menschen hier inländische Arbeiter, dort ausländische »Gastarbeiter« waren, erscheinen folglich ihre Lebenswirklichkeiten und ihre Verständnisschwierigkeiten in der »Fremde« als durchaus vergleichbar.

Mit Turin und München nimmt Sparschuh zwei europäische Großstädte in den Blick, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges große Bevölkerungszunahmen erlebten: Turin, wichtigstes Ziel der inneritalienischen Binnenmigration, wuchs zwischen 1951 und 1961 von 719.000 auf über eine Million Einwohner, München im selben Zeitraum von 855.000 auf ebenfalls knapp über eine Million. Waren unter den Bewohnern von Turin schon 1971 mehr als ein Viertel im Mezzogiorno oder auf den Inseln geboren worden, betrug die Zahl der italienischen Arbeitnehmer in München im Jahr 1974 knapp 30.000 Menschen. In beiden Städten herrschte ein großer Bedarf an industriellen Arbeitskräften, allen voran in der Automobilindustrie (FIAT, BMW, MAN) und anderen Zweigen der Schwerindustrie.

Sparschuh nähert sich ihrem Untersuchungsgegenstand auf einer breiten Quellgrundlage. Knapp 20 Archive in München, Turin und Rom wurden konsultiert, um die kommunale, die staatliche, die betriebliche, die kirchliche und die gewerkschaftsnahe Überlieferung zu rekonstruieren. Auf dieser Grundlage entwirft das Buch in zwei Abschnitten mit insgesamt fünf Kapiteln, deren Befunde jeweils in einer Zwischenbilanz resümiert werden, ein facettenreiches Bild unterschiedlicher Lebensbereiche der Migranten, wie Arbeit, Freizeit, Konsum und Wohnen.

Zunächst werden im Abschnitt »Ankunft« die jeweiligen Migrationsregime auf das Funktionieren ihrer Steuerungs- und Kontrollversuche hin analysiert, wozu rechtliche Regelungen ebenso wie städtische Handlungspraktiken gezählt werden. Besonders auffällig sind dabei die Unterschiede bei der Arbeitsvermittlung: Waren die Wege in die Bundesrepublik nicht zuletzt durch das Anwerbeabkommen von 1955 »geregelter« (wobei Arbeitsmigranten bestehende Lücken durchaus für ihre Interessen nutzen konnten), spielten bei der Binnenmigration personelle Netzwerke und die Kettenmigration eine bedeutsame Rolle. Das Ergebnis war, dass sich Arbeitsmigranten in der Binnenmigration oftmals in einer »semilegalen Randposition der Gesellschaft« (S. 97) befanden. Parallelen zwischen Turin und München gab es dagegen beispielsweise beim grundsätzlichen Umgang der amtlichen Akteure mit der Migration: Dominierte zunächst das Streben nach Regulierung, setzte ab den 1960er-Jahren ein Wechselspiel aus Liberalisierung (EWG-Freizügigkeit) und Kontrollwünschen ein. Zugleich wurde Migration hier wie dort seit den ausgehenden 1960er-Jahren zunehmend in gesellschaftlichen Debatten problematisiert. Auffällig ist ein ähnliches Reagieren der Kommunen auf die Herausforderung der Migration, wobei es sich an beiden Orten immer an den lokalen Erfordernissen orientierte. Je nach Bedarf wurden liberalere oder restriktivere Maßnahmen ergriffen, die nicht immer im Einklang mit nationalen oder europäischen Vorkehrungen stehen mussten. Einengender als in München war in Turin sicherlich, dass sich die Migranten dort aufgrund eines Gesetzes aus faschistischer Zeit nicht ohne Weiteres niederlassen durften, es sei denn, sie besaßen ein Arbeitsangebot.

Ein weiteres Kapitel im Abschnitt »Ankunft« behandelt die zeitgenössischen Vorstellungswelten. Hier widmet sich die Autorin den Wissensbeständen und Alltagsrealitäten, aber auch den Identitäten sowie den Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Migranten. Die Ankunftsbedingungen waren in beiden europäischen Metropolen von überkommenen Klischeevorstellungen über »Nord« und »Süd« bzw. »Stadt« und »Land« geprägt. Diese schlugen sich auch in der Presseberichterstattung und in Teilen der Bevölkerung nieder, wobei laut Sparschuh in Turin eine Regionalisierung bzw. (Sub-)Nationalisierung von Zuschreibungen vorgeherrscht habe. Sparschuh beschreibt die Problemwahrnehmung in der italienischen Presse als tendenziell größer als in der bundesrepublikanischen Presse, wo zunächst eine Willkommenshaltung dominierte, die (ungeachtet von topischen Verweisen auf Kriminalität und andere, ähnlich abwertende Deutungsmuster) grundsätzlich im Vergleich positivere, von Tourismus und Gastronomie geformte Interpretationen bereithielt und in eine »Art Neuerfindung« (S. 257) der Migranten mündete. Interessant ist dann auch der Vergleich für die weiteren Jahre: Während Italiener in München im Laufe der Jahre in ihrer quantitativen Bedeutung allmählich von Türken und Jugoslawien abgelöst wurden und sich ihr Image dabei retrospektiv verbesserte, blieb die negative Wahrnehmung der Migranten in Turin im Großen und Ganzen konstant.

Der zweite Teil (»Lebensbereiche«) gliedert sich in drei Kapitel: Zunächst werden Beschäftigungsmodi und Arbeitswelten der Migranten vorgestellt. Darunter werden unter anderem der Fabrikalltag und Konflikte am Arbeitsplatz, aber auch politische Partizipationsmöglichkeiten im Betrieb, konkret durch die Mitarbeit in Gewerkschaften, sowie Protestverhalten und Streiks gefasst. Letztere waren in Zeiten von Vollbeschäftigung noch weniger problematisch, was sich aber im Zuge der in Turin wie München spürbaren Rezession von 1966/67 und späterer Krisen in den frühen 1970er-Jahren änderte. Dabei zeigten sich die Gewerkschaften im Umgang mit migrantischen Streikaktionen hin- und hergerissen zwischen Solidarität mit den ausländischen Kollegen und der Berücksichtigung der Stimmung unter ihren ›eigenen‹ Arbeitern. Relevant waren für die Migranten auch Aufstiegsversprechen durch betriebliche oder kommunale Angebote der Aus- und Weiterbildung. Die Ungleichbehandlung zwischen migrantischen und »heimischen« Arbeitnehmern aufgrund vorhandener Qualifikationsunterschiede arbeitet Sparschuh durchaus markant heraus, regelrecht zweigeteilte Arbeitsmärkte seien dadurch entstanden. Hier wie dort verknüpften sich dabei Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt nicht nur mit der regionalen, sondern auch der sozialen Herkunft. Erwähnenswert ist, dass Migranten in Turin offenbar noch häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen angestellt wurden als in München, weil die deutschen Arbeitgeber eher langfristige Arbeitsverträge bevorzugten.

Für den Freizeitbereich hebt die Autorin die schon früh wichtige Rolle der Kirchen und Wohlfahrtsverbände hervor. Erst später wurden auch die Kommunen und Betriebe verstärkt aktiv, deren Maßnahmenspektrum Sparschuh entlang der Begriffe Assimilation, Integration, Exklusion und Segregation ordnet. Mit Blick auf die Konsummuster der Migranten zeichnet sie ein Bild beschränkter Möglichkeiten. Die Kontaktmöglichkeiten mit Einheimischen etwa blieben begrenzt, weil sich viele Migranten in Bars und Gaststätten nicht willkommen fühlten. Diese wichtigen Hinweise auf alltagsgeschichtlich relevante Belange finden ihre Fortführung in der Betrachtung politischer Partizipationsstrukturen, die sich durch Vereinsgründungen in Stadt und Umland sowie migrantische Interessensvertretungen ergaben. Dieses Kapitel bleibt in gewisser Hinsicht disparat, wobei sich sowohl in Turin als auch in München Tendenzen der Segregation und ein eher zögerliches Aneignen der Stadtgesellschaft durch die Migranten zeigen.

Prozesse der Segregation finden sich auch im Kapitel über die Unterkünfte der Arbeitsmigranten, die anfangs in Turin wie München einen eher provisorisch-kurzfristigen Charakter trugen. Erst mit der Zeit entwickelten die Städte und die Unternehmen Lösungen für dieses Problem, die dann aber teils eher halbherzig umgesetzt wurden. Den Arbeitsverträgen zum Dank, waren die Unterkünfte in München in der Regel besser, bei aller Einfachheit. Eindrücklich beschreibt Sparschuh die Diskriminierungserfahrungen, die Arbeitsmigrantinnen in beiden Städten auf dem Wohnungsmarkt machten, als sie im Laufe der 1960er-Jahre verstärkt begannen, sich eigenständig auf Wohnungssuche zu begeben. Das erzwungene Ausweichen auf Wohnlagen am Rande der Stadt – wie Hasenbergl in München – aber auch das Wohnen in maroden Altstadtvierteln führten schnell zu Ghetto-Diskussionen, die mit allerlei überkommenen Stereotypen angereichert waren.

Die Studie, die indirekt auch viel über das Entstehen und Fortwirken sozialer Ungleichheiten im Stadtraum erzählt, berührt viele wichtige Themen, die für die Migrationsgeschichte von weiterführender Bedeutung sind. Dazu gehört etwa die Aushandlung von Zugehörigkeiten und den damit verbundenen Vorstellungen von »Eigen« und »Fremd«. Wo der europäische Kontext der Arbeitnehmerfreizügigkeit berührt wird, ergibt sich ein wichtiger Aktualitätsbezug zu fortlaufenden Debatten, zu deren historisierender Perspektivierung das Buch beitragen kann. Die Darstellung hat in Teilen ihre Längen, ist aber nicht zuletzt deswegen reizvoll, weil sie nationalstaatliche Rahmungen analytisch gewinnbringend herausfordert. Sie kann als Plädoyer verstanden werden, komparative Stadtgeschichte für die historische Erforschung moderner Migrationsbewegungen zu nutzen. Denn gerade der lokalgeschichtliche Fokus und der Vergleich örtlicher Migrationsregime vermag es, wie hier eindrücklich aufgezeigt, nicht nur städtische Eigendynamiken nachzuvollziehen, sondern davon ausgehend interpretatorische Angebote für die Historisierung der Europäischen Migrationsgeschichte zu formulieren.

 

Zitierempfehlung

Christoph Lorke, Rezension zu: Olga Sparschuh, Fremde Heimat, fremde Ferne. Italienische Arbeitsmigration in Turin und München 1950–1975, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81993.pdf> [27.5.2024].

