Archiv der sozialen Demokratie


Rezensionen

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Aktuelle Rezensionen

Helena Barop, Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute

Siedler Verlag | München 2023 | 304 Seiten, Hardcover | 26,00 € | ISBN 978-3-8275-0172-1

rezensiert von

Kristoff Kerl, Köln

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In den letzten Jahren ist in einigen Ländern wie Uruguay und den USA Bewegung in die Drogenpolitik gekommen. Das Ende Februar im Bundestag verabschiedete Cannabisgesetz erlaubt es nun auch in Deutschland Erwachsenen, über sogenannte Cannabis Social Clubs legal Cannabis zu erwerben bzw. es privat anzubauen und zu konsumieren. Diese Veränderungen in den Drogenpolitiken einiger Länder hat die Historikerin und Publizistin Helena Barop zum Anlass genommen, um einen Überblick über die Entstehung moderner Drogenprohibition zu liefern. Bereits in ihrer 2021 veröffentlichten und mehrfach preisgekrönten Dissertation »Mohnblumenkriege« hatte sich Barop detailliert mit einem wichtigen Aspekt moderner Drogenpolitik auseinandergesetzt: der Drogen-Außenpolitik der USA zwischen den 1950er und den 1970er Jahren.[1] Nun hat sie mit »Der große Rausch« ein weiteres und erneut sehr lesenswertes Buch vorgelegt. Bei »Der große Rausch« handelt es sich jedoch, anders als bei ihrer ersten Monographie, nicht um ein wissenschaftliches Buch, sondern um ein Sachbuch, das ein breiteres Publikum adressiert und zu diesem Zwecke auf einen wissenschaftlichen Sprachduktus, einen ausführlichen Endnotenapparat und ein detailliertes Literatur- bzw. Quellenverzeichnis verzichtet.

Zeitlich nimmt das Buch den Zeitraum seit dem 19. Jahrhundert in den Blick. Geographisch richtet Barop den Untersuchungsfokus weitgehend auf die USA, die sie als maßgebliche Kraft bei der Herausbildung der modernen Drogenprohibition begreift. So widmen sich acht der insgesamt elf Kapitel der von den USA sowohl im Inneren als auch außenpolitisch verfolgten Drogenpolitik. Aber auch die Entwicklung, die die Drogenpolitik in den geographischen Gebieten genommen hat, aus denen sich die Bundesrepublik zusammensetzt, wird skizziert – wenn auch eher kursorisch.

Einleitend problematisiert die Autorin zunächst den Begriff der »Droge«, wie er alltagssprachlich häufig genutzt wird und dessen Verwendung laut Barop Substanzen wie Alkohol ausschließt. Dabei verweist sie anschaulich auf die Willkürlichkeit und die Widersprüchlichkeit des Sammelbegriffs »Droge«, der sich einer kohärenten Definition entzieht. Vor diesem Hintergrund verwendet sie den Terminus als einen Quellenbegriff.

Den Anfang nahm die Geschichte der modernen Drogenprohibition mit der Synthetisierung von Substanzen wie Morphium (1805) und der Popularisierung eines neuen, nicht-medizinischen Drogengebrauchs durch romantische Dichter wie Thomas De Quincey, Samuel Coleridge und Charles Baudelaire, der auch bald in der Konsumkultur in Form psychoaktiver Genussmittel – beispielsweise dem Pemberton’s French Wine Coca, dem Vorgänger der Coca-Cola – seine Spuren hinterließ (Kapitel 1). Die Entdeckung des Morphiums und des Kokains (1860) lösten in den USA jeweils für einige Jahre große Wellen der Euphorie aus und die Anzahl an Menschen, die diese Substanzen konsumierten, wuchs rapide, bevor der massiv gestiegene Konsum dann mit ein paar Jahren Verzögerung problematisiert wurde. Die ersten gesetzlichen Verbote betrafen jedoch eine andere Substanz: das Rauchopium, das 1875 in San Francisco kriminalisiert wurde. Dieses Verbot wies eine deutlich rassistische Stoßrichtung auf, wurde es doch aufs Engste mit vermeintlich von chinesischen Arbeitsmigranten ausgehenden Lastern und Gefahren verknüpft (Kapitel 2).

Nachdem im späten 19. Jahrhundert der Konsum von Substanzen wie Opium zunehmend mit »Sittlichkeit« und »Moral« in Kontrast gesetzt wurden, kam es um die Jahrhundertwende auch zu den ersten Bemühungen der USA, dem als Übel ausgemachten Drogengebrauch auf globaler Ebene entgegenzuwirken. Und auch im Inneren wurde durch die Verabschiedung des Harrison Narcotics Tax Act (1915) mit restriktiveren legislativen Mitteln gegen Drogenabhängigkeit vorgegangen (Kapitel 3). Nur einige Jahre später wurde in den USA zudem die Herstellung, der Verkauf und der Konsum von Alkohol kriminalisiert – eine politische Entscheidung, die rasch zur Herausbildung von Schwarzmärkten führte, die wiederum von »Untergrundunternehmen« (S. 83) dominiert wurden (Kapitel 4). Nachdem 1933 die Alkoholprohibition wieder aufgehoben wurde, engagierten sich diese auf neu entstehenden Schwarzmärkten. Einen wichtigen Beitrag hierzu lieferte das Verbot des Cannabiskonsums durch den Marihuana Tax Act von 1937, die eng mit anti-mexikanischen moral panic-Diskursen verwoben war (Kapitel 5). Während illegale Substanzen auch in den folgenden Dekaden in steter Regelmäßigkeit zum Gegenstand von moral panic-Diskursen wurden, gerieten legale Amphetamine und Beruhigungsmittel im Zeitalter des McCarthyismus und des Konformismus in den 1950er Jahren zu den kleinen Helfern vieler Bewohner*innen der von den weißen Mittelschichten dominierten suburbanen Räume. Gleichzeitig diente Substanzgebrauch in den 1950er Jahren subkulturellen Gruppen wie den Beats als Mittel eines gegen die dominanten Formen der Lebensführung gerichteten Lebensstils. Substanzgebrauch war also gleichzeitig eine Technik der gesellschaftlichen Anpassung wie auch der rebellischen Abgrenzung (Kapitel 6).

Aber auch in das Feld der psychiatrischen Therapie fanden (psychedelische) Substanzen wie das 1938 erstmals von Albert Hofmann synthetisierte LSD seit den 1950er Jahren zunehmend Einlass. Psychiater*innen und Psycholog*innen wie Humphry Osmond und Timothy Leary versuchten, psychedelische Substanzen dafür fruchtbar zu machen, vermeintliche oder tatsächliche psychische Probleme und Persönlichkeitsstörungen zu erforschen und zu therapieren. Das Zeitalter der »psychedelischen Revolution« nahm seinen Anfang (Kapitel 7). In den 1960er Jahren nutzten zunehmend auch andere Bevölkerungsgruppen die vermeintlichen Subjekteffekte psychedelischer Substanzen. LSD, Meskalin, Psilocybin und Cannabis fanden nun auch Anklang in studentischen und gegenkulturellen Szenen und Milieus – eine Geschichte, die Barop in ihrem Narrativ eng mit dem 1963 von der Harvard University entlassenen Timothy Leary und den sogenannten Hippies verknüpft. Während Gegenkulturelle unterschiedlicher Couleur versuchten, mittels psychedelischer Substanzen und Cannabis ihr Bewusstsein zu »erweitern«, breitete sich in den afroamerikanischen Communities in den zunehmend pauperisierten Innenstädten der großen Metropolen der Gebrauch von Heroin aus (Kapitel 8). Der Substanzgebrauch dieser beiden Bevölkerungsgruppen bildete den Hintergrund des Feldzugs gegen Drogen, den Richard Nixon nach seiner Wahl zum US-Präsidenten 1968 im Namen der sogenannten silent majority startete und der im 1971 ausgerufenen War on Drugs mündete. (Kapitel 9).

Der Export der US-amerikanischen Politik der Drogenprohibition bildet den Gegenstand des zehnten Kapitels, wobei primär die Drogenpolitik im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik im Verlauf des 20. Jahrhunderts in den Fokus genommen wird. Obwohl Drogengebrauch bereits in den Dekaden zuvor eine Rolle gespielt hatte – beispielsweise war den Soldaten im Zweiten Weltkrieg im großen Stile Amphetamine gegeben worden – wurde Drogengebrauch erst in den Jahren um 1970 zu einem öffentlichen Problem, wobei die öffentliche Debatte laut Barop von Fehlinformationen und hysterischen Vorstellungen von Drogenabhängigkeit durchzogen war. In Reaktion darauf kam es zur Verabschiedung eines Betäubungsmittelgesetzes, das wesentlich von US-amerikanischen Politikansätzen inspiriert war. In den folgenden Jahrzehnten wurde insbesondere der gesellschaftliche Umgang mit den sogenannten Junkies zum Sinnbild der bundesrepublikanischen »Drogenpolitik der Ausgrenzung und Desinformation« (S. 235) (Kapitel 10). Die Effekte, die die auf Prohibition ausgerichtete Drogenpolitik zeitigte, lassen sich gegenwärtig in den USA beobachten. Nicht nur, dass Drogenkonsument*innen durch die Politik der Prohibition dazu verdammt sind, auf dem Schwarzmarkt zu agieren und dort häufig verunreinigte Substanzen erwerben, die ihrer Gesundheit schwere Schäden zufügen, lässt sich auf dem Negativkonto der Drogenprohibition verbuchen. Die Drogenprohibition ist auch seit ihren Anfängen eng mit einem gegen People of Color gerichteten Rassismus verflochten, was sich etwa in der Praktik des racial profiling und den daraus resultierenden enorm hohen Zahlen afroamerikanischer Inhaftierter niederschlägt (Kapitel 11).

Helena Barop hat mit »Der große Rausch« ein gut lesbares, sehr informatives und den globalen Regimes der Drogenprohibition kritisch gegenüberstehendes Buch vorgelegt. Eine Stärke des Buches liegt darin, dass es die Verquickung der Drogenpolitiken mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Herrschaftskategorien wie Geschlecht und race bzw. Ethnizität überzeugend herausarbeitet. In diesem Kontext zeigt sich jedoch auch eine Schwachstelle des Buches: die stellenweise Neigung zu Verkürzungen und Simplifizierungen. In »Der große Rausch« wird die Geschichte der Drogenprohibition tendenziell als eine Geschichte dargestellt, die von weißen Männern wie Harry J. Anslinger, Timothy Leary und Richard Nixon gemacht wurde. Dabei drohen andere soziale Gruppen wie etwa weiße Mittelschichtsfrauen als Träger*innen der Drogenpolitiken aus dem Blick zu geraten.[2] Auch in der Darstellung des psychedelischen Substanzgebrauchs in der Counterculture der 1960er und 1970er Jahre zeigt sich dieser Hang zu argumentativer Verengung. Wenn Barop diese Geschichte wesentlich an Leary und den sogenannten Hippies festgemacht, läuft sie Gefahr die stereotype Gleichsetzung von Gegenkultur und Hippies zu reproduzieren. Aber die US-amerikanische Counterculture war wesentlich heterogener und auch militant agierende und von der Revolution träumende Gruppen wie die Youth International Party, die White Panther Party und der Weather Underground befürworteten in den Jahren um 1970 den Gebrauch von Cannabis und LSD als Mittel der radikalen Subjekt- und, darüber vermittelt, Gesellschaftstransformation.[3] Trotz dieser kleinen Kritikpunkte hat Helena Barop mit »Der große Rausch« ein interessantes und lesenswertes Buch vorgelegt, das nicht zu Unrecht seit seinem Erscheinen viel Aufmerksamkeit erfahren hat.

 

Zitierempfehlung

Kristoff Kerl, Rezension zu: Helena Barop, Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute, Sieder Verlag, München 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81978> [5.3.2024].

 

[1] Helena Barop, Mohnblumenkriege. Die globale Drogenpolitik der USA 1950–1979, Göttingen 2021.

[2] Weiße Frauen waren beispielsweise bedeutende Akteurinnen in der Prohibitionsbewegung oder in Anti-Cannabis-Initiativen der 1970er Jahre; vgl. Timo Bonengel, Riskante Substanzen. Der »War on Drugs« in den USA, 193-1992, Frankfurt/New York 2020; S. 146 u. 154-162; Joshua Clark Davis, From Head Shops to Whole Foods. The Rise and Fall of Activist Entrepreneurs, New York 2020, S. 114-116.

[3] Damon R. Bach, The American Counterculture. A History of Hippies and Cultural Dissidents, Lawrence (KS) 2020; Kristoff Kerl, Psychedelic Marxism. The Ecstatic States of the Body in the White Panther Party around 1970, American Communist History 22 (2023), Nr. 3-4, S. 173-194; ders., Rausch und Revolution. Die White Panther Party in Europa, in: Detlef Siegfried (Hg.), Global Europe Underground. Transnationale Netzwerke und globale Perspektiven europäischer Alternativmilieus, 1965-1985, München [2024].

Sebastian Elsbach, Eiserne Front. Abwehrbündnis gegen rechts 1931 bis 1933

Weimarer Verlagsgesellschaft | Wiesbaden 2022 | 160 Seiten, gebunden | 16,00 € | ISBN 978-3-7374-0294-1

rezensiert von

Dennis Werberg, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

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Am 16. Dezember 1931 schlossen sich mehrere republikanische Organisationen, darunter die SPD, das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, die Freien Gewerkschaften sowie der Arbeiter-Turn- und Sportbund zur »Eisernen Front« zusammen. Dieses »Abwehrbündnis gegen rechts« stellt Sebastian Elsbach in den Mittelpunkt einer eigenen, knapp abgefassten Studie zur historisch orientierten Demokratieforschung. Dabei ordnet er die Vorgeschichte und die Arbeit dieses republikanischen Zusammenschlusses in die Geschichte der Endphase der Weimarer Republik ein. Da die Eiserne Front keineswegs eine festgefügte, hierarchisch strukturierte Organisation war, sondern sich vielmehr über gemeinsame Verbindungsausschüsse der genannten eigenständigen Verbände organisierte, nimmt insbesondere die Tätigkeit des Reichsbanners hier viel Raum ein, die Elsbach bereits in seiner Dissertationsschrift umfassend behandelt hat.[1] Der Vorzug der hier besprochenen Arbeit liegt vor allem in der komprimierten Form, in der er seine Forschung für den Lesenden aufbereitet.

Spätestens mit dem erdrutschartigen Wahlerfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen im September 1930 war die Bedrohung des Nationalsozialismus für die Republik von Weimar offenkundig geworden. Das Parlament, die staatlichen Überwachungs- und Polizeibehörden sowie die Gerichte gingen aus verschiedenen Gründen nicht oder in nur unzureichendem Maße gegen diese Bedrohung vor. Initiativen im Reichstag gegen NSDAP und SA hatten aufgrund der starken Fragmentierung des Parlamentes und der inzwischen erreichten Stärke der nationalsozialistischen Fraktion kaum Aussicht auf Erfolg. Das Amt des Reichskommissars für Überwachung der öffentlichen Ordnung war personell nur schwach besetzt. Das Gleiche galt für die politische Polizei auf Landesebene. Zudem bestand zwischen den Behörden Uneinigkeit darüber, welches Verhalten der beobachteten politischen Akteure als verfassungsfeindlich anzusehen war und welches nicht. Der nach den Reichstagswahlen 1930 eingesetzte Sonderbeauftragte, der im Auftrag des Reichsministers des Innern Maßnahmen zur Eindämmung der Nationalsozialisten erarbeiten sollte – der Zentrumspolitiker und Mitbegründer des Reichsbanners Carl Spiecker – wurde nach dem »Rechtsruck« des Kabinetts Brüning im Herbst 1931 wieder abberufen. In dieser Situation waren es politisch engagierte Republikaner und ihre Organisationen, die in die Bresche sprangen. Im März 1931 schlossen sich diese zum Kartell republikanischer Verbände zusammen mit dem Ziel, die gemeinsame politische Basis zu verbreitern, das Reichsbanner durch den Aufbau paramilitärischer Verbände für den Kampf auf der Straße zumindest teilweise zu militarisieren und konkrete Verbotsmaßnahmen gegen die NSDAP zu erarbeiten. Über die Reichsbanner-Zeitung veröffentlichen die republikanischen Aktivisten neueste Entwicklungen und Vorkommnisse in Verbindung mit NSDAP und SA, um die Zivilgesellschaft auf die Bedrohung von rechts aufmerksam zu machen und den öffentlichen Druck auf die Regierungen zu erhöhen.

Hierzu gehörte auch, auf festgestellte Missstände in der Reichswehr hinzuweisen, der in der Endphase der Republik eine immer größere innenpolitische Bedeutung zukam. Dies führte zu großen Belastungen und Spannungen im Verhältnis zwischen Streitkräften und Reichsbanner, die auch durch persönliche Animositäten zwischen Reichswehrminister (und seit Oktober 1931 zugleich Reichsinnenminister) Wilhelm Groener und dem Bundesvorsitzenden des Reichsbanners Otto Hörsing, die eine regelmäßige briefliche Korrespondenz pflegten, bedingt waren. Zu wirksamen Schritten gegen die Nationalsozialisten, wie Hörsing sie forderte, ließ sich Groener zunächst nicht bewegen. Gleichzeitig nahm die Reichswehr die Annäherung von Reichsbanner und preußischer Landespolizei alarmiert auf. Der Versuch des Reichsbanners, im Zusammenwirken mit der Polizei ein republikanisches Gegengewicht zur Reichswehr aufzubauen, scheiterte jedoch am preußischen Innenminister Carl Severing, der stattdessen daraufsetzte, ein vertrauensvolles Verhältnis zum Reichswehrministerium aufzubauen. Dies setzte dem Reichsbanner enge Grenzen.

Für die Gründung der Eisernen Front im Dezember 1931 macht Elsbach verschiedene Motive aus. Vor allem war die Eiserne Front eine Antwort der republikanischen Verbände auf den allgemeinen Rechtsruck auf Reichsebene. So sollten die Kräfte des republikanischen Lagers insbesondere im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlkämpfe des Jahres 1932 und für den Abwehrkampf gegen die immer stärker werdende NS-Bewegung gebündelt werden. Deutlich weniger Einfluss als bisher angenommen hatte laut Elsbach die Großveranstaltung der selbsternannten »Nationalen Opposition« in Bad Harzburg im Oktober 1931, bei der die Republikfeinde von rechts daran scheiterten, ein festes Bündnis zu schließen. Von großer Bedeutung waren jedoch darüber hinaus machtpolitische widerstreitende Interessen innerhalb des republikanischen Lagers. So verfolgte die Reichsbanner-Führung unter Hörsing mit dem Zusammenschluss das Ziel, die Weimarer Koalition des Jahres 1919 im außerparlamentarischen Raum neu zu beleben und nicht zuletzt die Position des Reichsbanners als überparteilicher republikanischer Sammlungsbewegung zu stärken. Die SPD dagegen strebte danach, über den Zusammenschluss ihre Kontrolle über das Reichsbanner zu stärken und es in Zeiten der innenpolitischen Krisen zu einer rein sozialdemokratischen Schutztruppe umzuformen. In den Auseinandersetzungen zwischen Verband und Partei setzte sich die SPD schließlich durch und zwang Hörsing zum Rücktritt. An seine Stelle trat als geschäftsführender Vorsitzender Karl Höltermann, der eine stärkere Anbindung des Reichsbanners an die SPD garantieren sollte.

Hiernach bemühte sich Höltermann um eine Annäherung an Reichsregierung und Reichswehr und bot eine Zusammenarbeit mit der Eisernen Front bzw. mit dem Reichsbanner als zuverlässige Alternative zu einer Kooperation mit den Nationalsozialisten an. Um den erwarteten Aufstieg der NSDAP abzubremsen erklärte sich die SPD derweil bereit, das Kabinett Brüning weiter zu tolerieren. Das Engagement der Eiserne Front für die Wiederwahl Paul von Hindenburgs bei der Reichspräsidentenwahl im März und April 1932 verfolgte dasselbe Ziel. Als Groener in seiner Funktion als Reichsminister des Innern dem Druck der Länder nachgab und am 13. April 1932 ein reichsweites Verbot für SA und SS verhängte, schien dies ein großer Erfolg für die Republikaner zu sein. Vor dem Reichstag nahm Groener gleichzeitig das Reichsbanner in Schutz, erkannte den überparteilichen Charakter des Verbandes an und grenzte ihn positiv von der SA ab, die nicht dem Staatswohl, sondern einem einzigen Mann, nämlich Hitler, verpflichtet sei. Ein Zusammengehen von Reichswehr und Reichsbanner hätte jedoch die von Reichspräsident Hindenburg beabsichtigte autoritäre Umgestaltung des politischen Systems in Frage gestellt. Wie aus dem Nichts brachte Hindenburg daher am 26. April 1932 ein Verbot des Reichsbanners ins Spiel. Außerdem lief das SA-Verbot den Plänen Kurt von Schleichers, dem Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium und engen Vertrauten Groeners, entgegen, die nationalsozialistische Schlägertruppe als Personalreservoir für die Aufrüstung der Reichswehr zu gebrauchen. Noch im Mai wurde Groener dazu gedrängt, das Amt des Reichswehrministers niederzulegen. Nachdem Brüning am Ende desselben Monats als Reichskanzler ebenfalls zurückgetreten war, wurde das SA-Verbot unter seinem Nachfolger Franz von Papen bereits im Juni 1932 wieder aufgehoben. Schleicher wurde neuer Reichswehrminister. Trotz alledem hielten das Reichsbanner und die Eiserne Front unter Höltermann an dem bisherigen Kurs fest und boten sich selbst nach der verfassungswidrigen Absetzung der sozialdemokratisch geführten Regierung in Preußen am 20. Juli 1932 (»Preußenschlag«) als verlässlicher Partner der Reichswehr an. Die Übertragung der politischen Macht an Hitler am 30. Januar 1933 führte zunächst zu einer weiteren Intensivierung der Verbandsarbeit. Die letzte Massenveranstaltung der Eisernen Front fand am 17. Februar im Berliner Lustgarten statt. Doch bereits im März 1933 wurde das Reichsbanner in allen Ländern verboten und seine Organisationsstruktur zerschlagen.

Es ist ein zentrales Anliegen Elsbachs zu zeigen, dass selbst Länder mit starker autoritärer Tradition demokratiefähig sind – dafür ist Deutschland im Übergang vom Kaiserreich zur Republik ein gutes Beispiel. Doch ist Demokratie, selbst wenn sie erreicht ist, keine Selbstverständlichkeit. Sie muss gelebt und – wenn nötig – auch verteidigt werden. In Zeiten erstarkender autoritärer, demokratiefeindlicher Bewegungen und Parteien ist dieser Appell dringender denn je. Die Demokratie steht weltweit unter Druck. Auch wenn sie am Ende nicht erfolgreich waren, können die demokratischen Aktivistinnen und Aktivisten in der Weimarer Republik, die versuchten, »selbst in einer vermeintlich ausweglosen Situation noch ihren Idealen treu zu bleiben« (S. 17), als Vorbild dienen. Gleichzeitig müssen wir bei fest etablierten, autokratischen Systemen hinsichtlich der möglichen Geschwindigkeit eines politischen Wandels realistisch sein. Das gilt insbesondere für Gesellschaften, die über keine oder nur sehr schwache demokratische Traditionen verfügen. Elsbach warnt in diesem Zusammenhang zu Recht vor der Einnahme einer allzu aktivistischen Position und weist darauf hin, dass Demokratie nicht durch Kompromisslosigkeit gegenüber antidemokratischen Kräften allein erreicht werden könne: »Demokratiebewegungen sind fast immer auf einflussreiche Überläufer oder einen Kompromiss mit autoritären Machthabern angewiesen […].« (S. 17) Nur selten wird Demokraten die Macht einfach in die Hände gelegt. Daher ist es umso wichtiger, auf die Bedingungen des Erfolges bzw. des Misserfolges demokratischer Bewegungen in der Vergangenheit zu schauen, um hieraus Lehren auch für heutige Entwicklungen ziehen zu können.

 

Zitierempfehlung

Dennis Werberg, Rezension zu: Sebastian Elsbach, Eiserne Front. Abwehrbündnis gegen rechts 1931 bis 1933, Weimarer Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81975> [5.3.2024].

 

[1] Sebastian Elsbach, Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019.

Nils Güttler, Nach der Natur. Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 472 Seiten, gebunden | 38,00 € | ISBN 978-3-8353-5381-7

rezensiert von

Daniel Rothenburg, Universität Konstanz

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»Flughafenvergessenheit« (S. 20) attestiert Nils Güttler der Umweltgeschichte und verordnet ihr als Kur eine Geschichte des Frankfurter Flughafens. Die Studie wurde 2022 von der ETH Zürich als Habilitation angenommen und liegt nun in Buchform vor. Der Autor versteht dabei den Flughafen und die von ihm hervorgebrachte und überformte Region – die »Flughafenlandschaft« – als paradigmatisch für technisierte Landschaften, in denen »Natur« und »Gesellschaft« nicht mehr sinnvoll voneinander zu trennen sind. Die Umweltgeschichte habe sich der konzeptionellen Herausforderung, eine angemessene Beschreibung für diese Landschaften zu entwickeln, bisher zu selten gestellt. Dabei seien diese in ihrem Zustand »nach der Natur« (S. 20) doch gerade die Art von Landschaft, die für uns heute immer mehr zum Normalzustand würde. Die »Flughafenlandschaft« bringe ein traditionelles Verständnis, das an der physischen Geographie orientiert ist, an seine Grenzen. Diese Landschaft wird in Güttlers Buch daher entgrenzt – sie wird zum Kreuzungspunkt einer Vielzahl von Skalen, die räumlich mitunter weit entfernt vom eigentlichen Flughafen liegen, aber in seinen Betrieb, seine Wartung und seine Überwachung eingebunden sind. Der zentrale Zugang ist hierbei die Wissensgeschichte, wobei der konzeptionelle Anspruch auf eine »systematische Verbindung umwelt- und wissensgeschichtlicher Ansätze« zielt (S. 13).

Eine der großen Stärken von Nils Güttlers Ansatz ist, dass er seine Analyseregion als multiskalares Objekt begreift, mit dem es gelingt, Verbindungen zu einer Vielzahl von Kontexten zu ziehen, und dabei stets den Bezug zu seinem leitenden Erkenntnisinteresse wahrt. Dabei spielen die »großen« Entwicklungen wie der der Nachkriegsboom, der Beginn der »Ära der Ökologie« und die heraufziehende Hegemonie des Neoliberalismus zwar eine Rolle, sie werden aber stets auf ihre Bedeutung für die Flughafenregion und ihre Akteur:innen bezogen. Wie konsequent der Autor sein Buch anhand seines Erkenntnisobjekts organisiert hat, zeigt bereits die Struktur: Die vier Großkapitel sind unabhängig von etablierten politikgeschichtlichen Periodisierungen und überlappen sich zudem absichtlich, um offen für vor- oder nachgelagerte Prozesse zu sein. Dabei ist die »Unterströmung« aller Kapitel der Ausbau des Flughafens und sein zunehmendes Ausgreifen auf allen Skalen.

Bereits das erste Kapitel (»Heimat und Verkehr«), das zeitlich 1895 einsetzt und 1936 mit der Eröffnung des »Weltflughafens Rhein-Main« endet, ist keine bloße »Vorgeschichte«. Hier zeigt der Autor vielmehr überzeugend, dass die Region »Rhein-Main« durch die entstehende Regionalplanung in Verbindung mit der Wissensgenerierung der »naturgeschichtlichen« Heimatforschung überhaupt erst entstanden ist. Und auch wenn das Bild der »Flughafenregion« letztlich unter der Ägide des Nationalsozialismus etabliert wurde, so war das nur der Endpunkt einer langen Entwicklung, die bereits im Kaiserreich begonnen hatte und in der Landschaftsgestaltung und Selbstbeschreibung ineinandergriffen. Die Region, die der Autor untersucht, wird so nicht vorausgesetzt, sondern empirisch hergeleitet. Die Quellengrundlage des Buchs ist entsprechend breit: Güttler hat im Fraport-Archiv, bei der US-Air Force und der PanAm, in Frankfurter Lokalarchiven und in Archiven der sozialen Bewegungen recherchiert und zudem große Mengen gedruckter Quellen über Heimatkunde, Umwelt, Regionalplanung und Aktivismus ausgewertet.

Wie konsequent Güttler seine Wissensgeschichte als dezidiert politische Geschichte begreift, zeigt sich auch im zweiten Kapitel (»Luft«) anhand seiner Analyse des »Frankfurter Modells« der Himmelsbeobachtung. Hier geraten die Akteur:innen aus Wissenschaft, Industrie und Verwaltung mit ihren Interessen in den Blick. In der Weimarer Republik wurde das Rhein-Main-Gebiet zum Zentrum der deutschen Segelflugforschung. Dem Meteorologen Walter Georgii gelang es hier, sich mit seinem aus »vertikaler Meteorologie« (d.h. mittels Flugzeugen) gewonnenen »Luftwissen« als erfolgreicher wissenschaftspolitischer Akteur zu etablieren. Auch unter dem NS-Regime setzte er seine Karriere fort, indem er sich als Experte für rüstungsstrategische Zwecke anzudienen vermochte. Nach dem Krieg wurde der Flughafen zur zentralen Basis der US-Luftstreitkräfte, die ebenfalls ein großes Interesse an Wetter- und Klimadaten hatten. In der Nachkriegszeit verdichteten sich so die meteorologischen Infrastrukturen weiter und die im Krieg entwickelten Navigations- und Vorhersagetechnologien diffundierten in die zivile Luftfahrt. Sie wurden Teil der alltäglichen Wartung der Flughafeninfrastruktur.

Im Kapitel III (»Flüsse«), das den Zeitraum von 1945 bis 1972 behandelt, wird die Region »Rhein-Main« endgültig zu einer infrastrukturellen Landschaft – und auch als solche wahrgenommen. Die »aviation environment« (S. 192) wurde ermöglicht durch und erforderte interdisziplinäres Steuerungswissen von regionalen, nationalen und globalen Akteuren, ob der NATO und der UNESCO, der Senckenberg Gesellschaft, oder eben der Frankfurter Vogelschutzwarte. Hier wird der Flughafen am deutlichsten als sozialer und ökologischer Ort greifbar: Steuerungswissen ist ein Wissen darum, wie die »flows« von Flugzeugen, Passagieren und Angestellten effizient organisiert und in Bewegung gehalten werden können. Hier kommen die Arbeitsabläufe der »einfachen« Arbeiter:innen und der Fluglots:innen in den Blick, die tagtäglich für Betrieb, Wartung und Monitoring zuständig waren. Zu den vielleicht eindrücklichsten Abschnitten des Buches gehören Gütlers Ausführungen über den »Flughafenförster« als Agenten praxisnahen Managements von Natur in einer infrastrukturell durchbildeten Umwelt. Hier zeigt Güttler überaus anschaulich, wie die Flughafenlandschaft ökologisch manipuliert wurde, um sie an die Bedürfnisse der Luftfahrt anzupassen – gärtnerisch, technisch und durch alltägliche Beobachtung.

Der Rest des Kapitels ist eher ein Vorgriff auf das folgende Kapitel IV (»Wald«), insofern hier erstmals das »Gegenwissen« in Gestalt des Pfarrers Kurt Oeser und seiner »Interessengemeinschaft zur Bekämpfung des Fluglärms« erscheint. Hier führt Güttler nochmals zwei seiner Kernthesen aus: Erstens, der Flughafen bringt die Bedingungen seiner eigenen Kritik hervor und zweitens, das Flughafenwissen ist politisch ambivalent und kann nicht eindeutig in »offizielles« Wissen und »Gegenwissen« kategorisiert werden. Vielmehr baute das Gegenwissen auf dem offiziellen Wissen auf. Zudem verstand es die Flughafengesellschaft, ihre Kritiker:innen zu integrieren und zum Teil der Infrastruktur zu machen. Hier verwundert es etwas, dass der Autor den Widerstand gegen den Fluglärm nicht stärker im Kontext der Geschichte der Umweltbewegung reflektiert. Andernfalls wäre der Befund, dass viele Wege zum Gegenwissen führten – aus dem Sponti-Milieu, einem Expertengremium oder eben von der Kanzel einer evangelischen Kirche – vermutlich weniger überraschend gewesen, da die Umweltbewegung bekanntermaßen politisch, weltanschaulich und soziokulturell überaus heterogen war (und ist).[1]

Das letzte Kapitel widmet sich der Startbahn-West-Bewegung als erstem Höhepunkt der »Ära der Ökologie«. Diese Bewegung interpretiert Güttler als Motor für eine Intensivierung der ökologischen Forschung, insofern die Protestbewegung neue Kanäle und Foren schuf, in denen Umweltwissen erhoben, geteilt und diskutiert wurde: unabhängige Laboratorien, Informationsbüros und alternative Forschungsinstitute. Damit sei die Bewegung Teil der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Konflikte geworden. Hier zeigt Güttler überzeugend, wie zum Beispiel Bioindikatoren sowohl zu einem administrativen wie zu einem aktivistischen Instrument der Umweltpolitik wurden. Der Wald habe sich, so Güttlers Fazit, während des Konflikts in ein »vielschichtiges politisch-epistemologisches Objekt« verwandelt, in dem sich »Wissen, Erfahrung und politische Aktion mischten« (S. 332). Geblieben sei davon nach der Inbetriebnahme der Startbahn 1984 indes nur das »offizielle« Wissen im Dienste des Flughafens, während die Formate, Orte und Medien des »alternativen« Umweltwissens heute fehlten.

Bedauerlich ist, dass der Autor am Schluss des Buchs auf eine Konklusion verzichtet, in der er seine konzeptionellen Impulse noch einmal breiter reflektiert. Denn wie ist eine Landschaft »nach der Natur« konkret zu verstehen? Es fällt auf, dass das titelgebende Motiv im Verlauf der Darstellung immer weiter in den Hintergrund tritt. Implizit, so scheint es, hat sich die Flughafenlandschaft in der Nachkriegszeit zu einem Zustand völliger anthropogener Überformung entwickelt, in dem diese immer intensiver beobachtet, beschrieben, vermessen, kontrolliert und damit stillgestellt wurde. Das entspricht aber genau dem modernen Anspruch auf völlige Naturbeherrschung. Auch dafür steht der im Epilog als Symbol der alltäglichen ökologischen Überwachung angeführte Eklektor im Flughafenwald – eine automatisierte Tierfalle für kleine Insektenarten. Als konsequente Interpretation im Sinne einer »post-natürlichen« Landschaft wäre indes vielleicht das Elsternest ganz aus Baumaterialien das bessere Symbol für die »Naturkultur« gewesen, die der Flughafen hervorgebracht hat. Denn durch den häufig engen Fokus auf das Wissen gerät nicht nur der Flughafen als konkreter sozialer und ökologischer – sprich: belebter – Ort häufig aus dem Blick, er verschwindet geradezu unter dem sich überlagernden, wuchernden »Steuerungswissen«. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind die Eigendynamiken dieser Hybridlandschaft, deren Bewohner:innen, wie die Elster, nicht aufhören, sich den Ort anzueignen und selbst zu verändern.

Nils Güttler ist mit »Nach der Natur« ein eindrucksvolles Buch gelungen. Es besticht durch eine breite Quellengrundlage, abgewogene Urteile und vor allem dadurch, dass es bei der Fülle an Skalen und Themen, die es verbindet, fast immer den Rückbezug zum Flughafen durchhält. Dass bei einem Ansatz, der die Region als derart entgrenzt konzeptualisiert, nicht jeder Bezug gleich eng verwoben sein kann, liegt in der Natur der Sache. Die Darstellung ist stets akteursnah und zeichnet sich durch einen klaren Blick für Interessen und machtförmige Aushandlungsprozesse aus. Trotz der hier formulierten Einwände hat Güttler damit zu den gegenwärtigen Diskussionen um »envirotechnical systems« einen inspirierenden Beitrag geleistet. Dieser hätte allerdings noch stärker gewirkt, wenn er seinen wissensgeschichtlichen Ansatz konsequenter mit den existierenden begrifflichen Angeboten aus der Umwelt- und Infrastrukturgeschichte verschaltet hätte.[2]

 

Zitierempfehlung

Daniel Rothenburg, Rezension zu: Nils Güttler, Nach der Natur. Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81977> [5.3.2024].

 

[1] Vgl. Frank Uekötter, Deutschland in grün. Eine zwiespältige Erfolgsgeschichte. Göttingen 2015.

[2] Vgl. hierzu kürzlich: Giacomo Bonan/Katia Occhi (Hrsg.), Environment and Infrastructure. Challenges, Knowledge and Innovation from the Early Modern Period to the Present. München/Wien 2023.

Wolf-Rüdiger Knoll, Die Treuhandanstalt in Brandenburg. Regionale Privatisierungspraxis 1990–2000

Ch. Links Verlag | Berlin 2022 | 704 Seiten, Hardcover | 38,00 €| ISBN 978-3-96289-173-2

rezensiert von

Jakob Warnecke, Universität Leipzig

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Die Treuhandanstalt erregt nach wie vor die Gemüter. Je nach Perspektive wird ihr Wirken in den öffentlichen Debatten oft wenig differenziert entweder als Scheitern oder Erfolg bewertet. In den letzten Jahren sind aber auch einige fundierte wissenschaftliche Forschungsarbeiten zu dem Thema erschienen. Vor allem die Arbeit von Marcus Böick wies einen Weg aus der Schwarz-Weiß-Betrachtung der Behörde.[1] Auch das Institut für Zeitgeschichte hat ein großangelegtes Forschungsprojekt zur Treuhandanstalt aufgelegt, dass die Struktur und Arbeitsweise der Anstalt anhand verschiedener Themenfelder wie etwa der regionalen Privatisierungspolitik und ihren gesellschaftlichen Folgen untersuchen soll. Die Ergebnisse liegen mittlerweile in der Reihe »Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt« vor.[2] Zu dieser Reihe gehört auch die 2022 erschienene Dissertation von Wolf-Rüdiger Knoll, die am Beispiel Brandenburgs die Treuhandanstalt »im politischen Kräftefeld sowie den ökonomischen und gesellschaftlichen Debatten des wiedervereinigten Deutschlands zu verorten« (S. 23) sucht. Dazu fragt sie nach der Bedeutung der Behörde im Land Brandenburg und nach den Einflussmöglichkeiten von Akteurinnen und Akteuren der sozioökonomischen Transformation ebendort in der Zeit von 1990 bis 2000. Um dies empirisch darzustellen, nimmt die Untersuchung insgesamt 25 Industriebetriebe in den Blick. Zu den Quellen der Untersuchung zählen die im Bundesarchiv gelagerten Treuhand-Unterlagen, Akten der entsprechenden Landesministerien sowie Interviews mit damals beteiligten Akteur:innen.

Die Studie ist systematisch strukturiert und gliedert sich in insgesamt sechs Hauptkapitel. Das erste Kapitel beschreibt die Geschichte der wirtschaftlichen Strukturen Brandenburgs zwischen 1945 und 1990 als Rekonstruktion vormaliger und Ansiedlung neuer Industrien, die eine letztlich nur wenig ausdifferenzierte Wirtschaftsstruktur hervorbrachte. Mehrheitlich veraltete Industrieanlagen mit vereinzelten »Modernisierungsinseln« bildeten also die Ausgangslage für die Transformation ab 1990. (S. 104) Das zweite Kapitel nimmt die Akteur:innen der sozioökonomischen Transformation in den Blick und untersucht den Wandel der Bezirksstrukturen und die Entstehung der Landesverwaltung sowie der kommunalen Selbstverwaltung nach 1990 unter der Frage nach der Rolle des Elitenwechsels und der die Zäsur überdauernden Netzwerke. Unter mentalitätsspezifischen Gesichtspunkten richtet sich die Analyse auf das aus der Bundesrepublik zugezogene Verwaltungspersonal. Neben dem Aufbau der Landesverwaltung beschreibt das Kapitel zudem die wirtschaftspolitischen Institutionen des Landes und die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Landesregierung von Manfred Stolpe, sowie die Entstehung der Treuhand und jener Instrumente die für die Zusammenarbeit von Treuhand und Land maßgeblich waren. Beide, Treuhand und Landesregierung, trafen sich mehrmals wöchentlich auf verschiedenen Ebenen, wobei es der Landesregierung besonders über das Treuhandkabinett gelang, die Treuhand in die Interessenpolitik von Land und Kommunen einzubinden. (S. 224)

Das darauffolgende Kapitel nimmt die beiden zentralen Branchen der Braunkohleindustrie und der Stahlindustrie in den Blick. Die Treuhand musste die großen Industriebetriebe der Braunkohleindustrie in neue Strukturen überführen und gleichzeitig die ökologischen Folgeschäden des Bergbaus in der DDR bewältigen. Bei der Privatisierung der fünf Stahlstandorte in Brandenburg stellte sich die Frage nach deren Wettbewerbsfähigkeit nach dem Wegfall des RGW. Vor allem die Privatisierung von EKO Stahl löste Grundsatzdebatten um die Verantwortung und Zuständigkeit der Treuhand in strukturpolitischen Entscheidungen aus. In der Stahlindustrie setzten sich nicht die von der Stahlkrise betroffenen westdeutschen Stahlkonzerne als neue Eigentümer durch, sondern ausländische Investoren, die den Brandenburger Stahlstandorten eine dauerhafte Perspektive boten. Dagegen übertrug die westdeutsche Stromwirtschaft erfolgreich ihr in der Bundesrepublik etabliertes Organisationsmodell auch auf die brandenburgische Braunkohleindustrie. (S. 326)

Das vierte Kapitel fragt nach den konkreten Einflussmöglichkeiten betrieblicher und politischer Akteur:innen. Anhand von zehn betrieblichen Fallbeispielen werden detaillierte Rückschlüsse auf die grundsätzlichen Privatisierungsentscheidungen der Treuhand gezogen. So lässt sich unter anderem ableiten, dass es kommunalen Akteuren nur in einem der untersuchten Fälle gelang, das Privatisierungsgeschehen zu beeinflussen. In der Mehrzahl mussten sie vorrangig die Folgen der Privatisierung bewältigen. (S. 490) Die Privatisierungsprozesse verliefen dabei insgesamt recht unterschiedlich. Ihr Verlauf war von technologischen Voraussetzungen, Wettbewerb sowie individuellen und strukturellen Bedingungen abhängig. Das Handeln der Treuhand führte einerseits in einigen Fällen zu medialen und politischen Skandalen. Andererseits hatte sie durchaus Erfolge zu verbuchen, auch wenn diese aufgrund konjunktureller Entwicklungen oder unternehmerische Fehlentscheidungen nicht immer nachhaltig waren. (S. 494) Im anschließenden Kapitel begibt sich die Studie am Beispiel von Privatisierungen in der Stadt Eberswalde auf die Meso- und die Mikroebene und untersucht, wie die Eberswalder Lokalpolitik mit der Treuhand und den sich aus den massenhaften Entlassungen ergebenen sozialen Fragen umging. Dabei stehen die konkreten kommunalen Handlungsspielräume und die Durchsetzungskraft der Treuhandpolitik sowie die Wechselwirkungen zwischen Stadt, Treuhandanstalt und Landesregierung im Zentrum des Interesses. Der massenhafte Abbau von Arbeitsplätzen bewirkte »ein rasches Aufbegehren der Kommunalpolitik« gegen die Treuhandanstalt (S. 592), die ihrerseits allerdings nicht die Kommune, sondern das Land als ihren Ansprechpartner ansah. Detailliert beschreibt Knoll, wie die aktive Arbeitsmarktpolitik in Eberswalde die sozialen Folgen in der von Schrumpfung und Arbeitslosigkeit geprägten Industriestadt aufzufangen versuchte. Das sechste Kapitel fasst die Ergebnisse zusammen und diskutiert unter anderem die Spezifität des Brandenburger Transformationsprozesses. Dabei kommt der Autor zu dem Schluss, dass der Staats- und Verwaltungsaufbau dem ökonomischen Umbau in Brandenburg hinterherhinkte. (S. 643)

Die Menge der als Beispiele herangezogenen Unternehmen in der 704 Seiten umfassenden Darstellung lässt die Studie etwas überfrachtet wirken und geht mitunter zulasten einer noch tiefergehenden Analyse der vielseitigen Akteurskonstellationen, etwa im betrieblichen Handlungsfeld oder auf kommunaler Ebene. Knoll hat dennoch eine insgesamt sehr informative und gut lesbare Studie vorgelegt, die viele neue Facetten zur Geschichte der Treuhand, dem ostdeutschen Transformationsprozess und der jüngsten Geschichte Brandenburgs zutage fördert. Dem formulierten Anspruch, einen differenzierteren Blick einzunehmen, wird die Arbeit durchaus gerecht. Schlussendlich widerlegt die Studie das Bild einer kollektiven ostdeutschen Ohnmachtserfahrung angesichts des Handelns der Treuhandanstalt und arbeitet anschaulich heraus, wie stark sich landespolitisches Handeln und die Tätigkeit der Treuhand tatsächlich gegenseitig beeinflussten. (S. 653)

 

Zitierempfehlung

Jakob Warnecke, Rezension zu: Wolf-Rüdiger Knoll, Die Treuhandanstalt in Brandenburg. Regionale Privatisierungspraxis 1990–2000, Ch. Links Verlag, Berlin 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81980> [5.3.2024].

 

[1] Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994, Göttingen 2018.

[2] Vgl. exemplarisch Christian Rau, Die verhandelte »Wende«. Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik, Berlin 2022; Max Trecker, Neue Unternehmer braucht das Land. Die Genese des ostdeutschen Mittelstands nach der Wiedervereinigung, Berlin 2022; Dierk Hoffmann (Hg.), Transformation einer Volkswirtschaft. Neue Forschungen zur Geschichte der Treuhandanstalt, Berlin 2020; Andreas Malycha, Vom Hoffnungsträger zum Prügelknaben. Die Treuhandanstalt zwischen wirtschaftlichen Erwartungen und politischen Zwängen 1989-1994, Berlin 2022.

Felix Lösing, A »Crisis of Whiteness« in the »Heart of Darkness«. Racism and the Congo Reform Movement

transcript | Bielefeld 2020 | 396 Seiten, Paperback | 48,00 € | ISBN 978-3-8376-5498-1

reviewed by

Dean Pavlakis, Carroll College, Helena, MT

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For the past few decades, the historical profession has increasingly applied race (and therefore racism) as a mode of analysis of historical eras and phenomena. With this book, Felix Lösing undertakes to examine the racism of a major humanitarian movement, the movement to reform the Congo Free State of Leopold II, King of the Belgians, who was its founder, despot, and exploiter. While some scholars, such as the present writer, have acknowledged the racist attitudes that appear in the discourse of even the most well-intentioned reformers, others have not addressed the subject at all.[1] Lösing asks us to think about racism and racial ideas as pervasive in the reform movement as they were in the movement’s opponents. In this analysis, racism and related ideas are the most important forces among the motives of the reformers, thus pervading their methods and ultimately compromising their effectiveness. As Lösing argues, »a critique of its [the reform movement’s] imperialist and racist ideology seems desperately needed« (29), and his book demonstrates the truth of this argument. Lösing’s prose sometimes suggests that everything was motivated by and expressed through racism, with all other considerations playing secondary roles, but he decisively shows how racial attitudes played a significant role in motives, methods, and outcomes than previous authors have appreciated, including the present reviewer.

The racism of the reform movement, Lösing shows, is essentially fighting fire with fire: a racist counterpoint and complement to racist ideas, structures, and actions in the wider culture and imperial projects of Europe and the United States. Although his analysis sometimes treats racism to a simple yardstick by which all participants can be measured and found wanting, he is aware of the concept’s many meanings and applications, as well as to the varieties of racial thought that co-existed and competed in the decades around the turn of the twentieth century. These ideas did not simply exist in opposition to each other; they were entangled both in the public sphere and in the minds of individuals in ways that can be perplexing to a modern observer; the most dramatic example of this is Edmund D. Morel, the leader of the humanitarian reformers, who subsequently went on to participate in the »Black Horror on the Rhine« campaign – a racist diatribe against the presence of African soldiers in the French forces occupying the Rhineland. (24-29) Many kinds of racism, reflecting essentializing narratives about whites as well as blacks percolated among European leaders and societies.

Lösing weaves many threads into his analysis, including concepts drawn from the work of other scholars. A key element is Neil Macmaster’s exploration of »humanitarian racism« (36), which accepts common humanity of all people but posits that backwards, immature (38), or degenerate people need to be lifted up by the white race – whether through missionary work, colonization, or (per Morel) trade.[2] Another strand is how white societies used racism (38-41) to situate their own place in the racial order. Their racial status was a source of cohesion and pride, while simultaneously generating a field of anxiety that Lösing calls the »crisis of whiteness«:  degeneration, military defeats, or demographic shifts threatened to end white superiority. Nascent expressions of racial solidarity similarly threatened the racial construction of whiteness.  Similarly, exposure of oppression and atrocities in colonial rule corroded the comforting contrast between the civilized white imperial regime and the savagery of colonized people. In Lösing’s insightful reading, the humanitarian movement redeemed the virtue and superiority of the white race by rescuing the African from the worst forms of oppression.

A few examples will have to suffice to convey the depth and richness of the many arguments in the book, as well as of the wide range of secondary and primary sources consulted.

Lösing’s brilliant analysis of Henry Morton Stanley’s widely read depiction of Africans in general and the people of the Congo in particular (128-148) elaborates on the widely acknowledged racism of these depictions. Lösing then makes a persuasive and innovative argument – building on the work of scholars such as Kevin Dunn - that what we might perceive as »anti-racist« or (more realistically) less racist rhetoric from the Congo reformers served to instead construct a new set of racial stereotypes that in turn could be used to generalize, essentialize, and discriminate. While apparently more benign, these stereotypes, designed to inspire white saviors, could also serve as a refreshed ideology of imperial rule, perhaps less murderous than that of the Free State, but nonetheless geared toward subjugation and exploitation. In this way, the new images might move Europeans to pity and outrage, but not empathy.

But Lösing does not confine his gaze to representations of Africans. He also examines how Congophobe literature, especially but not only Joseph Conrad’s and Mark Twain’s contributions, dramatically othered and even Orientalized Leopold’s regime, thus expelling the Congo exploiters from the ranks of the civilized world. By discursively and accurately identifying the Free State regime with all the sins of European colonial powers and then ejecting it from their community like a scapegoat of old, colonialism and therefore European civilization was redeemed in its own eyes, despite the presence of exploitative, oppressive, and brutal practices in other colonies.

Occasionally, Lösing draws a sweeping conclusion from limited or particularist evidence. For instance, he makes the argument that the reformers believed that the Congo atrocities were fundamentally the fault of the African (180), contradicting his insightful analysis of the attack on Leopold’s government. This thinner analysis cites Conrad and Arthur Conan Doyle as if their arguments represented the bulk of the reformers, but this opposes the trend of most reformers’ writing, including that of Morel, Harris, Casement, and many others, which puts the blame on the Europeans, particularly the inventors of the Congo system, most of whom, including Leopold himself, never set foot in the Congo. Similarly, he insists »the Congo reformers did not fundamentally oppose the idea that a colonial administration had to rely on forced labour«, (153) relying on a statement from the diary of Edward Glave, who had participated in the founding of the Congo Free State by working for Stanley, for Leopold’s International Association of the Congo, and for Leopold’s ally, Henry Sanford. Glave was not a Congo reformer; he was an imperial agent who, shortly before his death, noted in his diary that he was disturbed by the dystopia that had emerged from his work. The reformers held many ideas about forced labor, but it is safe to say that Morel, John Holt, and John Harris disapproved of forced labor; indeed, Harris became one of the instigators of the Forced Labor Convention of 1930.

The most sweeping conclusion of all, asserted without argument or evidence, is made on page 29: the Congo Reform Association »promoted and possibly prolonged the violent subjugation of Congolese«. This appears to be based on the common feeling among most reformers that what was wanted was a better colonial regime, not the end of colonialism. In this way, the reformers accepted the idea of continued colonial rule. But the counterfactual notion that colonial rule would have been briefer without the reform movement is not substantiated in this book.

The book has some factual errors, which is not surprising given its scope and the extensive use of factual evidence, some of which could have been avoided by consulting this reviewer’s history of the reform movement: Harry Johnston was never a member of the executive for the Congo Reform Association, Jane Cobden Unwin was not the president of the Women’s Auxiliary, and Morel did not force John Harris to resign from the Association in 1909, though he might have liked to. John and Alice Harris remained until they resigned in March 1910 to take leadership positions at the merged Anti-Slavery and Aborigines Protection Society. The Congo Free State was never even close to the world’s leading supplier of rubber (307, 310); Brazil held that position by a wide margin until the rubber plantations of the Far East became productive in the 1910s.

Notwithstanding these missteps, the book is quite valuable in providing a new perspective and new insights on the Congo reform movement. The bonus for scholars more broadly is the model he provides for examining other movements and geopolitical events in the decades before and after the First World War. Lösing may be trained as a sociologist, but with this work he makes his mark as a historian.

 

Zitierempfehlung

Dean Pavlakis, Rezension zu: Felix Lösing, A »Crisis of Whiteness« in the »Heart of Darkness«. Racism and the Congo Reform Movement, transcript, Bielefeld 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81974> [5.3.2024].

 

[1] Dean Pavlakis, British Humanitarianism and the Congo Reform Movement, 1896–1913, (London: Routledge, 2016), 128; Kevin C. Dunn, Imagining the Congo: The International Relations of Identity (New York: Palgrave Macmillan, 2003), 21-60.

[2] Neil MacMaster, Racism in Europe, 1870-2000 (Houndstooth, Palgrave, 2001).

Frank Schorkopf, Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, 1948–2007

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2023 | 381 Seiten, gebunden | 35,00 € | ISBN 978-3-525-30219-4

rezensiert von

Horst Dippel, Universität Kassel

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Laut Aussage des Autors unternimmt sein Buch »erstmals, Gründung und Genese der Europäischen Union als ›Verfassungsgeschichte‹ zu beschreiben« (S. 9). Dabei geht Frank Schorkopf nicht von einem »formell-revolutionäre[n]« Verfassungsbegriff aus, sondern versteht diesen »materiell-evolutiv« (S. 292). Der Göttinger Europarechtler ist ohne jede Frage für den Versuch einer Verfassungsgeschichte der »Europäischen Union« bestens qualifiziert. Dennoch kann bereits der Buchtitel durchaus als Provokation verstanden werden. Ist es sinnvoll, die europäische Integration über die gesamte Zeitspanne von der Gründung des Europarates und der Montanunion bis zum Lissaboner Vertrag mit dem Rubrum »Europäische Union« zu versehen, obwohl diese erst 1992 mit dem Vertrag von Maastricht gegründet wurde, so dass sich der Begriff als Rechtsfigur kaum auf die Jahrzehnte zuvor übertragen lässt? Wie passend ist für dieses so komplexe Gebilde, das über die hier betrachteten sechs Jahrzehnte mehrfache und teilweise grundlegende Veränderungen erfahren hat, der politische Begriff der »Macht«, eine »Macht«, die zudem »unentschieden« sei? Doch wer ist tatsächlich in der Europäischen Union »unentschieden«? In einem rechtlichen, gar verfassungsrechtlichen Sinn wird man dies nicht von den bestehenden Institutionen der Europäischen Union sagen können. Weit eher trifft dies zu für das ideelle Konvolut der dahinterstehenden Rechtsvorstellungen, die Schorkopf in Supranationalisten, Gouvernementalisten, Pragmatisten und Konstitutionalisten auffächert. Unter ihnen gehen die Vorstellungen über das organisierte Europa von Bundesstaat bis Staatenbund weit auseinander, ohne dass bislang eine Richtung eindeutig die Oberhand gewonnen hätte. Hinzu kommt, dass diese Problematik in jedem der 27 Mitgliedstaaten andere Gewichtungen und Nuancierungen erfährt.