Anna Strommenger, Zwischen Herkunft und Zukunft. »Heimat« in der Sozialdemokratie vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik

(Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 250)

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2023 | 381 Seiten, gebunden | 65,00 € | ISBN 978-3-525-37106-0

rezensiert von

Vincent Dold/Imogen Wilkins, Humboldt-Universität zu Berlin

Rezension als pdf

Anna Strommenger untersucht im vorliegenden Buch, hervorgegangen aus ihrer Dissertation, die politischen Implikationen sozialdemokratischer Heimat-Bezüge im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Mit reformorientierten Akteuren der Weimarer SPD und des sozialistischen »Natur«-Milieus wie der deutschen Sparte des »Touristenvereins ›Die Naturfreunde‹« fokussiert ihre Studie auf die national integrierte und mit kulturpolitischer Gestaltungsmacht ausgestattete Sozialdemokratie primär der 1920er-Jahre. Vor dem Hintergrund der geläufigen Topoi bürgerlich-konservativer Vergangenheitsbezüge zielt Strommenger auf neue Erkenntnisse »für die geschichtswissenschaftliche Einschätzung der Sozialdemokratie einerseits, der gesellschaftlichen Heimat-Konjunkturen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert andererseits« (S. 10). In Anknüpfung an den aus der englischsprachigen Forschung stammenden methodischen Ansatz, Heimat als »modern imagining« zu konzeptualisieren, unternimmt Strommenger eine um die Sozialdemokratie erweiterte Pluralisierung der historischen Heimat-Bezüge.[1] Damit trägt sie zugleich zu einem differenzierten Verständnis sozialdemokratischer Zugehörigkeitsvorstellungen und Zugehörigkeitspraktiken zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik bei.

Die Arbeit ist entlang der analytischen Kategorien »Räume der Heimat«, »Zeiten der Heimat« und »Zugehörigkeit und Heimat« in drei Hauptkapitel gegliedert, wobei jeweils auf eine problemorientierte geschichtswissenschaftliche Einbettung eine Untersuchung von Semantiken und Praktiken folgt. Eingerahmt werden diese drei Kapitel von einem Prolog zur Genese der Heimatdiskurse bis zur Novemberrevolution und einem Epilog zur Zuspitzung der Debatten um Heimat im Übergang zum Nationalsozialismus. Der gelungene räumliche Zuschnitt der Untersuchung auf die zwei Regionen Pfalz (mit einem Fokus auf den Raum Ludwigshafen) und Sachsen (mit einem Fokus auf den Großraum Dresden, insbesondere Freital) erlaubt es, »zentrale Kernpunkte und typische Verwendungsweisen« sozialistischer Heimat-Konzepte anhand eines breiten Samples von Quellen unterschiedlichster Gattungen aufzuzeigen (S. 19). Neben lokalen Archivalien finden sich überregionale politische und literarische Schriften, Zeitschriften und regionale Tageszeitungen, Arbeiterkalender, Maipostkarten, Fotografien und Arbeiterlieder- bücher. Zentriert werden diese Quellen durch einen Fokus auf regionale SPD-Bezirke und sozialdemokratische Kommunalpolitiker sowie auf die lokale und regionale Arbeiter- kulturbewegung.

Beginnend mit Heimat-Räumen, untersucht Strommenger, wie lokale, regionale und nationale Räume als materielle Realitäten diskursiv gedeutet und praktisch verändert wurden. Sie betont, dass die durch die Novemberrevolution angeeigneten Heimat-Räume nicht statisch, sondern als veränderbare Orte konzipiert waren. Die Republik sollte in der Region verankert und damit zur Heimat werden. Dass in den Unterkapiteln Diskurse und Praxen getrennt untersucht werden, ist ein nachvollziehbarer Ordnungsversuch. Vor allem im ersten Unterkapitel führt dies aber dazu, dass Praktiken primär als Umsetzungen, Spiegelungen und Abbildungen von Diskursen untersucht werden. Das anvisierte »Wechselverhältnis« (S. 113) zwischen Semantiken und Praktiken bleibt hier mehr Behauptung als Befund, obschon Strommenger ihrem Quellenmaterial, etwa zu den Naturfreunde-Ausstellungen in der Pfalz, durchaus geeignete Befunde für diese Frage abgewinnt. Die Analyse dieses Materials hätte stellenweise genauer ausfallen und auch von einer tieferen Einbettung in bestehende Forschungsdiskussionen profitieren können, zum Beispiel in der dennoch bemerkenswerten Wiederentdeckung früher sozialdemokratischer Heimat-Ausstellungen in Freital. Vorrangige Referenzpunkte der Untersuchung bleiben an dieser Stelle diskursive Großnarrative wie der »Gegensatz zwischen Natur und Geschichte« (S. 142). Tatsächlich konnten aber Natur, Heimat und Modernisierung gerade durch die Praxis naturgeschichtlicher Heimatforschung in ein äußerst produktives Verhältnis gebracht werden, wie jüngst Nils Güttler am Beispiel des im Kaiserreich sozialpolitisch engagierten Heimatforschers Wilhelm Kobelt und seiner Arbeit am »Heimat-Raum« Rhein-Main gezeigt hat.[2]

Heimatbezüge zeichneten sich nach 1918 durch eine zunehmende Gegenwartsorientierung aus, wie Strommenger im zweiten Hauptkapitel argumentiert. Im Kaiserreich galten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch als Abfolge, bei welcher die Arbeiterschaft zunächst durch das vormoderne Heimatrecht exkludiert wurde, dann in der Arbeiterbewegung eine temporäre Übergangsheimat findet, aber erst in der Zukunft in einer sozialistischen Heimat endgültig aufgehoben sein würde. Dieses Verständnis von Heimat differenzierte sich je nach (kultur-)politischen Handlungsmöglichkeiten und entlang eines vervielfältigten Zeitbezugs der Akteure aus. In der »Hochphase des gegenwartsbezogenen Heimat-Verständnisses« (S. 227) orientierten sich Zeitschriftenbeilagen wie die von Hans Loschky konzipierten pfälzischen Blätter »Bei uns Daheim« und »Die Welt der Kleinen« an den Prinzipien bürgerlicher Heimatkunde. Durch die »Adaption etablierter kultureller Formen« (S. 230) näherte sich die sozialdemokratische Praxis trotz diskursiver Abgrenzung dem bürgerlichen Heimatbezug an.

Das dritte Hauptkapitel untersucht heimatbezogene Zugehörigkeitsvorstellungen der Sozialdemokratie unter der Frage, wie der spezifisch sozialistische Heimatbegriff – »die Hoffnung auf eine versöhnte und sichere, noch in der Zukunft liegende internationalistische Heimat« (S. 277) – im Verhältnis zu einem auf die Demokratisierung von Regional- und Nationalräumen ausgerichteten Heimatbegriff einerseits und politisch rechtslastigen, völkischen Auslegungen des Begriffs andererseits zu gewichten ist (eine Frage, die im Epilog gelungen weiterentwickelt wird). Strommenger konstatiert, dass um 1930 herum anstelle der ehemals dominierenden »Zukunftsorientierung« des sozialdemokratischen Heimatbegriffs auch in der Arbeiterbewegung Vorstellungen dominant wurden, die diskursiv »Elemente des Nationalsozialismus vorwegnahmen« (S. 278). Damit war die 1918 noch integrativ wirkende »Bedeutungsoffenheit und begriffliche Ambivalenz« (S. 333) des Heimatbegriffs gegen Ende der Weimarer Republik einem politischen Konfliktfeld gewichen, gerade weil sich mit ihm so unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe verbinden ließen. Die Untersuchung der »Heimat-Praktiken« (S. 326) des Wanderns, der Heimat-Fotografie sowie einzelner Facetten sozialdemokratischer Volks- und Geschichtskultur hätte noch die Frage nach den sozialdemokratisch hergestellten Gemeinschafts- und Exklusionserfahrungen bereichern können – nicht zuletzt in Hinblick darauf, welche sozialen Hierarchien durch die sozialdemokratische Heimat-Praxis produziert bzw. reproduziert wurden.

Resümierend hält Strommenger fest, dass die »Schnittstellen zwischen Sozialdemokratie und bürgerlicher Heimatbewegung« überraschend ausgeprägt waren und die Heimatbewegung somit als politisch vielfältiger verstanden werden muss, als bisher angenommen wurde (S. 343). Zugleich kann sie die Sozialdemokratie als einen Akteur der »Politisierung von Heimat in der deutschen Gesellschaft« identifizieren, weshalb die sozialdemokratischen Heimat-Bezüge nicht als ein »separates Additivum« sondern als zusätzliche Dynamisierungen der Heimat- bewegung(en) zu verstehen seien (S. 343f.).

Es sei kritisch angemerkt, dass die politischen Konflikte um das Heimat-Konzept innerhalb der Sozialdemokratie eine ausführlichere Besprechung verdient gehabt hätten. Durch die Begrenzung auf den reformorientierten Teil der Arbeiterbewegung und den zeitlichen Fokus auf die 1920er-Jahre werden diese teilweise ausgeklammert. Die marxistische Vorstellung, dass die globale Dimension des Kapitalismus eine heimatlose und damit weltrevolutionäre internationale Arbeiterklasse herstelle, wird vorrangig in der nur knapp betrachteten Zeitphase des Kaiserreichs verortet. Gegenläufige nationalistische Tendenzen und Praxen der Heimatverbundenheit in der Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg finden ebenso nur beiläufig Erwähnung wie kommunistische Strömungen, die auch nach Ende des Ersten Weltkriegs an weltrevolutionären Ambitionen festhielten. Strommenger hätte ihre Befunde durchaus noch stärker in Beziehung zur Forschung über Nationalismus und Internationalismus in der langen Geschichte der Arbeiterbewegung setzen können.[3]

Mit Blick auf die Zuspitzung der Konflikte um das Heimat-Konzept gegen Ende des Untersuchungszeitraums weist Strommenger zwar darauf hin, dass zentrale Akteure wie Hans Loschky (der unter dem NS-Regime an der Kinderbeilage »Wir sprechen deutsch« beteiligt war) sowie Karl und Robert Söhnel »auch in den eigenen Reihen in die Kritik« gerieten (S. 325). Welche Rolle aber sozialdemokratische Heimatverständnisse für eine mögliche Anpassung an das NS-Regime spielten, oder ob sie umgekehrt auch eine Ressource für widerständige Haltungen und Praxen sein konnten, wird nicht erörtert.

Trotz dieser Kritik ist Strommenger mit ihrer Untersuchung über sozialdemokratische Heimatverständnisse und Heimatpraktiken »zwischen Herkunft und Zukunft«, so der treffende Titel, ein aufschlussreicher, weil die zeitgenössischen Ambivalenzen sorgfältig auslotender Beitrag gelungen, an den sich vielfach anknüpfen lässt. Die Frage danach, wie sich »Heimat« verstehen, machen und damit erfahren lässt, ohne in allzu bekannte Abgründe zu stürzen, bleibt angesichts einer ungebrochenen kapitalistischen Modernisierungserfahrung aktuell.

 

Zitierempfehlung

Vincent Dold/Imogen Wilkins, Rezension zu: Anna Strommenger, Zwischen Herkunft und Zukunft. »Heimat« in der Sozialdemokratie vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81995.pdf> [27.5.2024].

 

[1] Vgl. Celia Applegate, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990.

[2]Nils Güttler, Nach der Natur. Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen, Göttingen 2023, S. 66-79.

[3] Vgl. Talbot Imlay, The Practice of Socialist Internationalism. European Socialists and International Politics, 1914-1960, Oxford 2017; Gleb J. Albert, Das Charisma der Weltrevolution, Revolutionärer Internationalis- mus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917–1927, Köln 2017.

Larissa Wegner, Occupatio Bellica. Die deutsche Armee in Nordfrankreich 1914–1918

(Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 36)

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 522 Seiten, gebunden | 48,00 € | ISBN 978-3-8353-5370-1

rezensiert von

Jakob Müller, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin

Rezension als pdf

Die vorliegende Arbeit widmet sich der deutschen Besatzung Nordfrankreichs während des Ersten Weltkriegs, ein Thema, das bisher vor allem aus der Perspektive der Besetzten erzählt wurde. Wegner macht es sich nun zur Aufgabe, es aus Sicht der Besatzer zu beleuchten. Sie hat hierfür in großem Umfang deutsche militärische Quellen ausgewertet. Die Autorin ordnet ihre Forschung in die Debatte um die Totalisierung der Kriegsführung während des Ersten Weltkriegs ein. Nicht nur Armeen, sondern ganze Gesellschaften wurden mobilisiert und die Zivilbevölkerung in die Kriegsführung einbezogen. Hierbei drängt sich die Frage nach den Kontinuitäten auf. Welche Entwicklungen nahmen 1914 ihren Anfang und mündeten in den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs?

Nordfrankreich bietet sich für eine solche Untersuchung an, stand es doch in beiden Kriegen zu weiten Teilen unter deutscher militärischer Besatzung. Beim Einmarsch 1914 kam es zu Massakern an Zivilisten, die verdächtigt wurden als »Franktireure« in die Kampfhandlungen eingegriffen zu haben. Unter der Kontrolle des Militärs wurden nicht nur Landwirtschaft und Industrie von der Besatzungsmacht für ihre Zwecke eingesetzt, sondern auch die Arbeitskraft der Nordfranzosen. Arbeiter wurden nach Deutschland deportiert und in den berüchtigten Zivil-Arbeiter-Bataillonen mussten Zivilisten auch unmittelbar hinter der Front Zwangsarbeit leisten. Bei ihren Rückzügen 1917 und 1918 verwüsteten die Deutschen zudem ganze Landstriche. Letzteres klammert Wegner als vorwiegend militärtaktische Maßnahme allerdings aus der Untersuchung aus.

Mögliche Kontinuitäten zum Zweiten Weltkrieg spielen in der Untersuchung eher eine untergeordnete Rolle, stattdessen behandelt sie die Besatzung Nordfrankreichs als Untersuchungsgegenstand eigenen Rechts. Insgesamt ist die Autorin gegenüber der These einer Radikalisierung der Kriegsführung eher skeptisch. So fanden Massaker an Zivilisten zwar zu Beginn des Kriegs statt, aber später nicht mehr. Von einer Radikalisierung könne hier also keine Rede sein, so Wegner. Im Gegenteil könne gefragt werden, ob es nicht auch Faktoren gebe, um Radikalisierungsprozesse während eines Kriegs zu stoppen. Und in der Tat, auch die Deportationen von Zwangsarbeitern wurden schließlich beendet, wofür internationaler Protest verantwortlich war, aber eben auch deutsche Verantwortliche, die für dessen Argumente zugänglich waren.

Inwieweit war also eine spezifische »military culture« für das deutsche Vorgehen verantwortlich? Diese von Isabel V. Hull formulierte These wird vor allem von konservativen Militärhistorikern als Herausforderung betrachtet.[1] Wegner widmet sich dieser Frage differenziert, akribisch und ohne Polemik. Ihr Ausgangspunkt ist dabei die Debatte um eine Kodifizierung des Kriegsrechts vor dem Ersten Weltkrieg, welcher der umfangreiche erste Teil des Buches gewidmet ist.

Während die Genfer Konvention von 1864 vor allem den Schutz verwundeter Soldaten behandelte, sollten die Brüsseler Konferenz von 1874 und die Haager Konferenzen von 1899 und 1907 die Rechte und Pflichten der kriegführenden Parteien regeln. Insbesondere die Zivil- bevölkerung sollte so vor der Kriegsgewalt geschützt werden. Ob und wie sich Zivilsten an der Verteidigung gegen einen Angreifer beteiligen durften, war hierbei besonders umstritten. Die Niederlande, Belgien und die Schweiz (die Wegner etwas anachronistisch als »Kleinstaaten« tituliert) sahen als potentielle Angriffsopfer Widerstand als eine patriotische Bürgerpflicht an. Deutschland argumentierte hingegen für eine klare Trennung zwischen Zivilisten und Kombattanten, womit es keineswegs alleinstand. Auch Russland und Österreich-Ungarn vertraten diese Position. Dennoch akzeptierte auch Deutschland grundsätzlich das Recht der Bevölkerung sich gegen eine Invasion zu verteidigen, setzte ihm allerdings enge Grenzen. Eine Beteiligung an Kämpfen war nach der Haager Landkriegsordnung nur gegen einen »herannahenden« Feind zulässig, also nicht nach dem Ende der Kampfhandlungen im bereits besetzten Gebiet. Zudem wurden Zivilisten verpflichtet, sich durch Abzeichen und »offenes Tragen« der Waffen als Kombattanten kenntlich zu machen.

Wegner weist zurecht darauf hin, dass die deutsche Ablehnung des »Volkskriegs« ausschließlich opportunistischen Gründen entsprang. Zu widersprechen ist ihr allerdings, wenn sie resümiert, dass während »der Invasion Belgiens und Nordfrankreichs […] die nicht nur von den [deutschen] Militärdelegierten prophezeiten schrecklichen Konsequenzen eines Volkskrieges grausame Realität« wurden (S. 69). Erstens fand kein »Volkskrieg« statt, auch wenn sich an einzelnen Orten Zivilisten an Kämpfen beteiligten. Zweitens hatte am Entstehen der »grausamen Realität« der Massaker im August und September 1914 eine deutsche Militärdoktrin großen Anteil, welche – wie die Autorin an anderer Stelle herausarbeitet – stark von den Erfahrungen des deutsch-französischen Kriegs von 1870/71 geprägt war. Sie bestätigt damit eine These von John Horne und Alan Kramer, die in den letzten Jahren bezweifelt worden war.[2] Zudem waren die deutschen Soldaten bereits vor dem Einmarsch überzeugt auf Zivilwiderstand zu stoßen. Hierfür sorgten die Berichterstattung in der Presse, aber auch das Militär selbst. So wurden in einigen Einheiten noch im Oktober 1914 »Stricke zum Aufhängen der Franktireurs« verteilt (S. 133). Die Gewalt war also nicht die Konsequenz eines Volkskriegs, sondern vor allem Resultat einer self-fulfilling prophecy (S. 491).

Problematisch ist die Aussage, »nach heutigem Forschungsstand« lasse sich nicht abschließend klären, ob es einen »Franctireurkrieg« gab (S. 145). Die einzigen Belege für einen solchen Untergrundkrieg sind deutsche Soldatenaussagen, von denen die Autorin an anderer Stelle schreibt, dass ihnen in dieser Frage kein Beweiswert zukomme (S. 128). Was sich aus den Zeugnissen deutscher Soldaten und Dienststellen hingegen herausarbeiten lässt, ist das deutsche Rechtsverständnis, und das leistet das vorliegende Buch in erfreulicher Gründlichkeit. Es kommt zu dem Ergebnis, dass in dieser Rechtsauffassung Erschießungen ohne Gerichtsverfahren, Geiselnahmen und -hinrichtungen sowie Kollektivstrafen gegen die Bevölkerung legitimer Teil der Kriegsführung waren. Auch wenn diese Maßnahmen nicht »eindeutig völkerrechtswidrig« gewesen seien, so bliebe doch festzuhalten, dass »die deutsche Armee grundsätzlich die für die Zivilbevölkerung härteste Rechtsauslegung wählte.« (S. 218)

Diese Praxis lässt sich auch in der Verwaltung der besetzten Gebiete Nordfrankreichs erkennen. Beim Einsatz von Zwangsarbeitern, die laut Haager Landkriegsordnung nicht zu »Kriegsunternehmungen gegen ihr Vaterland« herangezogen werden durften, bewerteten die Deutschen etwa lediglich die unmittelbare Teilnahme an Kampfhandlungen als unter diese Definition fallend. Französische Arbeiter wurden daher auch zum Stellungsbau in unmittelbarer Frontnähe verwendet. Die Zustände in den Zivil-Arbeiter-Bataillonen führten zu einer hohen Sterblichkeit unter den Zwangsarbeitern, zudem kam es vielfach zu Misshandlungen durch Bewacher. An dieser Stelle hätte die Schilderung von den Zeugnissen Betroffener profitieren können, zumal andererseits viel Einfühlungsvermögen für die beteiligten Militärs gezeigt wird. Wenn es etwa heißt, die Zwangsarbeiter seien »nicht gezielt in der Feuerzone eingesetzt worden« (S. 484), oder die Zustände in den Arbeitslagern seien strukturell bedingt gewesen, ihnen habe aber »kein ›inhumaner Wille‹« zugrunde gelegen, »die Arbeiter absichtlich oder willentlich zugrunde« zu richten (S. 486), so scheint doch sehr die Perspektive der militärischen Quellen durch.

Das gilt auch für Wegners Feststellung, weder »Nahrungsentzug, ›strenger Arrest‹, noch das stunden- oder tagelange ›Stehenlassen‹ wurde[n] in der deutschen Armee als Misshandlung eingestuft, sondern waren eine übliche und als erlaubt betrachtete Disziplinierungsmaßnahme.« (S. 477) Gänzlich fehl geht die die Autorin, wenn das Setzen von Anreizen in den Lagern als Hinweis interpretiert wird, dass das System der Zwangsarbeit »weder im Großen noch im Kleinen die letzte, vollständig entgrenzende Schwelle überschritt« (S. 482). Anreize und Privilegien waren sogar im NS-Lagersystem bewährte Mittel.

Trotz dieser Kritikpunkte ist »Occupatio Bellica« eine gelungene Studie zur deutschen Besatzung Nordfrankreichs während des Ersten Weltkriegs. Künftige Studien etwa zu Kontinuitäten zur Besatzungspraxis von 1940 bis 1944 können auf ihr aufbauen. Die Autorin arbeitet überzeugend heraus, dass trotz einer grundlegenden Skepsis das Kriegsvölkerrecht eine wichtige Richtlinie für das Handeln der deutschen Truppen und der Besatzungsverwaltung darstellte. Die Analyse des deutschen Vorgehens gegen vermeintliche »Franktireure« ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte über die »German Atrocities« von 1914.

 

Zitierempfehlung

Jakob Müller, Rezension zu: Larissa Wegner, Occupatio Bellica. Die deutsche Armee in Nordfrankreich 1914–1918, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81994.pdf> [27.5.2024].

 

[1]Isabel V. Hull,Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005; vgl. dagegen Peter Lieb, Der deutsche Krieg im Osten von 1914 bis 1919. Ein Vorläufer des Vernichtungskriegs?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65, 2017, S. 465-506.