Schorkopf hat den Stoff chronologisch eingeteilt in drei gleichgewichtige Teile: 1948-1969: »Das Ringen um die Supranationalität«, 1969-1984: »Die Suche nach Identität« und 1985-2007: »Der Sprung in die Union«, wobei die insgesamt sechzehn Kapitel jeweils unter einem mitunter etwas holzschnitzartigen Schlagwort stehen (»Politizität«, »Individualität«, »Ambition« u.a.). Das alles ist sehr anschaulich und tiefschürfend dargestellt, wobei sich der Autor nicht allein auf eine umfangreiche Literaturkenntnis stützt (das Literaturverzeichnis umfasst über 30 Seiten), sondern auch unveröffentlichte Quellen aus dem Bundesarchiv, dem Auswärtigen Amt und der Europäischen Union heranzieht. Hierbei hätte man sich allerdings gewünscht, dass dieser Rückgriff auf bislang unveröffentlichte Materialien im Text mitunter stärker hervorgehoben worden wäre und dass diese Aktenbestände im Quellenverzeichnis näher bezeichnet worden wären, statt sie lediglich mit ihren Aktennummern aufzuführen.

Was der Autor in diesen Kapiteln und Teilen entwirft, ist keine Geschichte der politischen Integration Europas. Indem er sich ausschließlich auf die rechtliche und verfassungsrechtliche Konstruktion Europas konzentriert, unterscheidet sich seine Darstellung grundlegend von den bekannten europäischen Integrationsgeschichten. Das ist ihr herausragendes Verdienst und macht sie zu einer ebenso wertvollen wie notwendigen Ergänzung der politischen Integrationsliteratur. Ob man jedoch beide Bereiche stets so scharf voneinander trennen sollte, lassen schon Persönlichkeiten wie Paul-Henri Spaak oder Charles de Gaulle zweifelhaft erscheinen. Wenn man in den 1980er Jahren von der Renationalisierung der europäischen Politik gesprochen hat, ist die rechtliche Entwicklung dieser Zeit davon nicht abzukoppeln.

Mitunter hätte man sich eine kritischere Evaluation der Entwicklung gewünscht. Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, um nur dieses Beispiel anzuführen, dass der europäische Verfassungsvertrag von 2003/04 nicht zuletzt auch deshalb gescheitert ist, weil der ihn ausarbeitende Konvent nach Zusammensetzung, innerer Autonomie, Geschäftsordnung, Beauftragung und Verfügung über seinen Verfassungsentwurf absolut nichts mit seinen vermeintlichen Vorbildern aus dem Ende des 18. Jahrhundert noch mit modernen Verfassungskonventen irgendetwas zu tun hat. Vielmehr handelte es sich um den reinsten Etikettenschwindel, bei dem die europäischen Bürger außen vor blieben und sich mit einer medienwirksam inszenierten Scheinbeteiligung zufriedengeben mussten. Dennoch waren die Staats- und Regierungschefs von ihrem Taschenspielertrick so begeistert, dass sie diesen »Europäischen Konvent« im Lissaboner Vertrag festgeschrieben haben. Ein Europa der Bürger, das Nationalismus und Populismus widerstehen und weiterhin Friede und Wohlstand sichern will, bedarf zu seiner Legitimation überzeugenderer und zeitgemäßerer verfassungsrechtlicher Lösungen.

Wie sich die europäische Verfassungsgeschichte weiterhin materiell-evolutiv weiter entwickeln wird, vermag niemand vorauszusagen. Doch dank Schorkopfs großartigem Pionierwerk liegen die unterschiedlichen Optionen offen auf dem Tisch. Wer weiß, wen Altiero Spinelli, der unermüdliche Kämpfer für ein freies und vereinigtes Europa seit den finsteren Tagen des Zweiten Weltkriegs, mit seinem richtungweisenden sogenannten »Spinelli-Entwurf« von 1984 noch in Zukunft inspirieren wird?

 

Zitierempfehlung

Horst Dippel, Rezension zu: Frank Schorkopf, Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, 1948–2007, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81976> [5.3.2024].

Charlie Taverner, Street Food. Hawkers and the History of London

Oxford University Press | Oxford 2023 | 256 Seiten, hardback | 40,50 € | ISBN 978-0-19-284694-5

rezensiert von

Heiner Stahl, Erfurt

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Städtische Geräuschkulissen und das Geschäft des Straßenverkaufs von Nahrungsmitteln sind eng miteinander verzahnt. Diese Zusammenhänge zu beforschen, lohnt sich also. Als ich den Titel Street Food. Hawkers and the History of London las, war ich begeistert. Ich hoffte darauf, dass Charlie Taverners Buch Ideen entwirft, wie sich die Beziehungen zwischen Geräuschen und Warenverkauf in der Stadt theoretisch und methodisch ausleuchten ließen. Es versprach ein Puzzleteil zu liefern, welches bislang noch fehlte, um das Wissen des Hörens und der Geräusche mit den Wissensbeständen von und den Praktiken des Essens und der Versorgung mit Gütern im (Stadt-)Raum zu verknüpfen. Das lenkt den Blick darauf, dass in der Stadtgeschichtsforschung Pläne, Karten, Architekturen und Diskurse im Vordergrund stehen und selten die konkreten Menschen und ihre Geschäfte zu Geltung kommen. Es berührt Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die sich wohl noch allzu gerne mit Datenauswertungen und dem Auslegen von statistischen Berechnungen begnügt.

Lärm machte Stadt. Menschen, Maschinen, Technologien, Verkehrsmittel und Infrastrukturen, die den Stadtraum bespielten, erzeugten Geräusche. Sie waren und blieben ziemlich unreguliert und verstärkten sich gegenseitig. Sound History und Science and Technologie Studies haben diese Konstellationen der Kommunikation und der medialen Verdichtungen bereits erkundet.[1] Dass sich Taverner darauf bezieht und hier zuordnet, das hätte ich erwartet.

Dennoch überzeugte mich seine Gliederung. Der Sozial- und Wirtschaftshistoriker, der am Birkbeck College der University of London mit diesem Thema promovierte, erzählt von Menschen (People, S. 12-32), die auf Londons Straßen Nahrung verkauften und von denjenigen, die diese erwarben und konsumierten. Von »class«, einem in die Jahre gekommenen Kernkonzept der britischen Sozialgeschichte, spricht Taverner nicht. Allerdings markiert er soziale Figuren, die den Straßenraum bevölkerten, benennt Arbeitskräfte (Workers, S. 33-46) und Verkaufende (Retailers, S. 79-94) und entfaltet die geschlechtlichen Zuschreibungen, die ihre visuellen und literarischen Bezeichnungen enthalten. Er setzt die Bedeutung von Orten (Markets, S. 95-108) mit Bewegungen von Waren und Personen sowie Verkehrskonflikten und tages- und nachtzeitlichen Rhythmen (Traffic, S. 110-125) im Straßenraum in Beziehung. Tätigkeiten, die auf der Straße stattfanden, wirkten sich auf die daran angrenzenden Wohnräume und -häuser aus. In den Ohren der Nachbarinnen und Nachbarn entstanden Störungen und Beeinträchtigungen (Nuisances, S. 126-143), die in Schreien und Rufen, in verbalen und in körperlichen Auseinandersetzungen zum Ausdruck kamen. Der Widerhall, das Echo und die Lautstärke, hingen buchstäblich in der Luft wie die sagenumwobenen Londoner Nebelschwaden. Stimmen, also Kommandos, Beleidigungen und unziemliche Sprache, schrieben sich in die Geräuschkulissen ein, die von Straßenzügen über Gehwege bis hin zu den engen Durchgängen zwischen den Gassen reichten (Voices S.144-158). Armut war laut und sie stank. Akustische und olfaktorische Abfälle vermüllten gleichermaßen den Stadtraum und waren nur schwerlich ohne Rückstände zu entsorgen. Die Erzeugung von Aufmerksamkeit bei der Bewerbung von Waren zog vielfältige Belästigungen nach sich. Es roch, stank, rumorte, gellte und lärmte. Das ließ sich zwar polizeilich bearbeiten und in Berichten von lokalen Komitees zum Gegenstand machen. Jedoch verschwanden damit die schreienden Straßenverkäuferinnen eben nicht aus Stadtbild und Stadtklang der englischen Hauptstadt, auch wenn die Zeitungsjournalisten und -journalistinnen oder soziale engagierte Wohltäter und Wohltäterinnen sich um die Besserung der sozialen und moralischen Lagen von Unterschichten bemühten. Sie gehörte genauso zum Straßenbild von »schlechten« Vierteln, wie der flanierende, in feinem Zwirn gekleidete Geschäftsmann aus der »middle class«, der in den »guten« Stadtteilen wohnend, seine Frau oder Freundin ausführte und sich mit Hilfe der Polizei vor Belästigungen durch ausrufende Straßenhändler zu schützen wusste.

Taverner baut seine Ausführungen auf Aktenbestände aus den London Metropolitan Archives und den National Archives in Kew und dort insbesondere auf Gerichtsakten des zentralen Londoner Strafgerichtshofs »Old Bailey« auf. Er bezieht sich auf das späte 17. und das frühe 18. Jahrhundert und nimmt die Überlieferung von Bürgermeistern, Stadtausschüssen und der lokalen Polizei in den Blick. Das 19. Jahrhundert deckt er ausschließlich mit Komitee-Reports ab, das frühe 20. Jahrhundert beleuchtet er wiederum aus der Perspektive von Polizisten und Praktikern der Lebensmittelsicherheit in den Gesundheitsämtern. Das ist gut gemacht und solide.

Street Food hat ein einprägsames und ansprechendes Coverbild. Es ist ein tolles Lesebuch. Damit lassen sich Seminare für BA- und MA-Studierende ganz gut bestreiten. Sie erhalten anhand des Themas einen ersten Einblick, was Sozial- und Wirtschaftsgeschichte leisten kann. Es erzählt anschauliche und griffige Geschichten und stellt Frauen in den Mittelpunkt, die als Nahrungsunternehmerinnen im Stadtraum immer auch prekäre Stellungen auszuhalten hatten und ihre Rollen immer wieder zu festigen wussten. Street Food ist garantiert frei von jeglicher Theorie. Ich habe theoretische Einbettungen schmerzlich vermisst. Taverner verweist weder auf die Sensory Studies noch auf die Raumtheorie von Lefebvre aus den 1960er Jahren, noch verliert er Sätze über die Zugänge der Urban Studies, wie sie Scott Lash und John Urry in den 1990er Jahren vorschlugen.[2] Sound History findet in diesem Buch gar nicht statt. Karin Bijsterveld hätte durchaus erwähnt werden können. Das alles hätte Street Food nicht nur zu einem Lesevergnügen gemacht, sondern zu einem Menü für Augen und Kopf mit mehreren Gängen werden lassen. Natürlich erwähnt Taverner den kanadischen Komponisten Raymond Murray Schafer, der die Soundscape-Idee formulierte und zur ästhetischen Klanganalyse ermutigte. Dass in dessen Betrachtungsweise, die akustische Verschönerungen von Stadtklängen durch eine geradezu eugenischen Ausmerzung der »schlechten« Sounds erreichen will, zahlreiche Denkfehler stecken, darüber lässt sich Taverner nicht im Ansatz aus. Der Buchautor reist mit leichtem theoretischem und methodischem Marschgepäck, wenn er seine historischen Stadtspaziergänge unternimmt und die Londoner Straßenzüge und Armenviertel zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert durchstreift.

Deshalb ist Street Food für geschichtswissenschaftliche Einsteigerinnen und Einsteiger sicherlich zu empfehlen. Für den Geschichts- oder Englischunterricht in der Schule taugt es ohne Weiteres ebenfalls. Es bezieht sich auf griffige Beispiele und zeichnet sich durch gut geschriebene Einstiege in die jeweiligen Kapitel aus. Mir blieb es zu oberflächlich und es enttäuschte mich maßlos. Das soll allerdings für andere Leserinnen und Lesern nicht der Maßstab sein.

 

Zitierempfehlung

Heiner Stahl, Rezension zu: Charlie Taverner, Street Food. Hawkers and the History of London, Oxford University Press, Oxford 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81979> [5.3.2024].

 

[1] Karin Bijsterveld, Mechanical sound. Technology, culture, and public problems of noise in the twentieth century, Cambridge (MA) 2008; Daniel Morat (ed.), Sounds of Modern History. Auditory Cultures in 19th- and 20th-Century Europe, New York/Oxford 2014; James G. Mansell, The age of noise in Britain. Hearing modernity, Urbana/Chicago/Springfield (IL) 2017; Heiner Stahl, Geräuschkulissen. Soziale Akustik und Hörwissen in Erfurt, Birmingham und Essen (1880-1960), Köln 2022.

[2] Henri Lefebvre, Le droit à la ville, Paris 1968; Scott Lash/John Urry, Economies of signs and space, London 1994.

Rezensionsarchiv

Christopher Clark, Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt

DVA | München 2023 | 1168 Seiten, Hardcover | 48,00 € | ISBN 978-3-421-04829-5

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Am Anfang dieser Rezension sei betont, dass sowohl Revolutionen als auch der Widerstand gegen reaktionäre Herrschaftssysteme, Diktaturen und totalitäre Herrschaft weit in die Vergangenheit Europas reichen und ein Thema für den gesamten Kontinent sind. Das zeigt Christopher Clark ganz herausragend und umfassend am Beispiel der Revolution von 1848/49 als gesamteuropäischem Ereignis. Im Jahr der 175. Wiederkehr dieser Revolution ist über dieses deutsche und europäische Schlüsselereignis zwar diskutiert und publiziert worden – so über die Frankfurter Nationalversammlung als verfassungsgebendes Gremium mit der Reichsverfassung vom März 1849 und über deren Nachwirkungen auf die Weimarer Verfassung von 1919 und das Bonner Grundgesetz von 1949[1] –, doch blieb dieses Thema am Rande des gesellschaftlichen Diskurses. Auch die Bedeutung des Jahres 1848 für die deutsche Einigungsbewegung blieb, wie etwa Heinrich August Winkler meint, wenig beachtet. Nicht zuletzt lag das daran, dass die deutschen Achtundvierziger an der Doppelaufgabe der gleichzeitigen Herstellung eines Verfassungs- und eines Nationalstaates scheiterten. Doch umsonst waren diese Kämpfe nicht, wie spätestens die Friedliche Revolution 1989/90 zeigte. Winkler hat auch darin Recht, dass diese jüngste der deutschen Revolutionen die erfolgreichste war, da ihr ein nachhaltiger Regimewechsel gelang. Doch gelingt vielen Historikern und Vertretern anderer Disziplinen eine solche Sicht in aller Regel nicht bzw. sie wird von ihnen nicht angestrebt.

Das gilt auch für Clark, der sein Augenmerk auf 1848/49 beschränkt – hier aber Bahnbrechendes leistet. Wie keinem zweiten Historiker gelingt es ihm, heute kaum noch bekannte revolutionäre Ereignisse dieser Jahre sowie ihre Vor- und Nachgeschichte in großen Teilen Europas eindringlich und ausführlich zu schildern. Dabei schweift sein Blick von Spanien bis Galizien und von Ostpreußen bis Sizilien. Er beschreibt Leben und Werk bedeutender charismatischer Akteure, die heute im besten Fall noch Spezialisten bekannt sind: Demokraten, Liberale, Radikale, Patrioten und Sozialisten, ob als Schriftsteller, als Denker oder als militärische Führer. Stets geht es dabei um europäische Aufstände, die erst im Rückblick nationalisiert wurden. Besonders auffällig ist für den Autor die Gleichzeitigkeit der einzelnen Revolutionen dieses europäischen Völkerfrühlings, der ihn an den „Arabischen Frühling“ erinnert.

Clarks Grundthese ist, dass die Revolutionen der Jahre 1848/49 nicht gescheitert seien, sondern dass sie als „Teilchenbeschleuniger“ (S. 13) gewirkt hätten, die letztlich neue politische und gesellschaftliche Formen mit tiefgreifenden Konsequenzen für die neuere Geschichte Europas hervorbrachten. Dem wird man grundsätzlich folgen können, es bringt aber natürlich die Frage mit sich, was das im Einzelnen bedeutet. Das Missverhältnis zwischen Kapitalismus und sozialer Ungleichheit jedenfalls konnte bis heute nicht beseitigt werden. Dagegen scheinen die Spannungen zwischen den verschiedenen Formen politischer Repräsentation gegenwärtig zugunsten des Parlamentarismus entschieden, auch wenn immer wieder nicht nur im demokratischen Diskurs, sondern vor allem von links- und rechtsradikaler Seite Formen direkter Herrschaft ins Spiel gebracht werden.

Aus Clarks Sicht waren die Ereignisse der Jahre 1848/49 in Europa auch dadurch gekennzeichnet, dass sich nur schwer eine Trennlinie zwischen Revolution und Konterrevolution ausmachen ließe. Stattdessen erkennt Clark eine Fülle von Rissen, die in alle Richtungen liefen. Diesen geht er akribisch und mit überwältigender Materialfülle und Detailkenntnis nach. Dabei lautet eine weitere These, dass materielle Not wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts als solche keine Revolutionen auslöste, sondern soziale Probleme nur deren unverzichtbaren Hintergrund bildeten. Das erscheint mir ebenfalls diskussionswürdig, stellt es doch zu sehr die Rolle von Persönlichkeiten in den Mittelpunkt der Geschichte. Zwar spielt auch für Clark die Schilderung der sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten immer wieder eine wichtige Rolle, so bei den Weberaufständen in Lyon 1831 und in Schlesien 1844. Doch letztlich geht es ihm um Revolutionen als politische Vorgänge, um ihre Denker und Kämpfer sowie um ihre konkreten Verläufe. Und obwohl dabei klar wird, dass der Ablauf der Revolutionen nicht immer den Vorstellungen der Intellektuellen entsprach, waren aus Clarks Sicht die „Ideensysteme und Gedankenketten“ der „fähigen Köpfe in ganz Europa“ (S. 133) entscheidend für das Vorfeld und für die Revolution. Hinzu kamen als eigenständige revolutionäre Akteure Frauen, religiöse Minderheiten wie die Juden, nationale Minderheiten bzw. Sprachgruppen und nicht zuletzt Sklaven. So wurde etwa erst 1848 die Sklaverei in den französischen Kolonien abgeschafft. Alle diese Gruppen bzw. ihre Vertreter hatten jeweils eigene Vorstellungen von dem zu Erreichenden, alle gewannen durch die Revolutionen und verloren vieles davon wieder durch die folgenden Konterrevolutionen.

Dabei war „Geheimbündelei“ eine wichtige Lebensform der Revolutionäre, das Lesen von Zeitungen schoss in die Höhe, Bankette und Cafés spielten eine zentrale Rolle. Viele Revolutionäre waren aber auch bereit, für ihre Sache ihr Leben zu geben. Das schildert der Autor für viele europäische Länder in aller Eindringlichkeit und Detailtreue. Dabei wird deutlich, dass die Abläufe einerseits immer unübersichtlicher wurden, andererseits aber überall die gleichen Forderungen zu hören waren: „Verfassung, Freiheit, Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Bürgerwehr […], Wahlrechtsreform“ (S. 474). Die Errichtung neuer Ordnungen wurde angestrebt und an manchen Orten auch verwirklicht, Parlamente wurden gewählt und Verfassungen geschrieben.

Vieles davon brach in Konterrevolutionen zusammen und gleichzeitig schwand der revolutionäre Zusammenhalt. Dafür führt Clark verschiedene Gründe an. So waren die Revolutionäre oft uneins, das Militär blieb den herkömmlichen Obrigkeiten loyal ergeben und die Revolutionen erreichten kaum ländliche Gebiete. Auch Liberale und Radikale arbeiteten nicht zusammen. Trotz dieser Misserfolge blieben jedoch gerade die erwähnten Verfassungen von bleibender Bedeutung, die Sklaverei konnte weitgehend überwunden werden, die Emanzipation von Juden und Roma machte Fortschritte und das Wahlrecht in verschiedenen Staaten unterlag Reformen. Gleichzeitig begann die Neugestaltung von Städten, neues politisches Selbstbewusstsein erwachte, das allgemeine Wahlrecht gewann weitere Anhänger, die Geburt der Sozialdemokratie kündigte sich an und die Voraussetzungen für den deutschen wie den italienischen Nationalstaat konnten geschaffen werden. Jedoch kam auf der anderen Seite die Emanzipation der Frauen kaum vom Fleck, die Kluft zwischen Russland und Westeuropa vertiefte sich und überall keimte neuer Nationalismus auf. Auch mit der weltweiten Anteilnahme an der Revolution, die aber keinen Revolutionsexport mit sich brachte, setzt sich der Autor schließlich auseinander.

Zusammenfassend bezeichnet Clark 1848/49 als die „einzige wahrhaft europäische Revolution der Geschichte“ (S. 9). Hier ist zu fragen, wie es vor allem mit der Revolution von 1989/90 aussieht, einer Revolution in Mittelosteuropa, aber mit weit darüberhinausgehenden Wirkungen. Dabei muss es um ein Gesamtbild der Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts gehen. Und das führt schließlich auch zu der Frage nach eventuellen künftigen Aufständen und Revolutionen. Diese schließt Clark nicht aus, meint aber, dass besonders auch kommende Revolutionen wie 1848/49 sein könnten: „schlecht geplant, verstreut, uneinheitlich und voller Widersprüche“ (S. 1024).

Rainer Eckert, Berlin

 

[1] Vgl. Heinrich August Winkler, Der Fortschritt als Fessel. An ihrem Anfang stehen tiefe Systemkrisen: Was die deutschen Revolutionen 1848, 1918 und 1989 miteinander verbindet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.2023; ders., Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989, München 2023.

 

Zitierempfehlung:

Rainer Eckert, Rezension zu: Christopher Clark, Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt, DVA, München 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81971> [23.1.2024].

Eva Gschwind, Auf zur Urne! Direkte Demokratie in Basel von den Anfängen bis heute

Christoph Merian Verlag | Basel 2022 | 320 Seiten, Klappenbroschur | 32,00 € | ISBN 978-3-85616-982-4

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Im Jahr 1875 führte der Kanton Basel-Stadt die Volksinitiative wie auch das fakultative Referendum ein. Konkret bedeutete dies, dass von nun an jeweils 1000 Stimmbürger (Zahlen von 1875) mit ihren Unterschriften eine Gesetzesinitiative, die Totalrevision der Verfassung oder ein konkretes Projekt zur Volksabstimmung bringen konnten bzw. eine Volksabstimmung über einen Beschluss des Großen Rates, ganz gleich, ob es sich bei diesem um ein Gesetzesvorhaben, um einen Finanzbeschluss oder aber ein Bauprojekt handelte, erzwingen konnten. Anders als beispielsweise in Zürich, Bern oder Genf, ist es in Basel-Stadt über die Frage der Einführung der direkten Demokratie nicht zu schweren, teils sogar gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen. Vielmehr wurde eine Entwicklung nachvollzogen, die auf Ebene des Gesamtstaates bereits 1874 im Zuge der Totalrevision der Bundesverfassung stattgefunden hatte. So hat sich die Forschung bislang noch recht wenig mit der direkten Demokratie in der Stadt am Rheinknie auseinandergesetzt. Diese Lücke möchte Eva Gschwind nunmehr schließen. Ihren Blick auf die direkte Demokratie in Basel-Stadt bindet sie dabei ein in eine Darstellung der politischen Geschichte des Stadtkantons. Ihr geht es nicht zuletzt auch darum, eine Geschichte der Anliegen, die seitens der Bevölkerung artikuliert wurden, vorzulegen. Unter anderem fragt sie, inwieweit und in welcher Form die politische Elite auf das Volk als Machtfaktor eingegangen ist. Wer lancierte zu welchem Zeitpunkt Volksinitiativen und wer war berechtigt, an Volksabstimmungen teilzunehmen? Wirkten Volksinitiativen und Referenden eher in progressiver Richtung oder wurden diese vielmehr zum Bremsklotz für die weitere Entwicklung.

In zwei relativ umfangreichen Kapiteln schildert die Autorin zunächst den Weg zur direkten Demokratie und gibt in diesem Zusammenhang Einblick in die politische Verfassung Basels vor 1875. Die Stadt wurde dominiert von einer Schicht von Kaufleuten, Gelehrten und Fabrikbesitzern, die in sozialpolitischer Hinsicht durchaus fortschrittlich war. So gab es eine progressive Einkommensteuer, die kleine Einkommen schonte. Aus einem „pietistisch-humanistischen Pflichtgefühl“ (S. 49) heraus förderte die städtische Elite im Zusammenspiel mit der „Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige“ auch gleichermaßen Suppenanstalten, preisgünstige Arbeiterwohnungen und die Schaffung von Badeanstalten. Auch bestand seit 1869 ein für die damalige Zeit fortschrittliches Fabrikgesetz. Soziale Zugeständnisse dienten aber nicht zuletzt dazu, ein politisch hoch konservatives System zu stützen, in dem die politische Macht bei nur wenigen Familien konzentriert war. So standen an der Spitze Basels als Exekutive zwei Bürgermeister und ein 13-köpfiger Kleiner Rat, wobei bis auf die zwei Bürgermeister alle Funktionsträger ehrenamtlich tätig waren. Allein schon hierdurch war ein politisches Engagement von weniger Betuchten ausgeschlossen. 36 Sitze des Großen Rates (der Legislative, der jedoch auch die Bürgermeister und die Mitglieder des Kleinen Rates angehörten) wurden in Basel noch immer durch die Zünfte bestimmt. Das Wahlverfahren war überaus komplex, zugleich fanden die Wahlen unter der Woche statt, wodurch abhängig Beschäftigte von den Wahlen ferngehalten wurden.

Die Autorin stellt den freisinnigen Politiker Wilhelm Klein als denjenigen vor, der seit 1867 mehrfach Anträge stellte, die auf eine grundlegende Erneuerung des politischen Systems zielten, und der damit ab 1873 auch Erfolg hatte. Zunächst kam es zur Einführung der Wahlen am Sonntag und einer Wahlurne. 1875 erhielt Basel dann einen von allen Stimmbürgern direkt gewählten Großen Rat als Legislative und einen hauptamtlichen Regierungsrat mit sieben Mitgliedern (zunächst durch den Großen Rat, ab 1890 direkt vom Volk gewählt) als Exekutive. Durch die gleichzeitige Einführung von fakultativem Referendum und Volksinitiative erwartete sich Klein zudem eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an der Politik, genauso wie eine Lösung etwaiger Konflikte zwischen Wählern und Behörden. Mit diesen Argumenten konnte sich Klein gegenüber seinen konservativen Gegnern durchsetzen, die eine Schwächung des Verantwortlichkeitsgefühls des Großen Rates fürchteten. Überhaupt sahen die Konservativen überall nur „fruchtlose Agitation“ (zitiert S. 21) und sprachen der Bevölkerung die Kompetenz ab, über komplexe Vorgänge ein Urteil zu fällen.

Bemerkenswert war freilich, dass sich das erste Referendum 1876 mit der Frage der Einführung einer Kanalisation beschäftigte und trotz unhaltbarer hygienischer Zustände die Kanalisation abgelehnt wurde. Zu groß war die Furcht vor hohen Anschlusskosten. Das gleiche Spiel wiederholte sich 1881. Erst 1896 sollte Basel die schon 20 Jahre zuvor geforderte Kanalisation erhalten. Am Beispiel der ersten Volksinitiative zeigt Gschwind jedoch auf, dass Volksinitiativen durchaus beschleunigend wirken konnten. Dank einer Volksinitiative erhielt Basel innerhalb kürzester Zeit 1882 eine dritte Rheinbrücke – die zweite Rheinbrücke war erst 1879 fertig gestellt worden.

In vier Kapiteln zeigt die Autorin auf, welche Themen bei den Volksabstimmungen und Referenden dominierten. In der Regel ging es um die weitere Demokratisierung des politischen Systems und um die Berücksichtigung von Minderheiten. Ein Meilenstein war die Einführung des Proporzwahlrechts 1905, mittels dessen die dominierende Stellung der inzwischen regierenden Freisinnigen gebrochen wurde. 1966 führte Basel-Stadt als erster deutschsprachiger Kanton das Frauenstimmrecht ein. 1988 wurde das Wahlalter von 20 Jahren auf 18 Jahre gesenkt. In der Gegenwart wird über das Stimmrecht von Ausländern, die eine bestimmte Anzahl von Jahren in der Stadt leben, wie auch über eine weitere Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre diskutiert. Weitere Themen von Abstimmungen bildete vor allem ab den 1920er Jahren der Ausbau des Sozialstaates, oftmals in Verbindung mit Steuerfragen. Da Basel ein Stadtkanton ist, wurde im Rahmen von Volksabstimmungen auch immer wieder die städtebauliche Entwicklung behandelt. Dementsprechend stellt die Autorin in einem reich bebilderten Kapitel städtebauliche Projekte vor, die von der Bevölkerung entweder angenommen oder verworfen wurden.

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit Abstimmungskampagnen und geht dabei auf „Aufreger und Grenzüberschreitungen“ (S. 228) ein. Von Parteien der politischen Rechten wurden seit den 1920er Jahren immer wieder Abstimmungskampagnen mit fremdenfeindlichem, ja offen rassistischem Unterton geführt, die darauf zielten, Ängste in der Bevölkerung zu schüren – ein unerfreulicher Aspekt der direkten Demokratie. Neben „Schlussbetrachtungen“ (S. 281) und einigen knappen rechtlichen Erläuterungen zur direkten Demokratie bilanziert zudem wiederum ein Kapitel die direkte Demokratie in statistischer Hinsicht. Hier geht es unter anderem um die Frage, wie hoch die Wahlbeteiligung war. Wie viel Prozent der Einwohner Basels dürfen überhaupt wählen? Wann waren Abstimmungen ungültig oder welchen Einfluss hatten bzw. haben die beiden Landgemeinden des Kantons, Riehen und Bettingen, auf das Gesamtergebnis? In den beiden Landgemeinden wohnen zusammen heute immerhin 13,2 Prozent der Stimmberechtigten, die in der jüngeren Vergangenheit bei knappen Entscheidungen wiederholt den Ausschlag gegeben und gerade in Fragen von Wohnungsbau und Miete mehrheitlich anders als die Einwohner Basels votiert haben.

Eva Gschwind wird dem selbst gestellten Anspruch, den Leser „auf eine spannende Zeitreise durch die Basler Politik der letzten 150 Jahre“ (Buchrücken) mitzunehmen, vollauf gerecht. Der Leser bekommt einen detaillierten und doch leicht verständlichen Einblick in das Funktionieren der direkten Demokratie sowie in zentrale Entwicklungen und politische Kontroversen nicht nur der Basler Stadtgeschichte, sondern auch der Schweiz insgesamt und der Oberrhein-Region.

Michael Kitzing, Singen

 

Zitierempfehlung:

Michael Kitzing, Rezension zu: Eva Gschwind, Auf zur Urne! Direkte Demokratie in Basel von den Anfängen bis heute, Christoph Merian Verlag, Basel 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81970> [23.1.2024].

Thomas Fläschner, Bergmannspfade. Die Arbeitswege der Bergleute im Saarrevier

Röhrig Universitätsverlag | St. Ingbert 2022 | 144 Seiten, geb. | 24,00 € | ISBN 978-3-96227-016-2

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Die Entwicklung der Mobilität von Bergarbeitern im mitteleuropäischen Raum während des 19. und 20. Jahrhunderts war in den verschiedenen Montanregionen unterschiedlich. Abhängig von Faktoren wie geografischer Lage, Arbeitsbedingungen und wirtschaftlichen, politischen sowie sozialen Strukturen gestalteten sich Zusammensetzung und Nutzung der infrastrukturellen Mittel. Thomas Fläschner, Leiter der Bereichsbibliothek Empirische Humanwissenschaften der Universität des Saarlandes, schafft mit seiner Studie „Bergmannspfade. Die Arbeitswege der Bergleute im Saarrevier“ einen breiten Überblick über die Arbeitswege der Bergleute in der Saarregion von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in das 20. Jahrhundert. Dabei führt er die einzelnen Verkehrsmittel auf, setzt sie in einen historischen Kontext und arbeitet deren Bedeutung und kulturelle Aneignung heraus.

Der Aufbau gliedert sich nach den einzelnen Verkehrsmitteln: dem Fußweg über die sogenannten Bergmannspfade, der Anfahrt mit der Eisenbahn und später der Straßenbahn, der Nutzung des Fahrrads, den eingerichteten Buslinien und der privaten Motorisierung mit Automobilen oder motorisierten Zweirädern. Allerdings findet eine Schwerpunktsetzung auf die Bergmannspfade und den Eisenbahnverkehr statt. Die Abfolge spiegelt chronologisch die Entwicklung der Mobilität der Bergarbeiter im Saarrevier wider, wobei betont werden muss, dass die parallele Nutzung der einzelnen Verkehrsmittel trotz der fortschreitenden Mobilisierung erhalten blieb (S. 84). Der Autor arbeitet mit vielen quellenbasierten Beispielen eine differenzierte Perspektive auf die zeitlich und örtlich gebundene Mobilität der Bergleute heraus. Neben der Betrachtung der Bergarbeiter selbst, die als offensichtliche Akteure Einfluss auf ihre Arbeitswege nahmen, werden die Verflechtungen mit und zwischen anderen Akteuren – Privatpersonen außerhalb der Bergarbeiterschaft, Gemeinden, Berg- und Forstverwaltungen – und daraus sich ergebende Konflikte aufgezeigt. Anhand konkreter Konflikte verdeutlicht Fläschner das komplexe Netzwerk zwischen den Handlungen der Akteure, das nicht zuletzt vor dem politisch wechselhaften Hintergrund der Saarregion (S. 75–81) zu sehen ist. Zahlreich erschlossene Quellen zeugen von einer ausgeprägten Archivarbeit, unter anderem im Landesarchiv Saarland, im Landeshauptarchiv Koblenz, in den Archives départementales de la Moselle sowie in diversen saarländischen Stadtarchiven. Zudem profitiert die regionalgeschichtliche Studie von einer medienbasierten Analyse zeitgenössischer Zeitungen und Zeitschriften, insbesondere von werksinternen Mitarbeiterzeitschriften sowie gewerkschaftlich orientierten regionalen Wochen- und Tageszeitungen.

Inhaltlich beginnt Fläschner mit der Betrachtung der Bergmannspfade als grundlegender Infrastruktur für den Arbeitsweg der Bergarbeiter. Unter der Führung des Preußischen Bergfiskus erlebte der Steinkohlenbergbau in der Saarregion zur Mitte des 19. Jahrhunderts einen explosionsartigen Aufschwung. Die voranschreitende Industrialisierung und die damit steigenden Belegschaftszahlen verursachten einen erhöhten Bedarf an infrastrukturellen Maßnahmen (S. 13). Die Expansion der Arbeitereinzugsgebiete hatte nicht nur eine Erweiterung des bereits bestehenden Netzes an Pfaden (S. 23–25), sondern auch siedlungspolitische Maßnahmen für die Bergarbeiterschaft zur Folge. Der Autor schafft es an dieser Stelle, die standortabhängige Mobilität zwischen Arbeitsplatz und Heimatort mit den daraus resultierenden Entwicklungen in Beziehung zu setzen. Zum Beispiel entwickelte sich aufgrund des Mangels an Wohnraum und der weiten Arbeitswege eine umfassende Wohnungs- und Siedlungspolitik des Preußischen Bergfiskus, welche die Schaffung des Einliegerwesens ebenso umfasste wie den Bau von Schlafhäusern und der Einführung des Systems der Prämienhäuser (S. 13–23). Ein anderes Beispiel ist die vielfältige soziokulturelle Aneignung der Wege, die sich exemplarisch im Sprachgebrauch – „Ranzenmänner und Hartfüßer“ (S. 87) – oder im Nutzen der Wege als Kommunikationskanäle für Streikgespräche (S. 49) im Arbeiterkampf abbildete. Einen weiteren Schwerpunkt setzt Fläschner mit der Betrachtung der historischen Entwicklung des Eisenbahnverkehrs. Auch hier erwuchs aus den stark steigenden Belegschaftszahlen die Notwendigkeit, das Bahnliniennetz zu verdichten (S. 97), um einerseits überfüllten Zügen (S. 101) entgegenzuwirken und andererseits neue Arbeitereinzugsgebiete zu erschließen (S. 97). Interessant zu sehen ist, dass Arbeiterzüge auch als Räume der Politisierung genutzt wurden (S. 112). Das verdeutlicht noch einmal, wie wichtig der Faktor der Mobilität ist, wenn es darum geht, die Arbeits- und Lebenswelt der Bergleute historisch zu untersuchen.

Charakteristisch für das 20. Jahrhundert war vor allem die Entwicklung von der gemeinschaftlichen Nutzung öffentlicher Wege und Eisenbahnlinien hin zum Individualverkehr mit Kraftfahrzeugen, wobei Fläschner aber die Intermodalität der Verkehrsmittel hervorhebt (S. 131). Daraus folgt, dass der Arbeitsweg der Bergarbeiter im Saarrevier zeitlich sowie räumlich als ein Konglomerat von Verkehrsmitteln bezeichnet werden kann und dass trotz weitgreifender Technisierung die ursprüngliche Art, das Zu-Fuß-Gehen über die Bergmannspfade (S. 131), nicht vollständig ersetzt werden konnte. Zusammenfassend wird damit in Fläschners Untersuchung nochmals die besondere Stellung der Bergmannspfade deutlich, denn sie fungierten als Verbindung zwischen Arbeits- und Lebenswelt der Bergarbeiter sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert.

Durch die Betrachtung von Verkehrsmitteln im Zusammenspiel mit wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und Prozessen sowie den Handlungen der verschiedenen Akteure gelingt dem Autor eine komplexe Darstellung der Mobilität von Bergarbeitern. Die Überlegungen zu Verkehrs- und Siedlungsstrukturen unter Einbeziehung der geografischen Lage der Grubenstandorte ermöglichen Rückschlüsse auf die vergangene sowie die gegenwärtige Raumgestalt der Saarregion. Für weiterführende Studien könnte von Interesse sein, die Erkenntnisse aus der Saarregion überregional oder sogar transnational zu vergleichen, um die entsprechenden Alleinstellungsmerkmale der verschiedenen Montanregionen herauszuarbeiten. Interessant wäre darüber hinaus eine größer angelegte Verflechtungsgeschichte der Mobilität von Industriearbeiter:innen allgemein. Die vielfältigen Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Industrieregionen könnten so kontextualisiert werden, um Prozesse beispielsweise der Migration besser verstehen zu können.

Joana Baumgärtel, Saarbrücken

 

Zitierempfehlung:

Joana Baumgärtel, Rezension zu: Thomas Fläschner, Bergmannspfade. Die Arbeitswege der Bergleute im Saarrevier, Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81969> [23.1.2024].

Daniel Hedinger, Die Achse. Berlin–Rom–Tokio 1919–1946

C.H. Beck | München 2021 | 543 Seiten, Hardcover | 29,95 € | ISBN 978-3-406-74153-1

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Daniel Hedinger nimmt sich in seiner Münchener Habilitationsschrift viel vor: „Dieses Buch erzählt die Geschichte der Achse Berlin-Rom-Tokio“ (S. 7). Nicht eine Geschichte oder ein Interpretationsangebot, nein die Geschichte. Mehr noch, handele es sich doch zugleich auch um „eine Globalgeschichte des Faschismus“ (S. 8). Darüber hinaus trage das Buch auch noch „zu einer Globalgeschichte des Zweiten Weltkrieges bei“ (ebd.). Das ist ein hoher Anspruch, der auf 400 locker gesetzten Textseiten eingelöst werden soll. Auf dem Buchumschlag wird gar behauptet, Hedinger schreibe „anhand umfangreicher Archivrecherchen“ die Geschichte des Achsenbündnisses „neu“. Das ist eindeutig falsch: Rund 100 der 1800 Anmerkungen des Bandes beziehen sich auf Archivalien von zumeist nachgeordneter oder peripherer Bedeutung. Dieses Buch zieht sein Material nahezu vollständig aus der Forschungsliteratur. Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Untersuchung im eigentlichen Sinne. Kein Dokument findet eine eingehende Analyse, keine Gesprächsaufzeichnung wird intensiv ausgewertet, keine programmatische Erklärung näher betrachtet, überhaupt wird nicht ein wissenschaftliches Problem gründlich erörtert. Hedinger legt einen Großessay vor, der eine von vornherein feststehende Interpretation durch gedankliche Operationen, Imaginationen und schlichte Behauptungen zu untermauern sucht. In Hedingers Worten: „Das Buch bietet Synthese und Interpretation zugleich“ (S. 8). Quellenlage oder Forschungsstand werden nicht dargelegt. Zu letzterem heißt es einfach, „die Arbeiten, die sich des Themas annahmen, haben das Bündnis kleingeschrieben“ (S. 12). „In der umfangreichen Literatur zum Zweiten Weltkrieg fristet die Achse Berlin-Rom-Tokio ein Schattendasein“ (S. 11). Dabei kennt Hedinger nicht einmal die einschlägigen Beiträge in dem Reihenwerk Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg oder die für seine Thematik immens relevanten Arbeiten von Andreas Hillgruber etwa zur Struktur der „Hitler-Koalition“.[1]

Daniel Hedinger möchte die Achse großschreiben. Sein Gedankengang verläuft etwa folgendermaßen: „Faschistische Gravitation“ – ein der Naturwissenschaft entlehnter Terminus bietet Hedinger nicht zufällig einen Schlüsselbegriff seiner Darlegungen – habe „den Nährboden für die Annäherung der drei Mächte“ gebildet, die „auf faschistischer Ideologie“ basierte (S. 75 f.). Ein spezifisches „Expansions-, Radikalisierungs- und Beschleunigungspotential des Faschismus“ habe eine „faschistische Radikalisierung erst im transnationalen Wechselspiel der Achsenmächte“ entstehen lassen und dabei zu „einer kumulativen Radikalisierung der Achse“ geführt, die diesem Bündnis „Sprengkraft und Dynamik“ verliehen habe (S. 13). „Erfolgreiche Expansion“ habe in der Praxis „wechselseitig anziehend“ gewirkt und einen „imperialen Nexus“ entstehen lassen, „der die drei Mächte aneinanderband und den Weg in den Weltkrieg ebnete“, wobei „koloniale Kontexte und transimperiale Ursachen des Weltkrieges“ besondere Aufmerksamkeit verdienten (S. 9). Darin offenbart sich eine für Hedingers Darstellung kennzeichnende Neigung zu quellenfernen und abstrakten Begrifflichkeiten, die, häufig nicht hinreichend definiert, als tragende Elemente dienen: Bei Hedinger „entsteht“ etwas aus Deduktionen, ohne dass in den Quellen nach Belegen gesucht werden müsste oder nach tatsächlichen Handlungen, Zielen und Beweggründen menschlicher Protagonisten oder gesellschaftlicher Gruppen. So bedarf es keiner Diskussion der Ursachen und Gründe für die nationalsozialistische Machtergreifung im Deutschen Reich: Es war einfach „die globale Welle des Faschismus, die im Frühjahr 1933 nun unübersehbar auch Deutschland mitgerissen hatte“ (S. 108). „Der Verfall der Weimarer Republik, der Aufstieg der NSDAP und die «Machtergreifung» waren ein integraler Bestandteil des ersten globalen Moments des Faschismus“ (S. 120). Ein Geschichtswissenschaftler, der sich so einfacher Lösungen für schwierigste sachliche und methodische Probleme gewiss ist, mag zu beneiden sein.

Hedingers Bemühungen, „globale Momente“ des Faschismus und „imperiale Nexus“ als Wegbereiter des Zweiten Weltkriegs aufzuzeigen, bleiben weithin ergebnislos. So habe die Pariser Friedenskonferenz von 1919 Prozesse freigesetzt – anonyme „Prozesse“ führen in Hedingers Darstellung durchweg ein handlungsleitendes Eigenleben –, „die auf lange Sicht die Grundlage für eine Annäherung der drei Länder bildeten“ (S. 41). Tatsächlich aber findet Hedinger keine Hinweise auf eine Annäherung von Vertretern Deutschlands, Italiens und Japans im Jahr 1919. Ein „erster globaler Moment des Faschismus“, den Hedinger im Herbst/Winter 1932/33 verortet, war „spätestens 1934 [...] wieder vorbei“ (S. 114). Und noch „Ende 1935 war eine Allianz zwischen Japan, Italien und Deutschland der Traum einiger weniger“ (S. 126). Die seit dem Winter 1935/36 sich allmählich abzeichnende Annäherung und partielle Zusammenarbeit dieser drei Mächte spielte sich hingegen in einem Kontext konventioneller machtpolitischer Zielsetzungen und Entscheidungen ab.

Weil aber von einer Kooperation der drei Mächte in der Sache schon ab Ende 1937 erneut kaum mehr die Rede sein kann, flüchtet sich Hedinger für die Folgezeit in Erzählungen von „Faschisten auf Reisen“, in die Ästhetisierung von Politik und in pseudopolitische öffentliche Spektakel. Das Ergebnis ist ernüchternd: Das gegenseitige Entsenden und Empfangen von Missionen und Besucherdelegationen diente „repräsentativen Zwecken“, verfolgte „aber kaum konkrete diplomatische Ziele“ (S. 230). Wenn Hedinger mit Blick auf die inszenierten Spektakel anlässlich gegenseitiger Staatsbesuche betont, „erst durch die Prozesse wechselseitigen Austausches wurde dem Bündnis gleichsam Leben eingehaucht“ (S. 224) – an sich war es also offenbar tot –, die „medienwirksamen Besuche und Handlungen verliehen dem Bündnis gleichsam erst Substanz“ (S. 14) – an sich war es folglich substanzlos –, dann bestätigt er nur die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungen: Das Achsenbündnis zog zu keiner Zeit eine echte politische oder strategische Zusammenarbeit nach sich.

Hedinger kann diesen Mangel an Substanz nicht wegdiskutieren: „Letztendlich ist die Geschichte der Achse im Krieg natürlich [!] vor allem eine des Scheiterns“ (S. 272). Um es dabei aber nicht bewenden zu lassen, kreiert Hedinger einen Popanz, den er gleich auf der ersten Seite seines Werks vorstellt: „Nichts schien den Aufstieg der drei Mächte aufzuhalten.“ Mitte des Jahres 1942 „herrschten die Drei über gewaltige Imperien. [...] Für kurze Zeit schien es, als stünde der Realisierung einer neuen Weltordnung durch das Bündnis zwischen Deutschland, Japan und Italien nichts mehr im Wege“ (S. 7). Wem schien es denn so? Zu Hedingers Popanz passt eine skurrile Karte „Weltordnungsentwürfe der Achsenmächte“ – auf der Amerika nicht vorkommt –, die die „größte Machtausdehnung der Achsenmächte und ihrer Verbündeten [...] zu unterschiedlichen Zeitpunkten [...] (ca. 1942)“ darzustellen versucht, um die Bedrohung möglichst groß erscheinen zu lassen. Die beabsichtigte Suggestion funktioniert von vornherein nur, indem verschämt angemerkt wird, das im Kartenbild gewaltige ostafrikanische Kolonialgebiet Italiens sei „bis Ende 1941 an die Briten verloren gegangen“. In Nordafrika zeigt die Karte als scheinbar zeitgleich den Frontverlauf vor El Alamein von Oktober 1942 und den in Tunesien vom Winter 1942/43, als Libyen für die Achsenmächte längst verlorengegangen war (S. 543). Das sind Taschenspielertricks. In ähnlicher Weise arbeitet Hedinger mit gigantischen Bevölkerungszahlen und Wirtschaftspotentialen in den vom Deutschen Reich und Japan okkupierten Gebieten, um eine von diesen ephemeren „Imperien“ ausgehende Bedrohung zu suggerieren. Der Versuch, die Leserschaft zu beeindrucken, fällt sofort in sich zusammen, da die Achsenmächte zu keiner Zeit Integrationsangebote für die Mehrzahl der von ihnen unterworfenen Menschen vorzuweisen hatten und nicht zuletzt deshalb auch die scheinbar hinzugewonnene Wirtschaftskraft nicht hinreichend auszunutzen verstanden (S. 354-356). Unabhängig davon war „Mitte 1942“ Italien längst zu einem militärisch und machtpolitisch bedeutungslosen bloßen Anhängsel des Deutschen Reiches herabgesunken, war Hitlers Kriegsplan im Winter 1941/42 desaströs gescheitert, war die militärische Kraftentfaltung des Japanischen Kaiserreichs an ihre Grenzen gestoßen. Alle drei Mächte hatten die strategische Initiative verloren und ihre Führungen besaßen keine Vorstellung davon, wie ihr jeweiliger Krieg vor allem gegen die Vereinigten Staaten zu gewinnen sein mochte.

Tatsächlich gelingt es Hedinger nicht, eine koordinierte Bedrohung der globalen Ordnung durch das Kaiserreich Japan, das Königreich Italien und das Großdeutsche Reich nachzuweisen. Ebenso wenig überzeugt seine Vorstellung eines globalen Faschismus. Das beginnt und endet damit, dass Hedinger jeglicher Definition von „Faschismus“ konsequent ausweicht, ja sie dezidiert ablehnt (S. 415). Es bleibt völlig im Dunkeln, was für Hedinger den „Faschismus“ kennzeichnet – ein für eine „Globalgeschichte des Faschismus“ denkwürdiger Tatbestand. Während schon eine Charakterisierung der nationalsozialistischen Herrschaft als „faschistisch“ deren Beschaffenheit eher verschleiert als zu analysieren hilft, erscheint sie insbesondere im Hinblick auf Japan kaum konsensfähig. Kurzum postuliert Hedinger „in Japan eine ganz eigene Form faschistischen Globalismus, der sich als Pendant zu Neuordnungsentwürfen europäischer Faschisten verstehen lässt“; es handele sich um „eine Art Nipponismus“ als „einer von oben verordneten partikularen Form des Faschismus“ (S. 105 u. 195). Wenn Hedinger schließlich „die japanische Variation eines ethnozentrischen Herkunftsmythos, der polygenetisch aufbereitet nun zelebriert wurde“, heraufbeschwört, dann bleibt nur zu hoffen, dass der Verfasser selbst weiß, was er mitteilen möchte (S. 311).

Der Begriff „faschistische Kriegsführung“, der Hedingers Buch durchzieht, wird nicht definiert: Sie sei durch „die Entmenschlichung des Gegners“ und durch „gesteigerte Gewalt“ gekennzeichnet gewesen, wobei nirgends erklärt wird, wie sich „gesteigerte Gewalt“ von Gewalt unterscheidet (vgl. etwa S. 158-161). Unter diesem Gesichtspunkt wirkt es erstaunlich, wenn Hedinger behauptet, die Zeitgenossen hätten insbesondere den deutschen „Blitzkrieg“ gegen Frankreich 1940 „als Meisterstück faschistischer Kriegsführung“ interpretiert (S. 278). Hedingers bar jeder militärgeschichtlichen Expertise verfertigtes Konstrukt der „faschistischen Kriegsführung“ trägt nicht und wirkt verfehlt, insofern es die Kriterien rascher militärischer Operationen mit verbundenen Waffen, des Bombenkriegs gegen Zivilbevölkerungen oder des bewussten Einsatzes von sexualisierter Gewalt betont, die völlig unspezifisch werden, wenn man den Blick auf die gleichzeitige Kriegführung der Sowjetunion oder der Westmächte richtet.

Hedingers Überlegungen zu gegenseitigen Anregungen oder gar Überbietungswettbewerben der drei Mächte bleiben durchweg ohne Belege in den Quellen. Die Vorstellung, die japanische Eroberung und imperiale Neuordnung Mandschukuos sowie generell die Expansion Japans hätten für die nationalsozialistische Eroberungs- und Siedlungspolitik Vorbildcharakter gehabt (S. 152-155, 415 u. 421), entbehrt nicht nur einschlägiger Nachweise im Hinblick auf die Verantwortlichen im Deutschen Reich, sie präsentiert sich darüber hinaus ohne Kenntnis der Forschungen zum Vorbildcharakter des ephemeren deutschen Ostimperiums im Jahre 1918. Hitler und seine Mitarbeiter benötigten wahrhaftig keine Anregungen aus Fernost für ihre eigenen und ganz spezifischen Großraumvisionen und verbrecherischen Handlungen. Ebenso wenig diente ihnen die italienische Kriegführung in Afrika als Vorbild.

Anstatt in kritischer Weise Quellen zu analysieren, erliegt Daniel Hedinger mehrfach der Suggestionskraft zeitgenössischer Äußerungen, etwa bei der Verwendung von Zitaten aus den Goebbels-Tagebüchern, die oft nichts als Autosuggestion widerspiegeln. Mehrere der in dem Buch wiedergegebenen fotografischen Abbildungen bieten ausschließlich hohle Propaganda, die Hedinger nicht dekonstruiert. In der Konsequenz versteigt sich Hedinger zu analytisch zweifelhaften Urteilen, wenn er die „spirituelle Seite“ des faschistischen Projekts betont (S. 79), wenn „einmal mehr [...] beide Regime schicksalhaft verbunden“ waren (S. 137) oder er in Freundschaftsmissionen „die emotionale Bindung zwischen den beiden Regimen“ wirksam sieht (S. 229). Und wenn Hedinger meint, für die deutsche Führung „markierte der Dezember 1941 [...] keineswegs eine Wende, vielmehr ließ sie den Krieg und die Gewalt im Glauben an den Endsieg weiter eskalieren“, außerdem „glaubten die Achsenmächte“ 1942 „selbst durchaus noch an den Endsieg“ (S. 346 f.), dann urteilt er wiederum ohne Kenntnis der einschlägigen Quellen und Literatur, während sich zwingend die methodische Frage stellt, woher Hedinger weiß, was die deutsche Führung oder gar „die Achsenmächte“ glaubten. Hedinger selbst glaubt zu oft den vermeintlichen Erinnerungen zweifelhafter Zeitzeugen wie Edda Ciano, Erich Kordt oder Max Domarus. In der Sache gelangt er mitunter zu seltsamen Erkenntnissen: Bei der Gründung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda „stand im Frühjahr 1933 klar das italienische Vorbild Pate“ (S. 111), in Deutschland lag ab 1933 „der Fokus auf inneren Reformen“ (S. 115), die SPD habe nach 1919 „die Rückgabe von Kolonien“ gefordert (S. 166), die 1940 in Frankreich einmarschierenden Soldaten der Wehrmacht gehörten zu “den neuen Männern faschistischer Prägung“ (S. 277). Und Adolf Hitler saß „in der Nacht auf den 8. Dezember“ 1941 „besorgt in seinem ukrainischen Hauptquartier in einem Lehnstuhl“ (S. 320): Nein, dort saß er bestimmt nicht.

Rainer Behring, Köln

[1] Vgl. exemplarisch: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 6: Der Globale Krieg. Die Ausweitung zum Weltkrieg und der Wechsel der Initiative 1941-1943, Stuttgart 1990 (bes. S. 95-170: „Die Koalition der Dreimächtepakt-Staaten“); Andreas Hillgruber, Die „Hitler-Koalition“. Eine Skizze zur Geschichte und Struktur des „Weltpolitischen Dreiecks“ Berlin-Rom-Tokio 1933 bis 1945, in: ders., Die Zerstörung Europas. Beiträge zur Weltkriegsepoche 1914 bis 1945, Frankfurt a.M./Berlin 1988, S. 169-185.