[2] Vgl. John Horne/Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2018.

Doppelrezension: Antisemitism and the Politics of History / Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft

Scott Ury/Guy Miron (Hrsg.), Antisemitism and the Politics of History (The Tauber Institute Series for the Study of European Jewry)

Brandeis University Press | Waltham, Mass. 2023 | 384 Seiten, Paperback | $ 40,00 | ISBN 9781684581801

 

Peter Ullrich/Sina Arnold/Anna Danilina u.a. (Hrsg.), Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft (Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart, Bd. 8)

Wallstein Verlag | Göttingen 2024 | 315 Seiten, Klappenbroschur | 24,00 € | ISBN 978-3-8353-5070-0

 

rezensiert von

Andreas Rentz, Zentrum für Holocaust-Studien, München

Rezension als pdf

Um den Jahreswechsel 2023/24 erschienen mit dem Band »Antisemitism and the Politics of History« des Tauber Institute for the Study of European Jewry und dem Band »Was ist Antisemitismus« des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA) gleich zwei neue Sammelbände, die sich mit Definitionen und Konzeptionen von Antisemitismus auseinandersetzen. Nach dem Pogrom der Hamas am 7. Oktober 2023 könnte der Zeitpunkt kaum geeigneter zu sein, um aus geschichts- und sozialwissenschaftlicher Perspektive den Antisemitismusbegriff erneut zu beleuchten. Dabei ist dieser Zeitpunkt tatsächlich Zufall: Beim Band des Tauber Institute handelt es sich um eine englische Übersetzung eines 2020 zunächst auf Hebräisch erschienenen Sammelbandes, die den Pogrom entsprechend mit keinem Wort erwähnt. Und auch die Veröffentlichung des ZfA wurde bereits vor dem 7. Oktober konzipiert. An der Relevanz beider Publikationen ändert das jedoch nichts.

Dreh- und Angelpunkt des Bandes des Tauber Institute, der von Scott Ury (Tel Aviv University) und Guy Miron (Open University of Israel) herausgegeben wurde und hauptsächlich Beiträge israelischer Historiker*innen beinhaltet, bildet die Auseinandersetzung mit einem 2009 erschienen Artikel des Holocaustforschers David Engel. Unter dem Titel »Away from a Definition of Antisemitism« stellte Engel darin die Nützlichkeit des Antisemitismusbegriffs grundsätzlich infrage, da zu viele unterschiedliche historische Phänomene ohne erkennbaren Zusammenhang darunter subsumiert würden: Ideologeme genauso wie soziale Bewegungen oder Handlungen, die Jüdinnen*Juden schadeten.[1] Der Titel des Artikels war eine Anspielung auf die 1990 von Gavin I. Langmuir veröffentlichte und breit rezipierte Studie »Toward a Definition of Antisemitism«, deren Versuch einer begrifflichen Fassung der Essenz von Antisemitismus Engel ebenso zurückwies wie jeden anderen auch.[2] Er begründete das damit, dass die verschiedenen Definitionsversuche einander widersprechen würden, ohne sich jedoch mit ihnen im Einzelnen auseinanderzusetzen. Unterschiedliche Verwendungen des Antisemitismusbegriffs reichen Engel aus, um für einen vollständigen Verzicht auf ihn zu plädieren. Auch wenn Engels Argumentation nicht völlig überzeugt, sind seine Bedenken nicht ohne weiteres abzutun: Sie verweisen auf das tieferliegende Problem unklarer und disparater Begriffsverwendungen im Bereich der Antisemitismusforschung. Eine gekürzte Version seines Artikels findet sich im Sammelband des Tauber Institute direkt im Anschluss an die Einleitung. Diese wurde von Ury und Miron verfasst und nimmt Engels Kritik zum Ausgangspunkt für die Leitfrage des Bandes, ob »Antisemitismus« der richtige Terminus zur Beschreibung und Erklärung der verschiedenen ihm zugeordneten historischen und sozialen Phänomene sei und welche alternative Terminologie für die Verwendung in akademischen und öffentlichen Diskursen sinnvoll sein könnte. Davon ausgehend plädieren sie dafür, Vorstellungen einer bruchlosen Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis heute, von der Shoa als logischer Konsequenz des Antisemitismus, seines fundamentalen Unterschieds zu anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und eines »new antisemitism«, der sich gegen die Existenz oder die Politik Israels richtet, kritisch zu hinterfragen.

Die meisten der folgenden Beiträge beziehen sich explizit auf die Kritik Engels, aber nur die wenigsten ziehen denselben radikalen Schluss, den Antisemitismusbegriff ersatzlos zu streichen. So bemüht sich etwa Amos Morris-Reich um ein dynamisches und dialektisches Verständnis von Antisemitismus, der wie seine historischen Kontexte stetigen Wandlungen unterworfen ist und dessen Begriff in seiner Abstraktion notwendig ist, um zwischen verschiedenen historischen und sozialen Phänomenen Verbindungen zu erkennen. In eine ähnliche Richtung geht der Aufsatz von Susannah Heschel: Auch sie spricht sich für die Verwendung des Begriffs aus, weil er den Zusammenhang verschiedener disparater Phänomene veranschaulicht. Statt Antisemitismus als eine geradlinige, kontinuierliche und zielgerichtete Geschichte zu verstehen, sollte er als unbewusste oder verschwiegene Sammlung von Mythen und Ideen verstanden werden, die in verschiedenen Kontexten aktiviert werden können. Einer der wenigen Artikel, die Engel beipflichten und sich ebenfalls gegen die Verwendung des Antisemitismusbegriffs aussprechen, stammt von Arie M. Dubnov. Er begründet das mit der angeblich inflationären Verwendung des Begriffs, um Kritik an Israel und am Zionismus zu verunmöglichen, und plädiert am Beispiel der britischen Jüdinnen*Juden dafür, jeden begrifflichen Unterschied zwischen Antisemitismus, Rassismus und Xenophobie zu eliminieren (»eliminate«, S. 247). Da sich insbesondere der Antizionismus nicht gegen britische Jüdinnen*Juden, sondern gegen Israel richte, sei der Antisemitismusbegriff für Großbritannien ungeeignet. Vor dem Hintergrund, dass es bereits 2016 zu Angriffen auf jüdische Studierende durch Anhänger*innen der antizionistischen BDS-Bewegung in Großbritannien kam und sich die Zahl antisemitischer Vorfälle an britischen Hochschulen seit dem 7. Oktober 2023 um 400 Prozent erhöht hat, erscheinen Aussagen dieser Art sachlich falsch und fahrlässig zugleich.[3]

Das letzte Wort wird David Engel überlassen, der auf einige der besprochenen Beiträge eingeht, aber an seiner grundsätzlichen Forderung, auf den Antisemitismusbegriff zu verzichten, festhält. Er begründet das damit, dass es keine Definition von Antisemitismus gäbe, die ein »intrinsic attribute« (S. 340, 343f.) nennen könnte, das auf alle als antisemitisch bezeichneten Phänomene zutreffen würde. Dabei geht er auch konkret auf jene Autor*innen des Bandes ein, die sich für eine eingeschränkte Begriffsverwendung aussprechen, und auf die unterschiedlichen und einander teils ausschließenden Verwendungsweisen in den einzelnen Beiträgen. Er plädiert schließlich dafür, eine differenzierte Terminologie zu entwickeln, die jüdische Sicherheits- und Gefährdungswahrnehmungen zum Ausgangspunkt nimmt. Nun sind selbstverständlich jüdische Wahrnehmungen bei der Bestimmung dessen, was antisemitisch oder judenfeindlich ist, ernst zu nehmen und zu berücksichtigen. Dennoch ist Engels Schlussfolgerung problematisch, da er letztlich dafür plädiert, auf eine Untersuchung jener Ideologien zu verzichten, die den Ursprung judenfeindlicher Aktivitäten bilden und die dadurch unerklärt bleiben müssen. Solange Jüdinnen*Juden nichts davon mitbekommen, dass beispielsweise irgendwo von angeblichen jüdischen Ritualmorden die Rede ist, und sich daher auch nicht in ihrer Sicherheit gefährdet fühlen, würde es sich nach Engel nicht um antisemitische Vorfälle handeln. Es ist auch bezeichnend, dass Engel ausgerechnet die Skizze von Morris-Reich, der sich um ein komplexes Verständnis des Antisemitismusbegriffs bemüht, unberücksichtigt lässt.

Der Sammelband des Tauber Institute verdeutlicht ein grundsätzliches Problem, nämlich den mangelnden Austausch zwischen Antisemitismusforscher*innen aus den Sozialwissenschaften einerseits und den Geschichtswissenschaften andererseits. Die meisten Beiträge stammen von Historiker*innen. Die sozialwissenschaftlichen Antisemitismustheorien international bekannter Gelehrter wie Jean-Paul Sartre, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Moishe Postone werden im ganzen Band mit keinem Wort erwähnt. Hier bietet sich als Ergänzung die Lektüre des vom ZfA vorgelegten Bandes an, in dem zahlreiche Soziolog*innen zu Wort kommen. Im Unterschied zur Veröffentlichung des Tauber Institute handelt es sich hier nicht um einen klassischen Sammelband, sondern um ein »genuin kollektives Produkt« (S. 12), das die Ergebnisse eines gemeinsamen Forschungsprojekts des ZfA und der Rosa-Luxemburg-Stiftung zusammenfasst. Der ZfA-Band stellt sich die Aufgabe, die »Vielfältigkeit von Antisemitismusverständnissen« und die »Schwierigkeit, Antisemitismus zu definieren« (S. 10), die von den unterschiedlichen Zugängen von Psycholog*innen, Soziolog*innen und Historiker*innen herrührten, aufzuzeigen. Er spricht auch Konflikte um gängige Definitionen in Hinblick auf den Nahostkonflikt an. Der Einleitung ist ein »Nachtrag« hintangestellt, in dem betont wird, dass das Buch vor dem 7. Oktober 2023 fertiggestellt worden sei und dass »vor diesem Hintergrund […] der Zungenschlag einiger Darstellungen in diesem Buch etwas anders ausgefallen« wäre (S. 14), ohne dies jedoch näher zu erläutern.

Der Band liefert konzise Erläuterungen verschiedener Begriffe wie »Antijudaismus«, »Israelbezogener Antisemitismus« oder »Sekundärer Antisemitismus« und spricht dabei verschiedene Probleme und Kontroversen an, wie etwa die Schwierigkeit, Antijudaismus und Antisemitismus klar abzugrenzen, oder die Entstehung eines »Antisemitismus ohne Antisemiten« nach Auschwitz infolge einer sich bildenden Kommunikationslatenz (gemeint ist damit, dass sich aufgrund einer wahrgenommenen oder tatsächlichen Tabuisierung und formellen Diskreditierung des Antisemitismus infolge der Shoa die offene Artikulation entsprechender Ideologeme vom öffentlichen in den privaten Bereich verschob).[4] Ein weiterer Abschnitt widmet sich verschiedenen »Positionen« der Antisemitismusforschung. Vorgestellt werden hier diverse Autor*innen, die sich in den vergangenen hundert Jahren zum Antisemitismus geäußert und sich in unterschiedlichem Ausmaß um eine begriffliche wie theoretische Annäherung bemüht haben. Über weite Strecken handelt es sich bei diesen Abschnitten um eine gelungene Überblicksdarstellung zentraler Begriffe und Thesen der Antisemitismusforschung, die leicht zugänglich vermittelt werden, ohne ihnen ihre Komplexität zu nehmen.

Der letzte Abschnitt des Bandes stammt ausschließlich vom Mitherausgeber Peter Ullrich und bemüht sich aus erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Perspektive um ein Verständnis für die Vielfältigkeit unterschiedlicher, bisweilen einander ausschließender Begriffe und Definitionen von Antisemitismus. Nachdem er quasi auf einer Metaebene die Ausdrücke »Begriff« und »Definition« geklärt hat, formuliert Ullrich »acht Probleme der Begriffsbildung von Antisemitismus« (S. 217), u. a. die historische Wandlungsfähigkeit des Begriffs und des durch ihn bezeichneten Gegenstands, die Frage nach der Spezifizität des Antisemitismus, die ihn von anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unterscheidet, oder die Frage danach, inwieweit Handlungen als antisemitisch zu klassifizieren sind, die zwar in ihrer Wirkung Jüdinnen*Juden schaden, ohne das aber intendiert zu haben. Dabei wird auch knapp auf Engels Kritik eingegangen, der jedoch keine »Chance auf Durchsetzung« bescheinigt wird (S. 222). Insgesamt sind die Überlegungen Ullrichs durchaus anregend und scheinen auch notwendig, um sowohl das geläufige Verständnis von Antisemitismus kritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln, als auch sich im Rahmen der wissenschaftlichen Debatte einem komplexen Antisemitismusbegriff anzunähern.

Getrübt wird der vielfach positive Eindruck des Bandes jedoch vor allem an jenen Stellen, wo Antizionismus bzw. israelbezogener Antisemitismus thematisiert werden. Wie ein roter Faden zieht sich das Narrativ durch das Buch, dass hier ein Begriff inflationär auf legitime Formen des Antizionismus angewendet werde, die einem »nicht-nationale[n] jüdische[n] Selbstverständnis und/oder universalistische[n] Perspektiven« (S. 49) entspringen würden. Beanstandet wird eine »Politisierung der wissenschaftlichen Debatte« (ebd.), wobei mir fraglich erscheint, ob eine scharfe Trennung von Wissenschaft und Politik bei einem Thema mit so eindeutig politischen Implikationen überhaupt möglich ist und ob eine derartige Politisierung nicht gerade auch von einigen Autor*innen des Bandes vorgenommen wird.

Ein Kapitel widmet sich dem Nahostkonflikt und kommt zu dem Schluss, dass »Antizionismus oder Israelfeindschaft […] nicht immer und nicht zwingend antisemitisch sein« (S. 87) müssten, weil diese Auseinandersetzung »im Kern […] ein Konflikt zweier Nationalismen, die einen Anspruch auf das gleiche Territorium erheben«, sei (S. 86). Gewarnt wird vor einer Unterschätzung des israelisch-palästinensischen »Realkonflikts«, die entstünde, wenn Vorfälle aller Art »primär aus antisemitismustheoretischer Sicht« bzw. »primär aus Perspektive der Antisemitismuskritik« gedeutet würden, laut der jedwede »Gegnerschaft zum Zionismus und zu Israel […] eine Form von Antisemitismus ist.« (S. 87; Hervorhebung i. O.) Als entgegengesetzte Pole der Antisemitismusforschung werden eine »Identitätsposition« (Antizionismus ist gleich Antisemitismus) und eine »Differenzposition« (Antizionismus und Antisemitismus sind zwei völlig verschiedene Phänomene) konturiert (S. 87). Plädiert wird sodann für eine in der Mitte liegende »Affinitätsposition«, die zwischen Antizionismus und Antisemitismus differenziert, ohne Überschneidungen auszuschließen. Des Weiteren werden die Argumentationsmuster der Konfliktparteien als »spiegelbildlich« bezeichnet (S. 88) und eine »erinnerungspolitische Formung der Nahostdebatten in Deutschland« beanstandet (S. 91-92). Die Arbeitsdefinition für Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und Natan Sharanskys 3D-Test (welcher die Grenze zwischen legitimer Israel-Kritik und Antisemitismus daran misst, ob eine Kritik Israel dämonisiert, delegitimiert und im Vergleich zu anderen Staaten einen doppelten Standard anlegt)[5] werden zurückgewiesen. Die von Antisemitismusforscher*innen wie Samuel Salzborn oder dem Aachener Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) ausgehend von der Kritischen Theorie entwickelten Antisemitismusmodelle, die sowohl die IHRA-Definition als auch den 3D-Text integrieren und auf dieser Basis zwar nicht jede Form von Antizionismus, wohl aber jede Form von Israelfeindschaft, als Antisemitismus einstufen, werden im ZfA-Band nur knapp gestreift und als der »Identitätsposition« zugehörig zurückgewiesen. Ich halte diese Konzepte für überzeugender, weil sie einerseits der Vielschichtigkeit und Dynamik des Antisemitismus gerechter werden als die Versuche des ZfA, den Terminus einzuengen, und andererseits die empirischen Befunde des Nahostkonflikts besser erklären.[6]

Dagegen erhält die Philosophin Judith Butler im Abschnitt »Positionen« ein eigenes Kapitel an der Seite Sartres und Adornos. Sie wird als eine der »Ersten, die nicht nur die fatale politische Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs reflektieren und kritisieren, sondern damit die Ambivalenzen des ›Antisemitismus gegen Israel‹ in den Blick nehmen«, gewürdigt (S. 182). Zu ihren Verdiensten wird die Warnung vor der »Gefahr einer Entleerung des Begriffs« und »der repressiven Verwendung des Vorwurfs« des Antisemitismus (S. 185) gezählt, durch den »dem legitimen Protest enge Grenzen gesetzt« würden (S. 182). Zwar ist eine Auseinandersetzung mit den Thesen Butlers allein schon aufgrund ihrer Prominenz sicherlich notwendig, doch scheint es mehr als fragwürdig, diese Thesen, die die reaktionäre Vorstellung einer wirkmächtigen Antisemitismuskeule implizieren, dergestalt zu affirmieren, wie es im ZfA-Band geschieht.

Im direkten Vergleich beider Bände zeigen sich so nicht allein ihre jeweiligen Stärken und Schwächen, sondern auch verschiedene Schwierigkeiten der Antisemitismusforschung, auf die sie verweisen. Der Sammelband des Tauber Institute enthält viele lesenswerte Beiträge, demonstriert aber auch die mangelnde Beschäftigung von Historiker*innen mit der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung, die im Band des ZfA geleistet wird. Dieser wiederum zeigt nicht nur die Vielgestaltigkeit der Forschung auf, sondern auch den hohen Grad ihrer Politisierung, die hier zwar vor allem der dezidiert prozionistischen Forschungsrichtung vorgehalten wird, aber auch auf Teile des Bandes selbst zutrifft. Trotz vieler nützlicher und anregender Abschnitte ist er daher nur eingeschränkt zu empfehlen, weil er den erhobenen Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität überall dort nicht einhalten kann, wo er in der Auseinandersetzung mit Antizionismus selbst politisch argumentiert, ohne dies hinreichend zu reflektieren.

 

Zitierempfehlung

Andreas Rentz, Doppelrezension zu: Scott Ury/Guy Miron (Hrsg.), Antisemitism and the Politics of History, Brandeis University Press, Waltham 2023; Peter Ullrich/Sina Arnold/Anna Danilina u.a. (Hrsg.), Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81988.pdf> [17.4.2024].

 

[1]David Engel, Away from a Definition of Antisemitism. An Essay in the Semantics of Historical Description, in: Jeremy Cohen/Moshe Rosman (Hrsg.), Rethinking European Jewish History, Oxford 2009, S. 30–53.

[2]Gavin I. Langmuir, Toward a Definition of Antisemitism, Berkeley, Calif. 1990.

[3] Vgl. https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/328693/antisemitismus-in-der-bds-kampagne/; https://www.juedische-allgemeine.de/juedische-welt/400-prozent-anstieg-antisemitischer-vorfaelle-an-hochschulen/ [9.4.2024].

[4] Vgl. Werner Bergmann/Rainer Erb, Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38, 1986, S. 223–246.

[5]Natan Sharansky, Emerging Anti-Semitic Themes (Foreword), in Jewish Political Studies Review 16, 2004, Nr. 3-4, S. 5-8.

[6] Vgl. exemplarisch Samuel Salzborn, Antisemitismus. Geschichte, Theorie. Empirie, Baden-Baden 2014.

Knud Andresen/Sebastian Justke/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Vom Ich zum Wir und wieder zurück? Subjektverständnisse zwischen Politisierung und Entradikalisierung seit den 1960er Jahren

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 267 Seiten, gebunden | 34,00 € | ISBN 978-3-8353-5489-0

rezensiert von

Uwe Sonnenberg, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

Rezension als pdf

»Vom Ich zum Wir und wieder zurück« – mit einem Fragezeichen versehen – ist der Titel einer akademischen Festschrift. Mit ihr wird dem Kopenhagener Zeithistoriker Detlef Siegfried zu seinem 65. Geburtstag gratuliert. In einer beigegebenen Würdigung zeichnet Jürgen Reulecke die Karriereschritte Siegfrieds nach und bespricht dessen wichtigste Werke. Der Band leistet aber zugleich einen Beitrag zur »Vorgeschichte« einer Gegenwart, die von Soziolog*innen heute unter anderem als »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz) beschrieben wird.[1] Nachgegangen wird der Frage, »wie und ob sich in politischen und gesellschaftlichen Debatten [seit den 1960er-Jahren] Verschiebungen in den Subjektverständnissen – also der Verortung des Individuums im gesellschaftlichen Kontext – zeigten.« (S. 14) Dabei werden diverse Forschungsansätze, zum Teil auch -inhalte, aus den Werken des Jubilars aufgegriffen, etwa Siegfrieds Arbeiten über Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 1960er-Jahre sowie seine Untersuchungen zum alternativen Milieu der 1970er-Jahre.[2] Mit Abstand am häufigsten aber rekurrieren die Autor*innen auf Siegfrieds Aufsatz »Die Rückkehr des Subjekts«. 2008 ebenfalls in einer akademischen Festschrift publiziert, erkennt Siegfried darin neue »postindustrielle« Subjektivitätskonzepte im Verlauf von Politisierungs- und auch Entradikalisierungsprozessen verschiedener Akteur*innen.[3]

Die insgesamt neun Beiträge sind in vier Rubriken untergliedert. Es geht als erstes um neue Perspektiven, die sich mit der »Rückkehr des Subjekts« in die Forschung ergaben. Dagmar Herzog beschreibt den Erfolg, den Ernst Klee mit beharrlichem Engagement hatte, die westdeutsche Öffentlichkeit wie auch die geschichtswissenschaftliche Zunft nach Jahrzehnten »der Ablehnung und des Desinteresses dazu zu bringen, die Ermordung von Menschen mit Behinderung als Verbrechen ernst zu nehmen« (S. 24). Klees Pionierarbeit über »›Euthanasie‹ im NS-Staat« sei Auslöser eines »moralpolitischen Durchbruchs« in der alten Bundesrepublik gewesen (S. 38). Gabriele Kandzora berichtet über ihre Erfahrungen als Lehrerin mit Projektpädagogik an einer Hamburger Reformschule. Dabei macht sie sehr bedenkenswert auf die unterschiedlichen Subjektverständnisse aufmerksam, mit denen Pädagog*innen und Zeithistoriker*innen jeweils operieren.