 

Zitierempfehlung:

Rainer Behring, Rezension zu: Daniel Hedinger, Die Achse. Berlin – Rom – Tokio 1919-1946, C.H. Beck, München 2021, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81968> [23.1.2024].

Michael F. Feldkamp, Adenauer, die Alliierten und das Grundgesetz

Langen Müller | München 2023 | 176 Seiten, laminiert | 22,00 € | ISBN 978-3-7844-3654-8

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Michael Feldkamp, in der Verwaltung des Deutschen Bundestages tätig und eifriger Publizist, darunter mehrerer Editionen und Veröffentlichungen zum Parlamentarischen Rat, hat nunmehr eine populäre Darstellung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes vorgelegt, die sich im Wesentlichen auf die Zeit zwischen dem 1. September 1948 und dem 23. Mai 1949 konzentriert (S. 36-136). Ihr voraus gehen unter anderem kurze Erwähnungen der Empfehlungen der Londoner Außenministerkonferenz vom Frühjahr 1948, der Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948 und des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee. Den Abschluss bilden die Gründung der Bundesrepublik, die Übergabe des Besatzungsstatuts auf dem Petersberg am 21. September 1949 und die Auseinandersetzungen um Kurt Schumachers Zwischenruf „Der Kanzler der Alliierten“ im Deutschen Bundestag vom 24. November 1949. Feldkamps zentrales Thema ist die Frage, inwieweit die drei Westmächte von den Außenministern über die Militärgouverneure bis zum Alliierten Verbindungsbüro in Bonn Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des Grundgesetzes nahmen.

Die Frage ist so alt wie das Grundgesetz selbst, und die Antwort, die Feldkamp auf der Basis der vorliegenden Literatur bereithält – es ging im Kern um die Ausgestaltung des Föderalismus –, ist ebenfalls hinreichend bekannt. Feldkamp konzentriert sich jedoch weniger auf die konkreten Formulierungen im Text des Grundgesetzes, als vielmehr auf die Konfliktlinien zwischen den verschiedenen politischen Akteuren, in dem Bemühen aufzuzeigen, wie sich letztlich die deutsche Seite in der Interaktion mit den alliierten Stellen weitgehend durchzusetzen vermochte. Das ist durchweg nachvollziehbar und leicht lesbar dargelegt, was die Darstellung für ein breiteres Publikum mühelos zugänglich macht, zumal der Autor auf Fußnoten zugunsten eines ausführlichen Literaturverzeichnisses verzichtet.

Dabei verliefen die Konfliktlinien keineswegs stets eindeutig. Aus Sicht des Autors waren es zumal die zwischen CDU/CSU auf der einen und SPD auf der anderen Seite, während die zwischen Parlamentarischem Rat und Alliierten zunehmend verschwammen und je nach Parteipräferenz dem politischen Gegner geheime Absprachen mit den Alliierten vorgehalten, wenn nicht Kumpanei mit den Amerikanern beziehungsweise – bezogen auf die SPD – mit den Briten unterstellt wurden. Bei alledem hielt sich Adenauer – obwohl im Titel des Buches prominent herausgestellt – aus taktischen Gründen oft im Hintergrund, ohne dass seine tatsächliche Rolle stets hinreichend deutlich wird.

Damit werden zugleich die Grenzen des schmalen Bandes offenkundig. Hätte man sich bereits eine vertiefte Einordnung der ganzen Problematik in den sich verschärfenden Ost-West-Gegensatz und den eskalierenden Kalten Krieg zumal als Erklärungsmodell für das wachsende Entgegenkommen insbesondere der amerikanischen Seite gewünscht, so wird man in den meisten Fragen, etwa möglicher Absprachen zwischen den Amerikanern und der bayerischen Staatsregierung oder hinsichtlich der Spannungen zwischen der SPD-Führung in Hannover und den SPD-Parlamentariern in Bonn, dem Verhältnis zwischen Pierre Koenig, André François-Poncet und Jean Victor Sauvagnargues sowie zwischen ihnen und den Amerikanern wie Briten, den Feinheiten des Adenauerschen Taktierens und Führens und vieles mehr, nicht ohne den Gang in die Archive weiterkommen können. Hier mag noch manches überraschende Detail verborgen liegen. Doch das wäre dann ein anderes Buch geworden.

Horst Dippel, Kassel

 

Zitierempfehlung:

Horst Dippel, Rezension zu: Michael F. Feldkamp, Adenauer, die Alliierten und das Grundgesetz, Langen Müller, München 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81973> [23.1.2024].

Jan Kellershohn, Die Politik der Anpassung. Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980

Böhlau Verlag | Wien/Köln 2022 | 475 Seiten, gebunden | 65,00 € | ISBN 978-3-412-52249-0

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Die aus einer Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum hervorgegangene Studie von Jan Kellershohn beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Arbeit, Qualifikation und Wissen im Rahmen des wirtschaftlichen Strukturwandels im Bergbau. Dabei konzentriert sie sich auf das Ruhrgebiet im Zeitraum von den 1950er Jahren bis zum Ende der 1970er Jahre und nimmt vergleichend außerdem noch die französische Region Nord-Pas-de-Calais in den Blick. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass im Untersuchungszeitraum Qualifikation und Ausbildung immer stärker als Schlüssel verstanden wurden, um wirtschaftlichen Strukturwandel gesellschaftlich wie individuell zu bewältigen und zu gestalten. Den empirischen Kern der Studie bildet dementsprechend eine Untersuchung der sich verändernden Verständnisse, Konzepte, Institutionen und Akteure der beruflichen Ausbildung im Ruhrgebietsbergbau, der wie kein anderes Feld zum Sinnbild für die Herausforderung des industriellen Wandels und daher zu einem Experimentier- und Interventionsraum ersten Ranges wurde. Als zentraler Begriff der vielfältigen Diskurse und Praktiken der in dem Buch geschilderten Qualifizierungs- und Umschulungspolitik im Bergbau figurierte die „Anpassung“: in einer in Bewegung gekommenen Arbeitswelt konnten Arbeitnehmer (tatsächlich geraten ausschließlich männliche Arbeiter in den Blick) nicht mehr auf ein stabiles Verhältnis von Ausbildungsinhalten und späterer Berufstätigkeit vertrauen, sondern mussten sich auf Veränderung einlassen und zur Umstellung bereit sein. Wie sie dazu gebracht werden konnten und wer hierzu überhaupt willens und in der Lage war, diese Fragen standen im Mittelpunkt wissens- und qualifizierungspolitischer Debatten und Bemühungen, deren ausführliche Untersuchung einen Großteil des Textes ausmacht. Damit möchte die Arbeit auch einen Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Strukturwandels leisten, indem sie die vielschichtige Diskursivität dieses Begriffs betont und scheinbare Zwangläufigkeiten wie eine Entwicklung hin zu mehr Mobilität und Flexibilität nicht als Beschreibungskategorien aufnimmt, sondern vielmehr als zeitgenössisches Disziplinarregime auffasst, das fortdauernd gesellschaftliche Ausschlüsse produziert habe.

Zunächst wendet sich der Autor dem Regime der Berufsausbildung im Bergbau um 1950 zu, was als Vorgeschichte erst die folgende Entwicklung hin zu einer „Politik der Anpassung“ in ihrer paradigmatischen Bedeutung verständlich werden lässt. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland lag der Fokus im Rahmen eines holistisch-moralischen Ausbildungssystems auf der Eingliederung in eine Gemeinschaft. Fragen der Qualifikation waren in dieser Sicht untrennbar mit Aspekten der moralischen Lebensführung verwoben. Der Sinn einer Berufsausbildung bestand nicht zuletzt darin, jedem Individuum einen Platz innerhalb der Gesellschafts- und der Belegschaftshierarchie zuzuweisen, der seinem Begabungsniveau entsprach.

Der erste Hauptteil „Von der Eingliederung zur Anpassung“ handelt davon, wie dieses Paradigma brüchig wurde und ein Qualifizierungsimperativ Einzug erhielt, in dessen Zeichen Mobilität und Anpassungsfähigkeit im Laufe der 1960er Jahre zu Fixpunkten der Berufsausbildung wurden. „Mobilität“, zunächst noch eher räumlich verstanden, wurde zuerst in Frankreich Anfang der 1950er Jahr zu einem Schlüsselbegriff des Umgangs mit dem Strukturwandel in Bergbauregionen. Von dort wanderte er nach Deutschland und veränderte in diesem Zuge auch seine Bedeutung: unter Mobilität wurden nun zunehmend Wille und Fähigkeit des Einzelnen zur inneren Umstellung verstanden. Die binationale Vergleichsperspektive schließt sich an dieser Stelle bereits wieder, denn in Frankreich wurde als Reaktion auf den Niedergang des Bergbaus in Nord-Pas-de-Calais die Berufsausbildung in diesem Bereich zum Ende der 1960er Jahre kurzerhand beendet. In Deutschland dagegen entfalteten sich langanhaltende Bemühungen, dem industriellen Strukturwandel mit Veränderungen in der Ausbildungs- und Qualifizierungspolitik zu begegnen. Im Glauben an eine rationelle Gestaltbarkeit der Zukunft, wie er für die 1960er Jahre charakteristisch war, wurde in der ersten Hälfte des Jahrzehnts noch versucht, mithilfe gestufter Ausbildungsformen und dem Einsatz kybernetischer Prinzipien das unter Arbeitnehmern tatsächlich vorhandene Begabungsniveau mit zukünftig benötigten Anforderungsprofilen in Deckung zu bringen. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, insbesondere im Zuge der Rezession von 1966/67, rückten dann zunehmend Umschulungsmaßnahmen für ehemalige Bergarbeiter in den Blickpunkt. Skepsis und Widerstand waren zunächst erheblich, galten doch etwa den regionalen Arbeitsämtern ältere Arbeiter als generell nicht mehr (aus)bildungsfähig. Großangelegte Umschulungsprogramme im Programmieren riefen zuerst Euphorie hervor, brachten jedoch auch die Grenzen der Umstellungsfähigkeit vieler Teilnehmer sichtbar zu Tage. Zeitweilig wurde die scheinbar mangelnde Anpassungsfähigkeit unter Rückgriff auf ältere völkische Stereotype sogar zur gleichsam historisch-ethnisch verfestigten Immobilität des „Ruhrvolks“ anthropologisiert. Die Erforschung von Mobilität mit den Mitteln der modernen Sozialwissenschaften brachte jedoch auch keine eindeutigen Ergebnisse hervor, das Wesen der Mobilität blieb damit staatlicher Intervention dauerhaft unzugänglich.

Vor diesem Hintergrund schilderte der zweite Hauptteil „Von der Anpassung zum Ausschluss“ in zwei Kapiteln, wie das in den 1960er Jahren zur Geltung kommende Ausbildungsregime zwei Sozialfiguren entstehen ließ, die die Grenze der Bildbarkeit markierten: den „älteren Arbeitnehmer“ und den „Lernbehinderten“. Im ersten Kapitel werden Bemühungen analysiert, im Ruhrgebiet ein Netz von Institutionen der Umschulung und Qualifizierung zu etablieren, die vom Autor als ein „großer Apparat zur Rettung und Bewahrung einer schwerindustriellen Männlichkeit“ (S. 258) interpretiert werden. Ihre Ausgestaltung war permanent umstritten, nicht zuletzt, weil sie immer wieder in die Nähe der Rehabilitationspädagogik gerückt wurden, womit „ältere Arbeitnehmer“ in Analogie zu „Behinderten“ gerieten. Als ambitionierte Unternehmung wurde die 1968 ins Leben gerufene Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur, in der ältere Arbeiter unterkommen und gefördert werden sollten, allerdings schon nach wenigen Jahren wieder eingestellt, ohne dass unter den beteiligten Akteuren Einigkeit darüber erzielt werden konnte, was dieses Scheitern über die Bildungsfähigkeit der anvisierten Klientel aussagte. Im letzten Kapitel geht es schließlich wieder um die grundständige Berufsausbildung und das von vielen zeitgenössischen Akteuren wahrgenommene Problem eines zunehmenden Begabungsverfalls unter den Auszubildenden des Bergbaus. Der Fokus der Untersuchung liegt insbesondere darauf, wie sich in den Bemühungen, auf diese Entwicklung mit Reformen in der Ausbildung zu reagieren, eine Unterscheidung zwischen bildungs- und umstellungsfähigen Individuen auf der einen und Bildungsunfähigen auf der anderen Seite etablierte. Dies resultierte unter anderen in der Einrichtung einer abgestuften Berufsausbildung Ende der 1970er Jahre, in der nun eine Vollausbildung zum Bergmechaniker und eine zweijährige Ausbildung zum „Berg- und Maschinenmann“ unterschieden wurden.

Kellershohns Ansatz, den wirtschaftlichen Strukturwandel nicht als vorgängige Tatsache analytisch hinzunehmen, sondern ihn zunächst „vollständig als sprachliches Phänomen“ (S. 21) zu fassen und als solches zum Untersuchungsgegenstand zu erheben, erscheint einerseits ertragreich und auch theoretisch weiterführend, er wird sozialgeschichtlich interessierte Leser*innen aber auch an der ein oder anderen Stelle enttäuschen. Darüber, welche realen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen der im Buch behandelten Qualifizierungspolitik eigentlich zu Grunde lagen, schweigt die Darstellung, obgleich manche Information (etwa die Größenordnung der durch Zechenschließungen freigesetzten Arbeitskräfte und der erfolgten Umschulungsmaßnahmen) zur Einordnung der Befunde durchaus erhellend gewesen wäre. Auch die Perspektive der Bergarbeiter und Auszubildenden als Objekte und Betroffene der Qualifizierungs- und Wissenspolitik, ihre Erfahrungen in Umschulung und Ausbildung oder auch die Frage, was der postulierte „Ausschluss“ für sie konkret bedeutete, bleiben weitgehend ausgeblendet. Die Stärken des Buches liegen auf anderem Gebiet: in der theoretisch informierten und innovativen Art und Weise, mit der sich der Autor der Verwobenheit von Strukturwandel und Qualifizierungsfragen seit den 1960er Jahren widmet, und in dem breiten Quellenzugriff, der eine Fülle neu erschlossenen Materials aus regionalen Archiven verarbeitet und mit übergeordneten Fragen und Perspektiven verknüpft. Der erhobene Anspruch auf Allgemeingültigkeit wird zwar dadurch eingeschränkt, dass weder das seit den 1960er Jahren sich entwickelnde Phänomen migrantischer Arbeitswelten noch (trotz eines geschlechtergeschichtlichen Blicks auf den männlichen Arbeiter) die Erwerbsarbeit von Frauen in den Blick kommen, doch liefert die Arbeit gleichwohl einen ebenso überzeugenden wie stimulierenden Beitrag zum Zusammenhang von Wirtschaftswandel, Arbeit, Bildung/Qualifikation und Wissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der durch seine Thesenfreude zahlreiche Anknüpfungspunkte zum Weiterdenken und -forschen bereithält.

Benno Nietzel, Frankfurt (Oder)

 

Zitierempfehlung:

Benno Nietzel, Rezension zu: Jan Kellershohn, Die Politik der Anpassung. Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980, Böhlau Verlag, Wien/Köln 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81972> [23.1.2024].

Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806–1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, Bd. 5: Elsass-Lothringen

Springer Verlag | Berlin/Heidelberg 2023 | LX, 1559 Seiten, gebunden | 219,00 € | ISBN 978-3-662-64749-3

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Von Michael Kotullas groß angelegtem Deutschen Verfassungsrecht 18061918 erschienen bislang fünf Bände: Bd. 1:Gesamtdeutschland, Anhaltinische Staaten und Baden (2006), Bd. 2: Bayern (2007), Bd. 3: Berg und Braunschweig (2010), Bd. 4: Bremen (2016) und Bd. 18: Nassau (2021). Nun ist nach nur zwei Jahren mit Elsass-Lothringen der sechste Band gefolgt. Dass dieser Band rund 1.000 Seiten kürzer ausgefallen ist als der Band über Nassau, mag nicht der einzige Grund für dieses erfreulich kurze Intervall gewesen sein. Dennoch war er wohl der schwierigste Band angesichts der diffusen Rechtslage im Reichsland Elsass-Lothringen, das 1871 in das soeben gebildete Deutsche Reich zu integrieren war. Aufgrund der rechtlichen Sonderstellung des Reichslandes innerhalb des Reiches musste Kotulla vielfach Neuland beschreiten. Elsass-Lothringen war rechtlich kein Bundesstaat, jedoch seit 1874 im Reichstag vertreten, erst ab 1911 auch im Bundesrat. Doch hier zählten seine drei Stimmen nur, wenn sie tatsächlich nichts zählten, d.h. wenn sie für die Mehrheitsfindung ohne Belang waren. Als Republik innerhalb des monarchischen Reiches schien das Reichsland nicht tragbar. Allerdings war ein eigenständiges monarchisches Oberhaupt, vergleichbar denen der übrigen Bundesstaaten außer den Freien Städten, ebenso undenkbar, sodass es nie zur Anerkennung Elsass-Lothringens als gleichberechtigter, autonomer Bundesstaat innerhalb des Reiches gekommen ist.
Durch diese politische, soziale, ökonomische und nicht zuletzt kulturelle Gemengelage allein mit den Mitteln der Rechtssetzungen steuern zu wollen, mag zwar aus der Perspektive des Deutschen Verfassungsrechts naheliegend erscheinen, erfasst jedoch angesichts einer über die Köpfe der Betroffenen hinweg vollzogenen Okkupation lediglich einen Teilaspekt einer viel tiefergehenden Gesamtproblematik. Dennoch hat sich der Jurist Kotulla entschieden, allein diese Normsetzungen in den Blick zu nehmen, obwohl hin und wieder zumindest Andeutungen über die Weiterungen der unterliegenden Probleme wünschenswert gewesen wären.
Tatsächlich werden die Grenzen dieser ausschließlich juristischen Vorgehensweise in der ausführlichen Einleitung der Dokumentensammlung rasch sichtbar. Als das Reichsland 1871 eingerichtet wurde, verfügte es über keine Verfassung. In den folgenden Kapiteln der Einleitung behandelt Kotulla daher das, was er „Verfassungs-Verhältnisse“ des Reichslandes nennt, um dann im 9. Kapitel zum Verfassungsgesetz vom 31. Mai 1911 zu kommen. Es folgen darauf die Zeit bis zum Kriegsausbruch, die Kriegszeit und der „Abgesang“ (Kap. 12). Damit, so könnte man meinen, wäre das Thema abgehandelt, zumal diese Kapitel hinreichend Raum geboten hatten, den Verfassungsbegriff mit Bezug auf Elsass-Lothringen und dessen Defizite zu thematisieren. Obwohl Kotulla im Zusammenhang mit der unsäglichen Zabern-Affäre die „reklamierte Suprematie der Reichsmilitärgewalt“ herausstreicht und betont, dass sich die „reichsländischen und Reichsinstitutionen als unfähig zu einer wirksamen Kontrolle der Armee und ihrer Einrichtungen“ erwiesen (S. 107), leitet diese Erkenntnis nicht zu einer grundsätzlichen Verfassungskritik über. Dabei wurde darin letztlich mehr als nur das Scheitern von 48 Jahren reichsdeutscher Politik offenkundig. Jenseits von reinen Rechtssetzungen hatten viele Faktoren zu diesem Scheitern beigetragen, von denen der von Deutschland verlorene Erste Weltkrieg nur einer war. Zwar hatte man, als das Haus längst lichterloh brannte, noch am 28. Oktober 1918 die Reichsverfassung geändert und am 30. Oktober den Versuch unternommen, auch die Verfassung Elsass-Lothringens zu ändern (S. 114). Doch auch an dieser Stelle bleibt die fundamentale Kritik an der Verfassungsordnung und den darüber herrschenden Vorstellungen von Reich und Reichsland ebenso aus, wie sie sich bereits im ersten Band bezüglich der Reichsverfassung zu verhalten präsentiert hatte. Statt den letztlich anachronistischen, nahezu einhundert Jahre deutscher und allgemeiner Verfassungsentwicklung konterkarierenden Charakter der Reichsverfassung herauszustreichen, die eine moderne Wirtschaftsordnung mit einem außerhalb der Verfassungsordnung stehenden und bis zum Schluss letztlich unkontrollierbaren Militär – siehe Zabern-Affäre – verband, übergeht Kotulla diese Problematik wortlos.
Auf diese ersten 116 Seiten der Einführung folgt indessen ein dreizehntes Kapitel mit nahezu 200 weiteren Seiten über das „Recht einzelner Sachgebiete“. In ihm geht es in über zwei Dutzend Unterkapiteln um die Bezirks-, Kreis- und Kommunalebene, das Justiz- und Haushaltswesen, das Landesbeamtenrecht, die „Ordnungsgewalt des Militärs“, das Vereins-, Versammlungs- und Pressewesen, Gewerbe, Landwirtschaft, Jagd- und Fischereiwesen, Berg- und Baurecht, das Religions- und Schulwesen – wo eigens auf die katholische Kirche und die protestantischen Kirchen eingegangen, aber die jüdische Glaubensgemeinschaft nicht behandelt wird – die Universität Straßburg und das Eisenbahnwesen – ohne dass die Aufzählung damit vollständig wäre.
Die Relevanz dieser Rechtsbereiche ist unbestritten. Doch wie schon bei den voraufgegangenen Bänden stellt sich auch hier die Frage, ob es sich hierbei in der Tat durchweg um Verfassungsrecht oder in der Regel nicht eher um Verwaltungsrecht handelt. In diesem Zusammenhang spielt stets der selten abrupte, meist langwierige, mitunter gar nicht erfolgte Übergang von französischem Recht auf deutsches Recht eine Rolle. Bei diesen Vorgängen geht es natürlicherweise immer wieder auch um das Auswechseln von Personen, ob bei der Justiz, der Polizei, der Verwaltung, den Schulen oder anderswo, von den damit verbundenen sozialen Verwerfungen und deren Rückwirkungen auf das Gesellschaftsgefüge ganz zu schweigen. Doch von allen diesen Problemen ist nie die Rede. Sicherlich handelt es sich hierbei nicht um genuine Themen des Verfassungsrechts. Aber galt das nicht ebenso bereits zumindest für die Mehrzahl dieser rechtlichen Sachgebiete? Und kann man diese Prozesse wirklich erfassen, ohne ihre unmittelbare soziopolitische Dimension auch nur anzudeuten?
Ungeachtet dieser Einwände wird man Kotulla dankbar sein, dass er sich des schwierigen Themas Elsass-Lothringen angenommen und eine große Fülle bislang weit verstreuter Dokumente in die-sem Band zusammengetragen hat. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob es nicht grundsätzlich angebracht gewesen wäre, auch jene französischen Rechtstexte im Wortlaut abzudrucken, die nach 1870 im Reichsland weiterhin geltendes Recht darstellten? Stattdessen wird man sich mit den einschlägigen Quellennachweisen, mitunter verbunden mit entsprechenden wörtlichen Zitaten in der Einführung, zufriedengeben müssen. Irritierend ist hingegen, dass Verweise auf die durchnummerierten Abschnitte innerhalb der Einführung vielfach mit unzutreffenden Nummern versehen sind.
Es ist die Aufgabe eines Rezensenten, ein Werk kritisch zu bewerten. Dazu gehört aber auch, dort Lob auszusprechen, wo es die Sache gebietet. Dass dies bei den inzwischen sechs Bänden des Deutschen Verfassungsrechts angesichts ihrer immensen Stoff- und Dokumentenfülle mehr als geboten ist, steht völlig außer Frage. Insofern sehen wir alle dem nächsten Band mit Spannung und Freude entgegen und können seinen Schöpfer nur nachdrücklich ermuntern, im Rahmen seiner Kräfte und finanziellen wie personellen Ressourcen fortzufahren.
Horst Dippel, Kassel

 

Zitierempfehlung:

Horst Dippel, Rezension zu: Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806-1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: < library.fes.de/pdf-files/afs/81967.pdf > [23.1.2024].

Christina Morina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren

Siedler | München 2023 | 399 Seiten, gebunden | 28,00 € | ISBN 978-3-8275-0132-5

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In den letzten Jahren – schon vor dem neuen Buch von Christina Morina – war verschiedentlich die Auffassung zu lesen, dass es in der DDR „dialog- und partizipationsorientiertes Handeln“ gegeben hätte, das von den Vorstellungen der Diktatur abwich. Ebenso sollten Teile der DDR-Geschichte als relativ normale Entwicklungen in die deutsche Geschichte eingeordnet werden. Es seien, so die These, in der SED-Diktatur „gesellschaftliche Sphären“ entstanden, in denen sich „zivilgesellschaftliche Diskurse und Partizipationsformen“ entwickelten. Als Beispiele wurden in aller Regel verschiedene Initiativen angeführt, die sich in der DDR vor allem für den Erhalt von Altbausubstanz und ganzer abrissbedrohter Wohnquartiere einsetzten.[1] Dabei spielten gerade diese Gruppen im gesamten oppositionellen Spektrum in der DDR nur eine untergeordnete Rolle, während Friedens-, Umwelt-, Dritte-Welt- und Menschenrechtsgruppen sowie Wehrdienstverweigerer das Bild dominierten.[2]
Eine solche konzentrierte Sicht auf vermeintliche zivilgesellschaftliche Ansätze in der SED-Diktatur führt zwar, wie ich meine, in die Irre. Doch zumindest auf den ersten Blick scheint auch die Bielefelder Historikerin Christina Morina in ihrem neuen Buche „Tausend Aufbrüche“ diese Sichtweise zu stützen, ist es doch das explizite Ziel der Autorin, eine Demokratiegeschichte beider deutscher Teilstaaten zu schreiben. Dass dies angesichts des Gegensatzes von freiheitlicher Demokratie in der Bundesrepublik einerseits und Diktatur der SED in der DDR andererseits problematisch ist, ist Morina dabei durchaus bewusst. Dennoch versucht sie ihren Ansatz durchzuziehen, indem sie für die DDR von einer „Demokratieanspruchsgeschichte“ (S. 291) spricht. Letztlich vermag das nicht zu überzeugen. Grundsätzlich ist Morina aber natürlich als Verdienst anzurechnen, dass sie erstmalig in vergleichender Perspektive und in großer Breite Bürgerbriefe an führende Politiker in der Bundesrepublik sowie Eingaben an staatliche Stellen und SED-Einrichtungen in der DDR auswertet. Das führt bei einer genaueren Analyse ihres Buches zu zahlreichen neuen Einsichten. Dazu kommen Texte, Erklärungen und Flugblätter aus dem Vorfeld der Friedlichen Revolution und solche, die während der Zeit dieses demokratischen Aufstandes – und der darauffolgenden Verfassungsdebatte - mit seinen „Tausend Aufbrüchen“ entstanden.
Bei den ausgewerteten Briefen aus der Bundesrepublik und für die Zeit bis 1989 aus der DDR wird allerdings auch schnell deutlich, dass es sich hier um zwei sehr unterschiedliche Quellengattungen handelt. Das zeigt ein Vergleich der von Morina herangezogenen Briefe westdeutscher Bürger an die Bundespräsidenten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker mit den Eingaben von Ostdeutschen an staatliche und gesellschaftliche Stellen in der DDR. Die Bundesbürger schrieben in der Regel als souveräne Staatsbürger, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung verbessern wollten, während die unmündig gehaltenen Ostdeutschen persönliche Anliegen und für sie existenzielle Fragen mit einem formalen Bekenntnis zur DDR und ihrem Realsozialismus verbanden. Ein weiterer gravierender Unterschied ist, dass in der Bundesrepublik die Briefe vom Bundespräsidialamt bearbeitet und beantwortet wurden, während sie in Ostdeutschland von den angeschriebenen Stellen an die Geheimpolizei Staatssicherheit zur „Bearbeitung“ weitergegeben wurden. Außerdem gab es im SED-Staat keine Möglichkeit, individuelle Rechte auf dem Rechtsweg – etwa vor Verwaltungsgerichten – einzuklagen. Der prinzipielle Unterschied bestand also darin, dass im Osten Demokratie als staatliches Postulat und alltägliche Utopie und im Westen als staatliche Ordnung und alltägliche Praxis verhandelt wurde. Deshalb kann ich Morina grundsätzlich nicht zustimmen, wenn sie meint, dass beide deutsche Staaten auf je eigene Weise eine streitbare Demokratiegeschichte besessen hätten.
Und so ist es dann doch die Frage, ob Morinas Buch über den erwähnten neuartigen Zugriff auf Bürgerbriefe und Eingaben hinaus wirklich neue Erklärungen hervorbringt, oder ob die Autorin nur wie andere darauf kommt, dass wir nicht genau wissen, warum der Osten so unzufrieden und rechtsradikal ist, wie es scheint. Vielleicht hat sich hier ja auch nicht wirklich viel geändert, sondern der Blick ist nur schärfer geworden und die Möglichkeit bzw. die Notwendigkeit darüber öffentlich zu sprechen. Im Hinblick auf rechtsextreme bzw. rechtspopulistische Parteien und Bewegungen wie die AfD und PEGIDA stellt Morina das auch überzeugend dar.
So richtig trägt Morinas Ansatz jedoch erst für die Zeit der Friedlichen Revolution und besonders für das Jahr 1989. Hier ist der eigentliche Ansatzpunkt, den Morina beschreibt, der Protest gegen die von der SED-Diktatur gefälschte Kommunalwahl vom 7. Mai 1989. Einen Höhepunkt mit „tausend Aufbrüchen“ brachte dann der Herbst dieses Jahres. Dabei fragt die Autorin zu Recht, welche demokratischen Vorstellungen die damals handelnden Menschen eigentlich hatten. Allerdings artikulierte nur eine geringe Minderheit der Ostdeutschen ihre demokratischen Hoffnungen und Gestaltungsvorstellungen – Morina sieht das offenbar anders. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob die damaligen demokratiepolitischen Erwartungen heute Anknüpfungspunkte für links- und rechtsradikale Demagogen und Verführer bieten können. Das beginnt damit, dass 1989/90 der Gegenbegriff zur Diktatur nicht Demokratie, sondern Freiheit war. Von zentraler Bedeutung ist auch, dass trotzdem immer wieder „direkte Demokratie“ und Volksentscheide im Mittelpunkt politischer Forderungen standen. Dazu kamen als Forderungen weitreichende Rechtsansprüche auf Sozialleistungen und die Souveränität einer reformierten DDR. Es gab ein widersprüchliches Bedürfnis nach Autonomie und Harmonie, nach Eigen- und Gemeinsinn, nach individueller Wirkmacht und kollektiver Kontrolle. Das ist aus der Situation einer Diktatur heraus mehr als verständlich, doch ist zu prüfen, ob das auch für die Demokratie der heutigen Bundesrepublik gilt. Offensichtlich ist ja, dass heute bei Rechtsradikalen die Vorstellung von direkten Volksentscheidungen statt parlamentarischer Demokratie eine erhebliche politische Rolle spielt.
Im Anschluss an die Schilderung von Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung geht die Autorin der Frage nach, wie auch im vereinigten Deutschland in Briefen an staatliche Instanzen Demokratie als politische Ordnung und alltägliche Praxis verhandelt wird. Dabei geht es zuerst um Forderungen in den 1990er-Jahren, anstelle des Grundgesetzes eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten. Der Verfassungsentwurf des revolutionären Zentralen Runden Tisches war bekanntlich nicht realisiert worden, aber auch das „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Staaten“ und die Versuche der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag, „Impulse aus der Deutschen Einheit“ in das Grundgesetz aufzunehmen, scheiterten weitgehend (S. 229). Zwar konnten erweiterte soziale Grundrechte und plebiszitäre Verfahrenswege in den ostdeutschen Landesverfassungen verankert werden, doch spielen diese heute politisch kaum eine Rolle.
Im letzten Kapitel ihres Buches wendet sich Morina der Bundeskanzlerin Angela Merkel, also einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der deutschen Zeitgeschichte, zu. Das ist als biografischer Ansatz interessant, kreist bei ihr aber leider immer wieder um Merkels Rolle als Ostdeutsche. Nun ist diese fraglos ein wichtiger Punkt in der Selbst- und Außendarstellung der Kanzlerin, aber doch eben nur eine Seite ihrer Persönlichkeit. Im Zusammenhang mit Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck vertritt die Autorin die Auffassung, dass Ostdeutsche im politischen System der Bundesrepublik sogar überproportional vertreten seien. Dem kann ich wiederum nicht folgen, beschränkt das den Blick doch auf wenige Führungspersönlichkeiten, die heute ihre Positionen auch schon nicht mehr ausüben. Entscheidend sind jedoch die Ebenen darunter, wie Staatssekretäre und leitende Beamte. Hier gibt es weiterhin kaum Ostdeutsche und so wird auch das von Morina ausgemachte „Repräsentationsparadox“ vom angeblichen politischen Einfluss der Ostdeutschen und ihrem entgegengesetzten Eindruck der Einflusslosigkeit mit einem einfachen „weiter so“ nicht zu lösen sein.
Dass die demokratischen Ansätze der Friedlichen Revolution in der heutigen Bundesrepublik keine oder nur eine äußerst marginale Rolle spielen, ist grundsätzlich zu bedauern und ein zentraler Grund für die heutige Kluft zwischen Ost und West. Morina kommt in ihrem Fazit zu dem Schluss, dass die bundesrepublikanische Demokratiegeschichte bis heute eine „Demokratieanspruchsgeschichte mit offenem Ausgang“ (S. 310) sei. Auch hier ist Widerspruch anzumelden, doch ist diese Meinung zumindest ein Ansatzpunkt für weitere Diskussionen.
Rainer Eckert, Berlin

 

[1] Solche Gruppen gab es in verschiedenen ostdeutschen Städten, so auch in Potsdam. Vgl.: Rainer Eckert, Revolution in Potsdam. Eine Stadt zwischen Lethargie, Revolte und Freiheit (1989/1990), Leipzig 2017, S. 149-171.
[2] Zu deren Rolle im Vorfeld der Friedlichen Revolution vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 1997, S. 539-770; Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Berlin 2000; Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 232-291. Als Überblick bis 2019 vgl. Rainer Eckert, SED-Diktatur und Erinnerungsarbeit im vereinten Deutschland. Eine Auswahlbibliographie, Halle/Saale 2019, S. 312-469.

 

Zitierempfehlung

Rainer Eckert: Rezension von: Christina Morina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, Siedler, München 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) Band 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81966.pdf> [23.1.2024].

Stefanie Middendorf, Macht der Ausnahme. Reichsfinanzministerium und Staatlichkeit (1919–1945)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2022 | 585 Seiten, gebunden | 69,95 € | 978-3-1107-1218-6

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Um im Bundeshaushalt 2022 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitzustellen, musste das Grundgesetz geändert werden, damit dieses Sondervermögen nicht gegen die Schuldenbremse verstieß; wenige Monate später erklärte die Bundesregierung eine weitere, doppelt so hohe Verschuldung für akzeptabel, um die hohen Gaspreise zu subventionieren. Genau das Instrument, das den Staat vor der finanziellen Lähmung bewahren soll, greift nicht, damit der Staat in außergewöhnlichen Notsituationen handlungsfähig bleibt. Dasselbe Argument zog die Bundesregierung 2020 und 2021 heran, um die Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie durch eine höhere Neuverschuldung zu finanzieren. Schaut man auf die Haushaltsentwicklung der letzten drei Jahre, so erscheint die Grundfrage, mit der sich die Habilitationsschrift von Stefanie Middendorf auseinandersetzt, gut hundert Jahre nach Beginn von deren Untersuchungszeitraum brennend aktuell. Sie beschäftigte sich mit der Konstruktion von Staatlichkeit durch Praktiken, Taktiken und Techniken des Regierens. Das Buch ist ein Ergebnis des vom Bundesfinanzministerium initiierten Forschungsprojekts »Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus«. In diesem Rahmen hatte die Autorin die Institutionengeschichte zu bearbeiten, also gerade die Form der älteren Verwaltungsgeschichte, die seit dem cultural turn als wenig ergiebig und dröge gilt. Da andere Studien im Projekt die Rolle des Ministeriums in den fiskalischen Staatsverbrechen der NS-Diktatur in den Mittelpunkt rücken und zur Finanzpolitik während der Weimarer Ära nach wie vor ergiebige Studien vorliegen1, muss die Studie sich der Herausforderung stellen, neue, innovative Ergebnisse jenseits dieser Perspektiven hervorzubringen.
Die Autorin löst dieses Problem, indem sie das Reichsfinanzministerium als Fallstudie für den Wandel von Staatlichkeit untersucht. Dabei leiten sie zwei konzeptionelle Vorentscheidungen: Sie fragt erstens nach den Antrieben für organisationales Handeln als Gegenstand eigenen Rechts, der nicht aus den Motiven leitender Akteure heraus zu erklären sei. Zweitens löst sie sich von Interpretationen, die das »Scheitern« der Weimarer Demokratie zum Ausgangspunkt nehmen und in der Funktionalität des Staatsapparates für die NS-Verbrechen eine Pathologie moderner Bürokratien erblicken. Gegen solche normativen Erklärungsmodelle von »parasitärer Zersetzung« (Hans Mommsen) und »permanentem Ausnahmezustand« (Karl Dietrich Bracher) untersucht sie die Dynamiken von Regelhaftigkeit, Abweichungen und Neuordnungen als konstitutiven Prozess, der Staatlichkeit seit der Revolution von 1919 hervorbrachte und kontinuierlich umformte. »Ausnahme« ist in dieser analytischen Perspektive in erster Linie ein Argument, um administrative Programme und gouvernementale Praxen zu legitimieren.
Mit diesem Ansatz konzentriert sich die Studie auf Haushaltspolitik als den traditionellen Kern des Finanzressorts. Damit rückt sie ein höchst relevantes Untersuchungsfeld in den Mittelpunkt: Politische Programme übersetzen sich in die Zuteilung finanzieller Ressourcen. Regierungshandeln drückt sich daher vor allem in der Allokation und Distribution von Staatsgeldern aus; die Haushaltspolitik ist aus diesem Grund systematisch ein Kernbestandteil der Aushandlung von Staatlichkeit. Dazu tritt eine gewichtige demokratiehistorische Bedeutung der Haushaltspolitik, weil das Recht, den Staatshaushalt zu bestimmen, das Fundament der parlamentarischen Kontrolle über die Exekutive bildet. Für die Frage, wie der demokratische Staat ausgeformt werden sollte, bildet die Haushaltspolitik daher ein eminentes Handlungsfeld, in
dem die Interaktion zwischen Ministerialbürokratie, Parlament und gesellschaftlichen Interessengruppen von besonderer Bedeutung ist. Schließlich ist der Staatshaushalt auch eine Projektionsfolie und symbolischer Gradmesser für die Ordnung des Staatswesens insgesamt. Haushaltspolitik hat daher neben einer fiskalischen auch eine normative Ebene, auf die das Buch besonders stark abhebt.
Die Studie ist chronologisch in drei Abschnitte gegliedert, die sich an unterschiedlichen Rahmenbedingungen orientieren. Der erste Teil analysiert die Entstehungs- und Etablierungsphase des Reichsfinanzministeriums. Unter den Bedingungen von Krieg und Inflation analysiert die Autorin die Entstehung einer demokratischen Finanzordnung als »Staatsexperimente im Ausnahmezustand«. Anschließend wendet sie sich den als ruhig geltenden mittleren 1920er Jahren zu, um die Annahme einer Normalität im Geschäftsbetrieb des Ministeriums zu dekonstruieren. Der umfangreichste Teil des Buches beschäftigt sich damit, wie das Ministerium den ökonomischen, finanziellen und politischen Umbrüchen seit 1929 begegnete. Als »Ausweitung der Kampfzone« beschrieben, bildet dieser Teil den analytischen Fixpunkt, indem die Autorin fragt, in welchem Verhältnis Regierungstechniken, Ausnahmezustände und Verfassungswandel zueinander standen.
Nur einige Ergebnisse dieser fundamentalen Studie lassen sich hier herausgreifen. So betont die Autorin, dass die starke Ausgestaltung der zentralstaatlichen Finanzgewalt nach dem Ersten Weltkrieg zu einem erheblichen Teil auf außenpolitischen Druck zurückzuführen war, weil der Reichsetat den Willen und das Vermögen auswies, den Reparationsforderungen der Siegermächte zu genügen. Zu dieser Determinante gesellte sich eine Kette fiskalischer Not- und Ausnahmesituationen, die auch nach Ansicht von republikloyalen Akteuren nach Lösungen außerhalb der herkömmlichen Verfahren verlangten, sodass die Budgetpraxis regelmäßig den verfassungsmäßigen Vorgaben hinterherhinkte und das haushaltsrechtliche Instrumentarium umging, erweiterte oder ad absurdum führte.
Entgegen der Annahme, dass zwischen Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise eine Phase relativer Ruhe geherrscht habe, belegt die Studie sehr eindrücklich, dass das Reichsfinanzministerium auch in den Mitteljahren der Republik extranormative Staatstechniken und Ermächtigungsstrategien heranzog. So kooperierte die Haushaltsabteilung etwa eng mit den Abgeordneten des Reichstagsausschusses für den Staatshaushalt, um das Plenum auszumanövrieren. Allerdings geschah dies nicht in der Absicht, das parlamentarische System zu delegitimieren. Die Ministerialbeamten folgten einem an wirtschaftlicher Effizienz ausgerichteten Leitbild, das die Staatsfinanzen entpolitisierte und dem Primat einer überparteilichen »Sachlichkeit« huldigte. Auf diese Weise blieb das Instrumentarium für den Ausnahmezustand praktisch ununterbrochen in Gebrauch, und zwar, wie die Autorin betont, ohne rechtstaatlich begrenzt zu werden. In der ökonomischen Krise ab 1929 konnte es dann auch gegen die parlamentarische Demokratie eingesetzt werden.
Allerdings belegt die Studie instruktiv, dass der Prozess der Entparlamentarisierung des Budgetrechts bis 1931 eben keinem »reaktionären Masterplan« (399) folgte. Zu Recht betont sie, dass die Machtverschiebungen zur Exekutive dennoch gewollt waren, dass sie nicht allein durch Notverordnungen, sondern auch mit Hilfe von administrativen Regelwerken wie der Reichshaushaltsordnung geschahen, und dass sie die Handlungsmöglichkeiten der Spitzenbeamten des Finanzministeriums enorm erweiterten. Dies setzte sich unter ganz anderen Vorzeichen fort, als der ehemalige Leiter der Haushaltsabteilung, Lutz Schwerin von Krosigk, zunächst im Kabinett Papen und dann unter Reichskanzler Adolf Hitler an die Spitze des Finanzressorts trat. Allerdings brachte die NS-Diktatur dem Finanzminister nicht nur Vorteile. Zwar profitierte das Finanzministerium vom Zentralisierungsschub, der die finanziellen Interessen der Länder und Gemeinden ganz denen des Reichs unterordnete. Doch ganze Bereiche der Haushaltsgestaltung – insbesondere der Wehretat – blieben dauerhaft der Kontrolle des Ministers entzogen. Ab 1939 verlor die Haushaltsplanung dann ihre machtpolitische Bedeutung, weil Geld, Kreditwürdigkeit und finanzielle Stabilität im Rassen- und Vernichtungskrieg keine
Schlüsselressourcen mehr darstellten. Der Reichshaushalt wurde so zum »dauernden Provisorium« (457). Schwerin von Krosigk bemäntelte dies, indem er den Krieg als »Laboratorium dynamischer Budgetierung« zu nutzen versuchte. Obwohl dieser Ansatz offensichtlich scheiterte, relativiert die Autorin mit guten Gründen die These vom Machtverfall des Reichsfinanzministeriums. Durch eine intensive Überwachung von Einzelplänen konnten die Reichshaushälter zum Teil den Kontrollverlust kompensieren, den die Erosion des Haushaltswesens als Prinzip staatlicher Ordnung nach sich zog. Mit Nachdruck untermauert die Studie die Verantwortlichkeit und die Mitschuld von Ministerialbeamten und des Reichsfinanzministers für die Staatsverbrechen der NS-Diktatur. Damit tritt sie der Legendenbildung von Krosigks entgegen, der unter den überlebenden NS-Potentaten so viel Resonanz mit seinen Exkulpationsdarstellungen des vermeintlich unpolitischen Fachressorts in der Forschung gefunden hat wie ansonsten lediglich Albert Speer.2
Am überzeugendsten ist die Studie dort, wo sie die Analyse von Ausnahmeregelungen in konkrete Auseinandersetzungen um Machtbeziehungen und Interessen einbettet. Diesen Nexus stellt das Buch immer wieder sehr plastisch her. Zuweilen erscheinen die Entwicklungslinien, die die Autorin ins Zentrum rückt, dem Kontext enthoben. Dies gilt etwa für die Diskussion der Rolle des Reichssparkommissars in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, die die Autorin zwar breit analysiert, ohne aber mitzuteilen, welche Befugnisse diese extranormative Einrichtung gegenüber dem Reichsfinanzministerium wann erhielt. Auch die Diskussion über den Reichshaushalt 1926 beleuchtet instruktiv Pläne und Ansichten über die zukünftige Ausrichtung der Haushaltspolitik, doch das Schicksal dieser Vorhaben bleibt unklar. Durchgängig lässt die Studie die für die Tagespolitik oftmals bestimmenden Rahmenbedingungen beiseite – die Leser*innnen erfahren nur in groben Zügen, über welche Haushaltsgrößen gestritten wurde, wie das Ministerium strukturiert war oder welche Mehrheitsverhältnisse im Haushaltsausschuss gerade herrschten. Es ist das gute Recht und sogar die Aufgabe von Historiker*innen, ihre Fragestellung und Untersuchungsebenen aus eigenem Recht zu definieren. Die Autorin tut das wohlbegründet. Allerdings hat diese Vorgehensweise einen Preis, denn die Lektüre wird auf diese Weise sehr voraussetzungsreich. Glanz und Gefahr einer solchen Argumentation sind verschwistert: Nur durch eine derartige Abstraktion werden die langen Linien von Ausnahmetatbeständen in der Haushaltspolitik überhaupt sichtbar, und die Autorin versteht es glänzend, zwischen Absichten, nicht intendierten Folgen und den durch solche Öffnungen geschaffenen Möglichkeitsräumen zu differenzieren. Doch zugleich geraten situative und pragmatische Motive, Geld für diesen oder jenen Zweck bereitzustellen, weitgehend aus dem Blick, ebenso wie tagespolitischen Konfliktlinien und Kontingenzen.
Stefanie Middendorf hat ein Werk vorgelegt, das das Ziel, über den Gegenstand hinaus zu weisen, eindrucksvoll einlöst. Sein Ergebnis, dass die NS-Diktatur keineswegs durch staatlichen Dilettantismus gekennzeichnet war, sondern auf Ermächtigungstechniken zurückgreifen konnte, die in der Demokratie von Weimar erprobt und sogar zum Schutz der Demokratie hatten eingesetzt werden können, ist sowohl für die NS- als auch für die Weimar-Forschung ein höchst erhellender Befund. Seine irritierende Weitungen für die frühe Bunderepublik deutet die Autorin nur an. Indessen zeigt sie klar, dass Ausnahmezustände als gouvernementale und erfahrungsgeschichtliche Kontinuitätslinie die Wahrnehmung und Gestaltung des Staatswesens in Demokratie und Diktatur bis 1945 verklammern. Alles spricht dafür, dass sich diese Verklammerung mit viel Erkenntnisgewinn auch für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weiterverfolgen lässt.

Bernhard Gotto, München

Dieter Grimm, Die Historiker und die Verfassung. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes

Verlag C.H. Beck | München 2022 | 358 Seiten, gebunden | 34,00 € | ISBN 978-3-406-78462-0

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Als Historiker wird man das Buch jedem dringend zur Lektüre empfehlen wollen, der sich unter allgemeinen Aspekten mit der Geschichte der Bundesrepublik beschäftigt, da es dazu zwingt, den Blick über den gewählten engeren politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich hinaus auf die ihm zugrunde liegenden rechtlichen, genauer verfassungsrechtlichen Bedingungen zu richten. Ein einleitender exkulpierender Hinweis auf das Grundgesetz reicht keineswegs aus, nicht allein, weil das Grundgesetz selbst seit 1949 bislang über 60 Mal geändert wurde, sondern insbesondere, weil die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, indem es die Bestimmung des Grundgesetzes mit Leben erfüllt, dieses in den zurückliegenden 70 Jahren entscheidend gestaltet und weiterentwickelt hat. Oftmals mögen uns die Ereignisse, Krisen oder Zäsuren dieser Jahrzehnte noch gegenwärtig sein, doch ihre verfassungsrechtliche Dimension und die Auswirkungen der Karlsruher Entscheidungen, die damit verbunden oder durch sie herbeigeführt worden waren, übersieht der Nicht-Jurist gerne, selbst wenn diese bedeutsamer als das sie auslösende Ereignis gewesen sein mögen.
Grimm möchte das Bewusstsein für diese grandes décisions, wie es im Titel einer grundlegenden Publikation zu den Entscheidungen des französischen Verfassungsrats heißt, schärfen, indem er diese von den 1950er- bis in die 1990er-Jahre entwickelt und in einem weiteren Schritt danach fragt, wie diese sich in den vom ihm ausgewählten 13 großen historischen Gesamtdarstellungen, Studienliteratur und Kurzdarstellungen, erschienen zwischen 1997 und 2021, niedergeschlagen bzw. Erwähnung gefunden haben. Grimm ist bemüht, das in jedem Einzelfall zu dokumentieren und vermeidet pauschale Urteile. Doch zusammenfassend wird man festhalten können, dass das Ergebnis ernüchternd ist. Von einer systematischen und sachgerechten Einarbeitung dieser Entscheidungen kann bei allen kleineren Unterschieden im Detail keine Rede sein. Die dargelegte Geschichte der Bundesrepublik bleibt lückenhaft, da für ihren weiteren Verlauf grundlegende verfassungsrechtliche Weichenstellungen nicht selten unzureichend erfasst sind oder – in noch größerer Zahl – völlig unerwähnt bleiben.
Fragt man nach den Gründen für diese Versäumnisse, hält sich Grimm erstaunlich bedeckt. Das mag nicht allein damit zusammenhängen, dass der Autor hier selbst Partei ist. Dieter Grimm gehörte auf Vorschlag der SPD von 1987 bis 1999 dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts an und hat mithin selbst an etlichen der hier zur Sprache kommenden Entscheidungen mitgewirkt. Dennoch hat Grimm keine Geschichte der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorgelegt, sondern sich bewusst auf jene Urteile konzentriert, von denen erwiesenermaßen über den Einzelfall hinaus eine erhebliche politisch-rechtliche Folgewirkung ausging. Er erwähnt zwar immer wieder, dass diese Entscheidungen nicht alternativlos gewesen seien, doch die Alternativen (»Sondervoten«) werden in der Regel weder erwähnt noch gar dargelegt. Anders als in juristischen Verfassungsgeschichten unterbleibt mithin die rechtliche Auseinandersetzung um das ergangene Urteil. Vielmehr steht die Entscheidung für sich, und man würde es sich mithin zu leicht machen, die angesprochenen Defizite in den historischen Darstellungen mit mangelnden juristischen Spezialkenntnissen der jeweiligen Autoren entschuldigen zu wollen.
Vielmehr tut sich die Geschichtswissenschaft mit ihren verschiedenen Großschwenkungen seit den 1960er-Jahren zur Sozial-, Struktur- oder Kulturgeschichte, um nur diese zu nennen, schwer
mit Verfassungen als rechtlichen Texten, die vielfach eher als sekundär und nachgeordnet empfunden werden, ohne dass sich die Autoren in der Regel der Tatsache bewusst sind, in welch hohem Maße unser modernes Leben, gleich in welchen Bereichen, rechtlich konnotiert und determiniert ist und dass Veränderungen in diesen rechtlichen Rahmenbedingungen unweigerlich ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und ihre Teilbereiche haben. Wie in der Öffentlichkeit allgemein Karlsruhe eher als mediales Ereignis von Fall zu Fall wahrgenommen wird, werden Verfassung und Verfassungsentwicklung in der deutschen Geschichtswissenschaft, anders als etwa in den USA, eher nicht als auf den Alltag der Menschen durchschlagendes Kontinuum verstanden. Damit stellt sich letztlich die Frage nach der Verfassungskultur in Deutschland, was über die von Grimm in seinem letzten Kapitel thematisierte »unterschätzte Konstitutionalisierung der Politik«hinausgeht.
Kritiker mögen daher Grimms Zugriff auf die ausgewählten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als positivistisch werten, zumal wenn sie die Auswirkungen dieser Entscheidungen selbst wiederum kritisch betrachten. Dem wird man sich insbesondere bei dem missglückten Maastricht-Urteil kaum entziehen können, mit dem das Gericht bemüht war, dem Bekenntnis zum »vereinten Europa«in der Präambel des Grundgesetzes den Rekurs auf die nationalstaatliche Souveränität entgegenzusetzen, was fatal an das engstirnige Festklammern der deutschen Einzelstaaten an ihre »Souveränität«zu Zeiten des Deutschen Bundes erinnert, das in der Öffentlichkeit als wenig zeitgemäß empfunden wurde und heute in der Europäischen Union dazu führt, dass sich Ungarn, Polen und andere den europäischen Werten reserviert bis abweisend gegenüberstehende Mitgliedstaaten nur zu gerne auf das Bundesverfassungsgericht berufen. Das können weder die Europäische Kommission noch der Europäische Gerichtshof hinnehmen, noch liegt es im deutschen Interesse. Denn wenn jedes nationale Höchstgericht der Mitgliedstaaten darüber entscheiden kann, was die europäischen Institutionen tun dürfen und was nicht, gibt es kein einheitliches europäisches Recht mehr, sondern 27 verschiedene.
Es braucht vielmehr eine vertiefte, im Alltag der Menschen verwurzelte Verfassungskultur, auch unter den Historikern, die in ihrer demokratischen Verankerung sich von überlebten Denkmustern befreit, nicht nur von einer, einer Monstranz gleich, vor sich hergetragenen nationalstaatlichen Souveränität, sondern auch von einer, dem 19. Jahrhundert entnommenen Vorstellung von »Staat« und einer damit einhergehenden »Trennung von Staat und Gesellschaft«, die in einer Demokratie geradezu als widersinnig erscheinen müssen. Auch die in vielen juristischen Köpfen immer noch spukende »deutsche Staatsrechtslehre«, die sich gerne als dogmatischer Gegenpol zum Bundesverfassungsgericht und seinen Entscheidungen begreift, gehört einer vergangenen Zeit an. Eine living constitution ist kein Spezialfall für die Juristen. Sie geht uns alle an, und sie ist Teil der bundesrepublikanischen Identität. Hier haben viele von uns noch einen Nachholbedarf, und Dieter Grimm hat uns dies erneut vor Augen geführt.

Horst Dippel, Kassel

Rüdiger Hachtmann, 1848. Revolution in Berlin

BeBra Verlag | Berlin 2022 | 240 Seiten, gebunden | 26,00 € | ISBN 978-3-8148-0261-9

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Rechtzeitig zum Jubiläumsjahr 2023 – die 1848er-Revolution liegt nun 175 Jahre zurück – hat Rüdiger Hachtmann ein gut lesbares und mit Abbildungen versehenes Buch vorgelegt, mit dem er auf den Spuren seines umfangreichen Werkes (Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997) die damaligen Ereignisse in Berlin nachzeichnet. Dabei fügt er politische, wirtschaftliche, soziale und (alltags-)kulturelle Entwicklungen zu einem facettenreichen Gesamtbild zusammen, in das immer auch Hinweise auf die Vorgänge in anderen europäischen Städten, insbesondere in Wien und Paris, eingebettet werden.
So leuchtet er zunächst mit breiter Perspektive die vielfältigen Ursachen für den revolutionären Aufbruch 1848 aus. Deutlich wird, dass das soziale Elend »sicherlich eine Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Umsturz« war, dass aber die Verelendung »keinen ›revolutionären Automatismus‹ in Gang« setzte (S. 19). Bedeutsam für die Zuspitzung der Konflikte Ende der 1840er-Jahre waren neben dem wachsenden Gefühl von sozialer und politischer Ungerechtigkeit auch und vor allem die Ohnmacht gegenüber den Übergriffen des Militärs sowie die Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit, die sich trotz der Unterdrückung der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit zu entfalten begann. Und die Ereignisse in anderen Ländern, zum Beispiel der Schweizer Sonderbundskrieg im November 1847 sowie die Februarevolution 1848 in Paris, befeuerten den Aufstand auch in Berlin.
Am 18. März 1848 begannen in Berlin Protestdemonstrationen, die das Militär sofort mit Gewalt zu unterdrücken versuchte. Das als unverhältnismäßig brutal empfundene Vorgehen der Soldaten bewirkte eine Radikalisierung der Proteste und zu Barrikadenbau und Straßenkämpfen: 15.000 Soldaten standen schätzungsweise 5.000 bis 6.000 Aufständischen gegenüber, die sich hinter zahlreichen Barrikaden verschanzten und damit den Vormarsch der Soldaten in die proletarisch geprägten Viertel Berlins verhinderten. Aufseiten der Herrschenden, also im Königshaus wie in der Militärführung, wurden Verschwörungsmythen verbreitet: Schon in der Nacht vom 18. auf den 19. März machte der König in seinem Aufruf »An meine lieben Berliner« eine »Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend«, für den Aufstand verantwortlich. Das folgte einem immer wieder zu beobachtenden Argumentationsmuster, das vor allem die Unfähigkeit oder den Unwillen bewies, »die sozial- und politisch-strukturellen Ursachen von Rebellionen und Revolutionen in den Blick zu nehmen« (S. 42f.).
Dass sich das Militär dann erst einmal zurückzog, war auch eine Antwort darauf, dass sich in vielen Städten der näheren und weiteren Umgebung Bürger bewaffnet hatten, um den Berliner Aufständischen zu Hilfe zu kommen. In Berlin erfasste die Rebellion unterdessen immer weitere Kreise der Bevölkerung, wobei der übergroße Anteil der zumeist jüngeren Barrikadenkämpfer und -kämpferinnen der unteren Schicht entstammten. Die Zahl der Opfer war hoch: 183 »Märzgefallene« waren zu beklagen; am 22. März wurden die »Märzgefallenen« mit einem großen Trauerzug zur Grabstätte im Friedrichshain geleitet. Aufseiten des Militärs starben, wie es später hieß, 7 Offiziere und 56 einfache Soldaten.
Zunächst sah es so aus, als würde der preußische König einlenken. Zumindest glaubten weite Kreise der kritischen Öffentlichkeit, er werde sich einer Parlamentarisierung Preußens nicht entgegenstellen. Auch wenn derartige Hoffnungen, wie sich bald zeigen sollte, auf einer Illusion
basierten, so waren sie doch durchaus wirksam, was das öffentliche Leben in Berlin anlangte: Die Revolution war nicht nur Ausdruck einer »Fundamentalpolitisierung«, sondern auch einer »Fundamentaldemokratisierung« (S. 64), die nicht nur zur Einberufung der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main und der Preußischen Nationalversammlung, sondern auch zu einem Boom der Volkspresse und Straßenliteratur sowie zur Mobilisierung von Teilen der Bevölkerung führte, die – zu denken ist vor allem an Frauen und Jugendliche – zuvor am politischen Leben eher wenig beteiligt waren. Und diese Politisierung hielt an und bewirkte nicht nur eine organisatorische Verstetigung in demokratischen Vereinen und Clubs, sondern äußerte sich auch in Streiks sowie in der Gründung von ersten Arbeiter- beziehungsweise Gesellenverbänden. Zu erinnern ist vor allem an das Central-Comité der Arbeiter, das sich unter der Präsidentschaft Stephan Borns als eine Art von Arbeiterparlament verstand und eine Reihe von sozialpolitischen Forderungen – von der Beschäftigung von Arbeitslosen in Staatsanstalten bis zur Schaffung von Volksbibliotheken – erhob.
Unterdessen rückten Monarchie und protestantische Kirche eng zusammen: Die Geistlichkeit nahm entschieden gegen die revolutionären Umwälzungen des Frühjahrs 1848 Stellung. Zudem waren monarchischer und kirchlicher Konservativismus nicht nur durch ihre obrigkeitsstaatlichen Gesellschaftsvorstellungen, sondern auch durch einen ausgeprägten Antisemitismus miteinander verbunden. Die seit Jahrhunderten immer wieder propagierte Legende von der jüdischen Verschwörung rückte in den Vordergrund, ließen sich damit doch, wie R. Hachtmann klar macht, »existenzielle Ängste in Krisen- oder Umbruchsituationen […] auf denkbar einfache und griffige Weise ›erklären‹« (S. 119).
Schon im Frühsommer 1848 dominierten die Bemühungen der monarchischen Eliten, ihre Machtposition wieder auszubauen; zu denken ist vor allem an die Rückkehr des Thronfolgers, an die Verweigerung der Anerkennung der Revolution durch die Preußische Nationalversammlung und an die Ablehnung einer allgemeinen Volksbewaffnung. Dadurch spitzte sich der Konflikt erneut zu und führte in der Nacht vom 14. zum 15. Juni 1848 zum Sturm auf das Zeughaus. Dieses Ereignis wirkte polarisierend auf die Berliner Bevölkerung: Während weite Kreise des Bürgertums an die Seite der Monarchie traten, wurden Angehörige der proletarischen Schichten vielfach in ihrer Ablehnung der Monarchie und in der radikalen Befürwortung von demokratischen und sozialen Rechten bestärkt. Dass in der Bevölkerung, vor allem in den proletarischen Wohnvierteln, nach wie vor Unzufriedenheit mit der politischen Situation herrschte, zeigte sich wenig später erneut in der Reaktion auf die Stabilisierung der monarchischen Obrigkeit, die mit der Auflösung des Preußischen Parlaments durch Soldaten am 15. September 1848 manifest wurde. Zu denken ist nicht nur an die Unruhe auf den Straßen, mit der die amtlichen Bulletins und Plakate aufgenommen wurde. Zu erwähnen ist zudem die »Schlacht auf dem Köpenicker Feld« im Oktober 1848; Ausgangspunkt war der Protestzug von 100 Erdarbeitern, die, nachdem sie eine ihre Arbeitsplätze überflüssig machende Dampfmaschine zum Abpumpen von Grundwasser zerstört hatten, gekündigt worden waren und nun ihre Kollegen zum Streik aufriefen. Aus dem Eingreifen der Bürgerwehr wurde ein Barrikadenkampf, bei dem mehrere Arbeiter getötet wurden.
Ihren Abschluss fand der revolutionäre Aufbruch in Berlin schließlich mit der Verkündung der (schein-)demokratischen Verfassung vom Dezember 1848, in der allerdings die garantierten Grundrechte durch eine Reihe von Artikeln relativiert wurden. In der folgenden Reaktionszeit wurden denn auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt, was schon bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus vom Januar 1849 ungleiche Wahlchancen der angetretenen Kandidaten zur Folge hatte.
Abschließend geht R. Hachtmann auf die Frage nach dem Stellenwert der Märzrevolution in Berlin in der deutschen Erinnerungskultur ein. Der Bogen reicht von den Gedenkfeiern der Sozialdemokratie im Kaiserreich über die gespaltene Erinnerungskultur in der Weimarer Republik und die ebenfalls gespaltene Erinnerung in »Ost« und »West« in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart, in der einerseits, z.B. auf dem »Friedhof der
Märzgefallenen«, primär die revolutionären Ursprünge der Demokratiebewegung und andererseits, z.B. 1998 in der Frankfurter Paulskirche, vorrangig die Anfänge ihrer parlamentarischen Ausformung gewürdigt wurden.
Die unterschiedlichen Akzentuierungen der Erinnerungen an die Ereignisse vor 175 Jahren vor Augen, bleibt mit Blick auf die Gedenkfeierlichkeiten im Jahre 2023 zu hoffen, dass es gelingt, eine Erinnerung zu etablieren, in der beides, das revolutionäre Aufbegehren und die Entfaltung der parlamentarischen Demokratie, miteinander verbunden wird; damit könnte zugleich ein Beitrag zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur geleistet werden, in der nicht nur Konflikte und Kriege, sondern eben auch die im 19. Jahrhundert vielerorts in Europa etwa zeitgleich beschrittenen Wege zur modernen Demokratie ihren Platz haben sollten.

Michael Schneider, Kalenborn

Bernd Rother, Sozialdemokratie Global. Willy Brandt und die Sozialistische Internationale in Lateinamerika

Campus Verlag | Frankfurt am Main/New York 2022 | 470 Seiten, gebunden | 39,00 € | ISBN 978-3-59351-501-4

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In diesem Buch von Bernd Rother, einem langjährigen Mitarbeiter der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, geht es, wie der Untertitel verspricht, in erster Linie um Willy Brandt und die Sozialistische Internationale (SI) in Lateinamerika und nicht um deren globales Wirken. Rother hat gute Gründe für diese Beschränkung, denn einerseits ist das Thema an sich schon breit gesteckt und andererseits war Lateinamerika das mit Abstand wichtigste außereuropäische Zielgebiet für die deutschen Mitglieder der SI. Dass sich diese Aktivitäten unter der Präsidentschaft Brandts nach dessen Rücktritt als Bundeskanzler ab 1976 entfalteten, war ebenfalls kein Zufall. Lateinamerika war seinerzeit eine Projektionsfläche für die Linke weltweit. Das galt sowohl im positiven Sinne durch die Hoffnungen, die sich mit den Revolutionen in Kuba und später in Nicaragua sowie mit dem Wahlsieg der Unidad Popular in Chile verbanden, wie auch im negativen durch die Militärdiktaturen, die vielerorts die Ansätze linker Regierungen wieder zunichtemachten.
Rothers Buch konzentriert sich auf die Endphase des Kalten Kriegs von den 1970er- bis in die frühen 1990er-Jahre. Dabei macht er bewusst Einschränkungen, die er in der Einleitung transparent begründet. So geht es ihm nicht um die Gesamtheit der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Lateinamerika in dieser Zeit, sondern um die Außenbeziehungen der Sozialdemokratischen Parteien, die damit als transnationale Akteure in den Fokus rücken. Eine weitere Einschränkung ist die Konzentration auf die europäische, genauer, die deutsche Seite, was mit der Verfügbarkeit der Quellen zu tun hat. Zweifellos ist der Quellenbestand der deutschen Sozialdemokratie umfangreicher und besser zugänglich als die in Lateinamerika – und auch in anderen europäischen Ländern – vorhandenen Quellen, wenn es sie denn überhaupt noch gibt. Um dort in die Tiefe zu gehen, hätte der Autor vor Ort viel Zeit investieren müssen, um Kontakte zu knüpfen und die oft in Privathänden befindlichen Dokumente mühsam zu suchen oder aber die Textquellen durch Oral History-Interviews zu ergänzen.
Da Rother dies nicht tut, bleibt das Buch wie gesagt der deutschen Perspektive verhaftet, wobei auch die Rückwirkungen der sozialdemokratischen SI-Aktivitäten auf die Außenpolitik der sozialliberalen Regierungen ausgeklammert werden. Der Autor konstatiert, dass es sich bei der SI um einen „Scheinriesen“ (S. 29) handelte. Gewicht bekam die Vereinigung durch ihre Einzelmitglieder, die je nach finanziellen Möglichkeiten mehr oder weniger aktiv agierten. Vor allem die deutschen Sozialdemokraten im Verbund mit den schwedischen und österreichischen Genossen verfügten in besonderem Maß über diese Mittel und nutzten sie für ihre Arbeit in Lateinamerika etwa durch die Friedrich-Ebert-Stiftung. Wie der Autor eingangs klar macht, war es nicht die SI, sondern das persönliche Ansehen Willy Brandts, das vor Ort Türen öffnete. Die SI bot demgegenüber nur ein lockeres Forum für den Meinungsaustausch mit lateinamerikanischen Partnern.
Das Buch ist in drei ungleiche Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um die Grundlagen für die internationale Parteiarbeit. Rother diskutiert hier die Faktoren, die die Akteure zur Belebung der SI motivierten. Die Transformationen auf der iberischen Halbinsel waren ebenso ein entscheidender Auslöser wie das als Versagen wahrgenommene Handeln der USA in ihrem vermeintlichen „Hinterhof“. Die Sozialdemokratie, so sahen es Brandt und Gleichgesinnte, konnte demgegenüber einen dritten Weg zwischen dem US-Kapitalismus und dem real existierenden Sozialismus des Ostblocks bieten. Die Solidarität mit den Völkern der „Dritten Welt“ spielte dabei
eine wichtige Rolle. Verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten erleichterten den Austausch. Zudem gab es auf Seiten lateinamerikanischer Reformkräfte schon seit den 1960er-Jahren Interesse daran, den Reformismus der europäischen Sozialdemokraten näher kennen zu lernen, denn Länder wie Schweden galten als Vorbild.
Die Annäherung der europäischen Sozialdemokraten und der lateinamerikanischen Linksreformer spielte sich zunächst außerhalb der SI ab und fand in einer Konferenz in Caracas 1976 einen ersten Höhepunkt. Mit der Wahl Brandts zum Präsidenten der SI verlagerten sich die Gewichte. Die SI wurde zum Zentrum der Zusammenarbeit der Parteien. Wie Rother herausarbeitet, blieben jedoch die Grundprobleme der fehlenden Ausstattung bestehen. Zudem blieb die Internationale tendenziell eurozentrisch. Im Gegensatz zu den Europäern, die sich berufen fühlten, zu allen Themen von den Menschenrechten bis zur Nahostproblematik beizutragen, blieben die Lateinamerikaner zurückhaltend, solange es nicht um ihre eigenen Belange ging. Rother arbeitet hier sehr schön die lateinamerikanische Sichtweise gegenüber den Europäern heraus, die der Salvadorianer Guillermo Ungo treffend als „unausgesprochene Übereinkunft kolonialer Unterwerfung“ charakterisierte (S. 197). Anders als die Europäer kannten die lateinamerikanischen Vertreter in der SI ihre Gesprächspartner nur zu gut.
Im dritten und mit Abstand größten Teil des Buches geht Rother auf lateinamerikanische „Herausforderungen“ ein. Damit meint er die nicaraguanische Revolution, den Bürgerkrieg in El Salvador sowie – allerdings eher epilogartig – den Konflikt um die Falkland-Inseln/Malvinen. Zentralamerika wurde in den 1980er-Jahren zu einem Schwerpunkt der Debatten innerhalb der SI. Nicaragua und El Salvador versprachen den ewigen Kreislauf von Unterdrückung und Gewalt durch reformerische, ja revolutionäre Projekte zu durchbrechen. Wie weit aber durfte der revolutionäre Geist gehen? Darüber war man sich innerhalb der SI uneins. Rother zeichnet die verästelten Diskussionen akribisch nach. Fachlich Interessierte finden hier viele interessante Informationen.
Dieses Buch ist eine willkommene Ergänzung zu den Studien zur Außenpolitik der Bundesrepublik in der Spätphase des Kalten Kriegs. Mit der Konzentration auf die SI und die Parteien rückt Rother Akteure in den Mittelpunkt, die bislang wenig Beachtung fanden. Wie der Autor eindringlich zeigt, war die SI in den ersten Jahren unter Brandt sehr erfolgreich und wurde auch in den Zentren der Macht wie z.B. den USA als beachtenswerter neuer Gesprächspartner geschätzt. In den 1980er-Jahren ließ dieser Glanz nach, die „Herausforderungen“ wurden zu groß. Als dann Persönlichkeiten wie Olof Palme, Bruno Kreisky und schließlich auch Brandt, die die Hochphase entscheidend prägten, starben und mit dem Ende des Kalten Kriegs ein neues Zeitalter begann, verlor die SI schnell an Bedeutung.

Stefan Rinke, Berlin

Bernd Rother, »Willy Brandt muss Kanzler bleiben!« Die Massenproteste gegen das Misstrauensvotum 1972

Campus Verlag | Frankfurt am Main/New York 2022 | 203 Seiten, broschiert | 26,00 € | 978-3-593-51515-1

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»Willy Brandt muss Kanzler bleiben!«, skandierten 400.000 empörte Bürger:innen im Frühjahr 1972 auf Protestveranstaltungen. Nachdem die Oppositionsparteien CDU und CSU angekündigt hatten, mit Hilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums den Kanzler zu stürzen und die Ratifizierung der Ostverträge durch den Deutschen Bundestag zu verhindern, formierten sich republikweit Streiks, Kundgebungen und Demonstrationen. Bisher blieben diese von der zeithistorischen Forschung unberücksichtigt, während sowohl die eigentliche Abstimmung, die Vorwürfe des Stimmenkaufes als auch die anschließenden »Willy-Wahlen« hinreichend untersucht wurden.
Bernd Rother, Senior Research Fellow der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, schlägt mit seiner hier besprochenen Studie einen neuen Weg ein und widmet sich den bisher vernachlässigten Massenprotesten rund um das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Brandt. Den Ort der Proteste von 1972 in der bundesrepublikanischen Geschichte zu bestimmen, ist neben der Rekonstruktion des Protestgeschehens das Hauptanliegen seiner durchweg lesenswerten und erkenntnisbereichernden Studie. Die Arbeit stützt sich auf die akribische und ausführliche Auswertung zahlreicher regionaler als auch überregionaler Zeitungs- und Archivbestände. Seine Hauptfrage unterteilt Rother in über ein Dutzend weiterer relevanter Forschungsfragen, die sich zusammenfassend mit der Bedeutung der Proteste für die politische Kultur der Bundesrepublik befassen. Zudem wird das Protestgeschehen in die Zeit einer starken gesellschaftlichen Polarisierung und Politisierung eingeordnet, und zuletzt nach Verallgemeinerungsfähigem und Spezifika der bundesweiten Proteste gefragt.
Zunächst skizziert Rother anschaulich den Rahmen seiner Studie und wirft in diesem Zusammenhang einen Blick auf mögliche politische Vorbilder der Proteste und Streiks von 1972, bei denen circa 400.000 Menschen in den Innenstädten und den Betrieben protestierten. Diese Größenordnung ist vergleichbar mit den Protesten im Rahmen der Kampagne »Kampf dem Atomtod« von 1958. Erst im Jahr 1983 protestierten in der Bundesrepublik mehr Menschen, und zwar gegen den NATO-Doppelbeschluss. Rother arbeitet heraus, dass politische Streiks in Deutschland keine traditionelle Handlungsform der Arbeiterbewegung darstellen. Im September 1969 kam es allerdings zu einer »bisher nicht gekannten Welle spontaner Streiks« (S. 31), die allerdings nicht von den Gewerkschaften initiiert worden waren. Bei den September-Streiks von 1969 handelte es sich zudem um ökonomische Arbeitskämpfe, die allerdings die politische Debatte maßgeblich beeinflussten. Mehrere sozialwissenschaftliche Forschungseinrichtungen betonen, dass es bei den bisherigen Streiks zu keiner »Repolitisierung der Arbeiterschaft« (S. 33) gekommen sei. In Deutschland, betont Rother, gab es demnach für die politischen April-Streiks von 1972 keine historischen Vorbilder.
An dieses Kapitel schließen sich zwei weitere Hauptkapitel an, die die Streiks und Proteste erstmalig dokumentieren, bevor die Aktionsformen analysiert und synthetisiert werden. Als CDU/CSU 1972 ihren Antrag zum Kanzlersturz einbrachten, hatte damit »ein Blitz eingeschlagen, die Betriebe ›brannten‹, die Menschen strömten auf die Straßen und Plätze« (S. 51). Als die Opposition versuchte, »einen von ihnen, das Arbeiterkind, den obersten Sozialdemokraten, den höchsten Repräsentanten der Arbeiterschaft, Willy Brandt, zu stürzen« (S. 179), entlud sich der »Eigensinn« (S. 179) der Arbeiterschaft auf Basis eines übergebliebenen Klassenstolzes und verletzter Ehre. Zugleich bedeutete das Vorgehen der Opposition für die Arbeiterschaft den dritten illegitimen beziehungsweise illegalen Anlauf eines Sturzes einer sozialdemokratischen Regierung, ohne die Unterschiede zwischen den Aprilprotesten und den historischen
Referenzpunkten »Kapp-Putsch« (1920) und »Preußenschlag« (1932) hinreichend wahrzunehmen. 1972 bestand die Antwort der Arbeiterschaft aus Arbeitsniederlegungen – aber auch ein Generalstreik war bei Sieg Barzels wieder denkbar geworden. Die Proteste konzentrierten sich auf die Betriebe, in denen die Streiks als wichtigstes Mittel der Interessensartikulation aus den Belegschaften heraus selbst initiiert wurden. Rother verdeutlicht, es gebe keinerlei Hinweise dafür, dass die SPD Bundesorganisation die Streiks initiiert oder gesteuert habe. Ganz im Gegenteil: Von der Welle der Empörung zeigte sich der Parteivorstand überrascht und seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Die Partei und die Gewerkschaften versuchten die Belegschaften vergebens zu bremsen, indem sie an die Verfassungskonformität des oppositionellen Vorgehens erinnerten. In der SPD-Führung wurde auch die Verfassungswidrigkeit eines Erzwingungsstreikes (s.u.) nicht angezweifelt. Auf der anderen Seite wollte die Parteiführung durch konsequentes Abraten keine Unterstützer:innen und Wähler:innen verlieren, gerade auch vor dem Hintergrund der aktiven Rollen einiger lokaler Sozialdemokrat:innen bei der Streikorganisation. Daher entschied man sich im Ollenhauer-Haus für den Weg, spontane Solidaritätsbekundungen nicht zu unterbinden, sie aber auch nicht extra forcieren zu wollen. Doch die Basis wollte aktiv werden. In dieser Situation blickte die abratende SPD-Parteiführung mit kritischem Blick auf die Aktivitäten der DKP in den Betrieben, die Aktionsgemeinschaften mit sozialdemokratischen und gewerkschaftsnahen Arbeitnehmer:innen planten, um die Ostpolitik, das »Prestigeprojekt« (S. 53), nicht nur für die bundesdeutsche Regierung, sondern auch für die kommunistischen Parteien in den Staaten des Ostblocks zu sichern. Aus dieser erwachsenen Konkurrenzsituation vor Ort in den Betrieben wurde zum Beispiel in Stuttgart seitens der lokalen SPD, der Gewerkschaften und der FDP eine Kundgebung einberufen. Auch Demonstrationen und Kundgebungen lassen sich, so zeigt Rother, nicht auf bundesweite Aufrufe der Partei- und Gewerkschaftszentralen zurückführen. Die Appelle und Zurückhaltung der SPD störten wider Erwarten allerdings nicht das Verhältnis zwischen Industriearbeiterschaft und Partei. Ihre Beziehung konnte stattdessen gestärkt werden und erreichte einen neuen Höhepunkt. CDU und CSU hatten durch ihr Vorgehen das Gegenteil des Gewollten erreicht. Ein Überhöhungsprozess hinsichtlich der Person Brandt entwickelte sich fort.
Wichtigste Träger der Streiks waren Industriearbeiter:innen – insbesondere aus der Metallindustrie (in einer weiteren Definition). Auch Student:innen und Schüler:innen organisierten im Übrigen Protestaktionen, blieben jedoch weit hinter den Protesten der Industriearbeiter:innen zurück. Ihre führende Rolle unterstreichen auch die zahlreichen Proteste im Ruhrgebiet, die »alles andere in den Schatten« (S. 178) stellten, obgleich in der Bergbauindustrie kaum Streikaktivitäten zu vernehmen waren. Die IG Bergbau, die im DGB als konservative Gewerkschaft galt, lehnte sowohl Erzwingungs- als auch Demonstrationsstreiks ab. Die IG Metall hingegen trug Demonstrationsstreiks mit. Während in NRW zahlreich gestreikt wurde, kam es im benachbarten Rheinland-Pfalz zu keinem einzigen Streik pro Brandt. Von diesem Befund ausgehend widmete sich Rother dem Zusammenhang zwischen der Intensität der Proteste und der Parteistärke. Die Grenzen seiner Überlegungen sind dem Autor dabei stets bewusst, wenn er die vor Ort »gut verankerte Sozialdemokratie und auch ebenso starke Gewerkschaften« (S. 115) als wichtige, aber nicht hinreichende Erklärung für die Ungleichverteilungen der Streiks und Protestaktionen klassifiziert.
Rother ordnete die Aprilproteste als »letzte politische Bewegung in der deutschen Geschichte, die von der Arbeiterschaft […] getragen wurde« (S. 178), ein. Sie habe sich 1972 mit einer »Gala-Vorstellung« (S. 178) verabschiedet. Bei nachfolgenden Protesten sei es nicht mehr um »Politik im engeren Sinne« (S. 178) gegangen. Bei den an der Umwelt- und Friedensbewegung teilnehmenden Arbeiter:innen handelten ebendiese als »Bürger allgemein« (S. 178). Mit Blick auf die Spontanität sowie das Ignorieren von Empfehlungen der SPD- und Gewerkschaftszentralen stellten die Aprilproteste jedoch keine Abschiedsvorstellung dar, unterstreicht Rother. Ähnlich wie der Außerparlamentarischen Opposition spricht er den Aprilprotesten eine Scharnierfunktion »zwischen einer ›formierten‹ und einer aktivistischen, mündigen Gesellschaft« (S. 178) zu. Für die Zeit seit 1967 ist von der Forschung häufig ein Generationskonflikt attestiert worden, den Rother jedoch für die Aprilproteste von 1972 nicht bestätigen kann. Vielmehr eigneten sich ältere Jahrgänge neuere Protestformen an, die ab 1967 in die politische Kultur der Bundesrepublik integriert wurden.
Wie ein roter Faden zieht sich die streikrechtliche Einordnung der April-Aktionen zwischen Erzwingungs- und Demonstrationsstreik durch Rothers Studie. Er argumentiert gegen eine Einordnung als Erzwingungsstreik, der erst nach Rücktritt Barzels vom Kanzleramt oder Scheitern des Antrages geendet wäre, sondern spricht sich für einen Demonstrationsstreik aus. Keiner der Proteste war von Beginn an auf einen längeren Zeitraum ausgelegt. Es galt lediglich, ein Signal zu setzen. Dazu benötigte es keine Organisationsstrukturen und Führungsfiguren. Am Tag des Misstrauensvotums selbst erlebte die noch junge parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik ihre »größte Belastungsprobe« (S. 180). Bei Erfolg des CDU/CSU-Antrages wäre, laut Rother, die Republik in eine »Legitimationskrise« (S. 180) geraten, in der zahllose Streiks mit Rufen nach Neuwahlen entstanden wären. Ein Generalstreik wäre wohl nicht zustande gekommen, da die Arbeiterbewegung nicht geschlossen hinter der Streikidee stand.
Dass das Misstrauensvotum im Endeffekt scheiterte, stehe in keinem Zusammenhang mit den Aprilprotesten, sondern mit dem »paradoxen Befund« (S. 180), dass die DDR die Geldtransfers an Bundestagsabgeordnete zwecks Stimmenkaufes initiierte: Ein Sturz des Kanzlers lag nicht im Staatsinteresse der DDR und der Sowjetunion. Als ebenso paradox erschien Rother der Befund, dass die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik durch das Misstrauensvotum gestärkt wurde. Nach dem letztlich erfolglosen Antrag der Oppositionsparteien kam es zu keinen weiteren Aktionen. Unter dem Eindruck des nicht existenten Bekanntheitsgrades der Bestechungen galt der Triumph Brandts und seiner Regierung gar als Sieg des freien Mandats. Auch die hohe Wahlbeteiligung bei den »Willy-Wahlen« im November 1972 von 91 Prozent unterstreicht die Stärkung der parlamentarischen Demokratie.
Abschließend wirft Bernd Rother die berechtigte Frage auf, warum die Aprilproteste gegen das konstruktive Misstrauensvotum in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur einen vergleichsweise geringen Stellenwert einnehmen, obwohl ein Erfolg der CDU/CSU eine wohl viel größere Protestwelle sowie ein Verhindern beziehungsweise Bremsen der Ostpolitik bedeutet hätte. Rother beantwortet die Frage mit vier stichhaltigen Argumenten. Erstens: Mit dem Misstrauensvotum verbinden sowohl die Öffentlichkeit als auch die Forschung zunächst die Schlagworte Bestechung und Stimmenkauf, da sie den »Reiz des Verruchten und Kriminellen« (S. 182) besitzen. Zweitens begreift Rother die Aprilproteste als eine »gesellschaftliche Bewegung, die ihre eigene Kraft und ihr eigenes Ausmaß unterschätzte« (S. 183). Bekanntermaßen scheiterten die Unionsparteien in ihrem Vorgehen, sodass sich keine weitere Notwendigkeit einer Vergemeinschaftung ergab. Drittens fanden die Aprilproteste wegen des Wahlsieges vom 19. November 1972, bei dem die SPD ihr bisher bestes Ergebnis bei Bundestagswahlen erzielte, wenig Beachtung. Darüber hinaus beabsichtigten – viertens – weder Gewerkschaften noch SPD, die Proteste in das kollektive Gedächtnis ihrer Mitgliederschaft zu etablieren, da sie die Proteste im Frühjahr 1972 aus verfassungsrechtlicher Perspektive problematisiert und von einer bewussten Forcierung abgeraten hatten. Auf der anderen Seite wurden die Erinnerungen an Proteste im Frühherbst wiederbelebt, um die Anhängerschaft zur Wahl zu mobilisieren.
Bernd Rother ist eine äußerst lesenswerte Studie zu einem Thema geglückt, das bisher in der Forschungslandschaft vernachlässigt wurde. Er argumentiert durchweg stringent und ist sich den Grenzen seiner Thesen stets bewusst. Besonders hervorzuheben ist die akribische Quellenarbeit in zahlreichen Archiven und Zeitungsbeständen, deren Erkenntnisse nun weiterhin für Arbeiten der Protest- und Streikforschung, aber auch für die Parteiengeschichte nutzbar gemacht werden sollten. Insbesondere die regionalgeschichtlichen Zusammenstellungen und Analysen werden die historisch-politische Bildungsarbeit in vielen Regionen bereichern und weiterführende (regionalgeschichtliche) Arbeiten motivieren.

Patrick Böhm, Bochum

Alexander Thiele, Der konstituierte Staat. Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

Campus Verlag | Frankfurt am Main/New York 2021 | 463 Seiten, kartoniert | 29,95 € | 978-3-593-51422-2

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Als Autor einer zeitgleich erschienenen Verfassungsgeschichte[1] mag man mir Voreingenommenheit vorhalten. Dennoch hätte Thiele schreiben können, wie, während sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, beflügelt durch Montesquieu und Jean Louis de Lolme das aufgeklärte Europa für die englische Verfassung begeisterte, in Nordamerika ab 1763 angesichts der sich durch die britische Politik bedrängt fühlenden Amerikaner eine zunehmend intensivere Diskussion über eben diese englische Verfassung auf der Suche nach der Sicherung ihrer Rechte und Freiheiten geführt wurde. Aus dieser Diskussion erwuchsen schließlich die zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, wie sie mit der Virginia Declaration of Rights am 12. Juni 1776 ins Leben traten und sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten gegen vielfältige Widerstände von, wie man heute sagen würde, rechts wie links durchsetzten und in Folge der Herausforderungen der Demokratie ab den 1830er-Jahren (Jacksonian Democracy) inhaltlich anpassten, zumal was die Prinzipien Volkssouveränität, begrenzte Regierung (limited government) und Unabhängigkeit der Justiz betraf.
Auf Frankreich hatten diese Ideen bereits im Vorfeld der Französischen Revolution übergegriffen und ebenfalls zur Sicherung der Rechte und Freiheiten der Bürger 1789/1791 zu entsprechenden Verfassungslösungen geführt, die schon bald durch von der radikaldemokratischen Verfassung von Pennsylvania von 1776 inspirierte Auffassungen abgelöst wurden, die den spezifischen französischen Vorstellungen und Bedingungen eher zu entsprechen schienen und ihren Einfluss nicht allein in Frankreich bis heute ausüben, selbst wenn sich die reale Verfassungssituation in Frankreich rasch änderte und schließlich mit dem Aufstieg Napoleons sämtliche Prinzipien des modernen Konstitutionalismus weggewischt wurden, eine Politik, der sich, wenn auch aus anderen Beweggründen, die Restauration in Frankreich anschloss.
Doch die Ideen und Prinzipien des modernen Konstitutionalismus waren nicht par ordre du mufti aus der Welt zu schaffen. Sie griffen rasch auf andere Länder und Weltteile (Lateinamerika) über. Ungeachtet aller Einschränkungen und Behinderungen fanden sie ihren Weg nach Deutschland, wenn auch nicht in die Verfassung von Westphalen, selbst wenn diese 1807 als liberalste napoleonische Verfassungsschöpfung gelten konnte. Doch mit den liberalen Verfassungen von Bayern (1818), Baden (1818), Württemberg (1819), Braunschweig (1820), Hessen-Darmstadt (1820), Coburg-Saalfeld (1821) und Hessen-Kassel (1831) wurden hier beachtliche Verfassungspositionen erreicht, die sich durchaus neben die Verfassungen von Cadiz (1812) und Belgien (1831) stellen lassen.
Die Paulskirche versuchte, dieses weiterzuführen – andere deutsche Verfassungen waren da zum Teil erfolgreicher. Doch war die Frankfurter Nationalversammlung von Anbeginn zum Scheitern verurteilt, da sie, wie der Blick in die entsprechenden Gesetze oder Dekrete zu ihrer Wahl deutlich macht, weder über ein allseits akzeptiertes Mandat verfügte, noch sie sich – nicht zuletzt dank ihrer liberal-konservativen Mehrheit – anders als ihr heimliches Vorbild, die französische Nationalversammlung von 1789, in der Lage sah, sich durch einen revolutionären Akt ein solches unangefochtenes Mandat selbst zuzulegen.
Der Weg in die Reaktion war damit vorgezeichnet, und aus ihr heraus und unter ausdrücklicher Zurückweisung der »Ideen von 1789« entstand die Reichsverfassung von 1871, die, wie es bereits Napoleon vorgemacht hatte, alle Prinzipien des modernen Konstitutionalismus abschmetterte, entgegen allen Verfassungskämpfen der ersten Jahrhunderthälfte das Militär ausdrücklich aus der Verfassungsordnung herauslöste, es eidlich ausschließlich auf den Kaiser verpflichtet und dem Parlament – das hatte man aus der preußischen Verfassungskrise gelernt – jeden Zugriff auf das Militärbudget verweigerte.
Kein Wunder, dass die Weimarer Verfassung alle diese Gedanken- und Verfassungskonstruktionen von sich wies und wieder an die deutsche Verfassungsentwicklung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zumal an die Paulskirchenverfassung anzuknüpfen und die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus erneut einzuführen suchte. Doch im Ergebnis war es nicht nur eine unvollständige Übernahme dieser Prinzipien. Aufgrund der Gegebenheiten, die die französische Variante dieses modernen Konstitutionalismus eher für die spezifisch deutschen Bedingungen geeignet erscheinen ließ als die amerikanische, kam es im Kern zu einer unausgeglichenen Verfassung, der zudem – ähnlich der französischen Verfassung der Zweiten Republik von 1848 – ein entscheidendes Element fehlte, nämlich dank entsprechender Bestimmungen die Fähigkeit, selbst gravierende Verfassungskonflikte im Rahmen und mit den Mitteln der Verfassung zu lösen. Die weitere Geschichte ist bekannt und braucht hier nicht wiederholt zu werden.
Alles dies hätte Thiele schreiben können. Doch stattdessen stellt er, wie bereits im Titel seines Buches angedeutet, den Weg zum modernen Konstitutionalismus in einem Dreischritt dar: Staat – Verfassungsstaat – moderner demokratischer Verfassungsstaat. Ein derartiges Konstrukt lässt sich allein mit der von Christoph Schönberger zu Recht als »German Approach« gegeißelten, ideologisch aufgeladenen deutschen Staatsrechtslehre begründen, denn, wie wir gesehen haben, die Entstehung des modernen Konstitutionalismus hatte weder etwas mit einem wie auch immer gearteten Konzept von »Staat« – die englische Sprache wie auch die romanischen Sprachen kennen keinen dem deutschen Wort »Staat« dogmatisch vergleichbaren Begriff – noch etwas mit Demokratie zu tun. Statt um Demokratie und Gleichheit ging es um Recht und Freiheit. Doch zumal vom Recht ist in diesem Buch ohnehin wenig die Rede. Stattdessen begegnet man immer wieder der historisch wie inhaltlich abwegigen Gleichsetzung von Verfassung mit Demokratie. Dieser Ansatz mag der Grund sein, weshalb die liberalen deutschen Verfassungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum erwähnt, geschweige denn analysiert werden. Vielmehr wird immer wieder mit der in dieser Form erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgebildeten deutschen Staatsrechtslehre argumentiert, wobei generell der Zurückweisung der These von einem deutschen Sonderweg für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zweifellos zuzustimmen ist, diese jedoch für die Reichsverfassung von 1871, wie gezeigt, nicht haltbar ist, woran auch die bemühten vermeintlichen Parallelen zum Vereinigten Königreich nichts ändern, zumal diese eher auf unzureichenden Kenntnissen des Autors beruhen, was zumal in seinen übrigen Passagen zu England, aber auch zu den Vereinigten Staaten und Frankreich bedauerlicherweise kein Einzelfall ist. Darüber hinaus erscheint es logisch geradezu grotesk, die Auffassung eines deutschen Sonderwegs in der Verfassungsentwicklung methodisch mit dem Rekurs auf eben diesen deutschen Sonderweg in Sachen deutscher Staatsrechtslehre entkräften zu wollen.
Dagegen wird man dem Autor für seine beiden letzten Kapitel (NS-Regime und Entstehung und Entwicklung des Grundgesetzes bis zur Gegenwart, S. 327-381) und die darin entwickelten Gedanken außerordentlich dankbar sein. Was hier angesprochen wird, mag nicht stets von jedem geteilt werden, doch sind es Überlegungen, die durchweg aufgegriffen zu werden verdienen und weiterführen, Nachdenkens wert. Allerdings ist der Anspruch des Bundesverfassungsgerichts, in eigener Rechtsvollkommenheit die EU-Verträge auslegen und der Union notfalls Überschreiten ihrer Befugnisse vorhalten zu können – also der Rückgriff auf eine usurpierte ulta vires-Doktrin – nicht hinnehmbar. Würde er rechtlich Bestand haben, hätten wir kein einheitliches EU-Recht, sondern 27 verschiedene. Zuständig kann hier allein der Europäische Gerichtshof sein. Sollte dennoch das Bundesverfassungsgericht in einem konkreten Fall zu der Auffassung gelangen, dass das EU-Recht mit deutschem Verfassungsrecht nicht vereinbar ist, hat der Gesetzgeber die Pflicht, das deutsche Verfassungsrecht entsprechend anzupassen. Nur gemeinsam können die Mitgliedstaaten EU-Recht ändern, nicht jedoch jeder für sich allein. Auch hier regt uns Thiele zu weiterem Nachdenken an.

Horst Dippel, Kassel

[1] Horst Dippel, Moderner Konstitutionalismus. Entstehung und Ausprägungen. England – Nordamerika – Frankreich – Deutschland – Europa/Europäische Union – Lateinamerika, Berlin 2021.

Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806-1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen. Bd. 18: Nassau

Springer Verlag | Berlin/Heidelberg 2021 | 2.565 Seiten, gebunden | 349,99 € | 978-3-662-62951-2

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Mit dem Abstand von erneut fünf Jahren liegt nunmehr der fünfte Band von Kotullas monumentalem Deutschen Verfassungsrecht 1806–1918 vor. Er setzt die bewährte Einteilung in Historische Einführungen auf Basis der nachfolgend publizierten Dokumente (Teil 1) und die umfangreiche diplomatische Wiedergabe dieser Verfassungsdokumente (Teil 2) fort. Und dennoch ist diesmal Einiges anders. Ausweislich des aktuellen Katalogs der Deutschen Nationalbibliothek ist das Gesamtwerk auf 13 Bände angelegt, und der Nassau gewidmete Teil sollte in dem ursprünglich geplanten Band 8 veröffentlicht werden. Es mag am Umfang dieses Teils liegen, dass er stattdessen getrennt erschienen ist, und zwar als Band 18, was eher einer Zählung zu entsprechen scheint, gemäß der die zuvor geplanten Bände 5 bis 8 nunmehr als Einzelstaatsbände erscheinen sollen. Sollte dies der neue Editionsplan sein, wäre mit einem projektierten Umfang des Gesamtwerkes von eher um die 30 statt 13 Bänden zu rechnen.
Dieser sich andeutenden Entwicklung entspricht, dass die Bände ohnehin immer umfangreicher werden. Band 1 umfasste mit Gesamtdeutscher Verfassungsentwicklung, Anhaltinischen Staaten und Baden zusammen rund 450 Seiten Einleitung und 400 Dokumente auf insgesamt gut 2.000 Seiten. Band 2 war allein Bayern gewidmet mit knapp 390 Seiten Einleitung und 341 Dokumenten, zusammen rund 2.040 Seiten, Band 3 galt, räumlich ungleich enger angelegt, lediglich Berg und Braunschweig mit rund 230 Seiten Einleitung und insgesamt 449 Dokumenten, was sich auf 2.080 Seiten addierte. Band 4 – der Rahmen wurde nochmals enger gesteckt – befasst sich ausschließlich mit Bremen und verfügt über eine Einleitung von gut 380 Seiten und über 700 Dokumenten auf zusammen 2.419 Seiten. Nun kommt mit Band 18 Nassau hinzu mit einer Einleitung von über 600 Seiten und gut 660 Dokumenten, alles wohlgemerkt lediglich für 60 Jahre, mit zusammen 2.565 Seiten.
Man würde der unermüdlichen Schaffenskraft und der bewundernswerten Akribie Kotullas nicht gerecht, wenn man daraus schließen wollte, dass ihm das Deutsche Verfassungsrecht über den Kopf wachse. Aber was er sich hier aufgebürdet hat und mit beispiellosem Engagement in den zurückliegenden 15 Jahren auf die Beine gestellt hat, ist eine unübertroffene Quellensammlung zum deutschen Verfassungsrecht des 19. Jahrhunderts. Dennoch stellt sich unvermittelt die Frage, wie vielen der noch verbliebenen gut 30 Staaten des Deutschen Bundes ihm gegeben sein wird, auf diese Weise zu dokumentieren?
Das zeichnete sich so nicht ab, als sich Kotulla zu Beginn dieses Jahrhunderts an dieses riesige Opus heranmachte. Damals ließ er die Gesamtzahl der zu publizierenden Bände wohlweislich offen. Doch dann drang er immer tiefer in die Materie ein, und das Material wurde immer umfangreicher, ohne dass es ihm gelungen wäre, bei seinem Jahrhundertprojekt zu bleiben und es dennoch auf das Menschenmögliche einzugrenzen. Gewiss, auch die Schiller Nationalausgabe geht nunmehr in ihr 80. Jahr und hat ganze Herausgebergenerationen beschäftigt, ohne dass sie inzwischen abgeschlossen wäre. Auch wenn es dann am Ende wohl doch keine gut 60 Bände sein werden, kann theoretisch dem Deutschen Verfassungsrecht 1806–1918 Vergleichbares widerfahren. Und dennoch passt der Vergleich letztlich nur begrenzt.
Wenn man Hubers sicherlich überhohlbedürftige Quellen zur deutschen Verfassungsgeschichte notgedrungen zum Vergleich heranzieht, so hat sich dieser für den gleichen Zeitraum mit rund 1.000 Seiten begnügt. Sehr zu Recht geht Kotulla daran, diese obsolet zu machen. Aber müssen es deswegen gleich mehrere Zehntausend Seiten werden? Es ist zweifellos legitim, darüber nachzudenken, ob es ausreicht, zur Abbildung des deutschen Verfassungsrechts des 19. Jahrhunderts die Verfassungen der deutschen Staaten und ihre davon abweichenden offiziellen
Entwürfe abzudrucken, wie dies Werner Heun in sechs Bänden für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts unternommen und damit ein gravierendes Desiderat beseitigt hat. Kotulla ist ohne jede Frage zuzustimmen, dass dies für eine vertiefte Beschäftigung mit dem deutschen Verfassungsrecht dieser Jahrzehnte nicht ausreicht. Aber wo ist die Grenze zu ziehen? Wo geht die Dokumentation fast unmerklich vom Verfassungsrecht über zum Verwaltungsrecht? Spätestens mit dem Bremen-Band hat Kotulla deutlich gemacht, dass es für ihn hier keine scharf zu ziehende Trennungslinie gibt, dass er an bestimmten Stellen beides in den Blick nimmt. Die Kommunalverfassung, mit der er sich im Nassau-Band ausführlich beschäftigt, ist Verfassungsrecht auf lokaler Ebene, aber sie ist eben auch Verwaltungsrecht. Beim Jagdrecht, auch das hier mehrfach behandelt, bietet das Verfassungsrecht hingegen bestenfalls einen in der Ferne angedeuteten geistigen Hintergrund. In Besoldungsfragen, bei Witwen- und Waisenkassen, beides wiederholt behandelte Themen, Schulwesen, Münzwesen usw., dürfte dieser kaum auszumachen sein. Alle derartigen Themenfelder haben ihre Relevanz. Doch werfen sie zwangsläufig die Frage auf, ob das Gesamtwerk auf diese Weise nicht zunehmend zu einem deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht wird und es genau diese unscharfe Abgrenzung ist, die zur wachsenden Aufblähung des Gesamtwerkes führt und damit letztlich ihre weitere Durchführbarkeit angesichts einer kaum noch einzugrenzenden Materialfülle gefährdet.
Dazu mag nicht zuletzt beitragen, dass der Verfassungsbegriff, den Kotulla verwendet, doch eher an jenen Huber erinnert, den er doch eigentlich dokumentarisch überwinden will. So benutzt er gerne den tautologischen Begriff der »konstitutionellen Verfassung«, der der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstammt und letztlich nichts anderes zum Ausdruck bringt als den von Anbeginn zum Scheitern verurteilten Versuch, die Sicherung der überkommenen Herrschaftsstruktur durch die Scheinintegration des modernen Verfassungsgedankens zu legitimieren, ohne den Ruf nach Volkssouveränität und der konstituierenden Gewalt des Volkes erst aufkommen zu lassen. Tatsächlich unterschied sich das nassauische Verfassungsedikt von 1814 insofern davon (S. 146–147), als es ihm darum ging, verfassungsrechtlich die Stände einzubeziehen, ohne dafür auf eine Verfassung nach dem Muster des soeben überwundenen napoleonischen Systems zurückgreifen zu müssen, was innen- wie außenpolitisch höchst inopportun gewesen wäre. Dieses Modell hat daher zumindest bis in die 1830er-Jahre vielfache Nachahmung gefunden. Offener, nicht für Kotullas nebulösen »Konstitutionalismus«, sondern für die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus haben sich dann ab 1818 andere deutsche Verfassungen gezeigt. Dass dennoch das Verfassungsedikt von 1814 eine tragende Säule des Nassauer Verfassungslebens bis zu den Revolutionsjahren 1848/49 blieb, wird in der Folge immer wieder deutlich, selbst wenn der noch zu Beginn der Revolution verwandte, doch nachfolgend aufgegebene Begriff der »konstitutionellen Liberalen« (S. 391–392) irreführend ist, da er im Gegensatz zu den in Nassau allerdings eher weniger prägenden demokratischen Liberalen letztlich konservative Liberale meint, die für maßvolle Reformen eintraten, gerade um das bestehende System zu konsolidieren. Besonders deutlich zeigt sich diese Problematik des Kotullaschen Verfassungsbegriff bei der Behandlung der »Zusammenstellung« des geltenden nassauischen Staatsrechts von 1849 (S. 483–485), die für ihn eine Verfassung darstellt, obwohl sie genau dies nicht sein wollte und nicht sein sollte. Zwar hatte hier die Regierung Verfassungsbestimmungen zusammengetragen, die teils auf das Verfassungsedikt von 1814, teils auf die Grundrechteerklärung der Paulskirche zurückgingen, doch dieses zugleich nicht mit dem Begriff der Verfassung, sondern dem in den folgenden Jahrzehnten dank Laband große Konjunktur entfaltenden, doch letztlich hohlen Begriff des Staatsrechts verknüpft, das über jeder Verfassung anzusiedeln sei. Damit blieb die »Zusammenstellung« ein Gesetz, das wie jedes andere Gesetz jederzeit durch eine neue Normierung ersetzt werden konnte. Es war, wie dieses auch außerhalb Nassaus mangels Alternativen vereinzelt unternommen worden war, bestenfalls eine Ersatz-Verfassung – da man die eigentliche neue Verfassung nicht schaffen konnte und wollte –, die jedoch naturgemäß keinen Bestand hatte, selbst wenn die Fortschrittsliberalen Mitte der 1860er-Jahre sie wieder zu Leben erwecken wollten.
Auch wenn eine schärfere Begrifflichkeit in Sachen Verfassung dem Gesamtwerk guttun würde, können diese Bemerkungen den unbezweifelbaren Wert dieser Nassauer Dokumentation nicht im mindestem schmälern, und man wird nur hoffen und wünschen mögen, dass Kotulla sein Opus magnum noch möglichst lange wird fortsetzen können.