Es folgen in der zweiten Rubrik Fallbeispiele aus den Alternativszenen Westeuropas. Tobias De Fønss Wung-Sung verfolgt den Wandel der Schwulen- und Lesbenbewegung in Dänemark. Im Zentrum seiner Betrachtung steht mit der F-48 eine Interessenvertretung, die Ende der 1970er-Jahre noch für »clear left-leaning political ambitions« stand und bis Mitte der 1980er-Jahre zu einer »vibrant and multifaceted but also de-radicalized« Organisation geworden war (S. 79). Nikolaos Papadogiannis wertet für den gleichen Zeitraum die ersten »alternativen« Reiseführer und -berichte westdeutscher Globetrotter aus und »demonstrates how the globetrotters‘ approaches to sex tourism as an ›authentic‹ experience and a key to empathy for their hosts diverged« (S. 84). Er erkennt sowohl antikoloniale und neue feministische Argumentationen, als jedoch auch das Fortbestehen alter Stereotype. Kristoff Kerl untersucht den Umgang mit drogenbasiertem Rausch um 1970 »zwischen Revolution und Reklame« (S. 100) sowie als Teil neuer »Formen der Subjekt- und Lebensführung« (S. 118) bis in die Mitte der Gesellschaft, was wiederum (wert)konservative Angst vor einem Verfall von Moral und ergo heftigen Widerstand von rechter Seite auslöste.

In der dritten Rubrik wird der Blick in den zweiten realexistierenden Staat auf deutschem Boden hinein gelenkt: die DDR, an deren Beginn die Parole »Vom Ich zum Wir« ein zentrales Motto der Kollektivierungskampagne auf dem Lande gewesen war.[4] Entsprechend diskutiert Dorothee Wierling in ihrem Beitrag Individualisierung und Subjektivierung in entgegengesetzter Entwicklungsrichtung. Ja, auch in der DDR habe es einen Wertewandel gegeben, was Wierling den wenigen belastbaren Datensätzen soziologischer Forschung, vor allem aber sozialen Praktiken in der Konsum- und Nischengesellschaft entnehmen kann. Letztere diskutiert sie insbesondere als kulturelle Aneignungen, die sie jedoch als kreative Prozesse versteht, weswegen es in der DDR »wie im Westen – nur anders« (S. 161-164) gewesen ist. Den Weg, auf dem Silly ihr Ich vom Wir emanzipierte, schildert Michael Rauhut. Die für viele wichtigste Rockcombo der DDR (mit ihrer schillernd-charismatischen Frontfrau Tamara Danz) habe sich in den 1980er-Jahren vom Egalitätsdruck befreit, den »Grenzgang« perfektioniert (S. 125), sich mit der Macht arrangieren können und dennoch nicht vereinnahmen lassen.

Insgesamt fünf Beiträge beinhaltet die Rubrik »Politische Linke«. Für die Bundesrepublik ganz naheliegend widmet sich Knud Andresen dabei Selbstverständigungsprozessen innerhalb der maoistischen Parteien, der sogenannten K-Gruppen. »Gestaltungswille« wie auch »die Bereitschaft zum Einsatz in und für die Gesellschaft« haben darin nicht nur mehr geprägt als »das private Vergnügen«, so ist bei Andresen in einem selten so gegebenen Ausblick zu lesen, sie seien für die dort »subjektivierten Individuen« auch ein »über die politischen Wandlungen hinaus […] prägendes Moment ihrer Lebensführung« geblieben (S. 215). Hanno Plass erkundet, wie der algerische Unabhängigkeitskampf zwischen 1950 und 1970 in den südafrikanischen Befreiungsbewegungen (vor allem in der South African Communist Party) rezipiert und welche Rückschlüsse aus den in Algerien gemachten Erfahrungen dort für die eigene Politik gezogen wurden. In Stefanie Schüler-Springorums Beitrag über den »Mauergucker« Franz Josef Degenhardt geht es nicht etwa um das Verhältnis des Schriftstellers, Juristen und Liedermachers zur Berliner Mauer. Vielmehr betrachtet sie seine frühen, eher sozialkritisch und moralisch als marxistisch ausgerichteten Werke und erkennt in deren wirkmächtigen Texten und Bildern radikal-subjektive Reflektionen über das Leben in der BRD als einem postfaschistischen Land.[5]

Der Beitrag von Markus Mohr wiederum führt in das Jahr 1999 und nach Zittau, das heißt ganz an die östliche Grenze des vereinigten Deutschlands, wo innerhalb eines antirassistischen Grenzcamps plötzlich noch einmal ganz neue Grenzen gezogen wurden. Identitätspolitisch aufgeladene Debatten außerinstitutioneller Linker hatten sich seit den 1970er-Jahren fortgesetzt und sich – ohne, dass den Protagonist*innen die historische Spur als solche bewusst gewesen sein mag – in ihrem Gehalt noch einmal gewandelt. Schließlich macht sich David Templin auf die Spur von früheren Anhängerinnen und Anhängern der Gruppe Devrimci Yol (Revolutionärer Weg), die in den 1980er-Jahren in Hamburg gelandet waren. Wie erzählen diese bislang in der Forschung wenig beachteten Akteure heute über ihr Leben und ihr (letztlich gescheitertes) politisches Engagement?

Gerade in den zwei letztgenannten Beiträgen wird mit der Untersuchung migrantischer (Selbst-)Organisation in der Einwanderungsgesellschaft oder dem Agieren (post-)autonomer Linker in den 1990er-Jahren bereits der Boden für künftige Forschungsarbeiten erkennbar. Wünschenswert wäre auch ein Beitrag dazu gewesen, wie aus Konsument*innen im Zuge der Pluralisierung von Lebensstilen die Figur des Verbrauchers mit eigenem Selbstbewusstsein im wirtschaftlichen Gefüge wurde – und was daraus wurde. Viel zu selten wird zudem der Blick auf das Themenfeld Wirtschaft oder in die Welt der Arbeit gewagt. Freilich, so sehr die einzelnen Beiträge des Buches mit großem Erkenntnisgewinn zu lesen sind, lassen sie sich in ihrer Gesamtheit schon jetzt nur schwer gemeinsam diskutieren.

Zumal die Beiträge methodisch auf kaum vergleichbaren Ebenen angelegt sind. Mal werden Praktiken, mal Diskurse analysiert. Mal wird die Interpretation von Liedtexten vorgenommen, mal die langfristige Wirkungsgeschichte von Büchern beschrieben, mal geht es um persönliche Erfahrungsberichte und mal werden statistische Auswertungen mit dem Habitus-Konzept konfrontiert, um soziale Milieus zu erkennen. Auch Interviews werden geführt und selbstverständlich die zeitgenössische Presse, ›graue Literatur‹ und Archivakten studiert. Diese methodische Vielfalt ist fraglos reizvoll und sie macht auch den Charme aus, wenn erforscht wird, »wie und ob sich neue Subjektivitätsmerkmale seit den 1960er Jahren entwickelten« (S. 14).

Allerdings werden in den Fallbeispielen immer wieder ganz verschiedene »Wir« angerufen oder sie haben sich – was die Sache erneut nicht einfacher macht – vor verschiedenen Hintergründen in differenzierte Interessen, Belange, Positionen und darin in ganz unterschiedliche Subjektivitäten übersetzt. Entspricht das nun dem »und wieder zurück« im Titel? Das diesbezügliche Fragezeichen bleibt in vielen Beiträgen unaufgelöst. So landen wir beim Nachdenken über das vorgelegte Buch tatsächlich in einer Gegenwart, in der es schwerfällt, zu einem tieferen gesellschaftsdiagnostischen und gesellschaftskritischen Verständnis zu gelangen, und bei einer Gesellschaft, in der angesichts neuer Problemlagen (von ›Corona‹ über Krieg bis hin zur menschengemachten ökologischen Krise) bereits um notwendige neue »Wir« gerungen wird – und doch viel zu oft nur die alten hervorgeholt werden. Detlef Siegfried auch von mir die besten Wünsche zu seinem 65. Geburtstag!

 

Zitierempfehlung

Uwe Sonnenberg, Rezension zu: Knud Andresen/Sebastian Justke/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Vom Ich zum Wir und wieder zurück? Subjektverständnisse zwischen Politisierung und Entradikalisierung seit den 1960er Jahren, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81983> [17.4.2024].

 

[1]Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.

[2]Detlef Siegfried, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, um ein Nachwort erw. Auflage, Göttingen 2017 (zuerst 2006); ders./Sven Reichardt (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010.

[3]Detlef Siegfried, Die Rückkehr des Subjekts, in: Olaf Hartung/Katja Köhr (Hrsg.): Geschichte und Geschichtsvermittlung, Festschrift für Karl Heinrich Pohl, Bielefeld 2008, S. 125-146.

[4] Überraschenderweise wird im besprochenen Buch auf diese oder eine andere mögliche Herkunft des Titelzitats nicht eingegangen. Das Motto zierte auch die Beitrittsurkunde der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), vgl. Uta Bretschneider, »Vom Ich zum Wir«? Flüchtlinge und Vertriebene als Neubauern in der LPG, Leipzig 2016.

[5] Die vorgestellten Lieder können mit Hilfe von QR-Codes einzeln aufgerufen und nachgehört werden – ein sehr zu begrüßendes crossmediales Angebot in einer wissenschaftlichen Publikation!

Detlev Brunner/Michaela Kuhnhenne (Hrsg.), Proteste, Betriebe und Gewerkschaften. Beiträge zur ostdeutschen Transformation seit 1990

(Schriftenreihe der Johannes-Sassenbach-Gesellschaft, Nr. 7)

BeBra Wissenschaft | Berlin 2023 | 120 Seiten, Paperback | 24,00 € | ISBN 978-3-95410-317-1

rezensiert von

Christian Rau, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Berlin

Rezension als pdf

Die post-sozialistische Transformation in Ostdeutschland, die viele Jahre lang das Sujet der Sozialwissenschaften war, erfährt seit einigen Jahren eine intensive Historisierung. Dominierte dabei anfangs noch die Perspektive auf nationale Akteure wie die Treuhandanstalt, geraten zunehmend auch lokale Sichtweisen in den Fokus. Der von zwei ausgewiesenen Gewerkschaftsforscher:innen herausgegebene Sammelband »Protest, Betriebe und Gewerkschaften« trägt zu dieser Perspektivverschiebung bei und schließt zugleich an jüngere Arbeiten an, die sich mit betrieblichen oder gewerkschaftlichen Akteuren in dieser tiefgreifenden Umbruchphase beschäftigt haben.[1] Ziel der Herausgeber:innen ist es aber nicht nur, einen historiographisch-methodischen Beitrag zu jener auch politisch heiß umkämpften Phase zu leisten, indem sie konkret nach Einflussmöglichkeiten von Belegschaften und Gewerkschaften auf die Politik der Treuhand fragen. Ihr Anspruch erstreckt sich auch auf das Feld der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. So verstehen sie ihren Band gleichermaßen als Beitrag zur Zukunftsdebatte in (Ost-)Deutschland, für die sie die Transformationserfahrungen der Ostdeutschen fruchtbar machen möchten.