Horst Dippel, Kassel

Gabriele B. Clemens, Geschichte des Risorgimento. Italiens Weg in die Moderne

Böhlau Verlag | Köln 2021 | 264 Seiten, gebunden | 30,00 € | 978-3-412-52094-6

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Gabriele B. Clemens lehrt als Universitätsprofessorin für Neuere Geschichte an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, leitet die Arbeitsgemeinschaft für die Neueste Geschichte Italiens und ist Mitherausgeberin der Reihe »Italien in der Moderne«. Sie ist durch vielfältige Forschungsaktivitäten und zahlreiche Publikationen zur europäischen wie zur italienischen Geschichte im 19. Jahrhundert einschlägig ausgewiesen. Damit erfüllt sie die besten Voraussetzungen für ihr Vorhaben, das Zeitalter des Risorgimento, des erwachenden Nationalbewusstsein der italienischen Eliten und der Nationalstaatswerdung Italiens zwischen 1770 und 1870, in einer handlichen Gesamtdarstellung zu beschreiben und zu analysieren. Clemens bemängelt das Fehlen eines aktuellen Überblicks zur Geschichte des italienischen Risorgimento in deutscher Sprache, »der sowohl die klassischen Themen der italienischen Politikgeschichte und sozioökonomische Aspekte als auch die Ergebnisse der italienischen Kulturgeschichte der letzten zwanzig Jahre berücksichtigt« (Vorwort, S. 7). Die vorliegende Arbeit, das sei vorausgeschickt, vermag diese Lücke in weithin überzeugender Weise zu schließen.
Clemens beginnt mit einem Abriss der Entwicklungen in den italienischen Territorien gegen Ende des Ancien Régime von etwa 1770 bis in die 1790er-Jahre. Dieser Rückgriff auf die vorrevolutionäre Zeit sei notwendig, so die Verfasserin, weil die rechtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religionspolitischen Reformen etwa im Königreich Sardinien-Piemont, in der habsburgischen Lombardei, dem Großherzogtum Toskana oder im Königreich Neapel trotz aller Begrenztheiten und Unzulänglichkeiten auf spätere Entwicklungen vorauswiesen. Der knappe und konventionelle Überblick über Reformer und Reformen wird ergänzt durch Hinweise auf die Ausbreitung und Bedeutung von Akademien und gelehrten Gesellschaften, Freimauerlogen und Buchproduktion im Kontext der Aufklärung – Themen, die mitsamt den Aspekten ihrer gesamtitalienischen wie europäischen Vernetzung im Verlauf der Darstellung immer wieder aufgegriffen werden.
Ein ausführliches Kapitel widmet sich der französischen Herrschaft in Italien zwischen 1797 und 1814. Napoleon habe weitere Reformen angestoßen; die an das Empire angeschlossenen Gebiete Italiens und die von ihm abhängigen Modellstaaten seien »mit einem egalitären Rechtssystem, Gewerbefreiheit, staatsbürgerlicher Gleichheit, religiöser Freiheit, einer modernen, funktionierenden Verwaltung und der Abschaffung der Privilegien« gemäß liberalen Prinzipien »grundlegend modernisiert« worden (S. 33). Sozial und ökonomisch profitieren konnten davon allerdings zuvörderst die Notabeln, reiche Bürger sowie der alte und neue Adel, während Clemens keinen Zweifel daran lässt, dass die Masse der Bevölkerung von der französischen Herrschaft auch in Italien primär Kontributionen, Requirierungen und Zwangsrekrutierungen zu erwarten hatte und das Empire den einfachen Untertanen, mochten sie nun auch »Bürger« genannt werden, keine Integrationsangebote vermittelte: »Die französische Herrschaft blieb den Menschen mehrheitlich fremd«; die forcierte und aufgezwungene Modernisierung stieß vielfach auf dezidierte Ablehnung (S. 53).
Das trägt zur Erklärung der Unterstützung bei, die die Restaurationsregime nicht bloß nach dem ersten Zusammenbruch der Franzosenherrschaft in Italien 1799, sondern in weiten Teilen der ländlichen Bevölkerung auch nach 1815 erhielten. Liberal, demokratisch oder gar national motivierte Revolutions- und Aufstandsversuche, die die Geschichte der italienischen, weitestgehend von Österreich dominierten Territorien bis zur Nationalstaatsgründung
durchzogen, waren durchgehend Unternehmen einer politischen und gesellschaftlichen Elite, denen sich Teile der unterbürgerlichen, bäuerlichen oder ärmeren Bevölkerungsschichten bestenfalls aus Unzufriedenheit oder schierer Verzweiflung zeitweise anschlossen. Für Gabriele B. Clemens bleibt der Risorgimento im Sinne einer nationalen Bewegung wie der Schaffung eines italienischen Nationalstaats ein Elitenprojekt; durchweg betont sie »den elitären Charakter des Risorgimento« (S. 221): Das von dem demokratisch-revolutionären Vordenker und Protagonisten des Risorgimento Giuseppe Mazzini »immer wieder beschworene Volk interessierte sich nämlich herzlich wenig für seine politischen Ideen« (S. 9). »Die Masse der Italiener hatte existenzielle Sorgen und war kaum zu motivieren, Haus und Hof zu verlassen, um für eine abstrakte Idee zu kämpfen« (S. 72). »Die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Lande beteiligte sich [...] nicht« an den revolutionären Erhebungen der Jahre 1847 bis 1849 (S. 178). Dem ist schwer zu widersprechen, und Clemens argumentiert hier plausibel gegen Bemühungen von kulturgeschichtlich orientierten Vertretern der italienischen Forschung, eine breite Nationalisierung der Massen schon vor den 1860er-Jahren durch eine vermeintlich weitreichende Wirkung von patriotischen Liedern, Gedichten, Romanen oder Bildern zu postulieren: Dafür fehle jeglicher empirische Nachweis (vgl. insb. S. 70-72 u. 235). Allerdings gilt es zu bedenken, dass das Denken und Fühlen der Masse der italienischen Bevölkerung nicht leicht quellenkritisch zu erfassen ist: Vielleicht würde ein neuer Ansatz lohnen, entsprechende Quellen ausfindig zu machen, vorhandene gegen den Strich zu lesen, um ein allzu schematisches und einfaches Bild vom tumben, desinteressierten und politikfernen italienischen Bauern, Landarbeiter oder einfachen Stadtbewohner wenigstens infrage zu stellen. Immerhin agierten die nationalen Eliten an vielen Stationen der Geschichte des Risorgimento nicht allein, sondern mitunter mit beachtlicher Beteiligung der Bevölkerung – das wird in Clemens‘ Darstellung verschiedentlich deutlich –, und wenn aus der Sicht dieser Eliten »eine Beteiligung der Massen [...] weder im politischen noch im militärischen Bereich erwünscht« war, dann wird genau diese Haltung auch in den von diesen Eliten produzierten Quellen ihren Niederschlag gefunden haben. Den Versuch einer Geschichte des Risorgimento »von unten« wagt Clemens jedenfalls nicht.
Dafür bereichert sie ihre chronologische Darstellung durch zwei facettenreiche Kapitel zu Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur Italiens im 19. Jahrhundert. Sie spürt den industriellen Anfängen in der weitgehend agrarisch bestimmten Ökonomie nach, die allerdings bescheiden blieben, bis ein eigentlicher Take-off erst um 1900 eingesetzt habe. Traditionelle Themen wie die grassierende Armut und die damit verbundenen sozialen Nöte handelt die Verfasserin souverän und mit großer Sachkenntnis ab. Einige Aspekte stellt sie besonders in den Vordergrund: Die Bedeutung von Salons und Gesellschaften, Oper, Kunst und Literatur wird ebenso hervorgehoben wie die gesellschaftliche Persistenz des Adels und die Rolle von Frauen in verschiedenen Bereichen der risorgimentalen Entwicklung. Darüber hinaus betont Clemens den wesentlichen Einfluss des politischen Exils in westlichen Staaten, in das sich zahlreiche Repräsentanten nationaler und revolutionärer Ideen unter dem Druck der vom System Metternich und den verschiedenen Restaurationsregimen ausgehenden Verfolgungsmaßnahmen begaben, auf die künftige politische Entwicklung: In revolutionären Zeiten wie 1848/49 oder 1859/60 wurden viele Exilanten wieder in Italien aktiv und wirkten anschließend am Aufbau des Nationalstaats mit.
In ihrer luziden und auch erzählerisch gelungenen Darstellung führt Clemens ihre Leserschaft durch die verwickelte Geschichte von Revolution und erstem nationalen Krieg 1848/49. Sie verweist darauf, dass die revolutionären Ereignisse ebenso wie ein erneuter Politisierungs- und Reformschub etwa im Kirchenstaat, im Königreich beider Sizilien wie auch in Piemont bereits 1847 einsetzten und Italien damit der europäischen Entwicklung voranging. Die nicht weniger komplizierten Entwicklungen, die vom Königreich Sardinien-Piemont ausgingen und dominiert wurden, mündeten schließlich in den Jahren 1859 bis 1861 in die Gründung des Königreichs Italien einmündeten. Dabei wird deutlich, dass die Situation zunächst durchaus offen war und das Ergebnis die meisten Akteure überraschte: Weder von König Viktor Emanuel II. noch von seinem Ministerpräsidenten Camillo Benso di Cavour, erst recht nicht von Berufsrevolutionären wie Giuseppe Mazzini oder Giuseppe Garibaldi wurde dieses Resultat so angestrebt oder vorausgesehen; die Ereignisgeschichte mit ihrer Betonung von Unwägbarkeiten und Kontingenzen kommt bei Clemens zu ihrem Recht. Am Ende profitiert in Clemens‘ Interpretation der König am meisten. Viktor Emanuel II., König von Sardinien, seit 1861 von Italien, wird von der Verfasserin auf der Basis neuester Literatur als konservativ, antiliberal und allein auf die Interessen einer territorialen Ausdehnung der Herrschaft seiner Dynastie abzielender Monarch charakterisiert, der die Liberalen für seine Ziele zu vereinnahmen verstanden und die Souveränität des Parlaments nie akzeptiert habe. In dezidierter Abkehr von traditionellen Darstellungen geht Clemens so weit, in Piemont ein bloß »pseudoparlamentarisches System« etabliert zu sehen, das dann im Grunde auf den italienischen Nationalstaat übertragen worden sei (S. 182 u. 217). Diese Interpretation dürfte zu weit gehen, zumal keine wirklich überzeugenden Belege beigebracht werden, die auf eine mangelnde Verantwortung des Parlaments und der von ihm gestützten Regierungen für den politischen Kurs des Königreichs und die entsprechenden Entscheidungen hindeuten würden.
Überlegungen zur politischen Struktur und den Führungseliten des neuen Nationalstaats – leider nicht zu seinen außenpolitischen Optionen – sowie ein instruktiver Exkurs zum brigantaggio, dem jahrelang anhaltenden Bandenkrieg bourbonisch-legitimistischer Kräfte und traditioneller deklassierter Bevölkerungsgruppen im Gebiet des ehemaligen Königreichs Neapel gegen die zentralisierenden, fremden Herrscher aus dem Norden, die den neuen Staat repräsentierten und sich mit brutaler Gewalt durchsetzten, sowie zum von Beginn an vergeblichen Kampf dieses neuen Staates gegen das organisierte Verbrechen beschließen den niveauvoll und eigenständig argumentierenden, anregenden und durchweg gelungenen Band. Gabriele B. Clemens synthetisiert in ihm eine breite Forschung und eröffnet zahllose Perspektiven für weitere Forschungen.[1]

Rainer Behring, Köln

[1] Einige Anakoluthe und sachliche Fehler trüben den sehr positiven Gesamteindruck nur unwesentlich: Cesare Beccaria schrieb »Dei delitti e delle pene«, nicht »penne« (S.13); »Joseph II. von Österreich« [?] konnte 1792 in seinen Erblanden nicht 700 Klöster säkularisieren, da er 1790 starb (S. 39); nicht »Edward Burke« verfasste »Reflections on the French Revolution«, sondern Edmund Burke die »Reflections on the Revolution in France« (S. 69); Architektur orientierte sich im späteren 19. Jahrhundert an der Neoromanik, nicht der »Neoromantik« (S. 142); es berührt merkwürdig, wenn Ferdinand Gregorovius‘ klassischer Text »Der Ghetto und die Juden in Rom« ausgerechnet nach der Ausgabe »Berlin 1935« zitiert wird (Anm. 19 auf S. 158); die farbigen Karten sind nicht völlig korrekt: »Italien 1789« auf S. 21 erscheint ohne das Herzogtum Modena, dessen Territorium ebenso wie Lucca fälschlich der Republik Genua zugeschlagen wird, und »Österreich-Ungarn« existierte weder 1789 noch 1810, 1815 oder 1861. Das Literaturverzeichnis ist gemäß den Kapiteln des Buches gegliedert und enthält deshalb leider nicht die Gesamtdarstellungen und Überblickswerke, auf die sich die Verfasserin stützt.

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

Mario Keßler, Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung (1844–1939)

VSA Verlag | Hamburg 2022 | 368 Seiten, broschiert | 26,80 € | 978-3-96488-144-1

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»Zur Befreiung der Menschen von Unterdrückung, Ausbeutung und Völkerhass hatte sich die sozialistische Bewegung im 19. Jahrhundert gebildet. Dennoch war das Verhältnis sozialistischer Persönlichkeiten und Bewegungen zum Antisemitismus niemals einfach, judenfeindliche Vorurteile gab und gibt es auch in der Linken«, heißt es im Klappentext dieses im Dezember 2022 erschienenen jüngsten Buches von Mario Keßler. Keßler ist Senior Fellow am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, an dem er von 1996 bis 2021 arbeitete. Er war außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam, Gastprofessor an der Yeshiva University in New York und unterrichtete an weiteren Universitäten in der DDR, der Bundesrepublik, den USA und Israel. Sein Oeuvre umfasst 29 Bücher in deutscher und englischer Sprache und zahlreiche Herausgeberschaften. Seine Arbeitsgebiete sind unter anderem moderner Antisemitismus, internationale Arbeiterbewegung und Kommunismusforschung.
Dieser Band erscheint im Anschluss an eine kleine Edition über Leo Trotzki und dessen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus im Allgemeinen und in der KPdSU im Besonderen sowie mit entsprechenden Dokumenten Trotzkis, die Keßler ebenfalls 2022 herausgab.[1] Strukturiert wird Keßlers Darstellung der Rezeption von Antisemitismus in der Arbeiterbewegung durch dreizehn Kapitel, deren zeitliche Reichweite sich von der Zeit kurz vor den Revolutionen in Europa 1848/49 bis hin zum Zweiten Weltkrieg erstreckt. Keßlers Blickrichtung erstreckt sich längst nicht allein über die deutschen Sozialisten, sondern bezieht die französische und britische Arbeiterbewegung, die II. Internationale, Russland und die Sowjetunion, natürlich die Komintern sowie die europäische Sozialdemokratie zwischen den beiden Weltkriegen ein. Der Darstellungsteil des Buches reicht bis Seite 296, der Dokumententeil von Seite 297 bis Seite 338, der Anhang nimmt den Rest des Bandes ein.
Zu Beginn führt der Autor kursorisch in die Historie des Problemkomplexes »Judenfeindschaft, Judenemanzipation und Sozialismus« ein. Wiewohl es bereits in der Antike vor unserer Zeitrechnung einzelne Judenverfolgungen gab beziehungsweise das Strafgericht des Imperium Romanum an den aufständischen Juden im 1. und. 2. nachchristlichen Jahrhundert die Vertreibung aus dem angestammten Siedlungsgebiet nach sich zog, kann von systematischem Antisemitismus erst mit dem Aufstieg des Christentums gesprochen werden. Ressentiments und Stigmatisierungen nahmen im Mittelalter zu, auch der Islam stand nicht beiseite. Das Zeitalter der Aufklärung mit den bürgerlichen Emanzipationsbewegungen trug auch zur Judenemanzipation in Europa bei, diese aber währte nur kurz. Auch die Arbeiterbewegung zeigte oft ein zwiespältiges Verhältnis zum Judentum, womit Keßler bei seiner eigentlichen Auseinandersetzung angelangt ist.
Die Entstehung einer deutschen Nationalbewegung war in Teilen auch mit Antisemitismus gekoppelt. In der bürgerlich-demokratischen Bewegung um 1848 hingegen fanden sich zahlreiche Aktivisten mit jüdischem Hintergrund, die aber vor allem gegen die absolute Monarchie und für den Verfassungsstaat eintraten. Doch blieb das Verhältnis zwischen Emanzipation des Bürgertums beziehungsweise der Arbeiterklasse und der Emanzipation der Juden in Deutschland fragil, auch in der Arbeiterbewegung fanden sich immer antisemitische Aussagen. Doch die große historische Linie wies in die Richtung der Solidarität. Spannend sind daher Keßlers Analyse und Kontextualisierung von Marx` Schrift »Zur Judenfrage«.[2] Angelehnt an diese Frühschrift warfen viele nachfolgende Historiker dem jungen Marx Antisemitismus vor. Keßler schaut hier sehr genau hin und stellt heraus, dass es zwar erstens »gehässige Bemerkungen gegen politische Widersacher jüdischer Herkunft, am deutlichsten gegen Lassalle« gab, ihm aber »›Jude‹ und ›Judentum‹ (...) als ›soziale Symbole‹ der auf Privateigentum und Konkurrenz beruhenden Gesellschaft« dienten. Diese Symbole, da irrte Marx offensichtlich, »waren kaum geeignet, den Blick für die kapitalistische Realität zu schärfen« (S. 32f.). Letztlich aber habe für Marx gegolten, dass die Lösung der sozialen Frage ohne die gleichberechtigte Integration der Juden nicht vorstellbar gewesen sei. Auch Friedrich Engels geizte nicht mit derben Bemerkungen über jüdische Zeitgenossen, war jedoch ein entschiedener Befürworter des politischen Kampfes gegen Antisemitismus und trug zum Beispiel durch seinen »Anti-Dühring« mit großer Wirkung in der deutschen Arbeiterbewegung zu ihm bei. Ein in seiner Bedeutung ganz sicher unterschätzter Repräsentant der politischen Emanzipation von Juden und letztlich auch des sozialistischen Zionismus war Moses Hess, der zeitweilig sehr eng mit Marx und Engels kooperierte. Er verband den demokratischen Emanzipationskampf und den Sozialismus mit der nationalen Eigenständigkeit der Juden und forderte demgemäß in Palästina freien nationalen Boden, um die Klassen- und Rassenherrschaft abzuschütteln (S. 65).
Die folgenden Kapitel verlassen das Terrain der Programmatik und betreten jenes der sozialistischen Bewegungen in Europa. Hier rekonstruiert Keßler den manchmal widerspruchsvollen Weg sozialistischer Kräfte zu klaren Positionen gegen Antisemitismus auf demokratisch-sozialistischer Basis. Die deutschsprachige Sozialdemokratie habe stets den Antisemitismus als moralisch verwerflich postuliert, ihn aber als potenzielle Kraft oder als Gärungsmittel häufig unterschätzt, gleich ob in Berlin oder Wien. August Bebel im Kaiserreich und später Otto Bauer in Österreich haben der Nachwelt zu diesem Komplex Anregendes hinterlassen. Dennoch benennt Keßler hier ein übergreifendes Manko: Auch im deutschsprachigen Raum fanden sich in der Arbeiterbewegung antijüdische Vorurteile, die trotz der Verpöntheit des Antisemitismus nicht verschwanden. Für die französischen Sozialisten bedeutete der Dreyfus-Prozess eine inhaltliche Zäsur. Durch diesen Justizskandal von 1894-1899 schärfte die (gespaltene) Arbeiterbewegung ihren Blick. Zunächst zurückhaltend reagierend angesichts der im Prozess zum Ausdruck kommenden reaktionären Gefahr für die französische Republik insgesamt, ergriff sie vor allem nach den Interventionen von Emile Zola als Literat und von Jean Jaurès als Sozialist entschieden Partei; 1899 wurde der Antisemitismus auf einem Kongress aller französischen sozialistischen Organisationen einheitlich scharf verurteilt.
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit den Entwicklungen im 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Sowohl die westeuropäische Sozialdemokratie als auch die Situation in der Sowjetunion werden dabei analysiert. Den Band beschließen 17 Dokumente, die von einem Artikel von Moses Hess aus dem Jahr 1862 bis zu Leo Trotzkis Beitrag »Die Gefahr der Ausrottung des jüdischen Volkes« aus dem Jahr 1938 reichen. Für die Entwicklungen in Russland und in der UdSSR sei auf das eingangs erwähnte Buch von Keßler über Leo Trotzki verwiesen.
Der hier vorgestellte Band ist eine ungemein wichtige Handreichung über eine noch in Gänze aufzuarbeitende Entwicklungslinie der europäischen Arbeiterbewegung. Bei allen Widersprüchlichkeiten, die Keßler anführt und mit den Dokumenten hinterlegt, zieht er folgendes Fazit: Die Arbeiterbewegung hat den Kampf um die eigene Emanzipation verbunden mit dem Kampf gegen Antisemitismus und für die Befreiung aller Menschen. Das bleibt ihr historisches Verdienst. Nicht ohne Grund musste Hitler erst die Arbeiterbewegung zerschlagen, um Rassenwahn und Holocaust den Weg zu bahnen.

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

[1] Mario Keßler (Hrsg.), Leo Trotzki oder: Sozialismus gegen Antisemitismus, Berlin 2022.

[2] Karl Marx, Zur Judenfrage [1844], in: ders./Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 347–377.

 

James D. White, Red Hamlet. The Life and Ideas of Alexander Bogdanov

Brill | Leiden 2018 | xiv + 494 Seiten, gebunden | 199,02 € | 978-90-04-26890-6

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Aleksandr Bogdanov (1873–1928) gehört zu den interessantesten Persönlichkeiten der russischen Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung. Bereits während des Studiums politisch aktiv und in Konflikt mit der zaristischen Obrigkeit geraten, nahm er ab den 1890er-Jahren an zentralen politisch-philosophischen Debatten der russischen Sozialdemokratie teil. Sein Versuch einer Verbindung von Denken im Anschluss an Karl Marx mit den materialistischen Ansätzen unter anderem von Ernst Mach trug ihm die entschiedene Gegnerschaft von Lenin ein, der darauf durch die Veröffentlichung des Bandes »Materialismus und Empiriokritizismus« antwortete. Neben naturwissenschaftlich-philosophischen Arbeiten engagierte sich Bogdanov zudem in der proletarischen Kulturpolitik und veröffentlichte utopische Romane. Innerhalb der russischen Politik nach dem Oktoberumsturz 1917 blieb er zwar als Denker einflussreich, aber von dem neuen Regime politisch isoliert.
Umfassende biografische Darstellungen zu Bogdanov existierten bislang kaum. Vor diesem Hintergrund stößt die nun in englischer Sprache erschienene Biografie von James D. White in eine erhebliche Forschungslücke. Der Autor arbeitet als Historiker am Department of Central und East European Studies der Universität Glasgow und hat umfangreich zur Geschichte des Marxismus in Russland veröffentlicht. In seinem Vorwort hält White fest, es gehe ihm vor allem um eine intellektuelle Biografie Bogdanovs, die allerdings nicht isoliert von dessen Leben und politischen Aktivitäten entfaltet werden könne. Bogdanov selbst habe in seinem Schreiben mehrfach auf Shakespeares Hamlet Bezug genommen. Anders als landläufige Interpretationen Hamlets als Zauderer habe Bogdanov Hamlet als jemanden verstanden, der zwar als Nachfahre der Wikinger kriegerisch erzogen wurde, aber auch eine Neigung zu Kultur und Künsten gehabt habe. Bogdanov habe sich selbst als jemand im Geiste sowohl der Revolution wie auch der Philosophie gesehen. Im Anschluss an die Arbeit von Dietrich Grille passe »Red Hamlet« daher mit Blick auf Bogdanovs eigenen Anspruch einer Verbindung von Philosophie und politischem Handeln sehr gut.
Der Gang der weiteren Darstellung folgt den Lebensstationen Bogdanovs. Sie ist dabei insbesondere in den frühen Kapiteln ohne umfassende Kenntnisse des zeitgenössischen politischen Politik- und Personenpanoramas teils nur schwer zu erfassen, da viele Personen erwähnt werden, deren Vita und Bedeutung kaum näher erläutert werden. Dies betrifft auch teils
die politisch-philosophischen Bezüge zu Bogdanovs Texten. In den späteren Kapiteln gelingt die Darstellung dann teils deutlich besser und klarer.
Der inhaltliche Einstieg beginnt mit Bogdanovs Studienzeit zunächst in Moskau und dann in der Verbannung in Tula. Bereits von Anfang an gehörten Wechselwirkungen zwischen Bogdanovs naturwissenschaftlichem Studium und Bezügen zu marxschem Denken dazu. Zu engen persönlichen Gesprächspartnern gehörte der später auch in der Sowjetunion als Wissenschaftspolitiker bedeutende Anatolij Lunačarskij, der eine Zeitlang auch mit Bogdanovs Schwester verheiratet war. Intellektuell wichtig blieb über den gesamten Lebensweg hinweg zudem der Bezug auf materialistische Denker wie Ernst Mach und Richard Avenarius. Wie immer recht schwer nachzuvollziehen sind die im Band angesprochenen vielfältigen inhaltlichen Auseinandersetzungen, persönlichen Debatten und politisch-strategischen Seitenwechsel innerhalb der russischen Partei.
Neben seiner wissenschaftlich-analytischen Stellung erreichte Bogdanov zudem auch politisch einigen Einfluss, indem er zu den Verwaltern der unter anderem aus Raubüberfällen stammenden Parteikasse gehörte. Diese Tätigkeit führte zugleich zu Kontroversen über die Ausrichtung der Partei und die damit zusammenhängenden Ausgaben. Im Mittelpunkt von Bogdanovs philosophisch-theoretischen Arbeiten stand das Zusammenbringen der Entwicklungsprozesse von Natur und Gesellschafft. Im Jahr 1909 gründete er die Zeitschrift Vperëd (Vorwärts). Bogdanovs theoretische Arbeiten und die von ihm vertretenen politisch-strategischen Ansichten brachten ihn in zunehmenden Konflikt zu Lenin, was letztlich 1913 zu seinem Ausschluss aus der Partei führte. Im Bereich der Theorie zentral war dabei Lenins Einordnung von Bogdanovs materialistischer Philosophie als idealistische Abkehr vom marxschen Materialismus. Als Beispiel für Bogdanovs politisch-inhaltlichen Ehrgeiz schildert White sehr eindrücklich die von ihm mitbetriebene Parteischule auf Capri, in der Bogdanov versuchte, auf Basis seines Denkens neue Kader zu schulen, wodurch er sich in klare Opposition zu der Mehrheit in der Parteiführung brachte. In den folgenden Jahren bis zu seinem Tod blieb Bogdanov daher zwar intellektuell einflussreich, aus den tatsächlichen politischen Entscheidungskreisen aber ausgeschlossen.
Mit »Die Philosophie der lebendigen Erfahrung« legte er eine Zusammenfassung seines philosophischen Denkens vor. Ziel von Philosophie sei es, die jeweiligen Erfahrungen der Menschen wieder zusammenzubringen, die durch die Spezialisierung auf einzelne Arbeits- und Wissensbereiche auseinandergetrieben seien. Durch die Entwicklung der Maschinen sei dies nun möglich. Da der Arbeiter zunehmend nur noch die Maschinen überwachen werde, werde die Unterscheidung zwischen dem Arbeiter und dem Ingenieur verschwinden. Die Teilung der Arbeit sei nicht mehr die Teilung der Person, sondern eine rein technische Angelegenheit. Die Spezialisierung in die verschiedenen Wissensgebiete wieder zusammenzubringen, sei ein zentraler Aspekt neuer proletarischer Kultur. Nach der Oktoberrevolution entwickelte Bogdanov mit der ›Tektologie‹ eine umfassende systemische Erklärung der Welt. Zentral dafür sei das
Verständnis einer Einheit von physiologischen und psychologischen Faktoren sowie die Betrachtung von Wechselwirkungen aus Aktivität und Widerstand als Treiber von Entwicklung. Mit Kurzfassungen in Zeitschriften habe Bogdanov versucht, auch die Arbeiter für den Theorieansatz zu interessieren. Seine Hoffnung sei gewesen, die Tektologie zur Grundlage proletarischer Wissenschaft und damit prägend für die neue Gesellschaft zu machen. Dies sei allerdings nicht gelungen: Um richtig in das Konzept eintauchen zu können, hätte man zumindest ein gewisses Maß an Wissen in den Gebieten der Physik, Chemie und Biologie sowie gleichfalls der Ökonomie, Astronomie und der Sprachwissenschaften haben müssen. Leser und Leserinnen hätten damit letztlich über das Wissen verfügen müssen, das sie sich mithilfe der Tektologie eigentlich erst hätten aneignen sollen.
Den Machtübergang zu den Bolschewiki habe Bogdanov zwar loyal begleitet, inhaltlich aber sehr skeptisch gesehen. Die politische Bewegung sei in Bogdanovs Sicht nicht mehr von den Arbeitern ausgegangen, sondern habe vor allem auf Soldaten beruht. Im Ergebnis habe es sich damit um eine Soldaten- und eben keine Arbeiterrevolution gehandelt. Das entstandene politische System trage eher staatskapitalistische beziehungsweise kriegskommunistische Züge. Auch wenn der unmittelbare politische Einfluss Bogdanovs gering blieb, behielt er als zentrale Figur der Proletkult-Bewegung – die auf eine eigenständige Kultur- und Bildungsbewegung der Arbeiterschaft abzielte und damit faktisch auch in Konflikt zu dem hierarchischen Politik- und Kulturverständnis der Bolschewiki geriet – eine gewisse öffentliche Relevanz. Obwohl nicht Mitglied der Partei und ohne Staatsamt, sei Bogdanovs Einfluss daher während der Jahre 1918 bis 1920 auf einem Höhepunkt gewesen. Mit der von ihm maßgeblich mitgeprägten Proletkult-Organisation habe er über eine eigene, große und unabhängige Bildungsorganisation verfügt, zudem seien seine Werke Standardtexte zum Studium marxistischer Theorie gewesen. Zuletzt war Bogdanov als Leiter des Instituts für Bluttransfusion tätig, einer Technik, in der Bogdanov eine neue Möglichkeit zur Gesundheitserhaltung und Gesundheitsförderung des Menschen sah. Er nahm dabei selbst auch an entsprechenden Experimenten teil – und verstarb im Jahr 1928 an den Folgen einer solchen Transfusion.
White hält fest, Bogdanov habe – wie Marx auch – Sozialismus nicht als bestimmtes ökonomisches System, sondern als bestimmtes Verhältnis zwischen den Menschen, als menschliche Gemeinschaft gesehen. Daher sei es ihm auch nicht um ein einmal zu etablierendes System, sondern um einen sich fortlaufend weiterentwickelnden Prozess gegangen. Zentral sei für Bogdanov immer die Überwindung der Spezialisierung gewesen. Der Unterschied zu Lenin sei gewesen, dass dieser vor allem Revolutionsführer mit Macht habe sein wollen. Letztlich sei es den Bolschewiki gelungen, Bogdanov gezielt aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen.
Insgesamt ist White eine lesenswerte Biografie gelungen. Herausfordernd ist mitunter die stillschweigende Voraussetzung der Kenntnis des zeitgenössischen politischen und theoretischen Kontextes. Dies ist aber in großen Teilen auch der Tatsache geschuldet, dass Bogdanov eine sehr
umfassende und intellektuell enorm anspruchsvolle inhaltliche Arbeit betrieb. Diese ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass Bogdanovs intellektueller Lebensweg als Aktivist im repressiven Zarenreich begann, sich dann in der keinesfalls einfachen Situation der Emigration fortsetzte und dann im komplexen Machtgefüge des neuen bolschewistischen Regimes endete – und Studieren und Schreiben damit die meiste Zeit in den sehr eingeschränkten und einschränkenden Lebensumständen des Exils oder der Illegalität im eigenen Land stattfanden.

Thilo Scholle, Lünen

Sonia Combe, Loyal um jeden Preis. »Linientreue Dissidenten« im Sozialismus

Ch. Links Verlag | Berlin 2022 | 272 Seiten, Gebunden | 25,00 € | ISBN 978-3-96289-141-1

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Sonia Combe spürt in ihrer bereits 2019 in Frankreich erschienenen Studie denjenigen DDR-Intellektuellen nach, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs freiwillig aus dem Exil nach Ostdeutschland zurückkehrten, um sich am Aufbau eines antifaschistischen Staates zu beteiligen, dabei jedoch nie zu SED-Apparatschiks mutierten. Was waren Wurzeln und Triebfedern der Loyalität dieser »linientreuen Dissidenten« – der Begriff ist abgeleitet vom Titel der Autobiografie Jürgen Kuczynskis – die zwar das Ziel des politischen Systems teilten, »dessen Stil und Methoden sie jedoch nicht unterstützen konnten« (S. 19). Was waren die zugrundeliegenden Mechanismen und welchen Preis zahlten diese Menschen, denen man aufgrund der Nichtübereinstimmung von Überzeugung und Verhalten nach Leon Festinger eine »kognitive Dissonanz« (S. 23) unterstellen könnte.
Im ersten Teil geht Combe auf die Gründe der Kulturschaffenden ein, ins Land der Täterinnen und Täter zurückzukehren. Während man die Exilantinnen und Exilanten im Westen nicht wirklich willkommen hieß, buhlte der Osten regelrecht um sie. Die Autorin hebt hier besonders die Rolle der sowjetischen Kulturoffiziere, oftmals eigentlich »Professoren in Uniformen« (S. 62) hervor, die bereits kurz nach Kriegsende ein Programm ausarbeiteten, dass die kulturellen Eliten anziehen sollte. Ihnen wurden Intendantenposten, Lehrstühle an Universitäten, Verlagsleitungen, das Mitwirken in Verbänden, Engagements an Theatern und zahlreiche weitere Entfaltungsmöglichkeiten angeboten. Die im Osten proklamierte demokratisch-antifaschistische Umwälzung wirkte sicherlich nicht nur auf die zahlreichen überzeugten Marxistinnen und Marxisten attraktiv. Als ebenfalls nicht zu unterschätzenden Punkt geht die Autorin auch auf das Bedürfnis vieler Künstlerinnen und Künstler insbesondere der schreibenden Zunft ein, sich bei der Arbeit ihrer Muttersprache zu bedienen. » [D]ie Sprache war mitunter wichtiger als politische Überzeugungen« (S. 76).
Anschließend widmet sich die Autorin dem den Parteikommunistinnen und Parteikommunisten zur »zweiten Natur« gewordenen »gewaltigen Kontrollmechanismus« des Schweigens. Gleichwohl sei es meist kein »Akt des Gehorsams« gewesen, »da man das Schweigen mit der Rettung kommunistischer Ideale rechtfertigte« (S. 91). Also eher eine »Ethik des Schweigens« (S. 89). Die aus den sowjetischen GULags Entlassenen schwiegen über das Erlittene genauso, wie allgemein nicht über die antisemitische Welle des Spätstalinismus gesprochen wurde. Erst die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 markiert die Überschreitung einer zuvor selbstauferlegten Grenze: Mit der Weitergabe der Petition an die Agence France Press (AFP) verließ eine von Künstlerinnen und Künstlern artikulierte Kritik an den Machthaberinnen und Machthabern zum ersten Mal den geschlossenen Raum der Partei. Im Prinzip blieb es jedoch bei dieser Ausnahme. Die Kulturschaffenden orientierten sich (ansonsten) stets am Leitspruch des Kulturfunktionärs Hermann Kant: »Streitet euch, aber tut es hier« (S. 140) – Missstände sprachen sie nur innerhalb der SED an.
Die dem Nationalsozialismus entronnenen Künstlerinnen und Künstler wie Anna Seghers oder Ernst Busch dienten der Übergangsgeneration um Christa Wolf und Heiner Müller als Vorbilder, die ihnen, die im Dritten Reich sozialisiert worden waren, nach der Bewusstwerdung der Katastrophe 1945 neuen Halt gaben. Dieser Einfluss dient für Combe auch als Beleg dafür, dass der DDR-Antifaschismus, bevor er nur noch eine »säkulare Religion« und einen »Mythos« darstellte, »ein Kampf« war. Sie führt aber auch das Paradox an, dass diese Generation »die
Ideologie der Gründerväter mit Begeisterung« (S. 148) aufnahm, ausgerechnet zu einer Zeit, in der bei der Bekämpfung von (vermeintlichen) Regimegegnerinnen und Regimegegnern kaum ein Mittel zu brutal war.
Der Werdegang Jürgen Kuczynskis mit Sanktionen, Rückzug in die eigentliche Arbeit – »Schweigen verstand er als einen Akt des Widerstands« (S. 189) – und schließlich seiner lauter werdenden Kritik während Glasnost und Perestroika dient Combe im folgenden Abschnitt als »ein exemplarischer Weg« (S. 177) des von ihr betrachteten Sujets.
Im letzten Kapitel erklärt Combe die DDR zum letzten Ort der deutsch-jüdischen Symbiose. Die Anziehungskraft des Kommunismus auf »nichtjüdische Juden« (S. 209) entstamme dabei der Ähnlichkeit des jüdischen Messianismus mit seiner »ausgeprägten Sensibilität für Ungerechtigkeit« (S. 207) zum revolutionären Marxismus, wobei nach der Shoa die Assimilation in einer egalitären kommunistischen Partei die beste Aussicht auf Gleichberechtigung geboten habe, mitunter als »Eintrittskarte für die moderne Gesellschaft« (S. 207) galt.
Im Fazit attestiert die Autorin ihren Protagonistinnen und Protagonisten schließlich eine »Theaterperformance [,] eine Haltung, die es ermöglicht, in Situationen, in denen andere eine Vormachtstellung haben, das Gesicht zu wahren und sich durchzulavieren« (S. 217). Auch deshalb spricht sie sie in gewisser Weise frei von Festingers Verdikt der »kognitiven Dissonanz« (S. 216). Sie mussten Kompromisse eingehen. »Aber kompromittierten sie sich dabei?« (S. 219).
Sonia Combes Untersuchung, deren Grundlage unter anderem von ihr in den 1980er-Jahren in der DDR durchgeführte Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bilden, erlaubt detaillierte sowie erkenntnisreiche Einblicke in die Welt der DDR-Intellektuellen. Ihr Ziel, die Bedeutung dieser angeblich von einer antikommunistisch dominierten Geschichtsschreibung ignorierten »kritischen Marxisten« aufzuwerten, gelingt ihr anhand des Zusammengetragenen indes nicht. Combe betont mehrmals, dass »die Partei keinen monolithischen Block bildete« (S. 142) und in ihr immer auch »pluralistisches Denken« (S. 27) gerade durch die im Parteirahmen von den kritischen Intellektuellen offen geäußerten Meinungen existierte. Diese »loyale Subversion« (S. 25) hatte aber, wie sie selbst an zahlreichen Stellen anhand von Zeitzeugnissen offenbart, nicht einmal das Potenzial, Parteistrafen der SED-Mitglieder zu verhindern. Gerade die von Combe beschriebenen »subpolitischen Gesten« (S. 140) waren doch Ausdruck der Machtlosigkeit. Wie sollte denn dieser in einer Blase simulierte Pluralismus politische Relevanz erringen, um auf die ganze DDR-Gesellschaft auszustrahlen? An der sich in den 1980er-Jahren entfaltenden Bürgerrechtsbewegung hatte dieses »intellektuelle Pfand der DDR« (S. 25) jedenfalls kaum einen Anteil.
Auf handwerklicher Ebene hätte sich der Rezensent an manchen Stellen mehr kritische Distanz der Autorin zu den Aussagen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten gewünscht. Es handelt sich um über dreißig Jahre alte subjektive Äußerungen von teils überzeugten Anhängerinnen und Anhängern des Marxismus-Leninismus, die anhand des aktuellen Forschungsstandes eingeordnet gehören. Zudem ist fraglich, wie frei die Personen tatsächlich sprachen, auch wenn Combe diese Bedenken gleich zu Beginn ihres Vorwortes mit Verweis auf eine Aussage Christoph Heins zu den 1980er-Jahren regelrecht abschmettert: »Damals war es schon lange her, dass man für seine Meinung ins Gefängnis gekommen war« (S.11). Eine Darstellung, die so pauschal formuliert sachlich falsch ist.
Die mehrfach genutzte Begrifflichkeit »Kristallnacht« für die reichsweiten Pogrome im November 1938 wirkt heute mehr als anachronistisch, gerade in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung.
Wirklich ärgerlich ist jedoch, dass Combe bei ihren historischen Einordnungen mithilfe von Auslassungen, inhaltlichen Verkürzungen sowie rhetorisch gestellten Fragen ein schiefes Bild bestimmter Sachverhalte vermittelt. Am deutlichsten zum Tragen kommt dies bei der Beschreibung der Entnazifizierung in der DDR, die sehr eindimensional und an DDR-Propaganda erinnernd erfolgt. Sie begründet die Behauptung einer »schnelle[n] und konsequente[n]
Entnazifizierung im Osten« (S. 52) zum Beispiel mit den 1950 abgehaltenen Waldheimer Prozessen (S. 53f.). Tatsächlich stehen diese – nicht nach rechtsstaatlichen Standards durchgeführt; Verurteilung zahlreicher Regimegegnerinnen und Regimegegner – als Symbol für die willkürliche politische Justiz in der DDR. Unerwähnt lässt sie in diesem Zusammenhang hingegen die Gründung der NDPD als Auffangbecken für ehemalige NSDAP-Mitglieder auf Initiative Walter Ulbrichts im Jahr 1948, um innerhalb der Blockparteien die führende Rolle der SED zu sichern. Ein Akt, der unter überzeugten Antifaschistinnen und Antifaschisten große Empörung auslöste, auch in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), deren Auflösung man 1953 ebenfalls aus machtpolitischem Kalkül beschloss. In Ostdeutschland nahm die Funktionsfähigkeit der Besatzungszone beziehungsweise des Staates also ebenfalls einen sehr hohen Stellenwert ein. Ein Vorwurf, den Combe ausschließlich Westdeutschland macht (S. 55). Während zu begrüßende Entwicklungen in der Bundesrepublik, wie die Frankfurter Ausschwitzprozesse ab 1963, allein auf Druck der DDR zustande gekommen wären (S. 57), also eigentlich auch ihr Verdienst seien, dient die Notwendigkeit, die Entnazifizierung schnell vonstattengehen zu lassen, Combe wiederum als Entschuldigung für in der DDR politisch und gesellschaftlich aktive ehemalige Nazis (S. 58). Hier misst die Autorin mit zweierlei Maß.
Gänzlich unverständlich ist schließlich ihr Vorwurf an die deutsche Forschungslandschaft, durch die Gewährung von Fördergeldern den Ton des aus ihrer Sicht einseitigen DDR-Geschichtsbildes – einer »Geschichtsschreibung durch die Sieger« (S. 26) – zu dominieren, in dem »diese auch von Historikern auf eine Diktatur reduziert worden ist« (S. 26). Nicht nur von ihr selbst angesprochene Beispiele (S. 169f.), sondern das Portfolio des Ch.Links-Verlags, der auch ihre Studie veröffentlicht, zeugen hingegen von einer umfangreichen Beschäftigung mit vielfältigen Themen der DDR-Geschichte und führen Combes Einschätzung so ad absurdum. Fakt ist aber auch: Die DDR war ihrem Wesen nach eine Diktatur. Gleichzeitig, so Combe, sei zu fragen, »inwiefern diese uniforme Erzählung dem Aufstieg des Rechtsradikalismus Vorschub geleistet hat« (S. 26), womit sie der Forschung implizit auch eine Mitschuld am Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern unterstellt.
Es ist bedauerlich, dass eine interessante und auch wichtige Studie zur Erhellung der Motivlage von vermeintlich offen und kritisch denkenden Geistern und ihrer Unterordnung unter ein repressives Regime durch einen geschichtspolitischen Diskurs dieser Art entwertet wird.

Andreas Neumann, Berlin

Hartfrid Krause, Arthur Crispien. Vom Spartakusanhänger zum sozialdemokratischen Reformsozialisten

Westfälisches Dampfboot | Münster 2022 | 268 Seiten, broschiert | 28,00 € | 978-3-89691-079-0

Zusammen besprochen mit:

Hartfrid Krause, Mein Vaterland ist die Menschheit, die Länder der Erde. Die Broschüren von Arthur Crispien (1914–1933),

Grin | München 2022 | 363 Seiten, kartoniert | 22,95 € | 978-3-34668-048-8

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Hartfrid Krause kann mit Fug und Recht als der Experte der Geschichte der USPD gelten. Die 1975 veröffentlichte, aus seiner Dissertation hervorgegangene Studie »USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« ist nach wie vor grundlegend für jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser relativ kurzlebigen Partei des deutschen Linkssozialismus, die auf dem Höhepunkt ihrer politischen Wirkung 1920 beinahe so stark war wie die SPD, aus der sie 1916/17 hervorgegangen war, als die Kritiker an der Burgfriedenspolitik im Ersten Weltkrieg aus der Reichstagsfraktion ausgeschlossen wurden. 2021 wurde das Werk als erweiterte und aktualisierte 2. Auflage erneut verlegt.[1] Doch ruhte sich Krause, der zwischenzeitlich als Lehrer und Schulleiter in Hessen wirkte, keinesfalls auf seinen alten Lorbeeren aus, sondern publizierte in den vergangenen Jahren weitere Broschüren und Bücher zur USPD oder zu ihren Hauptrepräsentanten, die auch als E-Books verfügbar sind.
Zu den wichtigsten Köpfen der USPD gehört neben Hugo Haase, Georg Ledebour und Wilhelm Dittmann zweifellos Arthur Crispien (1875–1946), über den bislang noch keine biographische Darstellung existierte. Crispien war von 1919 bis 1922 Co-Vorsitzender der USPD und von 1922 bis 1933 Co-Vorsitzender der SPD, stand also in den Jahren der Weimarer Republik stets an der Spitze einer sozialdemokratischen Partei. Dennoch gehört auch er zu jenen Sozialdemokraten, deren Namen heute kaum mehr präsent sind. Das allein ist sicher Grund genug für eine Biographie. Krause stellt seinen Zugang zu Crispien unter die Leitfrage, ob dieser eher ein »Vorsitzender der zweiten Reihe« oder ein Parteiführer war, dem der internationale Betätigungsrahmen vordringlich erschien, ähnlich wie Willy Brandt mit seinem Wirken für die Sozialistische Internationale. Der biographische Teil dieses Bandes reicht bis zur Seite 145, es folgen hundert Seiten mit Dokumenten Crispiens sowie eine Chronik der USPD und der Anhang.
Arthur Crispien wurde am 4. November 1875 in Königsberg in einer kinderreichen Arbeiterfamilie geboren. Wie Hugo Haase und Otto Braun war er Ostpreuße. Er erlernte den Malerberuf und folgte damit zunächst seinem Vater, der für die Sozialdemokratie aktiv war, was in Ostpreußen wegen dessen ökonomischer und politischer Rückständigkeit eine Sisyphusarbeit darstellte. Seiner ersten Ausbildung folgte eine zweite als Theatermaler. 1894 trat der junge Crispien der SPD und der Malergewerkschaft bei. Sein frühes politisches Engagement kostete ihm den Arbeitsplatz. 1906 wurde er hauptberuflicher Redakteur der Königsberger Volkszeitung, schon 1903 hatte er vergeblich für den Reichstag im Wahlkreis Elbing-Marienburg kandidiert. In den Folgejahren verstetigte sich seine Laufbahn als »Arbeiterbeamter«, unter anderem als Parteisekretär für Westpreußen. Der Arbeiterpresse blieb er dabei stets treu. Von August Bebel politisch vorgeprägt, lernte Crispien 1909/10 an der Parteischule der SPD in Berlin Rosa Luxemburg kennen. Sie sollte seine sozialistischen Vorstellungen viele Jahre maßgeblich beeinflussen. Nach drei vergeblichen Reichstagskandidaturen (1903, 1907, 1912) wechselte er von Danzig nach Stuttgart als Chefredakteur der Schwäbischen Tagwacht. Die Parteiorganisation in Stuttgart um Clara Zetkin und Friedrich Westmeyer stand auf dem marxistischen, der württembergische Landesvorstand um Wilhelm Keil auf dem reformsozialistischen Flügel, der auch die Kooperation mit bürgerlichen Parteien suchte. Crispien gehörte zu den »Radikalen« und nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum engeren Umfeld der »Gruppe Internationale« um Luxemburg, Karl Liebknecht, Zetkin und Andere. Die Solidarität mit Liebknecht brachte ihm 1916 drei Monate Gefängnis ein. Im Herbst 1917 trat er der USPD bei. All diese Fakten rekonstruiert Krause auf einer wenig opulenten Basis an Primärquellen, aber Crispien hinterließ in seinem Nachlass beim Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) in Bonn einige Erinnerungstexte, die der Biograf erfolgreich zu Rate ziehen konnte. Weiteres konnte mit Hilfe seiner Reden und Artikel Schriften in der sozialdemokratischen Presse, durch Parteitagsprotokolle und aus der Sekundärliteratur gewonnen werden.
Crispien entfernte sich 1918/19 zusehends von der Spartakusgruppe und ging nicht zur KPD, sondern blieb in der USPD, für die er vom 9. November 1918 bis zum 10. Januar 1919 als Innenminister in der provisorischen württembergischen Regierung wirkte. Im März 1919 wurde er neben Hugo Haase zum Vorsitzenden der USPD gewählt. In dieser Funktion trat er von 1919 bis 1921 für den Wiederaufbau der Internationale ein. Als dieses Projekt aus Sicht vieler linkssozialistischer Parteien gescheitert war, sträubte er sich, genauso wie seine Genossen Dittmann und Ledebour, gegen eine Vereinnahmung der USPD durch die Dritte Internationale Lenins. An dieser Frage spaltete sich die USPD im September 1920. Die Rest-USPD schloss sich im Februar 1921 mit weiteren linkssozialistischen beziehungsweise linkssozialdemokratischen Parteien zur »Wiener Internationale« zusammen, die 1922/23 die Wiedervereinigung mit der SPD und anderen Parteien der alten Internationale vorbereitete, woran Crispien mitwirkte. Seit dem Nürnberger Vereinigungsparteitag 1922 leitete Crispien gemeinsam mit Otto Wels die vereinigte SPD bis 1933. Die Nazis zwangen ihn und unzählige Genossinnen und Genossen aus Partei und Reichstagsfraktion zur Flucht, Crispien, Dittmann, Ledebour und andere Exponenten der Novemberrevolution mussten die Rache der Nazis fürchten. Crispien ging ins Exil in die Schweiz. Auch dort wirkte er, in der Weimarer Zeit zum Reformsozialisten geworden, gegen das NS-Regime und für die Unterstützung Hilfesuchender. Gerade wollte er aus der Schweiz seine Rückkehr ins besetzte Deutschland vorbereiten, als er am 29. November 1946 plötzlich in Bern verstarb. So war es ihm nicht vergönnt, am demokratischen Wiederaufbau in Deutschland und am Wiederaufbau der SPD mitzuwirken. Der biographische Teil des Buches ist natürlich etwas gerafft, aber gelungen. Crispien war, wie Krause bilanziert ein »überzeugter Sozialist und konsequenter Internationalist der Arbeiterklasse« und ein Politiker, »der im Hintergrund vor allem international agierte.« (S. 145)
Unter den Dokumenten nehmen seine Erinnerungen »Ein Proletarierleben für das Proletariat« den größten Raum ein und vertiefen die biographische Darstellung. Krause dürfte ihre Entdeckung im AdsD sicher als Glücksfall betrachtet haben. Weitere Quellen aus seinem vielfältigen Wirken vervollständigen diesen Buchteil.
Ergänzt wird dieser Band durch die Dokumentation der Broschüren Crispiens von 1914 bis1933, denen Hartfrid Krause ein eigenes »Book on Demand« gewidmet hat. Dieser Broschürenband mit dem für sich selbst sprechenden Titel »Mein Vaterland ist die Menschheit, die Länder der Erde« ermöglicht einen Einblick in Crispiens Wirken auf dem linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie und für das internationale Agieren des demokratischen Sozialismus. 14 Broschüren mussten druckreif vorbereitet werden, eine echte Fleißarbeit, die Anerkennung verdient. Crispien setzte sich hierin unter anderem mit der Entwicklung der USPD, der Geschichte Internationale und mit Karl Marx, aber auch mit politischen Gegenwartsfragen auseinander. Wer tief in die Geschichte der USPD und ihrer Repräsentanten einsteigen möchte, kommt um diese und andere Arbeiten Krauses nicht herum!

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

[1] Hartfrid Krause, Die USPD 1917–1931. Spaltungen und Einheit, 2. erw. und akt. Aufl., Münster 2021.

Sabine Mecking/Manuela Schwartz/Yvonne Wasserloos (Hrsg.), Rechtsextremismus – Musik und Medien

Vandenhoeck & Ruprecht unipress | Göttingen 2021 | 376 Seiten, Gebunden | 55,00 € | 978-3-8471-1327-0

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Rechtsextreme Musik ist seit der Serie rechtsextremer Gewalt Anfang der 1990er-Jahre zum Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Analog zu der stilistischen und ideologischen Pluralisierung rechter Musikformate, die weit über den etwas statischen Begriff Rechtsrock hinausgehen, hat sich der Forschungszweig weiterentwickelt und umfasst neben historischen Perspektiven unter anderem auch funktionelle Dimensionen der Medialität sowie Überlegungen über die Perzeption, Rezeption und Wirkung.
Der »Sturm auf den Reichstag« am 29. August 2020 hat einmal mehr bestätigt, was bereits durch die rechtsterroristischen Anschläge in Kassel, Halle und Hanau deutlich wurde: das Gefahrenpotenzial, das vom Rechtsextremismus in Deutschland ausgeht, ist hoch. Die immer wieder aufgeworfene Frage danach, ob das Hören entsprechender Musik die verbale, psychische und physische Gewalt von Rechtsextremisten fördert, legt den Schluss nahe, dass die Musik mehr als nur eine »Komponente extremer Einstellungen« ist, sondern möglicherweise sogar ein »mitbestimmendes Phänomen« (S. 14). Musik spielt demnach eine maßgebliche Rolle bei der »Kommunikation, Inszenierung und Multiplikation rechtsextremer Haltungen« (S. 7).
Der Sammelband »Rechtsextremismus – Musik und Medien« basiert auf einer interdisziplinären Tagung, die 2018 unter demselben Titel an der Hochschule für Musik und Theater Rostock stattfand. Das Ziel der Veranstaltung war eine Aktualisierung des Forschungsfeldes, das sich nunmehr seit etwa 25 Jahren herausgebildet hat. Einen besonderen Fokus sollten dabei stilistische und mediale Entwicklungen, die Wirkung und die mit der Musik verbundenen Szenestrukturen einnehmen.
Dem wird der Band in seiner inhaltlichen Aufteilung durchaus gerecht. Das erste Kapitel »Historie, Narrative und Methodik« ist dabei als Einführung und inhaltliche Bestandsaufnahme aufzufassen. Wolfgang Benz beginnt einleitend mit einem historischen Überblick über die Entwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945. Anschließend beschreibt Sabine Mecking die stilistische Ausdifferenzierung rechtsextremistischer Musik seit den 2000er-Jahren und geht dabei konkret auf den National Socialist Hardcore und Rechtsrap ein. Darüber hinaus erläutert sie die Funktion der Musik als ein zentrales Medium für die Rekrutierung, Radikalisierung und Gruppenidentifizierung im rechtsextremen Milieu. Wie Musik als »zentraler Baustein« (S. 84) rechtsextremer Erlebniswelten funktioniert, weitet Thomas Pfeiffer in seinem Beitrag aus. Er geht dabei sowohl auf die Emotionswelten von Jugendlichen ein als auch auf die mögliche Scharnierfunktion in jugendliche Lebenswelten, die Musik und rechtsextreme Symbolik herstellen kann. Dennoch ergeben sich in der Forschung über rechtsextreme Musik methodologische Herausforderungen: Die Black-Box, so Manuela Schwartz in ihrem Beitrag, weise eine zu geringe Systematik, Transparenz, Dokumentation und Nachprüfbarkeit auf (S. 101). Zudem bestehe ein Mangel an analysierfähigen Zeugen. Mögliche Einschränkungen sieht sie auch in der pauschalen Verwendung des Begriffs Rechtsrock als Überbegriff, da dadurch der vorhandene Stilpluralismus vernachlässigt werde.
Im zweiten Kapitel »Ambivalenz, Perzeption und Medien« werden vor allem musikalische und multimediale Grauzonen untersucht, die unter Umständen ein Scharnier in das rechtsextreme Spektrum sein können. Nachdem das erste Kapitel einen guten und kompakten Überblick in die Thematik, ihre Komponenten und Leerstellen vermittelt hat, werden an dieser Stelle des Bandes nun spezifische Aspekte behandelt. Darunter fällt die Frage nach der textlichen Ambivalenz von Musikstücken und ihren Interpretationen als Potenzial rechtsextremistischer Propaganda (Jan Philipp Sprick). Yvonne Wasserloos thematisiert dagegen die Verwendung von Instrumentalmusik in rechtsextremen Gruppierungen. Die Tendenz, Instrumentalmusik zur Hinterlegung von rechtsideologisch aussagekräftigen Bildern beziehungsweise Videos zu nutzen, macht sie anhand von sinfonischer Musik bzw. Soundtracks und Fashwave kenntlich. Georg Brunner geht anschließend auf das Internet als zentrales Medium bei der Distribution und Verfügbarkeit von rechtsextremer Musik ein. In seiner Auswertung zeigt er ebenfalls, wie YouTube als ein Spiegelbild des fortgeschrittenen Stilpluralismus zu sehen ist. Seine Analyse umfasst neben einer generellen Einordnung der untersuchten Interpreten vor allem die Bildsprache sowie Nutzerkommentare. Wie sich die Pluralisierung des Rechtsextremismus und seiner Musik konkret ereignet hat, wird dagegen in Christoph Schulzes Beitrag schlüssig. Dabei beschreibt er vor allem Prozesse der Aneignung von Rap und Hardcore am Beispiel der Autonomen Nationalisten, zeigt aber auch die kulturelle Rückwirkung der vereinnahmten Jugendkulturen auf die rechtsextreme Szene auf. Doch ambivalente Musikformate finden sich auch außerhalb der rechtsextremen Szene, wie Fabian Bade mit einer Analyse der teils polarisierten journalistischen Auseinandersetzungen über die nationalsozialistische Ästhetik und Symbolsprache der Band Rammstein zeigt. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass das Polarisierungspotenzial der Band gesunken ist, was sich auch in der medialen Rezeption faschistoider Ästhetik abzeichnet.
Das dritte Kapitel »Rezeption, Wirkung und politische Bildung« nimmt einen perspektivischen Wechsel auf die Ebene der Rezipientinnen und Rezipienten vor. Michaela Glaser präsentiert an dieser Stelle eine qualitative Studie des Deutschen Jugendinstituts von 2009, deren Ergebnisse jedoch nicht an Aktualität verloren haben. Aus der Befragung von Jugendlichen ergibt sich ein vielfältiges Bild. Der Mythos der »Einstiegsdroge Musik« kann hier zwar nicht eindeutig widerlegt werden, da in zwei Fällen die Musik tatsächlich eine unterstützende Rolle bei der sozialen Annäherung gespielt hat. Dennoch zeigt sich, dass vor allem individuelle Vorprägungen entscheidend sind, ob sich Jugendliche in der Musik »wiederfanden« (S. 229). Es konnten demnach sowohl Indizien auf die unterschiedlichen individuell-subjektiven Bezugspunkte zu rechtsextremer Musik ausgemacht werden als auch auf die gruppenbezogenen Funktionen. Die rechtsextreme Lebenswelt stellt nach wie vor auch eine Herausforderung für Präventivstrategien dar, vornehmlich für die politische Bildung. Dies thematisiert Gudrun Heinrich am Beispiel der Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 als Lerngegenstand. Zwar werden in diesem Beitrag weniger musikalische als generelle Aspekte aufgezeigt, jedoch wird, neben allgemeinen Grundsätzen der politischen Bildung, ein Modell in fünf Schritten vorgestellt, das sich durchaus auch auf das Feld Musik und Medien übertragen lässt. Dadurch werden wertvolle Anreize zur methodischen Erweiterung auf das Themenfeld rechtsextreme Musik und Medien im Kontext der politischen Bildung gegeben. Eine konkrete Beschäftigung mit rechtsextremer Musik im Schulunterricht findet sich dagegen in Jan-Peter Kochs Beitrag. Neben einer didaktischen Interpretation rechtsextremer Songs, bei welcher die Lehrkraft lediglich eine vermittelnde Funktion einnehmen solle, sieht er das interkulturelle Lernen als besonders wichtig an. Die Beschäftigung mit dem »Fremden« (S. 268) soll Jugendlichen den eigenen Standpunkt verdeutlichen und so eine persönliche Bewertung hervorrufen. Der letzte Beitrag, ein Essay von Oliver Krämer, stellt eine Frage, die im Kontrast zu den anderen Beiträgen steht: Gibt es eine Musik, die sich nicht politisch vereinnahmen lässt? Zwar geht auch Krämer davon aus, dass Musik immer in gesellschaftlichen Zusammenhängen stattfinde und dadurch immer eine gewisse politische Komponente beherberge (S. 275). Dennoch beantwortet er die eingangs gestellte Frage durchaus plausibel, indem er vorwiegend unter Einbezug von Neuer Musik und (Free) Jazz eine Musikpraxis beschreibt, die bei Rezipientinnen und Rezipienten die Fähigkeit zum aktiven Denken stimuliert. Aufgrund der im Vordergrund stehenden inhärenten musikalischen Struktur
verschließt sich jene Musik zunächst einmal der Gefühlsebene. Sie muss erst rational erschlossen werden und lässt so kaum eine politische Vereinnahmung zu.
Der Sammelband schließt mit einer Dokumentation einer öffentlichen Podiumsdiskussion, die im Rahmen der Fachtagung stattgefunden hat. Ziel dabei war, Ausblicke und Erweiterungen auf den Forschungsgegenstand interdisziplinär zu diskutieren, aber auch generelle Fragen, Problematiken und Desiderate zu bündeln, die bereits in den Vorträgen angeklungen waren.
Insgesamt schafft der Band eine gewinnbringende Bündelung und Aktualisierung des Forschungsfelds. Während die Pluralisierung der Stile und Szenen eine stetige Aktualisierung des Forschungsstandes erfordert, scheinen ambivalente Formate beziehungsweise Grauzonenphänomene aktuell immer mehr in den Fokus der Forschung zu rücken. Nach wie vor bestehen jedoch viele offene Fragen, deren Bearbeitung »stärker regional, semantisch und international« (S. 17) ausgerichtet sein sollte, um Betroffenenperspektiven und szeneinterne Mikrostudien zu ergänzen. Auch dafür sind die Erschließung neuen Quellenmaterials sowie eine intensivere interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich.

Jacob Hirsch, Bonn

Detlef Lehnert/Volker Stalmann: Johannes Stelling 1877–1933. Sozialdemokrat in Opposition und Regierung: Hamburg – Lübeck – Schwerin – Berlin

Metropol-Verlag | Berlin 2021 | 394 Seiten, gebunden | 24,00 € | ISBN 978-3-86331-567-2

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Welche Schwierigkeiten es Historikern bereitet, sich einer Persönlichkeit wie Johannes Stelling zu nähern, von dem kein Nachlass überliefert ist, der nicht zu den passionierten Briefeschreibern zählte und der als Mitglied des Reichstags kaum in Erscheinung trat, davon hätte man gerne mehr in der Einleitung des Bandes gelesen. Dort hätte man auch die Frage erörtern können, ob man angesichts dieser widrigen Quellenlage überhaupt das Wagnis einer biografischen Untersuchung eingehen sollte. Allein, die beiden Autoren haben auf dieses Standardkapitel einer jeden wissenschaftlichen Darstellung verzichtet. Statt einer Einleitung finden sich erst auf der Seite 16 in der Fußnote 32 die Hinweise darauf, dass Detlef Lehnert die Abschnitte »Hamburg und Lübeck«, also Herkunft und politischen Aufstieg, Volker Stalmann hingegen »Schwerin und Berlin« verfasst habe, mithin die Karrierehöhepunkte des gebürtigen Hamburgers als Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin 1921 bis 1924 und als Reichstagsabgeordneter von 1919 bis 1933 (mit der kurzen Unterbrechung Mai bis Dezember 1924) sowie als Mitglied des SPD-Parteivorstands seit 1924. An gleicher Stelle erfährt man auch, dass die umfangreiche Quellenrecherche in Zeitungen, Zeitschriften und Protokollen im Wesentlichen von den beiden Historikern Jörg Pache und Jens Thiel geleistet wurde, die dafür mehr Anerkennung verdient hätten, als in einer Fußnote versteckt zu werden. 

Die Darstellung folgt der Biografie Stellings chronologisch, beginnend mit seiner Geburt 1877 als unehelicher Sohn einer aus Mecklenburg stammenden Köchin, die erst vier Jahre später einen Schneider namens Stelling heiratete. Der Junge wuchs in proletarischen Lebensverhältnissen auf, die er als begabter Schüler durch den Besuch einer Fortbildungsklasse und eine anschließende Lehre als Handlungsgehilfe hinter sich lassen konnte. Beeindruckt von dem Sozialexperten der SPD-Reichstagsfraktion Hermann Molkenbuhr, der 1893 bis 1898 den ersten Hamburger Reichstagswahlkreis in Berlin vertrat, schloss sich Stelling als 18-Jähriger der SPD an. 

Sein eigentlicher politischer Aufstieg vollzog sich in der Hansestadt Lübeck, wo er 1901 zum Lokalredakteur des »Lübecker Volksboten« gewählt wurde. Hier heiratete er im gleichen Jahr Frieda Schilling. Sie bekamen 1903 ihr einziges Kind, die Tochter Gertrud. 1904 stieg er zum Chefredakteur seines Blattes auf, 1907 wurde er in die Lübecker Bürgerschaft und damit in ein – wenn auch kleines – Landesparlament gewählt. Beide Funktionen hatte er bis 1919 inne. Während des Ersten Weltkriegs stützte er die Burgfriedenspolitik der Parteimehrheit, wie er überhaupt zumeist die Haltung des Parteivorstands mittrug. Schon in der Massenstreikdebatte 1906 habe Stelling, so Detlef Lehnert, »das typisch zentristische Credo« vertreten: »Wir müssen einigend wirken und das trennende Moment beseitigen.« (S. 41) Die Person Stellings steht jedoch in weiten Teilen des Kapitels über Lübeck quellenbedingt im Schatten einer Organisationsgeschichte der lübischen Sozialdemokratie. 

Nach der Novemberrevolution wurde Stelling in die Weimarer Nationalversammlung gewählt, von wo aus er im August 1919 als Innenminister in die Regierung von Mecklenburg-Schwerin berufen wurde, des größeren der beiden ehemaligen mecklenburgischen Großfürstentümer, die bis 1918 ohne gewählte Landtage als rückständigste Staaten des Deutschen Reichs gegolten hatten. Von 1921 bis 1924 amtierte er als Ministerpräsident, davon im ersten Jahr 1921/22 unter Einschluss der DVP und damit in der ersten Großen Koalition der Weimarer Republik überhaupt. Stellings Regierung konnte zahlreiche wichtige Projekte realisieren, etwa auf dem Sektor der Bildungspolitik, indem die Volksschullehrer zu Staatsbeamten aufgewertet und die Lernmittelfreiheit eingeführt wurden (S. 230). Aber natürlich agierte die Schweriner Landesregierung nicht im luftleeren Raum, sondern war in die reichsweite politische und ökonomische Entwicklung eingebunden, die zahlreiche Wählerinnen und Wähler der SPD enttäuschte. Bei den Landtagswahlen am 17. Februar 1924 erfolgte daher »ein regelrechter Absturz« (S. 251). Die regionale Sozialdemokratie sackte von 41,7 auf 22,8 Prozent ab und schied aus der Regierung aus. 

Stelling konzentrierte sich nunmehr auf seine Tätigkeiten als Sekretär im SPD-Parteivorstand und seit Januar 1928 als Gauvorsitzender des Reichsbanners Berlin-Brandenburg. Im Reichstag blieb er auf die mehrfach erwähnte Funktion eines »Hinterbänklers« (etwa auf S. 267) beschränkt, was durch eine Ermittlung der Anzahl seiner Reichstagsreden (insgesamt lediglich acht) leicht hätte belegt werden können. Stelling war also ein Mann des Parteiapparats, nicht des Parlaments. Sein politisches Urteilsvermögen ist ambivalent einzuschätzen, einerseits warnte er bereits 1919 vor einer drohenden Kandidatur Paul von Hindenburgs bei einer künftigen Reichspräsidentenwahl (S. 145) und übte berechtigte Kritik an Gustav Noske (S. 148), andererseits erkannte er die Tragweite des Sturzes von Reichskanzler Hermann Müller 1930 nicht (S. 310) und hing nach der Errichtung der NS-Diktatur »einem geradezu fatalistischen Entwicklungsglauben« an (S. 374), indem er die Gefahr für sich persönlich wie für die Partei unterschätzte. Der in diesem Buch geschilderte Übergang von der Regierung Müller zum Kabinett Brüning entspricht im Übrigen nicht dem neuesten Forschungsstand. Brüning war über die Intrige zum Sturz Hermann Müllers schon Monate vorher eingeweiht gewesen und hatte gegenüber deren Drahtziehern seine Bereitschaft zur Bildung des ersten Präsidialkabinetts erklärt. 

Stelling stimmte am 23. März 1933 in der zum Reichstag umgebauten Kroll-Oper gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz; eine Flucht aus Deutschland lehnte er ab und unterstützte den im Reich verbliebenen Berliner gegen den Prager Exilvorstand der SPD. Durch seine Funktion beim Reichsbanner (bis 1932) und durch von ihm kolportierte Gerüchte, dass die Nationalsozialisten für den Reichstagsbrand verantwortlich seien, zog er sich in besonderem Maße den Hass der neuen Machthaber zu. Während der sogenannten »Köpenicker Blutwoche« wurde er von der SA verhaftet, schwer misshandelt und in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 1933 ermordet. Sein Leichnam wurde in einen Sack gestopft, in die Dahme geworfen und erst am 1. Juli 1933 aufgefunden. 

Letztlich bleiben viele Fragen aus Stellings Biografie offen: Wer zählte außer Hermann Molkenbuhr zu seinen persönlichen Vorbildern? Wer förderte ihn? Mit welchen führenden Sozialdemokraten »konnte« er, mit welchen nicht? Wie war das weitere Lebensschicksal seiner Witwe und seiner Tochter? Tochter und Schwiegersohn traten nach 1945 als Zeugen in den genannten Strafprozessen auf. Aber wie und wo lebten sie anschließend? Dass diese Fragen vielleicht nicht beantwortet werden können, weil die Quellen schweigen, hätte thematisiert werden können. Dass Täter der »Köpenicker Blutwoche« 1947 und 1948 in West- und 1950 in Ost-Berlin vor Gericht gestellt wurden, wird erwähnt, nicht mitgeteilt wird jedoch, dass die Urteile in Ost-Berlin wesentlich härter ausfielen und dass es die DDR war, die lange vor der Bundesrepublik Deutschland Stelling im öffentlichen Raum würdigte: mit der Überführung seines Grabes im Jahr 1950 in die »Gedenkstätte der Sozialisten« auf dem Friedhof in Friedrichfelde, wo man es noch heute besuchen kann, mit der Einrichtung einer Gedenkstätte zur »Köpenicker Blutwoche«, mit der Anbringung einer Gedenktafel sowie der Benennung einer Straße in Köpenick (Stellingdamm) und einer Brücke in Adlershof. Zu diesen Gedenkorten ist nun die vorliegende Studie hinzugekommen. An Johannes Stelling als eines der frühesten und prominentesten Opfer des NS-Terrors zu erinnern und zahlreiche Bausteine zu seiner Biografie zusammengetragen zu haben, ist – trotz aller offenen, also den nicht gestellten wie den nicht beantworteten Fragen – ein bleibendes, ein unbestreitbares Verdienst dieses Buches.

Bernd Braun, Heidelberg

Gerhard Kluchert/Klaus-Peter Horn/Carola Groppe/Marcelo Caruso (Hrsg.), Historische Bildungsforschung. Konzepte – Methoden – Forschungsfelder

Verlag Julius Klinkhardt | Bad Heilbrunn 2021 | 388 Seiten, kartoniert | 29,90 € | ISBN 978-3-7815-5563-3

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Es ist ein Paradox der (deutschen) Historiografie, dass zentrale Aspekte der menschlichen Vergangenheit aus dem Kanon der allgemeinen Geschichtswissenschaft ›ausgelagert‹ scheinen: so die Geschichte von Religion und Glauben in die Kirchengeschichte und die von Bildung, Erziehung und Aufwachsen in die Historische Bildungsforschung. Historikerinnen und Historiker wissen selbstverständlich um die geschichtlichen Hintergründe der Situation; darum, dass infolge der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems im 19. Jahrhundert einzelne Disziplinen ihre ›eigene‹ Geschichte zu erforschen und schreiben begannen, auch mit dem Ziel, das Programm des eigenen Faches zu rechtfertigen. Die Auslagerung einzelner Themen aus dem Gros der Geschichtsschreibung hat Vor- und Nachteile. Zum Ertrag zählt sicherlich, dass ihnen die Aufmerksamkeit einer Gruppe hochausgebildeter Spezialistinnen und Spezialisten zukommt, die sich in einer Breite und Tiefe mit ihnen beschäftigen, die anderenfalls kaum vorstellbar wäre. Die intensive Beschäftigung hat ihr Fundament in eigenen Lehrstühlen und Fachorganisationen und findet unter anderem Niederschlag in spezifischen Publikationen. Die Kehrseite der Ausdifferenzierung ist eine bisweilen mangelnde Bezugnahme von spezifischer und allgemeiner Historiografie aufeinander. Letztere neigt dazu, die Arbeiten der ersteren als zwar entlastend für die eigene Forschung wahrzunehmen, sie aber zugleich als nachgeordnet abzutun. Ihre häufig herausragenden Leistungen werden so höchstens in Zeiten thematischer Konjunkturen zur Kenntnis genommen, auch weil das jeweilige Feld als vermeintlich zu speziell und unübersichtlich gilt.

Für das Forschungsgebiet der Historischen Bildungsforschung kann dieses Argument spätestens mit der Veröffentlichung des vorliegenden Handbuchs nur noch eine vorgeschobene Ausrede sein. Der Band, der Beiträge ausgewiesener Fachvertreterinnen und -vertreter vereint, hat zum Ziel, »über den Stand und die Entwicklung der Historischen Bildungsforschung« (S. 9) zu informieren, also eine Art »State of the Art« zu präsentieren, wie es die vier Herausgeberinnen und Herausgeber im Vorwort formulieren. In ihrer Einleitung beschreiben sie hierzu zunächst, was den Gegenstandbereich kennzeichnet, wie sich die Disziplin in unterschiedlichen nationalen Kontexten, besonders aber im deutschsprachigen Raum, seit dem 18. Jahrhundert institutionell und inhaltlich entwickelt hat und worin ihre Leistungen, Probleme und Desiderate liegen. Die Historische Bildungsforschung stellt demnach ein interdisziplinäres Forschungsfeld dar, das maßgeblich zwischen der Erziehungswissenschaft und der Geschichtswissenschaft angesiedelt ist. Historisch im Umfeld der Pädagogik und speziell der Lehrerbildung entstanden, konzentrierten sich ihre Arbeiten, wie die der allgemeinen Geschichtswissenschaft, zuerst auf die Geschichte von Institutionen, Personen und Ideen, bevor sie sich durch die historiografischen Wenden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sozial- und später kulturhistorischen Fragen zuwendeten. Als Forschungsgebiet, das sich der »Erforschung des pädagogischen Feldes im geschichtlichen Wandel« widmet, geht der Blick der Historischen Bildungsforschung stets in zwei Richtungen: auf »Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung« und auf den »Beitrag von Sozialisation und Enkulturation zur Entwicklung von Geschichte und Kultur« (S. 13). Das gesamte Forschungsfeld zeichnet sich heutzutage durch seine große Produktivität, eine tiefgreifende Verwissenschaftlichung und ein breites Themenspektrum aus, wie sich auch in den Beiträgen des Bandes zeigt.

Zählt man die thematische Einleitung nicht mit, erschließt der Band die Fachdisziplin der Historischen Bildungsforschung in jenen drei Dimensionen, die dem Untertitel zu entnehmen sind: Konzepte, Methoden und Forschungsfelder. Was darunter jeweils konkret zu verstehen ist, kann sich die Mehrzahl der Leserinnen und Leser wohl vorstellen, trotzdem ist es etwas bedauerlich, dass es im Band nicht noch einmal näher erläutert wird. Dessen ungeachtet, umfasst der Abschnitt »Konzepte« erwartungsgemäß unterschiedliche, zeitlich zum Teil aufeinander folgende, zum Teil gleichzeitig praktizierte historiografische Zugriffe wie die Sozial- und Strukturgeschichte, die Ideengeschichte oder die Historische Biografiegeschichte. Der Gegenstand »Quellengattungen und Methoden« dreht sich dezidiert um diese, wobei in den lediglich drei Beiträgen des Abschnitts noch zwischen qualitativen und quantitativen Methoden unterschieden wird. Im umfassendsten Block »Forschungsfelder« werden schließlich zentrale Themenbereiche der Historischen Bildungsforschung wie »Kindheit«, »Familie«, »Schule«, »Kinder- und Jugendliteratur«, aber auch »Medien«, »Militär«, »Interkulturalität und Minderheiten« erschlossen. Sämtliche Beiträge sind nach demselben Schema gegliedert: Auf eine kurze Definition des jeweiligen Bereichs folgt ein Abschnitt über Forschungsgeschichte und -kontexte, eine kurze Einführung in die Reichweite und Grenzen des Gegenstands sowie abschließend eine Diskussion von Desideraten und Forschungsperspektiven. Die Darstellung bezieht sich in vielen Fällen in erster Linie auf die deutschsprachige Forschung, wobei wichtige internationale Entwicklungen Erwähnung finden. Jeder Beitrag beinhaltet Hinweise zu zentralen Veröffentlichungen, der Anspruch auf eine umfassende Nennung der relevanten Literatur wird nicht erhoben.

Es ist an dieser Stelle nicht der Raum, um die rund 32 Fachartikel des Bandes im Einzelnen zu besprechen. Es seien daher lediglich zwei Beobachtungen formuliert, die sich aus der Lektüre ergeben haben. Zum einen stellt sich die Frage nach den Kriterien, die der Entscheidung, welche Gegenstände in den Band aufgenommen wurden und welche nicht, zugrunde lagen und die den thematischen Zuschnitt der einzelnen Kapitel beeinflusst haben. So ist es zwar nach Meinung des Rezensenten mehr als begrüßenswert, dass der wohl federführende Herausgeber des Bandes, Gerhard Kluchert, eine, wie nicht anders zu erwarten, kenntnis- und detailreiche Einführung in die Historische Sozialisationsforschung vorgelegt hat. Es erstaunt allerdings, dass der Beitrag von Karin Prien über die ohne Frage wesentlich einflussreichere Kulturgeschichtsschreibung genauso viel Platz in dem Band einnimmt und in diesem Zusammenhang, praktisch ›nebenbei‹, noch so wichtige Forschungskonzepte wie die Mentalitätsgeschichte und die Historische Anthropologie mitbearbeitet, die eigentlich ein eigenes Kapitel wert gewesen wären. Zum anderen wäre ein stärkerer Bezug einzelner Artikel auf die aktuelle internationale Forschung wünschenswert gewesen. So wird zum Beispiel im Beitrag über das Forschungsfeld »Kindheit« zwar mit vielen der üblichen Klischees über die Geschichte von Kindheit und Kindern aufgeräumt, darunter der Annahme, dass in früheren Zeiten nicht zwischen Kind- und Erwachsenensein unterschieden würde. Gleichzeitig werden akteurszentrierte Ansätze, die spätestens seit den 2000er-Jahren aufkamen, vorgestellt, nicht aber deren unter dem Begriff der Agency Trap diskutierten Probleme thematisiert. Ähnlich verhält es sich im Artikel über die Historische Geschlechterforschung, in dem zwar die Forschungsperspektive der Männlichkeitsgeschichte aufgegriffen und als (Teil-)Desiderat gekennzeichnet wird, neuere Forschungen zur Queer History aber keine Erwähnung finden.

Die angeführte Kritik tut der Qualität sowohl der einzelnen Beiträge wie auch des gesamten Bandes keinerlei Abbruch. Sie kann unter Verweis auf die im Vorwort erwähnte lange und verschlungene Entstehungsgeschichte des Bandes relativiert werden, weil davon auszugehen ist, dass einzelne Beiträge schon vor längerer Zeit verfasst worden sind. Das lange Warten auf den Band hat sich dennoch gelohnt, denn er schließt eine Lücke, indem er allen Interessierten, ob Studierenden oder Forschenden, ob Historikerin oder Erzieherwissenschaftler, in zentralen Forschungsbereichen der Historischen Bildungsforschung einen fachkundigen, systematisch angelegten und äußerst gut lesbaren Zugang ermöglicht. Dem Band sind daher zahlreiche Leserinnen und Leser zu wünschen. Mit ihm verbindet sich zugleich die Hoffnung, dass die eingangs skizzierte Distanz zwischen Geschichtswissenschaft und Historischer Bildungsforschung von vielen überwunden werden möge.

Daniel Gerster, Hamburg

Florian Heßdörfer, Der Geist der Potentiale. Zur Genealogie der Begabung als pädagogisches Leistungsmotiv

Transcript Verlag | Bielefeld 2022 | 239 Seiten, kartoniert | 35,00 € | ISBN 978-3-8376-6051-7

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Die Beschäftigung mit den Selbstoptimierungsimperativen der modernen Arbeitswelt und ihr faszinierendes Oszillieren zwischen der Ermächtigung und der Entmachtung des Individuums stellen seit den 2000er-Jahren ein beliebtes, disziplinenübergreifendes Sujet der Geistes- und Sozialwissenschaften dar. Kamen die ersten Auseinandersetzungen mit diesem Komplex noch aus dem Kontext einer Zeitdiagnostik in kritischer Absicht, erscheinen in den letzten Jahren zunehmend empirie- und fallstudiengestützte Qualifikationsschriften, die sich mit der Geschichte und Gegenwart von Begabung, Leistung und ihrer Optimierung auseinandersetzen. In der Geschichtswissenschaft dominieren dabei zwei Tendenzen: Zum einen handelt es sich um Detailstudien zu einzelnen Ausbildungsinstitutionen und Organisationen der Wissensgenerierung wie beispielsweise dem Deutschen Institut für technische Arbeitsschulung (DINTA) oder dem Tavistock Institute of Human Relations. Zum anderen wird deutlich, dass sich die Annahme einer Zäsur in den 1970er-Jahren als Übergang vom Fordismus zum Postfordismus und damit ein Übergang von einer Politik der Einpassung zu einer Politik der beständigen Weiterbildung nur schwerlich aufrechterhalten lässt.

In diesem Umfeld siedelt sich der Band Florian Heßdörfers an, der auf eine kumulative Habilitation an der Universität Leipzig zurückgeht. Die Monografie kann als ein Ertrag der auch in der Erziehungswissenschaft und Pädagogik in den letzten Jahren produktiven Auseinandersetzung mit den Grundbegriffen dieser Disziplin verstanden werden. Die Studie – eine Genealogie des Leistungsmotivs in der Pädagogik – wendet sich der Zeit um 1900 zu, um über die Figur des Potentials und der Potentialität die Bedingungen der Pädagogik in der Gegenwart zu untersuchen. Ziel dieser Diskursanalyse ist die »Herausarbeitung von Elementen einer pädagogisch strukturierten ‚Menschenregierungskunst‘“ (S. 22). Die Analyse und die Quellenauswahl beanspruchen dabei keineswegs systematischen, sondern »exemplarischen Charakter“ (S. 21), der es aber erlaube, die Regelhaftigkeit des Diskursfeldes des Potentials zu erfassen. »Potential“ ist bei Heßdörfer Analysebegriff, unter dem er Signifikanten wie Begabung, Talent oder Anlage subsumiert. Die Arbeit selbst besteht aus einem umfangreichen systematisierenden Überblick (S. 17–76), gefolgt von fünf Detailstudien. Diese Tiefenbohrungen stellen, vom ersten Kapitel abgesehen, Überarbeitungen bereits publizierter Aufsätze dar.

Fünf Elemente sind für Heßdörfer konstitutiv für den »Geist der Potentiale“ um 1900: Zunächst der Siegeszug psychologischer und pädagogischer Prüfungstechniken und die damit verbundene Suche nach dem Eigentlichen des Subjekts. Damit eng verknüpft identifiziert Heßdörfer zweitens ein biopolitisches Subjektivierungsregime, in dem Individuum und Gemeinschaft, »individuelle[] Entfaltung und kollektive[] Produktivität“ (S. 52) zusammenfallen. Darüber habe, drittens, die Ökonomie Einzug in das Feld der Pädagogik erhalten. Vorstellungen der Marktförmigkeit und Nutzbarkeit des Potentials seien zum Ideal avanciert. Das für die Pädagogik konstitutive Dilemma von Freiheit und Zwang ließ sich, nach Heßdörfer, dadurch auflösen, dass der »Einzelne zum Maßstab seiner selbst“ (S. 57) erhoben wurde. Viertens habe die Pädagogik über den Geist der Potentiale neue Strategien des Zugangs zum Individuum entwickelt: die Beratung und das Spiel. In beiden Fällen bildete ein idealisierter Begriff der Arbeit den Fluchtpunkt. Zuletzt habe sich durch die Figur der Potentialität einen der Grundbegriffe der Pädagogik – die Gleichheit – rekonfiguriert: Das Denken in Begriffen des Potentials habe ermöglicht, bei Annahme einer »abstrakte[n] Gleichheit“ (S. 70) des Menschen von der konkreten Ungleichheit der Individuen auszugehen.

Die folgenden Tiefenbohrungen entwickeln diese Achsen anhand von Detailstudien, die sich vornehmlich auf einzelne Autorinnen und Autoren der Vor- und Zwischenkriegszeit konzentrieren. In den Fokus treten bekannte und weniger bekannte Personen aus Pädagogik und Psychologie wie Ellen Key (Kap. 1), Theodor Litt (Kap. 2), Wilhelm Hartnacke (Kap. 3), Hermann Ebbinghaus, Berthold Hartmann und Hugo Münsterberg (Kap. 4). Heßdörfer geht es natürlich nicht um diese Autorinnen und Autoren selbst, sondern um die in ihren Texten geronnenen Regelmäßigkeiten des sich um die Figur der Potentialität herausbildenden Aussagenfeldes. Insbesondere die Schnittmengen zwischen dem Pädagogischen und dem Ökonomischen, die Heßdörfer am Beispiel von Theodor Litts »›Gesamtökonomie der geistigen Kraft eines Volkes‹« (S. 111) herausarbeitet, und die darin deutliche Nähe zum Rationalisierungsdiskurs der 1920er-Jahre verdienen eine stärkere geschichtswissenschaftliche Berücksichtigung. Das Potenzial einer Annäherung von Arbeits- und Bildungsgeschichte jenseits einer Verordnungsgeschichte der Berufsbildung lässt sich fasst über die gesamte Arbeit Heßdörfers ausmachen.

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive bleiben trotz aller Schnittmengen auf der Ebenen des Kontexts Fragen offen. Der von Heßdörfer als »einige Jahrzehnte um 1900 herum« (S. 11) ausgewiesene Untersuchungszeitraum korrespondiert natürlich insbesondere für die deutsche Geschichte mit Umbrüchen, die Krisendiagnosen und entsprechenden Rationalisierungs-, Heils- und Wiederaufstiegsdiagnosen Vorschub leisteten. Da sich der Autor vornehmlich auf die deutschsprachige Pädagogik konzentriert, bleibt ungeklärt, inwieweit es sich hierbei um ein transnationales Phänomen handelte und inwieweit Vorstellungen des Nationalen – auf die Nation als omnipräsenten Fluchtpunkt der Potentialitätsfigur verweist Heßdörfer wiederholt (zum Beispiel S. 56 oder 147–156) – auf die Ausformung des Potentialitätsdiskurses zurückwirkten. Darüber hinaus arbeitet Heßdörfer zwar überzeugend eine Genealogie der Pädagogik der Gegenwart über die Jahrhundertwende hinaus. Wie sich die 1970er-Jahre, das Paradigma der Kompetenz und der Siegeszug des lebenslangen Lernens in den Brückenschlag von 1900 in die Gegenwart einordnen lassen, wird, trotz eines abschließenden Überblicks (S. 197–210), aber nur kursorisch ausgeleuchtet. Durch die Anlage seiner Studie relativiert Heßdörfer die Bedeutung dieser Zäsur; gibt sie aber dennoch nicht auf, indem er etwa den Abschied von Wesenssemantiken und den Übergang zu einer »Situation einer permanenten Versuchsanordnung« (S. 207) als Signum der 1970er-Jahre ausmacht.

Interdisziplinarität bleibt also trotz identischer Interessen ein zweischneidiges Schwert. Einerseits stellt Heßdörfers Analyse exponierter pädagogischer Texte eine beeindruckende Systematisierungsleistung dar. Andererseits deckt sich diese Brillanz auf synchroner Ebene nur teilweise mit den Interessen der Geschichtswissenschaft, die sich vor allem auf die Diachronie und die Froschperspektive jenseits der Höhenkammliteratur konzentriert. Das interdisziplinäre Potenzial liegt genau an der Kreuzung dieser beiden Blickrichtungen: den gereinigten und systematisierten Diskurs, den Heßdörfer pointiert ausbreitet, durch die Heterogenität, Ambivalenz und die Ungleichzeitigkeit der Geschichte wiederum zu veruneindeutigen. Sowohl die Frage nach den Verästelungen des von Heßdörfer skizzierten Diskurses in Institutionen und Organisationen als auch nach der Praxis des Diskurses selbst, nach der Materialität, der Entstehung, der Kontingenzen und dem, was diese kanonischen Texte verbergen, bleiben am Ende in weiteren Untersuchungen zu erörtern.

Jan Kellershohn, Halle an der Saale

Walter Mühlhausen, Hessen in der Weimarer Republik. Politische Geschichte 1918–1933

Waldemar Kramer | Wiesbaden 2021 | 279 Seiten, gebunden | 20,00 € | ISBN 978-3-7374-0490-7

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Bereits im Rahmen seiner Dissertation hat Walter Mühlhausen eine Gesamtdarstellung der politischen Geschichte Hessens in den Jahren 1945–1950 erarbeitet. Nunmehr legt er einen ebenso fundierten Überblick zur Geschichte Hessens in der Weimarer Republik vor. Das heutige Bundesland Hessen bildete damals kein einheitliches Gebilde, sondern unterteilte sich in den Volksstaat Hessen, der 1918 an die Stelle des Großherzogtums Hessen-Darmstadt getreten war. Das ehemalige Herzogtum Nassau, das frühere Kurfürstentum Hessen und die ehemalige Freie Stadt Frankfurt bildeten seit 1866 die preußische Provinz Kurhessen-Nassau, außerdem gehörte der Kreis Wetzlar bis 1932 zur preußischen Rheinprovinz. Das vormalige Fürstentum Waldeck stand bereits seit längerem unter preußischer Verwaltung und wurde 1929 ebenfalls Teil der Provinz Kurhessen-Nassau.

In allen Teilen Hessens verlief der Umbruch von 1918/1919 weitgehend ohne Blutvergießen und somit ruhiger als auf Reichsebene. Anschaulich arbeitet Mühlhausen heraus, dass im Volksstaat Hessen eine Räterepublik niemals ein Thema war. Vielmehr kam es in Darmstadt wie auch in den Nachbarländern Baden und Württemberg schon im November 1918 faktisch zur Bildung einer Koalitionsregierung aus Sozialdemokratie, Zentrum und Linksliberalen. Diese Regierung hat, wie Mühlhausen betont, große Verdienste erbracht. In der schwierigen Umbruchphase am Ende des Ersten Weltkriegs gelang es, die Demobilisation des Heeres zu meistern, die Soldaten wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren, die Wirtschaft auf Friedensproduktion umzustellen und eine drohende Hungerkatastrophe zu vermeiden.

Politisch standen der Volksstaat Hessen wie auch Preußen für Stabilität. In beiden Ländern regierte langfristig eine Weimarer Koalition, in Preußen zeitweilig eine große Koalition, beide Regierungen verfügten dabei bis 1931/1932 über stabile parlamentarische Mehrheiten. Auch hier vergleicht Mühlhausen die Situation mit der in anderen Ländern. So wurde beispielsweise in Darmstadt nie wie in Thüringen oder Sachsen eine Volksfrontregierung gebildet, noch kam es wie in Thüringen vor 1933 zur Einbeziehung der Nationalsozialisten in die Regierung.

Gemeinsam hatten die Gebiete des heutigen Hessen jedoch nicht nur eine gewisse politische Stabilität, sondern auch die Last der Besatzung. So war das linksrheinische Gebiet des Volksstaats Hessen vollständig von französischen Truppen besetzt. Außerdem hatten die Franzosen um Koblenz und Mainz herum Brückenköpfe mit einem Radius von 30 km gebildet. Natürlich bildete die Besatzung eine schwere Belastung für die junge Demokratie. Eingehend schildert Mühlhausen die Auseinandersetzung mit der Besatzungsmacht und damit verbunden die wiederholten Ausweisungen deutscher Politiker aus dem besetzten Gebiet wie auch die katastrophalen Folgen für Wirtschaft und Finanzen.

Trotz dieser Hypothek war, so Mühlhausen, die Weimarer Republik »keine ›Republik ohne Republikaner‹« (S. 3). In diesem Sinne weist er darauf hin, dass sich zum Beispiel im Mai 1923 mehrere zehntausend Menschen auf dem Frankfurter Römerberg einfanden, um der 75. Wiederkehr der Zusammenkunft der Paulskirche zu gedenken. Auch stellt Mühlhausen einzelne Persönlichkeiten vor, die sich für Demokratie und soziale Reformen eingesetzt haben. Zu diesen gehörte der Wetzlarer Unternehmer Ernst Leitz II. (Leica). Er setzte das soziale Engagement seines Vaters fort, beginnend ab 1885 hatte der Betrieb ein umfassendes Sozialversicherungswesen für seine Arbeitnehmer geschaffen, schon 1906 kam es zur Einführung des Achtstundentags. Während der Weimarer Zeit war Leitz für die DDP Mitglied in Kreis- und Gemeindevertretungen, genauso wie er das örtliche Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in Wetzlar unterstützte. Unterstützung erhielten von ihm ebenfalls in der NS-Zeit auch Verfolgte des Regimes, jedoch hat auch er während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter beschäftigt.

Den mutigen Vorkämpfern für die Demokratie standen jedoch auch nationalkonservative Gegner gegenüber. Diese fanden sich unter anderem an den Universitäten, in der Verwaltung, aber auch in der Industrie, wo Ernst Leitz II. eher eine Ausnahme bildete. Genauso stand die protestantische Kirche der Demokratie in großen Teilen ablehnend gegenüber. Mühlhausen verweist hier auf den hessischen Kirchenpräsidenten Wilhelm Diehl, der zugleich als Mitglied der DNVP dem Darmstädter Landtag angehörte und für den »der 9. November 1918 das größte ›Verbrechen, das jemals am Deutschen Volke vollbracht worden‹ sei« (S. 137f.), darstellte. Damit verweist Mühlhausen auf eines der gängigsten Argumentationsmuster der antidemokratischen Rechten: die so genannte Dolchstoßlüge, gemäß der das kaiserliche Heer im Felde unbesiegt gewesen sei und es nur durch die Revolution zur Niederlage im Krieg gekommen sei, wobei vor allem Sozialdemokraten, Juden und Katholiken zu Schuldigen gestempelt wurden.

Angesichts der unverdauten Niederlage hatte die Dolchstoßlüge Konjunktur, vor allem als 1925 mit Paul von Hindenburg ein Mann Reichspräsident wurde, der diese wesentlich geprägt hatte. Gleichwohl wählten in der Mitte der 1920er-Jahre, einer Phase relativer Stabilität, die Menschen im Gebiet des heutigen Bundeslands Hessen noch mit deutlicher Mehrheit die Parteien der Weimarer Koalition. Erst im Gefolge der Weltwirtschaftskrise kam es zum Aufstieg der NSDAP. Immerhin waren am Beginn der 1930er-Jahre Landesregierungen der Weimarer Koalition in Berlin wie auch in Darmstadt weiterhin geschäftsführend im Amt. Denn die Nationalsozialisten hatten zwar massive Stimmengewinne verbuchen können, jedoch die absolute Mehrheit verfehlt, sodass sie keine neue Staatsregierung wählen konnte. Auch die geschäftsführenden Landesregierungen »bekämpften aktiv Bestrebungen der Antidemokraten, verboten deren Versammlungen, Organisationen und Publikationsorgane« (S. 225). Die endgültige Zerstörung der Demokratie auch in den Ländern erfolgte schließlich von Gegnern der Weimarer Demokratie auf Reichsebene: Durch den Preußenschlag Franz von Papens wurde nicht nur die Weimarer Koalition in Preußen entmachtet, auch in der Verwaltung der Provinz Kurhessen-Nassau wurden engagierte Demokraten entlassen. Zugleich schuf der Preußenschlag das Vorbild für das Vorgehen der Nationalsozialisten gegen die demokratischen Landesregierungen im Frühjahr 1933.

Auf symbolischer Ebene zerstörten die Nationalsozialisten die Demokratie unter anderem dadurch, indem sie noch 1933 ein seit 1926 bestehendes Denkmal von Reichspräsident Friedrich Ebert an der Paulskirche entfernten. Ein neues Denkmal für Ebert wurde 1950 in Anwesenheit des zweiten hessischen Ministerpräsidenten der Nachkriegszeit, Christian Stock, wieder aufgestellt. Der Sozialdemokrat Stock hatte bereits in der Weimarer Zeit der Nationalversammlung angehört. Er hatte somit »in der ersten Republik zu den Verteidigern der Demokratie gehört« (S. 229), die sich nach »der Erfahrung vom Scheitern der ersten Republik« erfolgreich dafür eingesetzt haben, »die zweite (Republik) wehrhafter, krisenfester (zu) machen« (ebd.).

Mühlhausen legt eine überaus kompetent und zugleich leicht verständlich geschriebene politische Geschichte Hessens während der Weimarer Zeit vor, wobei er jedoch auch auf kulturhistorische Aspekte wie die Rolle der Frau eingeht und ebenfalls nicht vergisst, auch immer wieder einen Blick auf die Entwicklung in einzelnen Kommunen zu werfen.

Michael Kitzing, Singen am Hohentwiel

Hannes Androsch/Heinz Fischer/Wolfgang Maderthaner (Hrsg.), Vorwärts! Österreichische Sozialdemokratie seit 1889 | Werner Michael Schwarz/Georg Spitaler/Elke Wikidal (Hrsg.), Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis

Christian Brandstätter Verlag | Wien 2020 | 400 Seiten, gebunden | 48,00 € | ISBN 978-3-7106-0424-9

Birkhäuser Verlag | Basel 2019 | 472 Seiten, gebunden | 39,00 € | ISBN 978-3-0356-1957-7

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Die Politik der sozialen Demokratie in Österreich – hier verstanden sowohl als Parteiorganisation als auch als gesellschaftliche Bewegung im weiteren Sinne – steht im Mittelpunkt zweier von Umfang und Inhalt her ausgesprochen gewichtiger Bände.  

Die zeitlich größte Spanne deckt dabei der von Hannes Androsch, Heinz Fischer und Wolfgang Maderthaner herausgegebene Band »Österreichische Sozialdemokratie seit 1889« ab, der sich auf 400 Seiten im Katalogformat maßgeblichen programmatischen und politischen Wegmarken der Parteientwicklung von Beginn an  widmet. Die Darstellung der Beiträge ist getragen von Sympathie und Respekt für die Leistungen und Akteure der Sozialdemokratie – vermutlich auch, weil bei nahezu allen Autorinnen und Autoren ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Bewegung vorhanden ist. Dennoch handelt es sich nicht um eine Jubelschrift, die einzelnen Texte sind durchweg sachlich fundiert und differenziert begründet. Eingeteilt ist die Darstellung in acht nach Zeitepochen gegliederte Kapitel, die von einigen Exkursen – unter anderem zu den Themen »Staat«, »Judentum«, »Frauenpolitik« und »Europa« – unterbrochen werden. Besonders lesenswert ist hier der Exkurs zur »kulturellen Moderne« im Kontext des »roten Wiens« und Österreichs der 1920er-Jahre. Geboten werden pointierte Schlaglichter und Skizzen zu längeren Entwicklungslinien, eher am Rande kommen Personalentscheidungen sowie interne Auseinandersetzungen vor, sodass sich der Sammelband letztlich gut als ein (sehr) ausführlicher und reich bebilderter Essay zur Parteigeschichte lesen lässt. 

Am Ausgang der Sozialdemokratie ab Mitte der 1880er-Jahre habe eine Koalition »von wenigen radikaldemokratischen, freisinnigen, meist jüdisch-großbürgerlichen Intellektuellen mit Vertretern der ›organischen‹, überwiegend aus dem anarchistischen Handwerkermilieu stammenden Arbeiterintelligenz« gestanden, der es in den folgenden eineinhalb Jahrzehnten gelungen sei, eine reformistisch-demokratische Massenpartei der Arbeiterschaft und damit ein neues Gebilde in der Parteiengeschichte aufzubauen. Mit Blick auf die Bedeutung der Partei bei der Gründung und Entwicklung der ersten österreichischen Republik nach 1918 wird unter anderem das Wirken von Otto Bauer sowie weiterer Austromarxisten herausgestellt und als »offensive Verfassungspolitik« im Sinne einer auf die Macht des Rechts und nicht auf die Mittel der Gewalt gestützten politischen Strategie eingeordnet. Politische Anschlüsse an die rechts- und verfassungspolitischen Überlegungen des Austromarxismus habe es erst in den 1970er-Jahren unter Bruno Kreisky und insbesondere Justizminister Christian Broda wieder gegeben. 

Sehr beeindruckend und zugleich sehr bedrückend gelingt die Schilderung des Schicksals von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Widerstand und in der Verfolgung, beispielsweise der Lebens- und Leidenswege der in Konzentrationslagern ermordeten Käthe Leichter und Robert Danneberg ebenso wie von Rosa Jochmann, die die Lagerhaft überlebte. Differenziert und durchaus kritisch wird zudem der problematische Umgang mit den ins Exil gedrängten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nach 1945 geschildert, etwa am Beispiel des ehemaligen Finanzstadtrats von Wien, Hugo Breitner, der vergeblich auf die ernsthafte Einladung zur Mitarbeit am Wiederaufbau der Partei und des Landes gehofft habe. 

Auch für die Auseinandersetzung mit den zurückliegenden Jahrzehnten bis in die Gegenwart bietet der Band interessante Einblicke. So sei die SPÖ seit der Rückeroberung der Kanzlerschaft durch Alfred Gusenbauer im Jahr 2006 vom »Mythos des richtigen oder falschen Parteivorsitzenden besessen, als liege der Erfolg allein am Führungspersonal. Die Sozialdemokratie ist zu Modernität verurteilt und von Heimweh nach der verlorenen Größe getrieben«. Mitherausgeber Hannes Androsch empfiehlt in Anlehnung an das Motto des Jahres 1968 »Leistung, Aufstieg, Sicherheit«. Die SPÖ müsse eine »Partei des Prinzips Hoffnung« werden, die die technologischen und kommunikativen Revolutionen der letzten und der kommenden Jahrzehnte nicht abwehrt, sondern ihnen eine soziale und humane Dimension abverlange. Es bleibt dabei unklar, ob technologische Entwicklung hier als ein etwas losgelöst von gesellschaftlicher Steuerung eigenmächtiges Phänomen verstanden werden soll – ähnliche der »Sachzwänge« der Jahre des (vermeintlichen) »Dritten Wegs« – oder ob hier darüber hinausgehende Perspektiven entwickelt werden sollen. 

Einen unglaublich profunden Überblick über das »Rote Wien« zwischen 1919 und 1934 bietet der Begleitband zur gleichnamigen Sonderausstellung im Wien Museum in den Jahren 2019 bis 2020. Dabei leistet das Werk weit mehr, als nur etwas tiefer gehende Informationen zu einzelnen Ausstellungsbereichen zu liefern: Letztlich gleicht der mit über 400 Textseiten ebenfalls im Katalogformat sehr voluminöse Band eher einem Handbuch zur Geschichte und Analyse des Roten Wien. In ihrer Einleitung halten die beiden Herausgeber und die Herausgeberin als Leitintention für die aktuelle Befassung »die Interpretation des Roten Wien als ein Projekt der Emanzipation und Teilhabe« fest. Die insgesamt 73 Beiträge verteilen sich auf die Abschnitte »Grundlagen und Voraussetzungen«, »Fürsorge«, »Schulreform und Bildung«, »Architektur, Infrastruktur, Wohnen«, »Kommunikation und Kunst«, »Arbeiterkultur«, sowie »Gewaltsames Ende, Verfolgung und Emigration«. Neben überblicksartigen – und reich bebilderten – Texten zu einzelnen Aspekten finden sich auch reine Bilddokumentationen und Nachdrucke historischer Texte. Hinzu kommen einige moderierte Gespräche zwischen Wissenschaftler*innen und Publizist*innen zu grundsätzlichen Fragen der historischen Einordnung wie auch zu aktuellen Bezügen und Rückgriffen auf das Rote Wien. Eher am Rande gestreift wird die politisch-gesellschaftliche Situation im restlichen Österreich, die ja sowohl für die Sonderstellung wie auch die realen Handlungsbedingungen der Politik der Wiener Sozialdemokratie maßgeblich waren.  

Erkennbar wird in allen Beiträgen der Anspruch einer differenzierten Einordnung – bei einer allseits geteilten grundsätzlichen Sympathie für den Gegenstand der Beschäftigung. So ist die Grundmelodie des Bandes auch nicht die des Scheiterns, sondern die eines bemerkenswerten und nach Anschlussmöglichkeiten auszulotenden Experiments einer am Gemeinsinn orientierten Gestaltung einer Stadt. Einzelne Texte weisen inhaltliche Überlappungen auf, etwa bei den Themen des kommunalen Wohnungsbaus und der von der Stadt als beispielhaft angestoßenen Architektur. Dass ein vollständiger Bruch mit bestehenden Ungleichheitsverhältnissen meist nicht gelang, zeigen etwa die Beiträge zur Finanzierungsstrategie des Roten Wien über Luxussteuern, zur Frauen- und Familienpolitik, zur Situation von Juden und zur Entstehung des Antisemitismus. Im Bereich der Jugendfürsorge wird mit Blick auf den Umgang mit Kindern in der »Kinderübernahmestelle« ein ambivalentes Spannungsverhältnis beschrieben, bei dem sich offensichtlich emotionale Bedürfnisse der Kinder und nüchtern-wissenschaftliches Vorgehen der Einrichtung nur schwer in Einklang bringen ließen. Spannend sind auch die Beiträge zu Schulreform sowie zu den Schulbaukonzepten, die als Verbindung von pädagogischen Konzepten und den dafür angemessenen Räumen gedacht wurden. Im Bereich der Architektur und Stadtplanung nehmen naturgemäß die Gemeindebauten sowie die Gartensiedlungen breiten Raum ein. Hier suchen einige Artikel auch nach internationalen Projekten, die sich das Rote Wien zum Vorbild nahmen, etwa in Großbritannien in den 1930er-Jahren. Im Bereich der Kultur verbindet sich die Darstellung mitunter mit der Geschichte der Sozialdemokratie, etwa wenn es um die grafische Gestaltung der Wahlkampagnen der Zeit geht. Durchaus gemischt fallen die Beiträge zum Verhältnis des Roten Wien zur Kunst aus. Hier gelang es den Einschätzungen im Band zufolge eher nicht, die Idee einer eigenen »Arbeiterkultur« mit dem Anspruch, der Arbeiterschaft den Zugang zur »Hochkultur« zu ermöglichen, zu verbinden – wie etwa in den Beiträgen zum Thema Musik gezeigt wird.  

Nur ganz am Rande wird beschrieben, mit welchen politischen und gesellschaftlichen Gegenströmungen stadtintern und extern sich das Rote Wien auseinanderzusetzen musste. Der Band schließt eindrücklich mit dem Ende des Roten Wien, auch wenn ein eigener Beitrag zu den Februarkämpfen 1934 fehlt. Enthalten ist stattdessen eine Bilderserie aus dem Fotoalbum der sozialdemokratischen Politikerin Gabriele Proft, das ihre persönliche politische und ihre private Geschichte des Jahres einschließlich ihrer Verhaftung und Inhaftierung dokumentiert. Dokumentiert wird auch die Kündigung von Juden aus den Gemeindebauten nach dem Anschluss an das Deutsche Reich ab 1938 – während die Familien teilweise bereits verzweifelt nach einer Möglichkeit suchten, das Land verlassen zu können. Abgeschlossen wird der Band mit einigen Texten und Gespräch mit Nachfahren von Protagonist*innen des Roten Wien, etwa dem Enkel des vormaligen Gesundheitsstadtrats Julius Tandler, dem Sohn von Käthe und Otto Leichter sowie der Enkelin von Helene Bauer.  

Der Band ist eine herausragende Leistung der Herausgeber*innen und Autor*innen, der einen wirklichen Meilenstein bei der Erinnerung und Bearbeitung der Politik des Roten Wien setzt. Er zeigt zudem, an wie vielen Stellen auch aktuelle Anschlüsse möglich wären – hier allerdings verbunden mit einer intensiv zu leistenden Debatte über derzeitige Handlungsbedarfe in Städten und die Verfasstheit von (Stadt-)Gesellschaften und ihren Ansprüchen an politisch-gesellschaftliche Gestaltung (einschließlich der Frage nach dem Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt und gesellschaftlichen Fragmentierungen). 

Beide Bände bieten damit nicht nur vom bloßen Umfang, sondern auch mit Blick auf die Konzentriertheit und Tiefe der inhaltlichen Aufbereitung der jeweiligen Themen ein beeindruckendes Panorama der historischen Entwicklung. Sie zeigen auf, inwieweit sich an Vorstellungen einer sozialen Demokratie orientierende Politikkonzepte verwirklichen lassen – ohne die internen wie externen Begrenztheiten zu ignorieren.

Thilo Scholle, Lünen

Udo Grashoff, Gefahr von innen. Verrat im kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Wallstein Verlag | Göttingen 2021 | 471 Seiten, gebunden | 52,00 € | ISBN 978-3-8353-3950-7

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Untersuchungen über Vertrauensleute (V-Leute) in den NS-Verfolgungsapparaten haben sich zu einem eigenständigen Forschungsfeld entwickelt. Die Gestapo setzte V-Leute gegen beinahe alle Feindgruppen ein. Dass sich die Perspektive der Forschung dabei auf die illegale KPD fokussiert hat, ist sicher mit dem vergleichsweise hohen Bedeutungsgrad des kommunistischen Widerstands erklärbar. Und die bislang vorliegenden Erkenntnisse über das Phänomen sind eindeutig: Ohne die Mitwirkung hunderter V-Leute wäre es der politischen Polizei kaum gelungen, den kommunistischen Widerstand im Zuge der großen Verhaftungswellen in den Jahren 1933 bis 1935/36 derart effektiv zu zerschlagen. 

In seiner aus einer bei der Universität Leipzig eingereichten Habilitationsschrift hervorgegangen Monografie dehnt Udo Grashoff die auf die Agententätigkeit im Dienste der Gestapo enger geführte Forschungsoptik auf einen weiter gefassten, analytischen Verratsbegriff aus, »der sich an der individuellen Handlungslogik orientiert«, die den Bruch eines Treueverhältnisses sowie ein intentionales Agieren voraussetzt. Damit soll »die Verratszone bis in ihre Randbereiche« erfasst werden (S. 14 f.). Mittels Clustertechnik hat Grashoff zahlreiche Einzelfälle in Kategorien gefasst und damit Verrat in den jeweiligen Konstellationen »von situativen Faktoren und individuellen Handlungsdispositionen« ausgeleuchtet (S. 432 f.).  

Das »kommunistische Verrats-Label« wird dabei in sechs Untergruppen unterschieden: 1. »Renegaten«, die entweder zum politischen Gegner, vor allem zur SA oder/und zur NSDAP, überliefen und/oder die sich im Zuge eines expliziten Gesinnungsverrats demonstrativ für die NS-Propaganda dienstbar machten; 2. »Apostaten«, die sich dem Widerstand entzogen, weil sie die Konsequenzen fürchteten oder dessen Sinnhaftigkeit generell infrage stellten, ohne sich indes auf die andere Seite zu schlagen; dazu kamen 3. »Polizeispitzel«, welche die Gestapo meist aus dem kommunistischen Milieu rekrutierte; überwiegend »umgedrehte« Funktionäre, die als Kollaborateure der Staatspolizei ihre früheren Genossen ausspionierten; 4. »Aussagewillige«, die in den Folterverhören Namen ihrer Genossen preisgaben und somit unfreiwillig der Gestapo halfen; 5. »Mischtypen«, welche Spielräume nutzten, ihr Verhalten situativ an die Rahmenbedingungen anpassten und aus der Notlage heraus Konzessionen an die Gestapo machten oder nur zum Schein auf deren Offerten eingingen; 6. »Verdächtige«, die lediglich infolge aufkommender Gerüchte als angebliche »Verräter/innen« markiert wurden (S. 15 f.). 

Anders als die bisherige Forschung suggeriert, spielten Renegaten aus den Spitzengremien der KPD, etwa aus dem Zentralkomitee (ZK), zumindest in der Anfangsphase der NS-Diktatur keine Rolle. Einen höheren Stellenwert hatten Überläufer/innen der unteren Ebene, die sich manchmal aktiv an den Rollkommandos beteiligten, mit denen SA, SS und Stahlhelm die linken Milieus in den Großstädten angingen. Dabei bildet das Überläufertum in NS-Organisationen nur das Finale einer immensen Fluktuation, die schon in der Weimarer Republik an den Rändern der Partei eingesetzt hatte. In Anbetracht der 1933 einsetzenden Massenverfolgung gegen die kommunistische Bewegung, die sich bis zum Ende der NS-Diktatur auf bis zu 150.000 Verhaftete und etwa 20.000 Tote belief, war dies für die KPD nur ein Problem unter vielen: »Überläufer bewirkten eine signifikante, aber in ihren Ausmaßen begrenzte Erosion der Mitgliederbasis der Partei« (S. 82). Insgesamt könnte bis 1934 ein Sechstel der KPD Parteimitglieder zu den Nazis übergewechselt sein. Bei zuletzt 300.000 Mitgliedern dürfte es sich um eine Größendimension von maximal 50.000 handeln (S. 41 f.). 

Der instabilen Basis der KPD stand indes ein gefestigter Parteikern gegenüber, der den strukturellen Fixpunkt in den indifferenten Mitgliedermassen bildete. Allerdings war die Überführung einer zentralistisch geführten Kaderpartei in eine konspirative Widerstandsorganisation schwierig. Fatalerweise waren es jene unteren Funktionsträger/innen, die als Schreibkräfte, Kuriere oder Sicherungspersonal eine marginale Stellung innerhalb der Parteihierarchie einnahmen, andererseits aber strukturelle Schlüsselpositionen besetzten, die sich als Einbruchstellen der Gestapo erwiesen. Da diese »technischen Mitarbeiter« über ein genaues Insiderwissen der inneren Zusammenhänge verfügten, hatte ihre Konversion verheerende Auswirkungen auf die widerständischen Milieukerne (S. 98 u. 118).  

Die auf den Verfolgungsterror unzureichend vorbereitete Führung der illegalen KPD reagierte darauf, indem sie eine Umstrukturierung bei den »Technischen Aufgaben« vornahm. Vorzugsweise blieb dieser Bereich nun den Angehörigen aus dem sicherheitspolitischen »AM-Apparat« vorbehalten, der bereits unter den Bedingungen der Legalität mit der Spitzelabwehr betraut war. Für die Gestapo war es meist ein langwieriges Unterfangen, diese altgedienten Kader durch Foltererpressung zum Reden zu bringen und anschließend als V-Leute einzuspannen. Wenn bewährte kommunistische Funktionäre jedoch »umgedreht« und dann bis in die Leitungsebenen der Widerstandsnetzwerke vordrangen, wirkten sie wie ein Einfallstor für eine sich kaskadenartig fortsetzende Verfolgungsdynamik. Mit den Angehörigen des KPD-Nachrichtendienstes als V-Leute gelangte die Gestapo an das erforderliche Detailwissen, um der illegalen KPD mittels größerer Verhaftungsaktionen vernichtende Schläge zu versetzen (S. 120). 