Die fünf Beiträge zum Kampf um das Stahlwerk Hennigsdorf (Jakob Warnecke), zum Konflikt um die Thüringer Faser AG (Jary Koch), zum Automobilwerk Eisenach (Jessica Lindner-Elsner), zur ADDINOL Mineralöl GmbH (Konrad Bunk) und zur Berichterstattung über die Proteste gegen die Politik der Treuhand (Justin Andrae) bieten jeweils für sich genommen spannende Tiefenbohrungen, aus denen die Dynamik der historischen Ereignisse, Prozesse und Akteurskonstellationen hervorgeht. Gleichwohl ist die Qualität der Beiträge recht unterschiedlich. Dies hat zum Teil damit zu tun, dass sie aus unterschiedlichen Qualifikationsstadien stammen. Sie beruhen auf Masterarbeiten, Doktorarbeiten und Post-Doc-Projekten. Insofern ist die unterschiedliche Qualität kein Manko, sondern es ist vielmehr begrüßenswert, dass auch Abschlussarbeiten, die ansonsten in Universitätsschränken verschwinden, veröffentlicht wurden. Etwas enttäuschend ist jedoch der auf einer Doktorarbeit beruhende Aufsatz von Lindner-Elsner. Hier bleibt die betriebliche Ebene zu blass. Stattdessen dient ihr das Automobilwerk als Beispiel, um die mit der wirtschaftlichen Transformation einhergehenden sozialen Ungleichheiten zu exemplifizieren, ohne jedoch zum bekannten Problem der Benachteiligung und der Armutsrisiken von Alleinerziehenden und älteren Frauen wesentlich Neues beizutragen. Das ist umso bedauerlicher, als die anderen Beiträge die Geschlechterdimension bestenfalls anreißen. Nur an einer Stelle weist Lindner-Elsner darauf hin, dass die Interessen dieser marginalisierten Gruppen in betrieblichen Sozialplanverhandlungen durchaus vertreten wurden. Darüber hätte man gern mehr erfahren.

Demgegenüber verdeutlichen die Beiträge von Warnecke, Koch und Bunk, welches Potential in einem konsequenten mikrohistorischen Zugriff liegt. Vor allem Warnecke zeigt, wie betriebsinterne Konflikte in den späten 1980er Jahren in bürgerschaftliches und gewerkschaftliches Engagement nach 1989/90 münden konnten. Es greift also zu kurz, ostdeutsche Belegschaftsproteste einzig aus Konfliktkonstellationen mit der Treuhand heraus zu erklären, auch wenn diese im Falle der Thüringer Faser AG tatsächlich die Initialzündung für eine landesweite Protestbewegung darstellten. Westdeutsche Gewerkschaftsstrukturen wurden dabei, so ein weiterer Befund, nicht zwangsläufig als übergestülpt erfahren, sondern vermochten es besonders auf örtlicher Ebene, ostdeutsche Interessen zu bündeln und in den politischen Diskurs einzubringen. So beteiligten sich Belegschaftsvertreter:innen und Gewerkschaften vor Ort auch an Standortdebatten, die über die Ebene des Betriebs hinauswiesen. Wie unterschiedlich und mitunter unentschieden sich dabei auch die Landesregierungen verhielten, die ja Sitz und Stimme im Verwaltungsrat der Treuhand hatten, zeigen besonders die Beiträge von Koch und Bunk. Solche lokalen und regionalen Dynamiken geraten in der Vogelperspektive ebenso aus dem Blick wie das auf dieser Ebene wirksame Ineinandergreifen von westdeutscher Gewerkschaftspolitik und ostdeutschen Interessen. Die lediglich bei Bunk kurz angerissene Rolle der Europäischen Union verdient künftig aber ebenso eine stärkere Beachtung. Ein kleines Manko ist es auch, dass die Beiträge zu sehr darum bemüht sind, die relativen Erfolge der Belegschaften und Gewerkschaften in den Fokus zu stellen, sodass Bruchlinien innerhalb der Belegschaften eher wenig Aufmerksamkeit erfahren.

Thematisch etwas außerhalb der betrieblichen und regionalen Fallstudien steht der mediengeschichtliche Beitrag von Andrae, der dennoch eine wichtige Perspektive in die Debatte einbringt. Er zeigt nicht nur Konjunkturen in der nationalen Berichterstattung über die Treuhand auf und gibt Einblicke in den Alltag der Pressestelle der Behörde, sondern kontrastiert diese Ergebnisse auch mit der regionalen Berichterstattung, in der die Treuhand viel intensiver und emotionaler verhandelt wurde. Auch wenn das alles nicht ganz neu ist, erweist sich doch vor allem der vergleichende, wenngleich zu kurz kommende Rekurs auf audio-visuelle Medien als anregend für weitere Fragestellungen, etwa, wie deren Eigenlogiken und -narrative auf Identitätskonstruktionen ostdeutscher Belegschaften einwirkten. Der Beitrag lässt sich somit auch als Aufforderung verstehen, die Medien als aktiv Handelnde in die historische Analyse zu integrieren.

Während sich die Beiträge trotz kleiner Monita nicht nur für die Gewerkschaftsgeschichte, sondern auch für die Transformationsgeschichte als weiterführend erweisen, indem sie zeigen, dass das oft für den Osten bemühte Opfernarrativ zu einseitig ist, bleiben die Bezüge zur Gegenwart (und Zukunft) am Ende doch recht vage und assoziativ. Nur an wenigen Stellen berühren die Beiträge überhaupt diese in der Einleitung so stark gemachte Dimension und auch die Herausgeber:innen bleiben ein entsprechendes Resümee schuldig. Dazu hätten die Beiträge über ihre kurzen Betrachtungszeiträume – in der Regel die Treuhand-Jahre von 1990 bis 1994 – hinausgehen und nach längerfristigen Dynamiken fragen müssen. So bleibt etwa Kochs Behauptung, dass die ostdeutsche betriebliche Protestbewegung ein »wichtiges Kapitel bundesdeutscher Demokratie- und Protestgeschichte« (S. 36f.) sei, ohne weitere Ausführungen stehen. Dabei ist es fraglich, ob es sich bei den Protesten tatsächlich um eine »Bewegung« handelte, denn die meisten betrieblichen Proteste blieben auf ihre örtlichen Wirkungsräume begrenzt. Das Protestbündnis, das Koch selbst untersucht, ist hier eher eine Ausnahme. Auch drängt sich der Eindruck auf, dass Koch den Demokratiebegriff eher normativ verwendet. In der Tat steht die historische Transformationsforschung, die noch immer sehr stark auf die wirtschaftliche Dimension fokussiert, vor der großen und dringlichen Herausforderung, umfassendere historische Perspektiven auf die (ost-)deutsche Demokratiegeschichte nach 1990 zu entwickeln. Das leistet der vorliegende Sammelband jedoch nicht, so sehr er mit seiner mikrogeschichtlichen Perspektivierung überzeugt.

 

Zitierempfehlung

Christian Rau, Rezension zu: Detlev Brunner/Michaela Kuhnhenne, Protest, Betriebe und Gewerkschaften. Beiträge zur ostdeutschen Transformation seit 1990, BeBra Wissenschaft, Berlin 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81984> [17.4.2024].

 

[1] Vgl. Detlev Brunner/Michaela Kuhnhenne/Hartmut Simon (Hrsg.), Gewerkschaften im deutschen Einheitsprozess. Möglichkeiten und Grenzen in Zeiten der Transformation, Bielefeld 2018; Eric Weiß, Gewerkschaftsarbeit im Vereinigungsprozess. Die Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik in der Transformationszeit 1990–1994, Berlin 2018; Christian Rau, Die verhandelte »Wende«. Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik, Berlin 2022; Eva Lütkemeyer, Wendemanöver. Die Transformation der ostdeutschen Werftindustrie 1989/90–1994, Berlin 2023.

Thomas Großbölting, Alfred Müller-Armack – die politische Biografie eines Ökonomen

(Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Nr.17)

Aschendorff Verlag | Münster 2023 | 95 Seiten, gebunden | 29,00 € | ISBN 978-3-402-15903-3

rezensiert von

Ralf Ptak, Universität Köln

Rezension als pdf

Der Historiker und Leiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Thomas Großbölting, hat eine politische Biographie zu Alfred Müller-Armack vorgelegt – der neben Ludwig Erhard wohl wichtigsten Ikone der Sozialen Marktwirtschaft. Die Publikation ist in der Reihe »Veröffentlichungen des Universitätsarchiv Münster« erschienen, was deshalb erwähnenswert ist, weil Müller-Armack in Münster wesentliche Stationen seines akademischen Werdegangs verbracht hat. Auch wenn der Titel einen umfassenden Zugang zu Person und Werk erwarten lässt, steht die Auseinandersetzung mit der Rolle Müller-Armacks in der Zeit des Nationalsozialismus im Zentrum der nur knapp über 90 Seiten starken Schrift. Alle übrigen Abschnitte zur Kindheit, zur Rolle als Ökonom und als führender Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft sowie maßgeblicher Wirtschaftspolitiker der Nachkriegszeit zeigen sich eher als Umrahmung der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Müller-Armacks. Obwohl der Text durch diesen Zuschnitt der gesamten Komplexität von Person und Werk Müller-Armacks kaum gerecht wird, nimmt sich Großbölting einer wichtigen, bis heute unterbelichteten und zudem kontrovers diskutierten Fragestellung an. Für ihn geht es in erster Linie um die Klärung der Frage, ob das NSDAP-Mitglied Müller-Armack tatsächlich lediglich ein Mitläufer, ggf. ein Opportunist der NS-Zeit war, der wie viele andere Intellektuelle nach anfänglicher Sympathie in die »innere Emigration«, ja sogar in eine Art passiven Widerstand gegangen sei. So behaupten es vor allen Dingen ehemalige Schüler Müller-Armacks und ordoliberale Sympathisanten, die retrospektiv diese Legende verbreitet haben, da der Protagonist selbst einer Aufklärung dieser Frage lebenslang ausgewichen war.