Als Erklärung für den Fakt, dass gerade Angehörige des KPD-Nachrichtendienstes zu Verrätern ihrer eigenen Sache wurden, führt der Autor drei Faktoren an: Der Zugriff der Gestapo, die diese Zielgruppe wegen ihrer klandestinen Eignung besonders intensiv »bearbeitete«, der Grad der ideologischen Schulung, wobei sich die weltanschaulich gefestigten Absolventen meist resistenter gegen ihre Zwangsrekrutierung erwiesen. Für einen Seitenwechsel waren drittens dazu noch bestimmte Charaktereigenschaften förderlich. Persönlichkeiten mit »Abenteurer-Mentalität«, die dubiosen Agentenpraktiken zuneigten, ließen sich nicht nur leichter für eine Spitzeltätigkeit gewinnen, sondern legten dabei manchmal außergewöhnlichen Eifer an den Tag (S. 159 ff.).  

Bei ihrem V-Leute-Einsatz konnte die Gestapo einerseits an das bereits vorhandene Erfahrungswissen der Politischen Polizei der Weimarer Republik anknüpfen, andererseits durchlief sie im Zuge ihrer Entwicklung einen Professionalisierungsprozess. Neu daran waren die Ansätze eines zentralisierten »Vertrauensmännersystems«, das die Informationsgewinnung des Gestapa seit 1935/36 reichsweit intensivierte. Der Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, bezeichnete die V-Männer folglich als »die eigentlichen Träger des Kampfes gegen die marxistischen Organisationen« (S. 163). Mittels ihres gestaffelten V-Leute-Einsatzes gelang der Gestapo die Infiltration einiger Bezirksleitungen der illegalen KPD und sogar deren Steuerung. In Breslau, München oder Wien etwa wurde der Widerstand auf diese Weise solange ausgehöhlt, bis er zur Farce mutierte (S. 164 u. 198 f.). Andernorts, so etwa in Chemnitz, erlebte die Stapo dagegen herbe Rückschläge. Nach Kriegsbeginn war die Gestapo praktisch außerstande, ihre Spitzel in die weiter verzweigten Netzwerke von Großstädten in die Leitungspositionen zu platzieren. Selbst wenn sie auf ihrer Jagd nach »Edelwild«, so der zynische NS-Jargon, Erfolge verbuchte, stieß sie zuweilen auf »hartgesottene Kommunisten […], die alle Vorwürfe abstritten« und eine »todesmutige Standhaftigkeit« bewiesen (S. 212).  

Nach den rigiden Normen der KPD stand beinahe jedes über die kategorische Aussageverweigerung hinausgehende Verhalten unter dem Verdikt des Verrats, was zumeist die Verstoßung aus der Partei nach sich zog – ungeachtet des Umstands, dass der Kapitulation in den Verhören fast immer eine brutale physische und psychische Gewaltausübung vorausgegangen war. Um dem Schicksal eines Verräters an den Genossen zu entgehen, verübten viele Kommunisten Suizid. Andere verfielen auf Ausweichstrategien, bei denen »Schwankungen, Ausweichbewegungen, Taktik, Opportunismus und Kollaboration […] oft eine schwer zu durchschauende Melange [bilden]« (S. 237). In der Zwickmühle machten die Verhafteten zunächst oft widerwillig Konzessionen an ihre Peiniger, bekamen später jedoch Skrupel. Temporäre Handlungsspielräume nutzten sie dazu, um der Gestapo substanzlose Informationen zu liefern. In einigen Fällen gelang es den Betroffenen tatsächlich, ihre Verfolger auszumanövrieren. Nach Schätzungen des Reichssicherhauptamts waren mindestens 30 Prozent aller V-Leute nicht verlässlich. Daneben gab es aber auch Verräter/innen aus Überzeugung, bei denen es zur Herbeiführung eines Gesinnungswandels keiner Gewalt bedurfte. Wenn die Staatspolizei auf eine sukzessive »Zerstörung der subjektiven Sinnstruktur« (Klaus-Michael Mallmann) derjenigen abzielte, die ihr in die Fänge gerieten, bot sie ihren Konfidenten gleichzeitig eine neue Identität an, mit der sich entleerte Ideale kompensieren ließen. Erleichtert wurde die Ablösung des Loyalitätsverhältnisses, wenn die Bindungen an die KPD bereits durch interne Konflikte erschüttert waren.  

Im Umgang mit Verrätern setzte die illegale KPD die schon vor 1933 praktizierten Methoden der Spitzelabwehr fort. Im zeitlichen Abstand gab der sicherheitspolitische AM-Apparat Spitzelwarnlisten heraus, die nach der »Schrotflintenmethode« zwar eine beträchtliche Anzahl von Treffern aufwies, aufgrund unbewiesener Verdachtsmomente aber öfters über das Ziel hinausschoss. Insofern bekamen die »zerstörerische Wirkung des Verdachts […] zahlreiche Kommunisten im Widerstand zu spüren« (S. 381). Nach den strikten Normen des Parteireglements blieb den Verhafteten letztlich nur der Suizid als Ausweg. Der Autor hebt hervor, dass die »Unerbittlichkeit in der Handhabung des Verratsbegriffes durch die illegale KPD […] jedoch nicht mit Beliebigkeit oder Paranoia verwechselt werden [darf]« (S. 381 u. 437) oder gar einem Auswuchs des stalinistischen Terrors in der UdSSR gleichkam, wo jedwede Abweichung von der Parteilinie inflationär als Verrat stigmatisiert wurde. Die Spitzelgefahr in Deutschland war rational begründet und deren Abwehr eine Reaktion auf eine unmittelbare Existenzbedrohung. Wenn im Widerstand gelegentlich Gewaltakte gegen überführte Spitzel vorkamen, geschahen diese fast nie aus Tötungsabsicht: »Fememorde gehörten generell nicht zum Repertoire der illegalen KPD« (S. 417).  

Die Frage, ob das Überlaufen zu den NS-Organisationen in der Durchsetzungsphase des Regimes 1933/34 gar als »empirischer Test der Reichweite der Totalitarismustheorie dienen« kann, verneint der Autor. In Anbetracht des Umstands, dass Übertritte in der Regel nicht aus freier Meinungsbildung resultierten, sondern in Zwangslagen erfolgten, kann »die These einer durch innere Wesensverwandtschaft bedingten Konvertibilität von Links- und Rechtsextremismus […] für das gesamte Verratsgeschehen keine Gültigkeit beanspruchen« (S. 434). Ebenso wenig lassen sich seine Befunde als Gegenthese zur Heldenerzählung in der DDR heranziehen, um die Geschichte der KPD quasi als eine von Verrätern darzustellen. Ungeachtet mancher Beispiele von Schwäche, Tragik und Niedertracht im kommunistischen Milieu warnt der Autor vor einer »Überbetonung der Verratsproblematik«. Über deren Bedeutungsgrad für den kommunistischen Widerstand kommt der Autor daher zu einer paradox anmutenden Einschätzung: In funktionaler Hinsicht stellte Verrat für die illegale KPD zwar ein signifikantes, existenzbedrohendes Problem dar, war aber trotz seiner verheerenden Auswirkungen zugleich ein peripheres Phänomen (S. 162 u. 433 f.).  

Auf einem zweifellos kontaminierten Terrain hat der Autor alle erdenklichen Fallstricke vermieden, indem er, statt vorschnell zu (ver)urteilen, stets abwägend analysiert. Sein Werk dürfte einen bleibenden Wert für die Historiografie behalten.

Hartmut Rübner, Berlin

Sammelrezension: Das Jahr 1943 in Italien als Zäsur in Selbstzeugnissen und Erinnerungskultur

Norman Lewis, Neapel ’44. Ein Nachrichtenoffizier im italienischen Labyrinth

Folio Verlag | Wien/Bozen 2016 | 238 Seiten, gebunden | 22,90 € | ISBN 978-3-85256-687-0

Luciana Castellina, Die Entdeckung der Welt

Laika Verlag | Hamburg 2016 | 192 Seiten, kartoniert | 21,00 € | ISBN 978-3-944233-64-2

Giacomo Notari, Ihr Partisanen, nehmt mich mit Euch. Ein Bericht aus der Resistenza

PapyRossa Verlag | Köln 2018 | 159 Seiten, kartoniert | 12,00 € | ISBN 978-3-89438-583-5

Adelmo Cervi, Meine 7 Väter. Als Partisan gegen Hitler und Mussolini

Mandelbaum Verlag | Wien 2016 | 421 Seiten, Broschur | 19,90 € | ISBN 978-3-85476-652-0

Enrico Loewenthal, Hände hoch, bitte! Erinnerungen des Partisanen Ico

Hentrich & Hentrich Verlag | Berlin 2014 | 206 Seiten, gebunden | 22,00 € | ISBN 978-3-95565-060-5

Paolo Emilio Petrillo, Der Riss 1915–1943. Die ungelösten Verflechtungen zwischen Italien und Deutschland

Drava Verlag | Klagenfurt 2016 | 358 Seiten, kartoniert | 19,80 € | ISBN 978-3-85435-808-4

Wolfgang Storch/Klaudia Ruschkowski (Hrsg.), Deutschland – Italien. Aufbruch aus Diktatur und Krieg

Sandstein Verlag | Dresden 2013 | 396 Seiten, kartoniert | 48,00 € | ISBN 978-3-95498-018-5

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In der italienischen Erinnerung nimmt das Jahr 1943 als zeitgeschichtliche Zäsur vielfach einen wichtigeren Rang ein als das Kriegsende 1945. Mit der Absetzung Benito Mussolinis als Regierungschef am 25. Juli 1943 endete der ventennio, die gut 20-jährige faschistische Herrschaft, was zu verbreiteten Jubelkundgebungen in der Bevölkerung führte, und mit der Bekanntgabe des Waffenstillstandes zwischen dem Königreich Italien und den westalliierten Kriegsgegnern am 8. September 1943 und der gleichzeitigen Landung US-amerikanischer und britischer Truppen im Süden der Apenninenhalbinsel eröffnete sich die Perspektive einer freiheitlich-demokratischen Entwicklung des Landes. Währenddessen entpuppte sich mit dem Einmarsch von Wehrmachtverbänden, die sich schon Monate zuvor geschwürartig auf dem Territorium des Partners im »Achsen«-Bündnis auszubreiten begonnen hatten, seit diesem 8. September das Deutsche Reich als der neue und eigentliche Feind aller anti- und nichtfaschistischen Kräfte Italiens, während die spätfaschistische »Repubblica Sociale Italiana« gewiss noch erhebliches Unheil anzurichten vermochte, letztlich aber im Schatten der nationalsozialistischen Besatzungsorgane agierte und deren Existenz kaum zu überleben imstande sein würde. Es entwickelte sich landesweit eine multiple, unübersichtliche Konfliktlage, in der alliierte gegen deutsche Armeen um den Besitz Italiens kämpften, deutsche Besatzungstruppen und Verfolgungsorgane im Vorgehen gegen Aufständische, Partisanen und regionale Befreiungskomitees mitunter mit brutalsten Mitteln ihre Ziele verfolgten, und linke und republikanische Freiheitskämpfer in kaum weniger brutal ausgetragenen bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen mit radikalfaschistischen Milizen um die Zukunft Italiens rangen, während in dem Gebiet unter alliierter Militärherrschaft erste politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Weichenstellungen für diese Zukunft im Wettbewerb wieder erstehender pluralistischer Parteien erfolgten. Für viele Italiener brachten die Monate zwischen Sommer 1943 und Frühjahr 1945 neue Hoffnungen und erneute Enttäuschungen mit sich, für Millionen von ihnen noch einmal extremes Leid und Entbehrungen. Die Soldaten des sich auflösenden italienischen Heeres desertierten, verschwanden per Osmose in der Gesellschaft, versteckten sich oder suchten Schutz bei den alliierten Verbänden; von ihren ehemaligen deutschen Verbündeten drohte ihnen zu Tausenden kaltblütiger Mord und zu Hunderttausenden die Verschleppung als Militärinternierte ins Reich, um dort als Zwangsarbeiter unter üblen Bedingungen in Lagern untergebracht zu werden. Die Zivilbevölkerung, auch dort, wo sie nicht direkt in den verschiedenen Kampfzonen ansässig war und nicht Partei ergriff, litt unter Hunger und Desorganisation, Mangel an allem und der potentiellen Bedrohung durch Besatzungs- und Kampfverbände aller Art. Für politisch oder als Juden verfolgte Menschen erschien der 25. Juli 1943 zunächst als Lichtblick, bevor mit dem Hereinbrechen der deutschen Herrschaft die Situation für sie noch einmal nachhaltig gefährlich wurde, und zwar jetzt lebensgefährlich.

Diese kurze Phase italienischer Zeitgeschichte wird durch einige Selbstzeugnisse ganz unterschiedlicher Art beleuchtet, die im Berichtszeitraum[1] in deutscher Übersetzung von kleineren Verlagen publiziert wurden. Sie seien im Folgenden kurz annotiert und auf die Frage hin überprüft, inwiefern sie für die wissenschaftliche Forschung von Relevanz sind. Norman Lewis (1908–2003), der nach dem Krieg als Roman- und Reiseschriftsteller bekannt werden sollte, betrat mit seiner Einheit just am 8. September 1943 als Unteroffizier des »Field Security Service«, eines militärischen Nachrichtendienstes der britischen Armee, im Rahmen der alliierten Landung bei Paestum italienischen Boden und versah daraufhin gut ein Jahr lang seinen Dienst als Besatzungssoldat in der Stadt Neapel und ihrem Umland. Seine als Tagebuch deklarierten Aufzeichnungen bieten offenkundig eine nachträgliche, literarisch sorgfältig aufbereitete Darstellung seiner dortigen Erlebnisse und Beobachtungen. Sie liegen in einer deutschsprachigen Neuausgabe vor. Lewis schildert den Übergang von direkten Kriegshandlungen zu einer Situation, in der sich durch das allmähliche Vorrücken der alliierten Front nach Norden das Ende der Kämpfe vor Ort abzeichnete, wenngleich Neapel weiterhin zum Ziel schwerer deutscher Bombenangriffe wurde, deren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung der Verfasser ebenso drastisch schildert und als völlig sinnlos verurteilt wie die ständigen verheerenden US-amerikanischen Bombardements selbst kleinerer italienischer Orte, die häufig keinerlei militärischen Nutzen erbrachten. Von Bedeutung im Hinblick auf die interalliierte Zusammenarbeit in Italien erscheinen Lewis’ Hinweise auf ein vielfach verständnisloses Nebeneinander britischer, US-amerikanischer und kanadischer Kampf- und Besatzungseinheiten und auf gegenseitige Ressentiments, auch auf Kriegsverbrechen und Vergewaltigungen im besetzten Hinterland (bemerkenswert ist auch hier der Hinweis auf das einschlägige Verhalten französischer Kolonialtruppen aus Nordafrika auf S. 165f.). Den Hauptinhalt des Buches bilden die Zustände im soeben vom Faschismus befreiten Kampanien: Der grassierende Hunger, der offenkundig bereits in den letzten zwei Jahren der faschistischen Herrschaft zum Hauptübel für die Bevölkerung geworden war und der auch in den ersten Monaten der alliierten Besetzung nicht wirksam bekämpft werden konnte, der vollständige Mangel an Arbeitsmöglichkeiten und die nicht zuletzt daraus resultierende weitverbreitete Prostitution, der Schwarzmarkt, auf dem vor allem aus den reichen Beständen der Besatzungsmächte alles zu haben war, die Korruption, in die wiederum auch Instanzen der US-amerikanischen Militärregierung bis in hohe Ränge verwickelt waren, die auch für die Re-Installation von mafiösen Strukturen im Umland von Neapel verantwortlich zeichneten – Italo-Amerikaner und Remigranten spielten dabei ebenso eine Rolle wie unter dem Faschismus aus dem Verkehr gezogene und nun entlassene ehemalige Strafgefangene –, die für Außenstehende letztlich undurchschaubar und unverständlich bleibende Gemengelage von Camorra, vagabundierenden Verbrecherbanden, korrupten Verwaltungen und Polizeiorganen, letztlich auch unfähiger und selbst nicht von Korruption unberührter Militärjustiz. Norman Lewis hält die alliierte Militärregierung in Kampanien schließlich für vollkommen korrupt und im Grunde gescheitert angesichts einer Gesellschaft, die Lewis mit einem afrikanischen Stammessystem vergleicht (der Verfasser präsentiert sich nicht frei von biologistischen und tendenziell rassistischen Ressentiments; er beschreibt gerne »wieselgesichtige« oder »hyänengesichtige« Menschen oder solche mit einem »schrumpeligen kleinen Affengesicht« (S. 111, 153, 112) und argumentiert mitunter in einer Weise, die der heutige Leser nicht für politisch korrekt halten wird). Es entsteht das Bild einer archaischen Gesellschaft, die sich durch äußere Einflüsse kaum verändern lässt, ähnlich wie in Carlo Levis autobiografisch fundiertem Roman »Cristo si è fermato a Eboli« (Christus kam nur bis Eboli). Wenn ein authentisches Tagebuch von Norman Lewis als Grundlage seiner Darstellung existiert, dann würde eine wissenschaftliche Edition nützlich sein – in der vorliegenden Form ist sein Buch als Quelle für die zeitgeschichtliche Forschung nur sehr bedingt brauchbar, indem es nachträglich reflektierte Impressionen liefert.

Das gilt erst recht für die autobiografische Darstellung von Luciana Castellina (geb. 1929) über ihre Jugend zwischen bürgerlichen und faschistischen Erziehungseinflüssen und einer anfänglich ziellosen, dann immer konsequenter verlaufenden Hinwendung zum Parteikommunismus in den Jahren von 1943 bis 1947. Die Idee zu dem Buch kam der Verfasserin, die inzwischen eine lange Karriere als kommunistische Politikerin und Journalistin hinter sich hatte, im Alter von gut 80 Jahren, als sie das Tagebuch wiederfand, das sie vom 26. Juli 1943 bis zu ihrem Eintritt in den »Partito Comunista Italiano« (PCI) im Herbst 1947 geführt hatte. Daraus werden verstreute Zitate wiedergegeben, darüber hinaus auch unsystematisch einige längere Passagen: Aus ihnen wird ersichtlich, dass eine Gesamtpublikation dieser pubertären Aufzeichnungen keinen Gewinn für die Zeitgeschichtsforschung bedeuten würde, da sie weitgehend inhaltsleer sind und im wesentlichen »nur Informationen aus zweiter Hand, von älteren Schulkameraden« wiedergeben (S. 105). Das weiß Castellina, und deshalb besteht ihr Buch ersatzweise aus weitschweifigen und geschwätzigen Reminiszenzen an ihre Familiengeschichte, ihre lebenslangen Bekanntschaften und Freundschaften – sie lernte anscheinend ausschließlich Menschen kennen, die später Berühmtheit erlangen sollten oder zumindest sehr wichtig waren – und ihre einstigen Träume und Lernprozesse: Es handelt sich um nichts als eine mäßig interessante coming-of-age-Geschichte. Immerhin bekommt der Leser Hinweise auf die durchaus erträgliche Situation einer bourgeoisen Familie mit teilweise jüdischem Stammbaum unter den faschistischen Rassengesetzen mit deren zahllosen Ausnahmen und Schlupflöchern – bis die Situation in Norditalien und in Rom sich mit der deutschen Herrschaft drastisch veränderte – und auf Triest, den Herkunftsort des jüdischen Familienzweigs, über dessen Zuordnung im Staatenkonflikt nach 1945 im Zwiespalt von nationalitalienischen und kommunistisch-internationalistischen Sichtweisen reflektiert wird. Im Übrigen enthält die Darstellung zahllose Zeugnisse des »naiven Enthusiasmus« (S. 137) einer Frau, die auch 2011 noch »eine schmerzhafte Sehnsucht« nach dem längst untergegangenen PCI verspürte (S. 192). Die in den Text verwobenen Fragmente ihres Tagebuchs stellen durchgehend ihre Einsicht »Ich weiß nichts und bin nichts« (S. 148) unter Beweis, und am Ende hielt Luciana Castellina »das Schreiben eines Tagebuchs [...] für eine allzu kindische Tätigkeit« (S. 174): In ihrem eigenen Fall hatte sie recht.

Auch der Ende 1927 geborene Giacomo Notari brachte mit gut 80 Jahren seine kurzgefassten Erinnerungen zu Papier. Um den versprochenen »Bericht aus der Resistenza« handelt es sich nur zu geringen Teilen. Das erste Drittel des Büchleins erscheint unter historischen Gesichtspunkten am interessantesten; es beschreibt anschaulich das Leben in einem emilianischen Gebirgsdorf von rund 300 Einwohnern in den 1930er-Jahren. Merkwürdigerweise scheinen dort keine Faschisten aktiv gewesen zu sein, und von Faschismus ist kaum etwas zu erfahren. Notaris Ausführungen zu seiner Tätigkeit als 17-Jähriger im Partisanenkrieg umfassen dagegen kaum 15 Seiten und gipfeln in seiner Gefangennahme eines deutschen Soldaten. Schließlich schildert er sein Berufsleben als parteikommunistischer Politiker in apenninischen Berggemeinden, in der Provinzregierung von Reggio Emilia und als Funktionär des regionalen Partisanenverbands bis über die Jahrtausendwende hinweg. Für die Zeit zwischen 1943 und 1945 gewinnt man einige Impressionen zu umherstreifenden italienischen und deutschen Soldaten sowie zu den Freiräumen, die sich in dem formal zur Republik von Salò gehörenden Gebiet zwischen Poebene und Apennin für Menschen auftaten, die sich dem Zugriff von sozialfaschistischen Behörden und deutschen Besatzungsorganen entzogen. Notari erinnert in diesem Zusammenhang überall solidarisches Verhalten seiner Landsleute. Der Verfasser berichtet darüber hinaus, er habe sich im Frühjahr 1944 im Alter von 16 Jahren nach Reggio aufgemacht, sich dort bei der Kommandantur der faschistischen Miliz gemeldet und darin Aufnahme gefunden – obwohl ihm ein Mindestalter von 20 Jahren bedeutet wurde – mit dem Ziel, im Sinne der Partisanen »all die jungen Männer, die gegen ihren Willen eingezogen worden waren, zu überzeugen, dass sie desertierten« (S. 73f.), und tatsächlich sei ihm dort das »Vertrauen [...] von vielen Dutzend anderen Soldaten entgegengebracht« worden, »die ich ganz offen aufforderte zu desertieren« (S. 81). Nach der Verlegung seiner Einheit nach Como, wo offenbar ein Kampfeinsatz bevorstand, sei Notari desertiert und habe sich mit einem Kameraden wieder in seine Heimatprovinz durchgeschlagen, um dort Anschluss an die Partisanen zu suchen. Mag auch das Gerüst stimmen: Ein kritischer Interpret solcher Zeitzeugenberichte wird bezüglich der Motivation von Notaris Eintritt in die Miliz skeptisch bleiben.

Notari will im Oktober 1943 auch Aldo Cervi begegnet sein (S. 67), der aufgrund seiner Hinrichtung infolge eines Urteils des sozialrepublikanischen Sondergerichts Reggio Emilia Ende Dezember 1943 zu einem Mythos der italienischen Resistenza-Erinnerungskultur heranwuchs. Seine sechs Brüder wurden mit ihm erschossen. Das Schicksal der Cervis generierte diverse Veröffentlichungen bis hin zu einem Spielfilm. Mit Aldo Cervis Lebens- und Familiengeschichte setzt sich sein im August 1943 geborener Sohn Adelmo in einem ungewöhnlichen Buch auseinander, das mit Hilfe eines Ko-Autors entstand und in einer Erstpublikation in deutscher Übersetzung vorliegt. Das von Giovanni Zucca zusammengestellte Buch lässt sich keiner literarischen Gattung zuordnen: Es kombiniert Erzählungen und Erinnerungen Dritter mit Dokumenten und Forschungsergebnissen und fügt reichlich fiktive Dialoge und erfundene Gegebenheiten hinzu. Von der Geschichtswissenschaft bewegt es sich weit entfernt, wenngleich die Autoren immer wieder beachtenswerte Reflexionen über das Verhältnis von Faktizität und Fiktion einfügen.

Auch die Erinnerungen eines weiteren hochbetagten ehemaligen Partisanen an seine Zeit in der Resistenza sind von einer ausführlichen Darstellung seiner Kindheit und Jugend in Turin und seiner beruflichen Tätigkeit als Unternehmer sowie seines Einsatzes für die Vergangenheitsbewältigung nach 1945 eingerahmt. Enrico Loewenthal kam als Sohn jüdischer Eltern – sein Vater war aus Deutschland eingewandert, gründete in Turin ein erfolgreiches Handelsunternehmen und heiratete eine Italienerin – 1926 zur Welt und bekam seit 1938 die Auswirkungen der antijüdischen Gesetzgebung der italienischen Regierung zu spüren. Voller Bitterkeit schildert er seinen zeitweiligen Wechsel auf eine jüdische Schule, die Abwendung vieler Freunde von der Familie, geschäftliche Einschränkungen, die Wiederaberkennung der von seinem Vater erworbenen italienischen Staatsbürgerschaft, die für jüdische Italiener gekürzten Lebensmittelrationen. Gleichwohl gibt auch seine Darstellung der Jahre 1938 bis 1943 zu erkennen, dass er und seine italienischen Verwandten als Angehörige einer ausgesprochen wohlhabenden und gut vernetzten Familie unter den faschistischen Rassengesetzen trotz zahlreicher diskriminierender Maßnahmen in insgesamt erträglichen Zuständen lebten: Selbst sein Onkel Rudolf, der als »gefährliches Element« zeitweise im Lager Ferramonti interniert war, das sich »dank der Toleranz seiner Direktoren und des Anstand[s] seiner Bewohner bald zu einer richtigen kleinen Stadt mit Bibliothek, Synagoge, Schule und Friedhof« entwickelt habe, und der dann mit seiner Familie in »ein Bergdorf in der Provinz Parma« verbannt wurde, beschwerte sich dort allenfalls über »ein ziemlich unbefriedigendes Leben« (S. 41f.). Noch 1943 verbrachten die Loewenthals ihre Ferien unbehelligt in der Sommerfrische ihres Landhauses in den Hügeln bei Turin, wo sie nach kurzfristigen Hoffnungen infolge des politischen Umsturzes vom 25. Juli rasch erkannten, dass ihnen mit der Übernahme des Landes durch deutsche Besatzungsorgane Gefahren von ganz anderer Qualität drohten. Sie erhielten von einem Mitarbeiter der Stadtverwaltung neue Papiere, die sie als »Arier« auswiesen, und zogen sich in ein abgelegenes Bergtal zurück. Enrico wollte gegen Deutsche und Faschisten kämpfen und schloss sich im Alter von 17 Jahren den Partisanen an, einer von nicht wenigen Partisanen jüdischer Religion oder Abstammung. Loewenthal legt eine lebendige Schilderung seiner Aktionen im italienisch-französischen Grenzgebiet Piemonts und im Aostatal vor, eines zumeist auf die Defensive beschränkten Abwehrkampfes gegen wiederholte faschistisch-deutsche Offensiven, einer zunehmend gedeihlichen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit französischen und US-amerikanischen Militärs, von Entbehrungen, Hunger und Erschöpfung während des Einsatzes im Hochgebirge. Loewenthals Erinnerungen sind insofern untypisch, als sie nicht die verbreitete und oft stereotype kommunistische Sichtweise widerspiegeln: Er brach aufgrund der in den kommunistisch geführten »Garibaldi«-Einheiten angewandten Methoden im Umgang mit »Abweichlern« mit ihnen und wechselte zu der radikal-demokratischen Gruppierung der Aktionspartei, des »Partito d’Azione«, der im Geiste der Widerstandsbewegung »Giustizia e Libertà« agierte, stieg als 18-Jähriger zum Kommandanten zweier rund 20 Mann starker Kampfgruppen auf und sollte sein Leben lang ein streitbarer Antikommunist bleiben. Die Frage der Authentizität und damit der Brauchbarkeit solcher Erinnerungsschriften als historische Quelle stellt sich naturgemäß auch hier, zumal der Verfasser behauptet, er »konnte ein ganzes Batallion [sic] deutscher Soldaten überreden, sich zu ergeben, und führte sie dann über einen Pass in die Schweiz« (S. 12). Angesichts dieser abenteuerlichen Geschichte, der zufolge diese »Vielzahl« von Wehrmachtsoldaten Anfang April 1945 auf einen Bluff hin einfach ihre Waffen mitsamt schwerem Gerät einer Handvoll Partisanen ausgeliefert hätte (S. 123–132), würde ein zeitgenössischer, authentischer Beleg oder wenigstens die Darstellung weiterer Zeugen nützlich sein.

Wer sich mit dem Nutzwert von »Erinnerungen« schwertut, die im Abstand von sechs oder sieben Jahrzehnten niedergeschrieben wurden, der wird auch mit dem Band des italienischen Journalisten Paolo Emilio Petrillo über »die ungelösten Verflechtungen zwischen Italien und Deutschland« wenig anfangen können. Petrillo geht von der These aus, »für die Italiener« bedeute »der 8. September 1943 ein schmerzhaftes und schwieriges Ereignis, das vielleicht noch nicht völlig geklärt, aber zumindest lange diskutiert worden ist«, während dagegen »sowohl in der deutschen Erinnerungsliteratur als auch in historischen Abhandlungen der 8. September 1943 kaum Beachtung findet«; »das historische Ereignis 8. September 1943« habe »aus dem Blickwinkel der Deutschen bis heute keine historiographische Beachtung gefunden« (S. 22f. und 33). Das ist schon deshalb eine kühne Aussage, weil Petrillo einschlägige Arbeiten von Rudolf Lill, Jens Petersen, Gerhard Schreiber, Josef Schröder, Michael Wedekind oder Hans Woller nicht kennt. Es offenbart darüber hinaus ein gewisses Maß an Obsession, ein anhaltendes Leiden Petrillos und anderer italienischer Intellektueller angesichts vermeintlicher, von deutscher Seite vorgebrachter Vorwürfe einer mangelnden Einsatzbereitschaft und Leistungskraft der italienischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg, insbesondere eines italienischen »Verrats« des deutschen Bundesgenossen an jenem 8. September, auch scheinbarer deutscher Überlegenheitsgefühle und Überheblichkeitsattitüden gegenüber Italienern im allgemeinen. Petrillo fragt sich jedenfalls, was dieses Ereignis des italienischen Waffenstillstands mit den Westalliierten und des damit verbundenen Frontwechsels »für die Deutschen« darstelle: »Welchen Einfluss, auch emotional, hatte es auf die Politik der deutschen Besatzer, die bis zum April 1945 in Italien waren? Und in welchem Maß prägen die Urteile, die sich die Deutschen damals bildeten, weiterhin das deutsche Italienbild?« Es könne nützlich sein, »über den 8. September auch etwas aus der Perspektive der Deutschen zu erzählen, und zwar, weil eine Analyse bestimmter historischer Vorgänge vielleicht helfen könnte, das gegenseitige Unverständnis zu überwinden, das immer noch häufig zwischen Italien und Deutschland« bestehe (S. 22 und 122). Dieses Anliegen mag man ungeachtet der Gemeinplätze und Unschärfen, die Petrillos Ansatz kennzeichnen, für sinnvoll halten oder nicht; seine Herangehensweise erweist sich jedoch als unterkomplex und führt zu keinem Ergebnis. Auf rund 150 Seiten erstellt der Verfasser einen wenig inspirierten Abriss einiger Aspekte deutsch-italienischer Beziehungen von den 1920er-Jahren bis 1943, dessen Irrelevanz er selbst präzise auf den Punkt bringt: »Da es sich um sehr bekannte Ereignisse handelt, über die es bereits eine reiche Literatur gibt, ist die Darstellung dieser Geschichte hier bewusst knapp gehalten und soll hauptsächlich helfen, die Berichte und Kommentare der deutschen Zeitgenossen für diesen fraglichen Zeitraum einzuordnen« (S. 51). In diese »Darstellung« werden zahlreiche mitunter lange Zitate aus den einschlägig bekannten deutschen Quellenpublikationen und der Memoirenliteratur eingestreut – das Goebbels-Tagebuch, Protokolle von Hitlers Lagebesprechungen, die Lageberichte des Sicherheitsdienstes des Reichsführers-SS, Zeitungsartikel von Hermann Göring und Reden Adolf Hitlers, Memoiren von Erwin Rommel und Fridolin von Senger und Etterlin. So bekommt ein Journalist rasch die Seiten voll. Die andere Hälfte des Buches füllen Niederschriften von Gesprächen Petrillos mit an die 90 Jahre alten ehemaligen deutschen Soldaten, die sich zum Teil 1943 nicht einmal in Italien aufhielten. Diese wörtlich wiedergegebenen, in der Gesprächsführung ziellosen Interviews erweisen sich als vollständig sinnfrei, zumal der Verfasser sie einfach nur publiziert, ohne auch nur die geringste Anstrengung zu ihrer Einordnung oder Interpretation zu unternehmen. Einen Versuch, die von ihm aufgeworfenen Fragen zu beantworten, sucht der Leser vergeblich. Dieses völlig nichtssagende Buch wird die zeitgeschichtliche Forschung nicht voranbringen.

Dem 70. Jahrestag der Besetzung Italiens durch die deutsche Wehrmacht verdankt auch ein 2013 erschienener Band des Deutschen Historischen Museums in Berlin seine Entstehung: Er war »ursprünglich als Begleitveröffentlichung zu einer umfassenden Ausstellung zum deutsch-italienischen Verhältnis seit 1943 vorgesehen« – ein solches »gleichermaßen wichtiges wie ehrgeiziges Projektvorhaben« (S. 8) wurde jedoch aus nicht genannten Gründen nie realisiert. Es handelt sich also um einen Ausstellungskatalog ohne dazugehörige Ausstellung. Geboten werden Texte in Häppchenform im Umfang von einer bis sieben Seiten von zumeist bekannten Autoren oder einschlägig ausgewiesenen Expertinnen und Experten zu Aspekten der deutsch-italienischen Geschichte vom Beginn der faschistisch-nationalsozialistischen Kooperation bis zum Mauerfall. Darin geht es um die deutsche Besatzungspolitik in Italien und den Partisanenkrieg, Militärinternierte und Deportierte, Wirtschaftsbeziehungen, die Südtirol-Frage, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi sowie Walter Ulbricht und Palmiro Togliatti – die DDR wird stets mitbedacht –, das Gedenken an deutsche Massaker in Italien und an die dort gefallenen Wehrmachtsoldaten. Vor allem aber werden zahllose Begegnungen, Verflechtungen und Spiegelungen der beiden Länder im kulturellen Bereich gewürdigt: Literatur und Kunst, Kino und Theater, Musik und Architektur, die gegenseitige Perzeption von Künstlern, Schriftstellern und Philosophen sowie Orte des kulturellen Austauschs werden in kaleidoskopartiger Vielfalt mittels zeitgenössischer und darstellender Texte abgehandelt. Das alles ist reichlich illustriert durch Fotografien, Zeichnungen und Abbildungen von Kunstwerken, und mit Zeittafeln und Literaturhinweisen versehen. Es handelt sich um ein Buch zum anregenden Durchblättern, von dem für die zeitgeschichtliche Forschung keine neuen Impulse ausgehen werden.

Rainer Behring, Köln

[1] Diese Sammelbesprechung ergänzt einen zweiteiligen Forschungsbericht des Autors, der im gedruckten Band des Archivs für Sozialgeschichte veröffentlicht wurde: Rainer Behring, Italien im Spiegel der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung. Ein Literaturbericht (2013–2018). Erster Teil: Erster Weltkrieg, Kontroversen um den italienischen Faschismus und um Benito Mussolini, in: AfS 59, 2019, S. 369–408; Zweiter Teil: Spezialstudien zur faschistischen Herrschaft und zur Italienischen Republik seit 1946, in: AfS 61, 2021, S. 473–535.

 

Matthias Bauer, Die transnationale Zusammenarbeit sozialistischer Parteien in der Zwischenkriegszeit. Eine Analyse der außenpolitischen Kooperations- und Vernetzungsprozesse am Beispiel von SPD, SFIO und Labour Party

Droste Verlag | Düsseldorf 2018 | 457 Seiten, Broschur | 49,80 € | ISBN 978-3-7700-5339-1

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Im Mai 1923 schlossen sich in Hamburg die beiden »übriggebliebenen« Flügel der bei Kriegsausbruch im August 1914 zerbrochenen Zweiten Internationale zur Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI) zusammen. Sie verstanden sich im Unterschied zur nun in der Kommunistischen Internationale organisierten revolutionären Linken weiterhin als (rechte oder linke) Sozialdemokraten. Bei den Vereinigungsdiskussionen war es nicht zuletzt um ein grundlegendes Prinzip gegangen, dessen Aufgabe als Ursache ihres Zusammenbruchs benannt wurde: Der Primat der Internationale, der durch die national bestimmten Entscheidungen der sozialdemokratischen Parteien am Vorabend des Weltkriegs unterlaufen worden war. Dies habe das Versagen bei Kriegsausbruch ermöglicht. Nun bestand der artikulierte Konsens darin, eine Wiederholung zu verhindern, auch wenn das so nachdrücklich vor allem vom linken Flügel, von den Wortführern der ehemaligen Wiener Arbeitsgemeinschaft wie Friedrich Adler, formuliert wurde.

Doch die SAI, die sich nun (zumindest bis zum Einschnitt 1933) alle drei Jahre in breit beschickten und mit großer Öffentlichkeitswirkung zusammentretenden Kongressen und ansonsten in ihren regelmäßig tagenden Führungsgremien ausdrückte, war das eine. Zwischen diesen Strukturen der Internationale einerseits und dem Wirken der nationalen Mitgliedsparteien andererseits lag das oftmals viel entscheidendere transnationale »Zwischengeschoss« der Kontakte von Partei zu Partei, bei denen insbesondere die »Schwergewichte« – SPD, SFIO und Labour Party – ihren Einfluss außerhalb oder jenseits der formellen Entscheidungsebene der SAI geltend machten. Damit war sie doch faktisch bei der Beschlussfassung »nachgelagert«.

Matthias Brandt hat in seiner Augsburger Dissertation genau diese transnationale Zusammenarbeit der drei genannten Parteien für die Zwischenkriegszeit mit Blick auf diese »Sandwichstellung« zwischen »oben« und »unten« untersucht. Sein Ausgangspunkt sind jedoch zunächst eine Skizzierung des Zusammenbruchs der Internationale im Weltkrieg als Ergebnis der Konfrontation der verschiedenen Parteien und dann die verschiedenen Bemühungen ab 1919 um ihre Wiederbelebung bis hin zur Fusion der beiden sich zunächst durchaus scharf gegenüberstehenden internationalen sozialdemokratischen Nachkriegszusammenschlüsse im Jahre 1923.

Die Existenz der SAI, ihre Diskussionen und Entscheidungsprozesse, ihr internationales Wirken liefern dann den Hintergrund, vor dem die spezifische Entwicklung des »Parteiendreiecks« im Spannungsfeld des jeweiligen nationalen politischen Umfelds in allen Einzelheiten entfaltet wird. Dabei stehen im Zentrum die außenpolitischen Probleme durch das in Versailles geschaffene internationale Systems, genauer: die Bemühungen zu dessen Weiterentwicklung durch neue Maßnahmen zur Friedenssicherung. Dies betraf vor allem die Abrüstungsfrage, aber auch die Vereinbarung eines Kriegsächtungspakts und nicht zuletzt das Reparationsproblem.

Dies ging nicht ohne Widersprüche zwischen den einzelnen Parteien und oft auch unter Beiseitedrängen, manchmal sogar unter Ausklammerung der Entscheidungsebene der Internationale vor sich. Exemplarisch zeigte sich das beim Zustandekommen des Locarno-Paktes. Bemühte sich die Labour Party zunächst darum, ein Vertragswerk zur Friedenserhaltung in enger Ankoppelung an den Völkerbund zu schaffen, tendierten SPD und französische Sozialisten dazu, den diplomatischen Bemühungen zwischen den Regierungen Deutschlands und Frankreichs zu folgen, um ein solches aus diesen bilateralen Kontakten zu entwickeln. Das folgte aus den besonderen Bemühungen der SPD um eine vorzeitige Beendigung der Rheinlandbesetzung, wozu der Schlüssel in Frankreich lag.

All das wird minutiös anhand der zahlreichen Kontakte der Parteiführer untereinander wie der Diskussionen in der SAI, ihren Kongressen und Leitungsorganen, nachgezeichnet. Im Großen und Ganzen der Chronologie folgend, mündet die Darstellung in den Endkampf der Weimarer Republik bis hin zur Machtübernahme Hitlers als Herausforderung für die internationale Sozialdemokratie.

Ein abschließender dritter Teil zieht dann gleichsam die Summe aus diesem Hauptteil und entwickelt systematisch die Transferprozesse. Sie drückten sich in den Akteuren, deren persönlicher Austausch oftmals für die Entscheidungsfindungen vorherbestimmend waren (hier werden dazu auch einige vorgestellt), und durch institutionalisierte Beziehungen zwischen den Parteien aus (etwa wechselseitige Parteitagsbesuche oder Zusammenarbeit in der Presse). Dabei waren »Graswurzelkontakte«, wie er sie nennt, beispielsweise Besuche auf Schulungen und Ferienlager, zwar für die Atmosphäre wichtig, aber letztlich nicht für die Beschlussfindung bestimmend. Es zeigt sich, dass manchmal auch nur Fragen der Praktikabilität (Sprachenkenntnisse!) Auswirkungen hatten. Letztlich geht es darum, welche Formen der Kooperation ihre Bedeutung hatten und inwieweit sie dem verkündeten Anspruch auf (proletarischen) Internationalismus entsprachen.

Es erweist sich, dass die Ebene der von ihm so genannten nationalen »Parteieliten«, damit die Formulierung ihrer Interessen aus den jeweiligen staatlichen Zusammenhängen heraus, doch die entscheidende war und damit die Internationale eben nur eine nachgeordnete, ja nachvollziehende Instanz war. Letztlich verwundert das auch nicht. Es hatte sich ja auch durch den Ersten Weltkrieg und die Entscheidung zum jeweiligen »Burgfrieden« ein deutlicher Bruch gegenüber den vor 1914 formulierten Ansprüchen ergeben.

Die Arbeit orientiert sich ganz an den Feldern der klassischen internationalen Politik, was angesichts der zentralen Bedeutung für die Tätigkeit sowohl der Parteien wie der Internationale nun auch nicht verwundert und sicher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Mitgliedschaft gestanden haben dürfte. Ergänzend kann man aber auch darauf hinweisen, dass sich ein solches Hin- und Herschwanken zwischen dem Wirken der nationalen Führungen und der Beschlusslage der Internationale ebenfalls in der zentralen sozialpolitischen Frage jener Jahre ergab: die gesetzliche Verankerung des Achtstundentags durch eine Ratifizierung des 1919 unter weltweitem sozialdemokratischen Beifall in Washington auf der ersten Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation angenommenen Übereinkommens zu seiner Einführung. Was folgte, waren zahlreiche Beschlüsse der SAI und ein Herumstolpern der Parteien zwischen zahlreichen Vorwänden, die Ratifizierung doch nicht durchzuführen.[1]

Brandt hat mit seiner materialreichen und sehr detaillierten Arbeit, was sich auch in einem beeindruckenden Quellen- und Literaturverzeichnis widerspiegelt, aufgezeigt, wie sehr die Entscheidung von 1914 zur nationalen Integration letztlich weiterhin die Politik der Parteien bestimmte. Die Beschwörung der Internationale war damit nur etwas für eine »Schön-Wetter-Politik«, die ihre propagandistische Bedeutung hatte, sobald man die Entscheidungen auf beiden Ebenen mehr oder weniger kongruent gemacht oder Divergenzen leicht überspielt werden konnten. Die Nagelprobe brachte dann das Jahr 1933. Von nun an blockierte sich die SAI zunehmend selbst und bekam angesichts der zunehmenden Konfrontationen in den Führungsgremien nicht einmal mehr eine größere Tagung zustande. Denn eine solche hätte womöglich zu ihrem Auseinanderplatzen geführt.

Abschließend sei vermerkt, dass der Band über ein Personenregister verfügt, das ja leider oftmals bei Druckfassungen von Dissertationen vergessen wird. Doch auch wenn die Arbeit klar gegliedert ist, ist es ein nützliches Hilfsmittel angesichts der Fülle des Stoffs.

Reiner Tosstorff, Frankfurt am Main

[1] Vgl. dazu Stephan Grabherr, Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen von 1919. Versuch einer internationalen Regelung der Arbeitszeit in Europa, Berlin 1992; Lex Heerma van Voss, »The International Federation of Trade Unions and the Attempt to Maintain the Eight-hour Working Day (1919–1929)«, in: Frits van Holthoon/Marcel van der Linden (Hrsg.), Internationalism in the Labour Movement, 1830–1940. Leiden/New York u.a. 1988, Bd. 2. S. 518–542.

Jörn-Michael Goll, Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und das NS-Erbe

Beltz Juventa | Weinheim/Basel 2021 | 420 Seiten, gebunden | 48,00 € | ISBN 978-3-7799-6485-8

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Die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen der Gewerkschaften und ihr Umgang mit der NS-Vergangenheit sind erst ansatzweise erforscht.[1] Der Leipziger Historiker Jörn-Michael Goll, der seine Schwerpunkte in der NS-Geschichte und der Einheits- und Transformationsgeschichte hat, richtet vor diesem Hintergrund sein Augenmerk auf die geschichtspolitischen Debatten der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Angeregt wurde diese Forschung unter anderem durch Auseinandersetzungen zur Bewertung und Rolle des früheren GEW-Vorsitzenden Max Traeger, an dessen Beispiel die Verstrickungen der Lehrerschaft in das NS-System kontrovers diskutiert wurden.[2] Die vorliegende Studie, die von der GEW finanziert wurde, zielt darauf, Grundlagen für die weitere Aufarbeitung der GEW-Geschichte zu schaffen und Forschungslücken zu schließen. Der Autor fragt, »wo und wie genau die Zeit des Nationalsozialismus das Wesen der GEW mitgeprägt und mitbestimmt hat.« (S. 10) Daneben möchte er die finanziellen, ideellen, organisatorischen, personellen und strukturellen Zusammenhänge zwischen der Gründungsgeschichte der GEW und der NS-Zeit aufzeigen. Um das NS-Erbe zu rekonstruieren, wird ein Fokus auf die Darstellung von Strukturen und Zusammenhänge sowie Handlungsmotiven und -spielräumen gelegt. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Weimarer Republik bis in die 1970er-Jahre.

Das Hauptkapitel beschäftigt sich mit der Lehrerschaft und den Lehrerorganisationen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Zunächst werden neben der beruflichen Perspektive die Frage der Positionierung der Lehrerschaft zur Weimarer Republik und zum »aufkommenden Nationalsozialismus« (S. 30) erörtert. Während die demokratische Anfangsphase für die Lehrerschaft sowohl Verbesserungen als auch Abstriche, etwa im Einkommensbereich, brachte, verschlechterten sich ihre allgemeinen Lebens- und Arbeitsbedingungen im Rahmen der Wirtschafts- und Staatskrise fortlaufend. Den ausdifferenzierten Lehrervereinen, die kaum politischen Einfluss besaßen, gelang es nicht, die Situation der Lehrkräfte zu verbessern. Obwohl der Großteil von ihnen dem demokratischen Staat anfänglich loyal gegenüberstand, führte die Enttäuschung über Lehrerorganisationen und Staat zur Resignation, Entpolitisierung und in manchen Fällen zu ansteigender Demokratieskepsis. Für die enttäuschten Lehrkräfte gewann die NSDAP und der 1929 gegründete Nationalsozialistische Lehrerbund (NSLB) trotz des Fehlens eines konkreten pädagogischen Konzepts zunehmend an Attraktivität. Während die NSDAP als Sprachrohr ansprechend auf die Lehrkräfte wirkte, gewann der NSLB durch Agitation, Propaganda und Symbolpolitik sowie durch seine Kritik an anderen Lehrerorganisationen wie dem Deutschen Lehrerverein (DLV) kontinuierlich an Mitgliedern. Am Beispiel Oldenburgs, wo die NSDAP ab 1932 regierte und durch ihre Politik zur Verschlechterung der Situation der Lehrkräfte beitrug, stellt Goll jedoch keine »außerordentlich große Anfälligkeit« (S. 68) der Lehrkräfte für den Nationalsozialismus fest. Ähnliches traf auch für andere Gebiete zu. Nach einem Überblick über die »Gleichschaltung« der Lehrerorganisationen und der Lehrerschaft wird der Beitritt in den NSLB, die NSDAP oder andere NS-Organisationen bewertet. Hier argumentiert Goll, dass eine Mitgliedschaft in diesen NS-Organisationen nicht zwangsläufig ein Ausdruck der Affinität der Lehrerschaft zum Nationalsozialismus bedeuten musste. Für eine abschließende Bewertung sei vielmehr die »individuelle Motivlage« (S. 105) von Bedeutung. So sahen viele Lehrkräfte, die unter Anpassungsdruck standen, den NSLB als »notwendiges Übel« (S. 97) an. Auch opportunistische Motive konnten für eine Mitgliedschaft von Bedeutung sein. Bereits in Golls Übersicht zur NS-Schul- und NS-Bildungspolitik und die Auswirkungen auf die Lehrerschaft wird deutlich, dass ein Großteil der Lehrkräfte die Entwicklungen im Nationalsozialismus gegen Ende der NS-Zeit als enttäuschend und rückschrittlich wahrnahm. Anhand des Schulalltags analysiert Goll mithilfe von Zeitzeugenaussagen und anderen Quellen den Identifikationsgrad der Lehrerschaft mit dem NS-System sowie ihre Verweigerungs- und Anpassungsbereitschaft. Obwohl es unter den Lehrkräften, deren Schulalltag durch Angst und Ideologisierung geprägt war, viele überzeugte NS-Anhänger gab, verhielt sich die Lehrerschaft mehrheitlich dem NS-System gegenüber mit »weitgehende[r] Passivität« (S. 139). Je nach Nazifizierungsgrad konnten die Lehrkräfte den vorhandenen Handlungsspielraum im Schulalltag unterschiedlich nutzen. Im Krieg und am Ende der NS-Herrschaft, die für die Lehrkräfte die prägendsten Erfahrungen der NS-Zeit waren, machte sich neben Sorgen und Verunsicherungen selbst bei nationalsozialistisch gesinnten Lehrkräften Ernüchterung über die NS-Zeit breit. Goll schildert auch »Widerstandstätigkeit[en]« (S. 166) von Lehrkräften, wobei es sich aber um Einzelfälle handelte.

Das Kapitel zur Nachkriegszeit und zur Formierungsphase der 1948 gegründeten GEW beginnt mit der Bewertung der Entnazifizierungspraxis in den Westzonen und den daraus resultierenden Konsequenzen für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe. Die westdeutsche Gesellschaft empfand die Entnazifizierungspraxis aufgrund der formalen Belastungskriterien häufig als Unrecht. Daher kam es beim Umgang der Deutschen mit der NS-Vergangenheit zu einem »Pragmatismus« (S. 195), der für die Rehabilitation zahlreicher Beschuldigter beispielsweise durch die Menge an »Persilscheinen« wichtig war. Die alliierte Entnazifizierungspraxis, die je nach Zone unterschiedlich ablief, kann aufgrund der Wiedereingliederung einerseits als gescheitert gelten, trug aber andererseits dazu bei, den Nationalsozialismus strukturell zu zerschlagen. Auch ein erheblicher Teil der Lehrerschaft war aufgrund der zwingenden Teilnahme von Lehrkräften am Entnazifizierungsverfahren im Rahmen der Reorganisation des Schulwesens von der Entnazifizierung betroffen. Somit nahm auch die Lehrerschaft die Entnazifizierungspraxis zum Beispiel aufgrund finanzieller Verschlechterungen negativ auf. Allerdings wurden auch die Lehrkräfte fast vollständig von der Rehabilitation erfasst.

Bei der Untersuchung der Entstehungsumstände der GEW erörtert Goll, was die Interessenorganisation prägte und welche Haltung sie gegenüber ihren Mitgliedern und den politisch Verantwortlichen einnahm. Für den 1947 in der britischen Zone gegründeten Allgemeinen deutschen Lehrer- und Lehrerinnenverband (ADLLV) waren persönliche Kontinuitäten prägend. An der Gründung beteiligten sich Funktionäre ehemaliger Lehrerorganisation wie der bereits erwähnte Max Traeger, die in der späteren GEW wichtige Positionen einnehmen sollten. Bedeutsam waren nicht nur die Bemühungen des ehemaligen DLV-Geschäftsführers Fritz Thiele, sondern auch die Frage der Rückerstattung des Altvermögens, das durch den damaligen NSLB eingezogen worden war. Im Schriftverkehr bis zur Gründung des ADLLV wird deutlich, dass die NS-Vergangenheit für die späteren Gründungsväter kaum eine Rolle spielte, sondern lediglich als »negative Kontrastfolie« (S. 230) benutzt wurde. Statt einer Reflexion war der Blick auf die Zukunft gerichtet. Um Einfluss auf die Schulpolitik nehmen zu können, benötigte der ADLLV den Großteil der Lehrerschaft, sodass er sich seinen Mitgliedern gegenüber pragmatisch verhielt. Selbst ehemals überzeugte NS-Anhänger bzw. die »Belasteten und Verstrickten« (S. 233) sollten in die Organisation integriert werden. Daher setzten sich der ADLLV und die spätere GEW fast vorbehaltlos für die von den Entnazifizierungsmaßnahmen betroffene Lehrerschaft ein. Auf den ersten Vertreterversammlungen wurde die Mitwirkung der Lehrkräfte am Nationalsozialismus kaum thematisiert, es kam vielmehr zur Selbststilisierung des Großteils der Lehrerschaft zu Opfern der Diktatur und der Entnazifizierung. Am Beispiel der Rechtshilfe für Lehrkräfte durch den »Verband Badischer Lehrer und Lehrerinnen«, der später der GEW beitrat, wird deutlich, dass die Gründung einer Rechtsschutzabteilung auch zur Wiedereinstellung ehemaliger NS-Anhänger beitragen konnte. Es folgt eine Übersicht über den Restitutionsvorgang in der GEW.