Es ist Großbölting zuzustimmen, dass diese Auseinandersetzung deshalb von Bedeutung ist, weil Müller-Armack eine herausragende Bedeutung für die bundesdeutsche Legendenbildung um die Soziale Marktwirtschaft hat. Man könnte etwas präziser sagen: Die Narrative um die Soziale Marktwirtschaft sind konstituierend für die westdeutsche Identitätsbildung, weshalb die führenden Köpfe der wirtschaftlichen Neuordnung nach 1945 von jeglicher NS-Belastung oder auch nur indirekter Verwicklung reingewaschen werden mussten. Das gilt im Übrigen nicht nur für den besonderen Fall Müller-Armacks, sondern letztlich für die gesamte ordoliberale Gründergeneration, die mit Ausnahme der Exilanten Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke in Deutschland geblieben war und in dieser Zeit die theoretischen Grundlagen des Ordoliberalismus erarbeitet und veröffentlicht hatte. Besonders Leonhard Miksch und Ludwig Erhard waren in die kriegswirtschaftliche Beratung einbezogen, andere Vertreter der Freiburger Schule suchten mit ihren Forschungsarbeiten nach Anschlussmöglichkeiten für das Modell einer autoritären Marktwirtschaft.[1]

Großbölting nimmt sich die einzelnen Argumentationsstränge der biographischen Reinwaschung von Müller-Armack differenziert vor, mal scharf und deutlich formulierend, dann aber auch changierend und etwas unsicher. Das mag daran liegen, dass Großbölting als Historiker sonst zu ganz anderen Themenfeldern forscht bzw. publiziert und ob der narrativen Mächtigkeit des tradierten Bildes Müller-Armacks Vorsicht walten lässt. Gut gelungen ist die Auseinandersetzung mit Müller-Armacks Schrift »Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich« von 1933, in der seine Sympathien für das Völkische und den italienischen Faschismus ebenso deutlich werden wie seine grundsätzliche Begeisterung für die »neue« Zeit. Schließlich wird diese Schrift in den meisten biographischen Beiträgen ignoriert oder als Ausrutscher deklariert. Erhellend, wenn auch nicht gänzlich neu, ist die Aufarbeitung der Münsteraner Zeit von Müller-Armack, denn hier wurde er 1940 zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie und Kultursoziologie berufen und hier begann auch die Legendenbildung zu seiner Person. Großbölting stellt gut belegt dar, wie Müller-Armack die unter seiner Leitung stehenden Forschungsinstitute zur Wohnungswirtschaft und insbesondere zur Textilwirtschaft im kriegswirtschaftlichen Kontext positionierte und dabei mit diversen regionalen und Wirtschaftsgrößen der NSDAP eng kooperierte.

Das tat Müller-Armack weitgehend ohne Verwendung rassistischer und antisemitischer Ideologeme, aber mit klarem Bekenntnis zum deutschen Nationalismus und zur völkischen Großraumwirtschaft. Etwas undeutlich bleibt Großbölting in der Diskussion um die Behauptung, dass die Verwendung des Begriffs Marktwirtschaft im Münsteraner Wirken Müller-Armacks als widerständige Handlung zu werten sei, wie es dessen Verteidiger häufig anführen. Dieses Argument wird auch gern in der Auseinandersetzung um die Freiburger Schule und ihre ab 1937 erschienene »Schriftenreihe zur Ordnung der Wirtschaft« angeführt. Es beruht jedoch auf einem verkürzten Verständnis nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik. Zumeist wird dabei auf den von Eucken selbst produzierten Dualismus von Marktwirtschaft einerseits und Zentralverwaltungswirtschaft anderseits abgehoben, wobei dem Nationalsozialismus letztere zugeschrieben wird. Das ist allerdings bestenfalls halb richtig, denn jenseits der kriegswirtschaftlichen Organisation der Volkswirtschaft, in der immer Produktion zentralisiert und marktwirtschaftlicher Wettbewerb ausgesetzt wird, waren weder Hitler noch die wirtschaftspolitisch Verantwortlichen der NSDAP gegen Marktwirtschaft an sich, wie sich an vielen NS-Quellen nachweisen lässt. Sie schwadronierten zwar propagandistisch gegen liberalistisches Versagen, verteidigten aber durchaus die »natürlichen« Selektionsmechanismen einer (autoritären) Marktwirtschaft. Gerade weil die NSDAP in der Wirtschaftspolitik über kein festes Konzept verfügte und ihre Positionen diesbezüglich voller Ambivalenz waren, witterten die Vertreter eines autoritären Liberalismus zumindest bis Anfang der 1940er-Jahre durchaus eine Chance, mit dem starken Staat eine marktgerechte Ordnungspolitik wenigstens in Teilen umzusetzen.

Großbölting erwähnt auch Müller-Armacks Schrift »Entwicklungsgesetze des Kapitalismus« von 1932, die er allerdings als weniger bedeutend betrachtet. Das ist mit Blick auf Großböltings primäres Erkenntnisziel durchaus nachvollziehbar, aber im Hinblick auf die Gesamtperson Müller-Armacks und sein Werk nicht angemessen. Tatsächlich stehen die beiden genannten Schriften von 1932 und 1933 in unmittelbarer Kontinuität zueinander, auch wenn der Wechsel zu einer völkischen Sprache in »Staatsidee und Wirtschaftsordnung« von 1933 diesen Blick zunächst verstellt. Gerade in den »Entwicklungsgesetzen« von 1932 werden die Grundelemente seines Denkens deutlich, die er dann 1933 mit völkischem Geschwurbel auflädt. Ihm geht es um Kapitalismus als ein offenes System, das unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen existieren kann: »Die vom Kapitalismus zum Systemgedanken gemachte Fortschrittsförderung hat eine Richtung, aber kein festes Ziel. Der vom Kapitalismus realisierte Fortschritt darf nicht als schrittweise Annäherung an ein Ideal verstanden werden.«[2] In scharfer Abgrenzung zum Marxismus und in Anlehnung an seine konjunkturpolitischen Studien der 1920er-Jahre prägte er den Begriff der »Selbstrealisierung«, der als evolutionäres Prinzip die Offenheit des kapitalistischen Prozesses gewährleisten soll und zugleich den Kapitalismus als »geschichtliches Monopol« begründet. Zur Stabilisierung dieses Systems hielt es Müller-Armack für unabdingbar, dass »ein objektives Ordnungsgefüge, mit dem der erwünschte Erfolg zu erreichen ist, ›erfunden‹ wird.«[3]

Die Erfindung eines solchen Ordnungsgefüges ist der Kern des Denkens und Wirkens von Müller-Armack. Zurecht verweist Großbölting auf den Begriff »Geschichtsaktivismus« in der Schrift von 1933, den Müller-Armack einsetzt, um die Notwendigkeit ideologischer Anpassungen an veränderte Gesellschaftsformationen zu beschreiben. Müller-Armacks Analysen der gesellschaftspolitischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen haben den Zweck, für die jeweils spezifische historische Phase des Kapitalismus das erforderliche Framing, das »objektive Ordnungsgefüge«, immer wieder neu zu ›erfinden‹. Deshalb ist Müller-Armacks Weg vom Nationalismus hin zur Religion als neuer ideologische Klammer in der Nachkriegszeit kein Bruch, sondern eine Kontinuitätslinie. So erklären sich auch die inhaltlich stark divergierenden Texte im Werk von Müller-Armack, die es praktisch allen politischen Kräften in Deutschland bis heute möglich machen, sich auf ihn und die Soziale Marktwirtschaft zu beziehen. Und so ist die theoretische Leere der Sozialen Marktwirtschaft als Konzeption, die Großbölting benennt, kein Fauxpas. Sie ist vielmehr Ausdruck dessen, dass die Soziale Marktwirtschaft von Müller-Armack als eine flexible Implementierungsstrategie und als methodisches Prinzip angelegt wurde, um die Grundsätze der sperrigen ordoliberalen Programmatik in die reale Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik zu überführen.[4] Vor diesem Hintergrund ist es auch wenig zielführend, einzelne theoretische Widersprüche zwischen Müller-Armack und anderen Ordoliberalen übermäßig zu betonen, handelt es sich doch eher um eine komplementäre Beziehung mit unterschiedlichen Handlungsfeldern auf der Grundlage eines gemeinsamen ordoliberalen Weltbildes. Ob Müller-Armack dabei der Erfinder des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft war, wie er selbst und seine Apologeten stets suggerieren, ist umstritten, aber letztlich ohne Belang. Hier lohnt sich vielmehr ein Blick auf die konkrete Popularisierung des Begriffs in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Uwe Fuhrmann sehr deutlich herausgearbeitet hat.[5]

Trotz ihrer Engführung ist die Biographie von Großbölting ein anregender und lesenswerter Text zur Auseinandersetzung um Müller-Armack und die Soziale Marktwirtschaft. Die im Zentrum stehende Debatte um dessen nationalsozialistische Vergangenheit ist ein wichtiger Beitrag in einer bis heute weitgehend verdrängten deutschen Diskussion. Vielleicht wäre ein anderer, dem Inhalt angemessener Titel sinnvoll gewesen. Auch hätte dem Text ein ordentliches Lektorat gutgetan, da einige Quellen ungeklärt oder missverständlich bleiben.

 

Zitierempfehlung

Ralf Ptak, Rezension zu: Thomas Großbölting, Alfred Müller-Armack – die politische Biografie eines Ökonomen, Aschendorff Verlag, Münster 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81985.pdf> [17.4.2024].

 

[1] Vgl. Ralf Ptak, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004, S.62-109.

[2]Alfred Müller-Armack, Entwicklungsgesetze des Kapitalismus. Ökonomische, geschichtstheoretische und soziologische Studien zur modernen Wirtschaftsverfassung, Berlin 1932, S. 38.

[3] Ebd., S. 18 u. 42.

[4] Vgl. Thomas Biebricher/Ralf Ptak, Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2020, S.77-148.

[5]Uwe Fuhrmann, Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, Konstanz 2017.

Benedikt Josef Neuroth, Das Private in der Sicherheitsgesellschaft. Umstrittene Freiheitsrechte in den USA 1963–1977

(Bürgertum. Neue Folge, Bd. 23)

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2023 | 422 Seiten, gebunden | 70,00 € | ISBN 978-3-525-30222-4

rezensiert von

Antonia Wegner, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Rezension als pdf

Wer die gegenwärtigen politischen Verwerfungen der US-Gesellschaft aus historischer Perspektive verstehen will, setzt oft bei den tiefgreifenden Verschiebungen in den 1960er- und 1970er-Jahren an. Auch Benedikt Josef Neuroth untersucht in seiner Dissertation mit den Auseinandersetzungen um »privacy« und »security« zwischen 1963 und 1977 einen Diskurs aus diesem Zeitraum, dessen intellektuelle und politische Folgen ihm zufolge bis heute reichen. Der Autor zeigt anhand von drei Schlüsselkonflikten – um Datenschutz, um die Arbeit der Geheimdienste und um Reproduktionsrechte –, wie unterschiedliche Akteur*innen in verschiedenen Politikfeldern mehr bürgerliche Mitbestimmung bei der Gestaltung der Übergänge zwischen der individuellen und der gesellschaftlichen Sphäre einforderten. »Privacy« und »security« wurden – ähnlich anderen politischen Grundbegriffen d