Das anschließende Kapitel thematisiert den Umgang der GEW mit dem NS-Erbe in der Bundesrepublik bis in die 1970er-Jahre. Bei der Analyse der Mitgliederzeitschrift »Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung« (ADLZ) und weiterer Quellen wird deutlich, dass Schuld- und Verantwortungsfragen anfänglich unbedeutend waren. Wichtiger war vielmehr die Wiedergutmachung. Gegen Ende der 1950er-Jahre kam es in der GEW vermehrt zu Kontroversen über die NS-Vergangenheit. Dabei fand die Bezugnahme zwischen Schuldabwehr und Selbstkritik statt. Durch Kritik am Umgang anderer Institutionen mit der NS-Vergangenheit drückte die GEW zudem ihre demokratische Haltung aus. Mit Blick auf die defizitäre politische Jugendbildung wurde beispielsweise die Behandlung der NS-Zeit im Unterricht in der ADLZ diskutiert. Eine nachhaltige Diskussion über die Lehrerrolle in der NS-Zeit blieb jedoch aus. Die Schuld an den Defiziten sah die GEW nicht primär bei den Lehrkräften, sondern allen voran in den politischen Rahmenbedingungen. Der Einfluss der GEW auf die Bildungspolitik war in den 1950er-Jahren jedoch gering. Zwar unterstützte sie die gescheiterten Reformansätze für den Geschichtsunterricht von Georg Eckert, ein schulpolitisches Programm entwickelte sie aber nicht. Erst Ende der 1950er-Jahre wurde die GEW auf diesem Feld aktiver. Auch die Beziehungen der GEW zur israelischen Lehrergewerkschaft wurden intensiviert. Der Generationenwandel in der GEW sowie die Annäherung an die Studentenproteste brachten für den Umgang mit dem NS-Erbe zunächst keine grundlegenden Veränderungen. Die gewerkschaftspolitische Ausrichtung wandelte sich mit dem Abgang von Mitgliedern und Funktionären der Gründergeneration wie Anna Mosolf, die die GEW enorm geprägt hatten, sowie aufgrund des massiven Zustroms jüngerer Lehrerinnen und Lehrer; eine selbstkritische erinnerungspolitische Auseinandersetzung innerhalb der GEW blieb jedoch aus. Erst als die neuen Mitglieder, die sogenannten »68er« (S. 368), in die Führungsebene gelangten, veränderte sich der dieser Diskurs umfassend.

Der Rekapitulation der Ergebnisse, die als Grundlage für die weitere Erforschung der GEW und ihrem NS-Erbe dienen können, folgt abschließend die Eröffnung von Forschungsperspektiven. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass eine selbstkritische Auseinandersetzung der GEW mit dem NS-Erbe erst ab den 1980er-Jahren einsetzt. Eine Ausweitung des Untersuchungszeitraums wäre daher sinnvoll gewesen, bleibt so aber weiteren Forschungen vorbehalten. Auch fehlt eine vergleichende Gegenüberstellung mit dem DGB und weiteren Einzelgewerkschaften. Groll verweist zudem auf weitere Forschungsperspektiven, etwa die Frage, wie die deutsche Einheit den Umgang mit dem NS-Erbe innerhalb der GEW veränderte. Insgesamt ist die Monografie eine kritische und schlüssige Arbeit, die dem Anspruch einer »Pionierstudie« (S. 16) gerecht wird.

Lukas de Carvalho, Bochum

[1] Vgl. u.a. Thomas Köcher, »Aus der Vergangenheit lernen – für die Zukunft arbeiten!«? Die Auseinandersetzung des DGB mit dem Nationalsozialismus in den 50er und 60er Jahren, Münster 2004; Stefan Berger (Hrsg.), Gewerkschaftsgeschichte als Erinnerungsgeschichte. Der 2. Mai 1933 in der gewerkschaftlichen Erinnerung und Positionierung nach 1945, Essen 2015.

[2] Vgl. Marcel Bois, Volksschullehrer zwischen Anpassung und Opposition. Die »Gleichschaltung« der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens in Hamburg (1933–1937), Weinheim/Basel 2020; Hans-Peter de Lorent, Max Traeger. Biografie des ersten Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (1887–1960), Weinheim/Basel 2017; Micha Brumlik/Benjamin Ortmeyer (Hrsg.), Max Traeger – kein Vorbild. Person, Funktion und Handeln im NS-Lehrerbund und die Geschichte der GEW, Weinheim/Basel 2017; Saskia Müller/Benjamin Ortmeyer, Die ideologische Ausrichtung der Lehrkräfte 1933–1945. Herrenmenschentum, Rassismus und Judenfeindschaft des Nationalsozialistischen Lehrerbundes. Eine dokumentarische Analyse des Zentralorgans des NSLB, Weinheim/Basel 2017.

 

Hauke Goos/Alexander Smoltczyk (Hrsg.), »Ein Sommer wie seither kein anderer«. Wie in Deutschland 1945 der Frieden begann – Zeitzeugen berichten

Deutsche Verlags-Anstalt | München 2021 | 240 Seiten, gebunden | 24,00 € | ISBN 978-3-421-04881-3

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Am 9. Mai endete in Europa der verheerende, von Nazi-Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg nach fast sechs Jahren. Für die in den vielen zerbombten deutschen Städten Verbliebenen begann ein Frieden, der vom täglichen Überlebenskampf und von einem vorsichtigen Hineintasten in normalere Verhältnisse gleichzeitig gekennzeichnet war, allerdings umgeben von Kriegsschutt und Leid, aber auch beflügelt durch eine neu erwachende Lebensgier.1 Der 9. Mai, mitnichten eine »Stunde Null«, aber die wohl tiefste Zäsur der jüngeren deutschen Geschichte, markiert einen Aufbruch ins noch Unbekannte nach dem Ende eines verbrecherischen Regimes und seiner menschenverachtenden Weltanschauung. 

Hauke Goos und Alexander Smoltczyk, beide als Journalisten beim »Spiegel« tätig, befragten überwiegend prominente Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nach ihren Erlebnissen und Eindrücken dieses Sommers 1945, der nach Martin Walser »ein Sommer wie seither kein anderer« war. Neben Interviews zogen sie auch Tagebücher und andere Erinnerungsquellen zurate. So kamen 24 Zeitzeugenberichte zustande. Neben Erlebnissen und Empfindungen fragten die Herausgeber auch nach Erwartungen und Plänen, Zukunftsideen und dem Umgang mit Opfern und Tätern des NS-Regimes. Methodisch stützen sich Goos/Smoltczyk also auf die »Oral History«. Die »große Geschichte« als Rahmen des Handelns der Menschen im Sommer 1945 im zerstörten und in Besatzungszonen aufgeteilten und verwalteten Deutschland wird in einer Zeittafel am Ende des Bandes in wichtigen Daten ergänzt, sodass bereits zu Beginn die Konturen der Konkurrenz unter den Siegermächten sichtbar werden, aus denen der Kalte Krieg hervorgehen sollte. Nicht grundlos endet deshalb die dargestellte Periode mit den beiden US-amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945. 

Der Publizist Georg Stefan Troller (geb. 1921) gibt interessante Einblicke in die Binnenstrukturen des Denkens der Sieger wie der Besiegten, auch hinsichtlich von Antisemitismus. Gleichzeitig verweist er auf die schon im Mai 1945 erkennbare Verdrängungsbereitschaft: »Wir unter den Bombennächten und die Flüchtlinge unter dem Iwan – wir haben doch schon alles abgebüßt, was wollt ihr denn jetzt noch von uns?«, rekapituliert er. Viele Menschen haben dies als eine Art Absolution für Auschwitz wahrgenommen. (S. 12) Und sozialpsychologisch nicht unwichtig: »Ich glaube, der Faschismus [in Italien] hat nicht so tief eingegriffen wie der Nazismus […]. Für die Deutschen war Krieg Leben. Krieg war ihre Sache, das konnte man von den Italienern nicht behaupten.« (S. 15) 

Das Urgestein der SPD nach 1945, Hans-Jochen Vogel (1926–2020) wiederum, damals frisch aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, erinnert sich: »Kriegen wir etwas zu essen? Können wir unsere Wohnungen wiederherrichten oder aufbauen? Das war eigentlich das Problem, weniger die Frage von Schuld oder Verantwortung.« (S. 30) Klaus von Dohnanyi (geb. 1928) gibt einen ungemein eindrucksvollen Bericht über jene Zeit, in der er dem Reichsarbeitsdienst entfloh und sich auf die Suche nach seiner Familie und seinem als Widerstandskämpfer inhaftierten Vater machte, den die Nazis ins KZ Sachsenhausen verbracht hatten. Noch am 9. April 1945 wurde dieser hingerichtet. Auch Dietrich Bonhoeffer, Freund der Familie, war ermordet worden. Trotzdem: »So schlossen wir das Jahr 1945 ab, voller Trauer, aber frei, so wie mein Vater unser Land hatte wiedersehen wollen.« (S. 88) Nikolaj Pudow (geb. 1921) war als Soldat an der Eroberung Berlins beteiligt und blieb nach Kriegsende noch drei Jahre lang in Deutschland, seine Frau Jewgenija hatte das KZ Buchenwald überlebt. Viele deutsche Wörter hat er längst vergessen, das Wort »Untermensch« aber, das Hitler für die Russen und die anderen slawischen Völker in »Mein Kampf« übrig hatte, hat er nie vergessen. Und so berichtet er von den letzten Kampfhandlungen, seine Frau vom Durchschlagen in Richtung Berlin. Zum Abschied sagt er: »Liebe Grüße nach Deutschland.« (S. 45) 

Die Hamburger Künstlerin Esther Bejarano (1924–2021) überlebte Auschwitz und Ravensbrück. Lebenslang engagierte sie sich für die Aufklärung über die Nazi-Barbarei und besuchte deshalb unzählige Schulen, wirkte in der VVN/BdA mit etc. Sie wurde am 3. Mai 1945 nach der Flucht vom Todesmarsch von US-Truppen bei Lübz befreit. Zunächst reifte der Entschluss, Deutschland zu verlassen und nach Palästina umzusiedeln: »Wir hatten die Nase voll. Nicht mit diesen Leuten.« (S. 50) Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1960 blieb so mancher Vorbehalt gegen die wie verwandelt wirkende Umgebung: »Was hat der gemacht im Krieg? Vielleicht ist er der Mörder meiner Eltern oder meiner Schwester Ruth? Ich konnte mit diesen Menschen nicht reden.« (S. 51) Sie entschied sich für die Aufklärungsarbeit, die sie bis zu ihrem Tod unermüdlich leistete. 

So verschieden die bisherigen Lebensläufe und Schicksale, so verschieden auch die Erwartungen, aber auch die Deutungen. Die gebürtige Ostpreußin Annemarie Günther (geb. 1924), aus einer Familie mit christlichem Hintergrund stammend, berichtet von der Flucht aus Allenstein bis in die Umgebung Hamburgs, von Ängsten und Verlusten, von ihrer Wahrnehmung der amerikanischen Soldaten als »Abenteurervolk, sportlich und unternehmungslustig.« (S. 71) Nach der Befreiung, so erzählt sie, erfuhren sie von Auschwitz, der Judenvernichtung und den NS-Verbrechen. Bei aller möglichen Skepsis über diesen Narrativ allerdings bleibt sicher die Berechtigung ihrer Feststellung, dass das Ende Hitlers und seines Verbrecherregimes den »Zusammenbruch unserer ganzen Welt, in der wir bisher gelebt hatten«, bedeutete. (S.75) Der bekannte Fernsehjournalist Friedrich Nowottny (geb. 1929) wollte zunächst freiwillig im letzten Aufgebot des »Volkssturms« für das untergehende ›Dritte Reich‹ kämpfen. Nach dem Ende Hitlers brach diese Welt zusammen, Nowottnys erste Gehversuche im Zivilleben bestanden im Umschleifen von SS-Totenkopfringen zu »Zivilschmuck«. Seine bemerkenswerte Feststellung lautet: »Dieser Sommer 1945 bestand ausschließlich aus Gegenwart.« (S. 97) Der Autor Edgar Reitz (geb. 1932) erinnert sich an diese Zeit als eine »Kinderanarchie«, als Spielen mit Blindgängern und Schießpulver in den Wäldern, uneingedenk der Todesgefahren. »Der Frieden von 1945 war wie eine Rekonvaleszenz nah schwerer Krankheit«. (S. 171) Edzard Reuter (geb. 1928) erlebte das Kriegsende im Exil in Ankara. Sein Vater Ernst Reuter gehörte zu jenen Stimmen, die sich schnell der Zukunft annahmen: »Gott sei Dank, es ist zu Ende – aber es ist ein Aufbruch, der schwer, um nicht zu sagen: schrecklich schwer werden würde.« (S. 176) Gerhart Baum (geb. 1932), der ehemalige Bundesinnenminister, erlebte als Kind in Dresden die Bombeninferno am 13. und 14. Februar 1945. Mit einem Flüchtlingszug gelangte die Familie nach Bayern. Der spätere Jurist bezeichnete die Periode nach dem 8. Mai als eine »rechtlose Zeit«, in der auch er notgedrungen Mundraub beging, Holz stahl etc. Aber er veränderte sich vom Großstadtkind zum Landburschen. Sein Fazit gilt sicher stellvertretend für viele der hier zu Worte Gekommenen: »Es musste gehandelt werden. Und das hat mein Leben geprägt.« (S. 210) 

Neben diesen Aussagen läuft auf den Buchseiten wie ein Teleprompter ein Tagebuch mit, das eine Zeitleiste mit allgemeinen Daten und persönlichen Erlebnissen der Zeitzeuginnen und -zeugen präsentiert und einbettet. Zu ihnen gehören ferner u. a. Armin Müller-Stahl, Burkhard Hirsch, Hans Modrow, Wolf Schneider, Marianne von Weizsäcker und Christian Schwarz-Schilling. 

Dieser Band liefert ein interessantes Kaleidoskop einer historischen Periode, die sozialgeschichtlich noch am Beginn ihrer Rekonstruktion zu sein scheint.

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

Peter Wegenschimmel, Zombiewerften oder Hungerkünstler? Staatlicher Schiffbau in Ostmitteleuropa nach 1970

De Gruyter/Oldenbourg | Berlin/Boston 2021 | 265 Seiten, Broschur | 59,95 € | ISBN 978-3-1107-3937-4

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Warum »überleben« unrentable Betriebe die postsozialistische Transformation? Dieser Frage geht Peter Wegenschimmel in seiner im Juli 2021 veröffentlichten Dissertation nach. Anhand zweier Fallbeispiele, den Schiffswerften Uljanik in Kroatien und Gdynia in Polen, betrachtet Wegenschimmel die enge, aber ambivalente Verzahnung zwischen Staat und Unternehmen im Übergang von einer sozialistischen in eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung. Im Zentrum des Buches steht die Frage, warum beide Unternehmen trotz jahrzehntelanger unrentabler Wirtschaftsweise vom Staat subventioniert wurden und erst auf Initiative der Europäischen Union im Jahr 2019 beziehungsweise 2009 Insolvenz anmeldeten. Mit seinem Buch schließt Wegenschimmel eine Forschungslücke: Er arbeitet heraus, wie Staatsunternehmen während des Spätsozialismus und nach »der Wende« funktionierten, welchen betriebswirtschaftlichen Logiken sie unterlagen und welchen Zweck sie erfüllten. Anhand einer Dokumenten- und Presseanalyse sowie mithilfe von Interviews nähert sich Wegenschimmel fünf Themenbereichen, die jeweils in einem Kapitel behandelt werden: der staatlichen Subventionspolitik, der Rolle des Staates als Eigentümer, der organisatorischen und technologischen Entwicklung der Schiffswerften sowie der Legitimationsarbeit der unterschiedlichen Stakeholder. Diese thematische Einteilung sowie die stringente Unterteilung in vier Unterkapitel macht es den Lesenden leicht, der Argumentation des Autors zu folgen. Sie hat jedoch auch ihre Tücken: Wichtige Meilensteine und Brüche in den Unternehmensgeschichten lassen sich aufgrund der fehlenden Verlinkung zwischen den Themen nicht einwandfrei bestimmen. Es bleibt für die Leserin zeitweise nicht ersichtlich, wie welche Brüche in den Unternehmensgeschichte wirkten und sich diese auf die jeweils andere Ebene auswirkte. 

 Trotzdem schafft es Wegenschimmel in den ersten drei Kapiteln sehr gut, die enge Verzahnung des Staates mit den Unternehmen nachzuzeichnen. Beginnend mit der Subventionspolitik wird im ersten Kapitel sichtbar, dass die polnische sowie die kroatische Werft im Untersuchungszeitraum immer wieder Subventionen, Steuererleichterungen oder Schuldenerlasse erhielten. Dies war zwar auch in den westeuropäischen Ländern besonders infolge der weltweiten Wirtschaftskrise Ende der 1970er-Jahre der Fall, trotzdem hatte dies andere Auswirkungen: Während in den westeuropäischen Länder ein kontrolliertes Schrumpfen der Branche und eine Produktivitätssteigerung vorangetrieben wurde, so deckten die Subventionen in den beiden sozialistischen Schiffswerften lediglich die Verluste ab – gravierende Veränderungen blieben jedoch aus. Auch nach der postsozialistischen Transformation änderte sich dies nicht: Staatliche Subventionen wurden weiterhin vergeben, ein nachhaltiges Wirtschaftskonzept, das die langfristige Liquidität der Werften garantieren sollte, blieb aus. Die staatliche Eigentumspolitik gegenüber den Schiffsbauunternehmen, was im zweiten Kapitel behandelt wird, stellte sich zudem als ambivalent heraus. Wegenschimmel beschreibt, dass sowohl während des Spätsozialismus als auch im Postsozialismus staatliche Akteure vornehmlich in Krisenzeiten ihre Eigentümerrolle wahrnahmen und Entscheidungen trafen habe. Allerdings beurteilt Wegenschimmel diese Einflussnahme der staatlichen Akteure als ohne klares Ziel, was sie ineffizient gemacht habe. Eine ähnliche Trägheit der Unternehmensstrukturen zeigte sich auch im dritten Kapitel, das sich den technologischen Entwicklungen und der innerbetrieblichen Organisation widmet. Obwohl die großen Werften zu unterschiedlichen Zeitpunkten in kleinere Unternehmenseinheiten geteilt wurden, so wären die inneren rigiden und hierarchischen Strukturen größtenteils bestehen geblieben. Gleichzeitig habe zwar zeitweise eine technologische Erneuerung der Werften stattgefunden, die jedoch keine Subsituierung der Arbeitskräfte vorsah, sondern lediglich das Ziel gehabt habe, den staatlichen Vorgaben zu genügen und somit die Zuwendungen zu legitimieren. 

Die dringliche Antwort auf die Frage, warum der Staat unrentable Unternehmen subventionierte, obwohl sie nicht profitabel wirtschafteten, wird in den abschließenden zwei Kapiteln gegeben. Im vierten Kapitel führt Wegenschimmel aus, dass staatliche Zuwendungen gesellschaftlich legitimiert werden müssen. Während des Spätsozialismus sei es in Polen besonders die hohe Beschäftigungszahl gewesen, die eine Legitimationsgrundlage für die Förderungen bot, während in Jugoslawien die durch den Internationalen Währungsfonds angetriebene Forcierung des Exports ein zentraler Beweggrund gewesen sei. Ab Mitte der 1990er-Jahre habe sich dies nur ansatzweise geändert: Die wirtschaftliche Regenerierung der Staaten wurde während der postsozialistischen Transformation einerseits in Einklang mit der wirtschaftlichen Stabilität der Schiffbauindustrie gesehen. Andererseits seien die hohen Beschäftigungszahlen und die damit einhergehende soziale Absicherung der Bevölkerung ein gewichtiges Argument gewesen, das die staatliche Unterstützung legitimierte. Darüber hinaus war aber auch die historische Pfadabhängigkeit, wie im letzten Kapitel sichtbar wird, ein wichtiger Grund. In den sozialistischen Volkswirtschaften ging die Funktion der Unternehmen über die rein ökonomische hinaus. Die Betriebe nahmen etwa durch die Bereitstellung von Kinderbetreuungsplätzen, Urlaubsvergünstigungen oder Wohnungen eine wichtige soziale Scharnierfunktion ein, um wirtschaftliche Engpässe abzufedern. Während der postsozialistischen Transformation fielen zwar viele dieser zusätzlichen Leistungen weg, trotzdem habe das Unternehmen weiterhin als wichtiger Akteur gegolten, um die sozialen Folgen der postsozialistischen Transformation abzufedern. Wie Wegenschimmel beschreibt, sei die »Insolvenz der Werften […] für den staatlichen Eigentümer ein finanzielles Desaster, lokal bedeutete es eine soziale Tragödie.« (S. 197). Diese Politik führte jedoch gleichzeitig dazu, dass die Werften Hungerkünstler und Zombiewerften blieben.

Wegenschimmel arbeitet in seiner Forschung sehr gut heraus, dass die Länder Polen und Kroatien trotz ihrer unterschiedlichen sozialistischen Spielarten und nicht nur während des Sozialismus Gemeinsamkeit aufwiesen, sondern auch im Postsozialismus ähnliche Strategien verfolgten. Sehr deutlich wird in der Arbeit, dass dem postsozialistischen Staat nicht die Rolle zukam, »ohne Rücksicht auf Verluste« die Rentabilität der Unternehmen voranzutreiben, wie dies in einer neoliberalen Wirtschaftsordnung vorgesehen ist. Viel eher nahmen staatliche Unternehmen die Aufgabe wahr, die sozialen Folgen der postsozialistischen Transformation abzudämpfen. Obwohl der Autor es sehr überzeugend schafft, diese Funktion der staatlichen Unternehmen herauszuarbeiten und damit den langen Weg der Werften erklären kann, so knüpft er doch zeitweise und besonders auf sprachlicher Ebene an eine neoliberale Erzählung an: Staatliche Institutionen und Unternehmen erscheinen als ungeeignet, rationale Entscheidungen zu treffen und wirtschaftliche Rentabilität herzustellen. Zeitgleich werden die westlichen Marktwirtschaften zuweilen als Norm herangezogen und die Abwicklung der Werften auf Drängen der Europäischen Union als viel zu späte, aber notwendige Maßnahme erachtet. Abseits dessen ist es Wegenschimmel jedoch hervorragend gelungen, eine Forschungslücke zu schließen. Das detailreiche Buch ist eine vielversprechende und wichtige Lektüre, die Verschränkung zwischen Staat und Wirtschaft im Übergang vom Sozialismus in eine kapitalistische Marktwirtschaft auf Unternehmens­ebene zu verstehen und ist somit ein wichtiger Beitrag für die (historische) Transformationsforschung.

Kathrin Jurkat, Berlin

Wolfgang Benz (Hrsg.), Querdenken. Protestbewegung zwischen Demokratieverachtung, Hass und Aufruhr

Metropol Verlag | Berlin 2021 | 318 Seiten, kartoniert | 22,00 € | ISBN 978-3-86331-621-1

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Die einleitenden Überlegungen des prominenten Berliner Historikers und Antisemitismusforschers Wolfgang Benz zu den sogenannten »Querdenkern« beginnen mit einer Analyse des Mordes an einem 20-jährigen Studenten in einer Tankstelle in Idar-Oberstein durch einen 49-jährigen Maskenverweigerer. Er habe ein Zeichen setzen müssen, gab der Mörder bei seiner Festnahme der Polizei zu Protokoll. Benz konstatiert, dass dieser Mord »Symptom einer vor Gewalt nicht zurückschreckenden Verwahrlosung der Szene [ist], die sich unter dem Plakat ›Querdenken‹radikalisiert hat und sich weiter radikalisiert.« (S.7) Er sieht die Kontinuität seit den Pegida-Demonstrationen und benennt weitere Einflüsse auf die »Szene«: Populisten, Verschwörungsideologen, Identitäre und »Reichsbürger«, Rechtsextremisten, AfD-Politiker im Schafspelz, Sektierer und Narren. Provokation und Usurpation sind die Methoden, Ziel ist die Destruktion von Normen und Regeln für ein friedliches Zusammenleben aus Motiven der Solidaritätsverweigerung und des kollektiven Austobens grenzenloser Egozentrik, so seine Diagnose. (S. 8) Auch prominente Ex-DDR-Oppositionelle wie Angelika Barbe oder Siegmar Faust sind mittlerweile unter den »Querdenkern« aktiv und kolportieren das Narrativ des Fortbestehens der DDR in den Anti-Coronamaßnahmen seit 2020. Und so formuliert Benz es als Anliegen des Bandes und der Beteiligten, »zum Verständnis einer politischen und sozialen Bewegung beizutragen, die sich in der Absage an die demokratisch verfasste Gesellschaft und den parlamentarisch legitimierten Staat zunehmend radikalisiert.« (S. 24)

Von der jahrzehntelang gewachsenen Distanz zwischen Bürgerinnen und Bürgern und »den Politikern« berichtet Angelika Censebrunn-Benz, ehemalige Mitarbeiterin von Wolfgang Thierse. Persönliche, auf der privaten Ebene nicht mehr lösbar scheinende Anliegen werden an Politiker*Innen herangetragen. Bei einer »unbefriedigenden« Antwort erfahren die Volksvertreter nicht selten Beleidigungen und Pauschalverurteilungen. Der Weg vom »Wutbürger« zum »Querdenker« ist oft kein langer, gerade weil der Politik häufig »Eigeninteressen« bzw. »Abgehobenheit« unterstellt werden. Peter Widmann, Referent für Migration beim Arbeiterwohlfahrt Bundesverband untersucht den gemeinsamen Boden von populistischen Verschwörungserzählungen und skizziert die Aufgaben der politischen Jugendbildung. Er thematisiert einige soziologisch relevante Befunde, etwa: »In der Auseinandersetzung um die Maßnahmen gegen die Pandemie zeigt sich die gesellschaftliche Spaltung. Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen scheinen sich gegenseitig nur noch mit Fassungslosigkeit zu betrachten, als lebten sie in eigenen Universen.« (S. 37) Diesen und anderen die Gesellschaft zu zerreißen drohenden Konflikten kann eine politische Jugendbildung nur dann erfolgversprechend entgegentreten, wenn sie mehr ist als ein projektförmiger Reparaturbetrieb, nämlich eine »essenzielle Querschnittsaufgabe in den relevanten Regelinstitutionen.« (S. 46) Die erschreckend hohe Resonanz der AfD in den »neuen Ländern« kommt nicht von ungefähr, stellt Maria Fiedler (Der Tagesspiegel) fest; die AfD knüpft unter anderem an umgedeutete (usurpierte) DDR-Erfahrungen und alltägliche Vorurteile an, aber auch an die nie aufgebrochene Distanz zwischen Eliten und Teilen der DDR-Gesellschaft, die sich in der DDR-Nischengesellschaft (Günter Gaus) ausgebildet hatte.

Antisemitismus gehört zum Bindekitt der »Querdenker«, arbeitet die Historikerin Juliane Wetzel(Berlin) heraus und zählt dafür Beispiele auf, darunter solche des nicht unbekannten Epidemiologen Sucharit Bhakdi. In diese Reihe antisemitischer Multiplikatoren gehören auch Ken Jebsen, Xavier Naidoo, Die »Mahnwachen für den Frieden« von 2014, natürlich Pegida, QAnon und die sogenannten »Reichsbürger«. Wolfgang Benzwiederum nimmt die Verschwörungsmythen und ihren Anklang in den Blick. Gleich ob es gegen Jesuiten, Freimaurer, die Weisen von Zion etc. geht, ihre Attraktivität beziehen sie und ihre nächsten Verwandten, die Fake News, aus dem angeblichen exklusiven Wissen um geheime oder konspirative Machtkonstellationen, die hinter dem Rücken der Menschheit agierten. So erhöhen sich die Anhänger dieser Mythen zu elitären »Wissenden«.Sebastian Leber(Der Tagesspiegel) schreibt von etwa 20.000 geschätzten »Reichsbürgern«, eine in den vergangenen Jahren sichtbar gestiegene Anzahl, die gerade auch durch die Verschwörungsmythen seit der Corona-Pandemie zu erklären ist. Bei ihnen vermischen sich Antisemitismus, Machtergreifungsphantasien und Germanenkult zu einem kruden Gebräu, das in der Vorstellung eines »Königreichs Deutschland« kulminiert, die Bundesrepublik Deutschland als existenten Staat nicht akzeptiert und eigene Substrukturen organisiert.

Dass sie ein Tummelplatz für ehemalige und gegenwärtige Rechtsradikale bilden, denen Verbrechen kein Tabu bedeuten, macht sie zu einem gefährlichen Bestandteil der »Querdenken«-Szene. Deren Weg, von Stuttgart als »Querdenken 711« ausgehend und mit ihrem Protagonisten, dem ehemaligen IT-Unternehmer Michael Ballweg aufs Engste verbunden, rekonstruiert der Stuttgarter Journalist Josef-Otto Freudenreich. Der bestens vernetzte Ballweg firmierte lange Zeit als die Personifizierung der »Querdenken«-Bewegung und verfügt über prominente Kontakte, so etwa zum Fußball-Ex-Weltmeister Thomas Berthold, zu Ken Jebsen, Jürgen Elsässer, Attila Hildmann, Bodo Schiffmann, aber auch zu Alice Weidel (AfD). Das Marketing für die Szene läuft kommerziell ausgeprägt über Ballwegs Netzwerk.

In einem ausführlichen Gespräch zwischen Benzund den Psychologenund TherapeutenChristoph Seidlerund Gundel Seidler(Berlin) werden Fragen wie jene nach der etwaigen Demokratieverdrossenheit der Ostdeutschen erörtert. Tatsächlich gibt es eine Beziehung zwischen traumatischen Erfahrungen der Nachwendezeit, deren Ignorierung als politisch-soziale Traumata in den vergangenen Jahrzehnten und einer Offenheit für mobilisierende demokratiefeindliche Angebote bei vielen. Das dahinterliegende Problem ist vor allem die Verdrängung, denn nicht bearbeitete Traumata bewirken, »dass die Untoten und Zombies der Vergangenheit solange ihr Unwesen treiben werden, bis Geschichte gerecht erzählt wird.« (S. 145) Weitere Aufsätze beleuchten mannigfache Facetten dieser antidemokratischen Strömung. So wird der Typus des »Impfrebellen« porträtiert (Thomas Pfeiffer/Bochum). Andreas Speit(TAZ) befasst sich mit Spuren der Lebensreformbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in der Szene und erinnert dabei unter anderem daran, dass unter den »Ur-Grünen« auch explizite Rechte wie Baldur Springmann zu finden waren. Antimoderne, Corona-Leugnung und Querdenken finden hier eine Synthesemöglichkeit. Weiterhin geht es um Generalverdacht und Kritik als Selbstzweck, den »Great Reset« im Kontext der Neuen Rechten, den Einfluss fundamentalistischer Sekten, die Partei  »Die Basis« sowie um die von der AfD ausgehenden Avancen.

Ein Verzeichnis ausgewählter Literatur und ein repräsentatives Personenregister unterstützen einen Band, der als Handbuch und Handreichung für eine demokratische politische Bildungsarbeit an Schulen und Hochschulen oder für die Erwachsenenbildung von großem Nutzen sein dürfte.

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

Clemens Rehm/Annette R. Hofmann (Hrsg.): Gustav Struve. Turner, Demokrat, Emigrant

Rezension von: Clemens Rehm/ Annette R. Hofmann (Hrsg.), Gustav Struve. Turner, Demokrat, Emigrant

Verlag Regionalkultur | Ubstadt-Weiher/Heidelberg etc. 2020| 112 Seiten, gebunden | 17,80 € | ISBN 978-3-95505-239-3

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Bereits 1970 forderte Gustav Heinemann (1899–1976) dazu auf, »in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften zu spüren..., die dafür gelebt und gekämpft haben, damit das deutsche Volk politisch mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann« (Zit. S. 6). Zu diesen Kräften gehörte Gustav Struve (1805–1870), einer der Protagonisten der badischen Revolution 1848/49. Heute ist Struve jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten, er steht vor allem im Schatten des populäreren Friedrich Hecker (1811–1881). Um Struve in Erinnerung zu rufen, fand im Mai 2019 in der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt ein Kolloquium statt, dessen Ergebnisse nunmehr in gedruckter Form vorliegen.

Der Band erscheint zum 150. Todestag von Gustav Struve. Doch nicht nur dieser Gedenktag scheint es notwendig zu machen, an ihn zu erinnern: Denn 2018 hat die AfD in Baden-Württemberg eine Gustav-von-Struve-Stiftung errichtet. Offensichtlich wird hier der Versuch unternommen, einen Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie für eine politische Partei dienstbar zu machen, deren Ziele in eine ganz andere Richtung laufen. Schon allein deshalb wollen die Initiatoren der Tagung das Wirken Struves einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen.

Der einführende Aufsatz von Felicitas Schuder (S. 19–28) stellt die wesentlichen Stationen im Leben Struves überblicksartig vor, bevor einzelne Aspekte seines Denkens und Handels in den weiteren Beiträgen vertieft werden. Struve wurde 1805 als Sohn eines Diplomaten in russischen Diensten geboren. Der Vater war zuletzt in Karlsruhe akkreditiert und vermittelte seinem Sohn nach dessen Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen und Heidelberg eine Stelle beim oldenburgischen Bundestagsgesandten. Jedoch eckte Struve mit seinen Überzeugungen beim Großherzog von Oldenburg an und wurde zur Strafe nach Jever als Landgerichtsassessor versetzt. 1831 schied er aus dem Dienst Oldenburgs aus und war seit 1833 in Mannheim ansässig. Nochmals drei Jahre später nahm er ebenfalls in Mannheim seine Tätigkeit als Anwalt auf.

Politisch setzte sich Struve zunächst für die Ziele der Liberalen ein: für die deutsche Nationaleinheit, für Pressefreiheit, Schwurgerichte und Volksbewaffnung. Doch gingen die Forderungen Struves, der 1847 auch seinen Adelstitel ablegte, letztlich über das liberale Programm hinaus. Ihm war klargeworden, dass Freiheit und gleichberechtigte Teilhabe aller in einer Gesellschaft nur möglich sind, wenn auch materielle Güter in der Gesellschaft gleichmäßig verteilt werden. Dementsprechend forderte Struve unter anderem im Offenburger Programm von 1847 den »Ausgleich des Missverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital« beziehungsweise stellte sein Handeln unter die Devise »Freiheit, Bildung und Wohlstand für alle«.

Im Folgenden schildert Schuder, wie Struve auf zahlreichen Ebenen bereits im Vormärz für seine Ziele eintrat. So redigierte er 1845/46 das »Mannheimer Journal« und 1847/48 den »Deutschen Zuschauer«, was zu Konflikten mit der Zensur führte und für Struve lange Haftstrafen zur Folge hatte. Schuder verweist darauf, dass Struve fünf Monate seines ersten Ehejahres wegen Pressevergehen im Gefängnis saß. Doch teilte seine Gattin Amalie Struve geb. Siegrist, später Düsar (1824–1862), vollauf seine politischen Ideale (zur Ehe vgl. die Ausführungen von Sabine Liebig, S. 55–64). Bei der Beziehung zwischen Gustav und Amalie Struve handelte es sich um eine Liebesheirat, auch wenn beide Ehepartner ein Altersunterschied von knapp 20 Jahren trennte. Jedoch führten beide eine Ehe auf Augenhöhe, wie auch Struve sich selbstverständlich für eine politisch gleichberechtigte Teilhabe der Frauen einsetzte. Für ihn war es gleichgültig, dass seine Gattin aufgrund ihrer außerehelichen Abkunft selbst von Mitstreitern wie Hecker als nicht standesgemäß angesehen wurde. Bemerkenswerter Weise hatten viele seiner politischen Weggefährten im Jahr 1848 keinerlei Verständnis für die Frauenemanzipation.

Als weiteres Betätigungsfeld weist Schuder auf Struves Engagement im Mannheimer Vereinswesen hin. So war er Mitbegründer des Volkslesevereins, genauso geht die Tradition der Mannheimer Turner unter anderem auf ihn zurück (vgl. hierzu den Beitrag von Lothar Wieser, S. 29–42). Das Turnen stellte für Struve, der abstinent und vegetarisch lebte, »eine Befreiung des Körpers aus den Zwängen alter Gewohnheiten und Fehlhaltungen dar« (Zit. S. 22). Abgesehen vom lebensreformerischen Impetus Struves bildete das Engagement in Vereinen gleichsam den Gegenentwurf zum monarchischen Obrigkeitsstaat. Die Mitglieder eines Vereins waren grundsätzlich gleichberechtigt und wählten ihre Vorstände nach demokratischen Grundsätzen. Schließlich verweist Schuder auf die Tätigkeit Struves als Herausgeber der »Zeitschrift für Deutschlands Hochschulen« und seine Verbindungen ins studentische Milieu wie auch seine Mitgliedschaft bei den Deutschkatholiken, einer Kirche, »die sich durch demokratische Selbstbestimmung und Liberalismus gegen die ›Papstkirche‹ stellte« (S. 23).

Knapp schildert die Autorin die vielfältigen Aktivitäten während der badischen Revolution 1848/49: Struve gehörte Ende Februar 1848 zu den Mitautoren einer Mannheimer Petition, in der die Märzforderungen erstmals artikuliert wurden und die den Auftakt der Revolution markierte. In den folgenden Wochen bemühte er sich auf zahlreichen Volksversammlungen, aber auch in der Heidelberger Versammlung und im Vorparlament auf eine demokratische Republik hinzuwirken, ohne sich damit durchsetzen zu können. Die Verhaftung seines politischen Mitstreiters Josef Fickler (1808–1865) gab für ihn den letzten Anlass zum bewaffneten Aufstand. Der Heckerzug im April 1848 scheiterte genauso wie die von Struve im September 1848 in Lörrach ausgerufene Republik. Bei Staufen wurde Struves Freischarenzug geschlagen, auf der Flucht geriet er in Gefangenschaft. In der Folge wurde er zu über fünf Jahren Einzelhaft verurteilt, jedoch kam er 1849 während der Mairevolution erneut frei. Aufgrund seines Gegensatzes zum Chef der badischen Revolutionsregierung, Lorenz Brentano (1813–1891), konnte Struve die Entwicklung im Frühsommer 1849 jedoch nur wenig beeinflussen.

In weiteren Beiträgen wird schließlich der Weg Struves ins Exil über Genf und London in die Vereinigten Staaten nachgezeichnet (zum Exil vgl. die Aufsätze von Ansgar Reiss, S. 43–48 und Annette R. Hofmann, S. 49–54). Hier engagierte er sich im deutschen Vereinswesen sowie erneut publizistisch, unter anderem verfasste er eine Weltgeschichte vom demokratischen Standpunkt aus. 1861/62 nahm er zuletzt als Hauptmann in einem New Yorker Freiwilligenregiment am amerikanischen Bürgerkrieg teil. Im Gefolge einer allgemeinen Amnestie kehrte er 1863 nach Deutschland zurück, wo er in Coburg und zuletzt in Wien lebte.

Neben den einzelnen Beiträgen zum politischen Lebensweg Struves wird der Band ergänzt durch ein Podiumsgespräch zur Bedeutung Struves für die heutige Zeit (S. 65–86), die Ausführungen Peter Hanks über das politische Denken Struves (S. 87–108) und Überlegungen Dennis Riffels zum Thema »Wie erinnern wir Demokratie?« (S. 9–18).

Den Autorinnen und Autoren ist zu dem kleinen Band zu Gustav Struve zu gratulieren. Dieser gibt nicht nur einen kompakten Überblick über seine zentrale Lebensstationen Struves und sein politisches Denken und Handeln, sondern arbeitet auch seine Bedeutung für unsere heutige Demokratie heraus.

Michael Kitzing, Singen am Hohentwiel

Zitierempfehlung

Michael Kitzing: Rezension von: Clemens Rehm/Annette R. Hofmann (Hrsg.), Gustav Struve. Turner, Demokrat, Emigrant, Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher/Heidelberg etc. 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81930> [17.6.2021].

Detlef Lehnert (Hrsg.): Parteiendemokratie. Theorie und Praxis in Deutschland und Nachbarländern

Rezension von: Detlef Lehnert(Hrsg.), Parteiendemokratie. Theorie und Praxis in Deutschland und Nachbarländern (Historische Demokratieforschung, Schriften der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul-Löbe-Stiftung, Bd. 17)

Metropol Verlag | Berlin 2020| 406 Seiten, gebunden | 24,00 € | ISBN 978-3-86331-543-6

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Welcher Demokratietypus kann normativ, politisch und gesellschaftlich den Erfordernissen der Repräsentation und der Partizipation, der Willensbildung und des Interessenausgleichs sowie der Regierungsfähigkeit in der sich verändernden Gegenwart am ehesten gerecht werden? Wie kann Demokratie in Zeiten wachsender sozialer Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten stabil gehalten werden? Diese und anderen Fragen leiten den von Detlef Lehnert herausgegebenen Band 17 der Reihe »Historische Demokratieforschung der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul Löbe-Stiftung« ein. Die beiden Namensgeber repräsentieren die Hauptzugänge vieler Bände dieser Reihe. War der Linksliberale Hugo Preuß quasi der Vater der Weimarer Reichsverfassung, somit ein Verfassungsrechtler und Verfassungsdenker, so wirkte der Sozialdemokrat Paul Löbe als der Parlamentsrepräsentant der Weimarer Demokratie, deren Reichstagspräsident er von 1920 bis 1924 und von 1925 bis 1932 war.[1] Noch von 1949 bis 1953 vertrat Löbe als delegierter Abgeordneter die Bürgerinnen und Bürger West-Berlins im ersten Deutschen Bundestag und war dessen Alterspräsident.

Verfassungstheorie, Verfassungsrecht und parlamentarische wie politische Realität in ihren Kontinuitäten und Wandlungsprozessen stehen im Blickpunkt dieses Bandes ebenso wie einiger seiner Vorgängerbände.[2] In der Einleitung beschreibt Lehnert die Zielstellung der Beiträge zur Parteiendemokratie. Diese soll im Ländervergleich unter historischen, politikwissenschaftlichen und verfassungsrechtlichen Aspekten analysiert werden. Neben der Bundesrepublik Deutschland nehmen die Autoren Frankreich, Österreich, Schweden und die Schweiz in den Blick. Der erste Teil (S. 41–168) betrachtet »Deutschland und vier Nachbarländer im Überblick«. Es folgt ein umfangreicherer und stärker politikwissenschaftlich und verfassungsrechtlich ausgerichteter zweiter Teil (S. 169–405) zur »Parteienlehre und -kritik seit der Weimarer Republik«. Lehnert kennzeichnet die Parteiendemokratie als etwas grundsätzlich Positives: »Nur im Plural der »Parteien«kann Demokratie existieren, die einzelne Partei (hergeleitet von lateinisch pars) ist stets nur ein Teil des gesamten Parteiensystem.« (S. 8) Vom aktuellen Niedergang der Parteiendemokratien wie zum Beispiel in Italien hätten vor allem Populisten profitiert. Am Beginn moderner Demokratien standen in der Regel keine Parteiensysteme, sondern entstand eine Bipolarität von Parteien, wie sie noch in den USA dominiert und in Großbritannien bis zum Auftreten der UKIP, später Brexit-Party, Realität war. In Italien, Deutschland oder in der Schweiz haben sich nach und nach Parteiendemokratien herausgebildet, indem die politischen Systeme beziehungsweise Wahlrechtssysteme unter anderem durch das Verhältniswahlrecht eine größere Parteienpluralität erzeugten. Die Schweiz sei heute, so Lehnert, »auch eine Parteiendemokratie«, nachdem sie vorher einer »ausgeprägt föderalen Honoratiorendemokratie« entsprochen habe. (S. 9) Volker Stalmann untersucht »Kontinuität und Wandel des deutschen Parteiensystems nach 1945« und macht neben dem grundsätzlichen Bruch von 1949 darauf aufmerksam, dass das »neue Staatswesen […] letztlich Traditionsbestände auf[wies], die nicht nur auf die Zeit des Dritten Reiches, sondern auch auf die Weimarer Republik und das Kaiserreich verweisen.« (S. 41)

Sein Längsschnitt von 1848 bis in die Gegenwart beschreibt, wie aus einem historischen Vielparteiensystem eine Parteiendemokratie der Volksparteien werden konnte, in dem die CDU/CSU zunehmend alle kleineren konservativen, nationalen und regionalen Kleinparteien absorbierte und die SPD über die Arbeiterschaft hinaus Wähler aus anderen Gesellschaftsschichten gewann. So konnte die liberale FDP zum »Zünglein an der Waage« werden. Matthias Micus und Jens Gmeiner vergleichen die Parteiensysteme in Österreich und Schweden. In beiden Staaten seien die dominierenden Parteien, Sozialdemokraten und Konservative, in starkem Maße Weltanschauungsparteien gewesen, die sich als Blöcke gegenüberstanden, wobei es in Schweden eine jahrzehntelange Dominanz der Sozialdemokraten bis weit in die 1980er-Jahre hinein gab. In Österreich dominierte die SPÖ vor allem in der Ära Bruno Kreisky der 1970er-Jahre, eine Phase, in der in der Bundesrepublik Willy Brandt und Helmut Schmidt und in Schweden Olaf Palme regierten und den Zeitgeist prägten. Stefan Grüner schlägt den Bogen für das französische Parteiensystem von Charles de Gaulle zu Emmanuel Macron, also von einer vorwiegend präsidentiellen Massenbasis nach dem Links-Rechts-Prinzip hin zu einer erkennbaren Neujustierung seit der Wahl Macrons. Kann man für Frankreich von einer etatistischen Tradition sprechen, so für Deutschland, Österreich und Schweden von einer mehr oder minder ausgeprägten korporatistischen. Die Schweiz, so Georg Kreis, ist insofern ein Sonderfall, als die Stellung der Parteien durch die bedeutende Rolle der Plebiszite, aber auch durch den Föderalismus und durch die mangelnde Verrechtlichung der Parteienfinanzierung und damit einhergehender Intransparenz geschwächt bleibt. Interessenverbände besäßen oft eine stärkere Rolle. Ob in der Schweiz die Parteien zukünftig gestärkt werden können, hängt nicht zuletzt vom Ergebnis des politischen Ringens um mehr Transparenz ihrer Finanzierung ab, so Kreis.

Der zweite Teil des lehrreichen Bandes beschäftigt sich mit repräsentativen deutschen Vertretern unterschiedlicher Parteienlehren. Repräsentativ bedeutet in dem Fall auch deren Zuordnung zu parteienskeptischen versus mobilisierenden demokratisch-sozialistischen Parteilehren oder zu solchen, die eher zum jeweiligen Mainstream zu zählen sein dürften. Als »Parteienskeptiker« fungieren hier Erich Kaufmann, dargelegt von Hans-Christoph Kraus, Wilhelm Hennis (Peter Steinbach) und Hans Herbert von Arnim (Robert Chr. von Ooyen), dieses Spektrum reicht von staatskonservativ über alt- bis wirtschaftsliberal. Für die demokratisch-sozialistische Richtung werden Otto Kirchheimer (Marcus Llanque) und Wolfgang Abendroth (Peter Steinbach) vorgestellt, Uli Schöler gibt einen instruktiven Überblick über die (links-)sozialdemokratische Debatte in der Endphase der Weimarer Republik. Für diejenige Richtung, die das jeweilige politische System legitimierend erklärte, gehören Gerhard Leibholz (Detlef Lehnert) und Ernst-Wolfgang Böckenförde (Robert Chr. Von Ooyen). Doch wie diese Spektren politischen Denkens in sich differenziert sind, ergeben sich auch aus der Länderbetrachtung differenzierte Erkenntnisse. Doch dass Parteien für eine lebendige Demokratie unverzichtbar sind, weil sie spezifische Interessen artikulieren und Bündelungen von gesellschaftlichen Gruppen in der Willensbildung vornehmen, eint alle Beiträge und formt eine anspruchsvolle Lektüre.

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

Zitierempfehlung

Holger Czitrich-Stahl: Rezension von: Detlef Lehnert (Hrsg.), Parteiendemokratie. Theorie und Praxis in Deutschland und Nachbarländern (Historische Demokratieforschung. Schriften der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul-Löbe-Stiftung, Bd. 17), Metropol Verlag, Berlin 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81931> [17.6.2021].

[1] Vgl. Paul Löbe, Erinnerungen eines Reichspräsidenten, Berlin 1949; Detlef Lehnert, Paul Löbe (1975–1967): Vom Redakteur zum Reichstagspräsidenten, in: Uli Schöler/Thilo Scholle (Hrsg.), Weltkrieg – Spaltung – Revolution. Sozialdemokratie 1916–1922, Bonn 2018, S. 403–416.

[2] Vgl. Detlef Lehnert (Hrsg.), Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870-1970, Berlin 2017; ders. (Hrsg.), Wahl- und Stimmrechtskonflikte in Europa. Ursprünge – Neugestaltungen – Problemfelder, Berlin 2018; ders. (Hrsg.), SPD und Parlamentarismus. Entwicklungslinien und Problemfelder 1871–1990, Köln Weimar Wien 2016.

Frank Bischoff/Guido Hitze/Wilfried Reininghaus (Hrsg.): Aufbruch in die Demokratie. Die Revolution 1918/19 im Rheinland und in Westfalen

Rezension von: Frank Bischoff/Guido Hitze/Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Aufbruch in die Demokratie. Die Revolution 1918/19 im Rheinland und in Westfalen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Bd. 51)

Aschendorff Verlag | Münster 2020 | 680 Seiten, gebunden | 59,00 € | ISBN 978-3-402-15135-8

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Das Jubiläumsjahr der deutschen Revolution 1918 hat eine Reihe neuer und interessanter Monografien sowie Sammelbände hervorgebracht. Neben Publikationen mit dem Blick auf die Reichsebene wurde eine Reihe von regionalbezogenen Studien veröffentlicht. Der Forschungsbedarf insbesondere zu den konkreten Auswirkungen und Abläufen der Umwälzungen seit dem November 1918 in den einzelnen Landesteilen bis hinunter auf die lokale Ebene ist dabei nach wie vor groß, wie beispielsweise der Mitherausgeber des vorliegenden Bandes und Vorsitzende der Historischen Kommission für Westfalen, Wilfried Reininghaus, für Westfalen und Lippe bereits 2016 mit einem umfassenden Überblick über die Forschungslage zur Revolution in Westfalen deutlich gemacht hat[1].

Bei den Texten des hier zu besprechenden Bandes handelt es sich um Langfassungen von Vorträgen, die im Rahmen einer Tagung am 8. und 9. November 2018 im Düsseldorfer Landtag gehalten wurden. Herausgegeben wird der Band neben Reininghaus von Frank Bischoff, dem Vorsitzenden der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, sowie Guido Hitze aus der Landtagsverwaltung von NRW. Enthalten sind 19 thematische Beiträge sowie eine Einleitung der Herausgeber und ein Grußwort des Präsidenten des Landtags von Nordrhein-Westfalen, André Kuper. Gegliedert sind die einzelnen Beiträge in die Sektionen »Militärische Rahmenbedingungen«, »Allgemeine Entwicklungen« sowie »Lokale Fallstudien«. Die Artikel sind teils von recht unterschiedlicher Länge, aber durchweg gut geschrieben und bieten bedenkenswerte historisch-politische Einordnungen des Geschilderten.

Übereinstimmend über die Einzelstudien hinweg ist eigentlich nur die Feststellung, dass die grundsätzliche Umwälzung hin auf eine parlamentarische Demokratie von den alten Eliten vor Ort zumindest nicht gewaltsam ver- oder behindert wurde. Symbolisch deutlich wurde die Auseinandersetzung zwischen konservativem Bürgertum und Arbeiterbewegung oft bei der Frage des Umgangs mit den alten Staatssymbolen wie etwa mit der von durchmarschierenden Truppen mitgeführten Reichsfahne oder der von örtlichen Arbeiter- und Soldatenräten an Rathäusern und öffentlichen Plätzen gehissten Roten Fahne.

Darüber hinaus zeigen die Beiträge auch die großen Unterschiede – zwischen Stadt und Land, zwischen stärker und schwächer industrialisierten Regionen sowie bezüglich der jeweiligen konfessionellen Orientierung und Zugehörigkeit der örtlichen Bevölkerung. Deutlich werden in den der Umwälzung skeptisch bis ablehnend gegenübertretenden Kreisen zudem auch Rückgriffe auf antisemitische Argumentationsmuster. Darüber hinaus zeigen sich Unterschiede in der Radikalität der örtlichen Organisationen der Arbeiterbewegung in Bezug auf den Umfang der unmittelbar erwarteten politischen und ökonomischen Veränderungen. Deutlich wird aber, dass nahezu allerorts die neu gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte sehr schnell dazu kamen, eine Zusammenarbeit mit den bisherigen kommunalen Verwaltungen zu suchen und sich nicht unmittelbar an die Durchsetzung einer Sozialisierung von Betrieben oder anderer Forderungen aus der Programmatik der Arbeiterbewegung machten. Damit bietet der Band ein spannendes Panorama der unterschiedlichen Aspekte revolutionären Handelns in der Fläche des Landes und zeigt zugleich, an wie vielen Stellen noch durchaus interessante und erhellende örtliche Studien möglich sein könnten. Dies betrifft auch die weitere Erforschung von Biografien und Lebenswegen der jeweils handelnden Personen.

In einem einleitenden Beitrag stellt Stefan Berger »Die deutsche Revolution 1918/19 in ihren europäischen Kontexten« vor (S. 23 ff.) und hält fest, dass zwei starke Grundhaltungen neben- und gegeneinander gesehen werden müssten. Neben dem Streben nach mehr Demokratisierung sei die Furcht, die Demokratisierung könne zum Umsturz bestehender sozialer und ökonomischer Verhältnisse führen (S. 32), ebenso wichtig gewesen.

Im ersten Abschnitt widmet sich Thomas Tippach der – von der Armeeführung selbst als nicht mehr durchführbar erkannten – Vorbereitung des Militärs auf die Abwehr eines möglichen Umsturzes sowie den Vorbereitungen der Demobilmachung. Horst-Pierre Bothien schildert die Besetzung des Rheinlandes am Beispiel der Stadt Bonn (S. 63 ff.). Einen ausführlichen Artikel zur Entwicklung der Eisenbahn seit dem ausgehenden Kaiserreich steuert Philipp Koch bei (S. 79 ff.). Dabei geht er sowohl auf die organisatorische Entwicklung der zunächst in regionalen Bahngesellschaften geführten Bahn, die Entwicklungen der gewerkschaftlichen Organisation und den schwierigen Umgang mit den in der Folge des Versailler Vertrages zu leistenden Reparationen an Loks und Waggons ein.

Die zweite Sektion beginnt mit einem Überblick von Wilfried Reininghaus zu den Wahlen in Rheinland und Westfalen 1918/19, der die Aufstellung der Parteien und ihrer Kandidatenlisten und die Wahlergebnisse zur verfassungsgebenden Versammlung sowie zum preußischen Landtag (S. 143 ff.) betrachtet. Er stellt dabei heraus, dass vier Fünftel der Wahlberechtigten jenen Kräften eine Absage erteilt hätten, die der Republik »extrem kritisch bis feindlich« gegenübergestanden hätten (S. 175). Martin Schlemmer schildert die Loslösungsbestrebungen im Rheinland (S. 185 ff.) und dabei auch die Schwierigkeit, überhaupt so etwas wie eine Identität der Rheinländer zu definieren – was linksrheinisch auf Grund der Entwicklungen seit der napoleonischen Zeit zudem deutlich besser gelang als in dem rechtsrheinischen und sich (auch) als Teil des Ruhrgebiets entwickelnden Landesteil. Bärbel Sunderbrink widmet sich der politischen Rolle von Frauen in Ostwestfalen-Lippe über die verschiedenen Parteien hinweg (S. 239 ff.). Wulf Schade wendet sich den »Ruhrpolen« und ihrem Verhältnis zur Revolution 1918 zu (S. 261 ff.). Dabei beginnt er seine Darstellung bereits mit der Einwanderungsgeschichte ins Ruhrgebiet und verweist auf die oft ignorierte Tatsache, dass es sich bei den »Ruhrpolen« zumeist um deutsche Staatsangehörige aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches mit starken polnischen Minderheiten handelte, die zudem ebenfalls von konfessionellen Spaltungslinien in katholische und evangelische Gläubige betroffen waren. Insbesondere die nationalpolnische Bewegung habe den sozialen Zielen der Revolution kritisch gegenübergestanden, zugleich aber mit Sympathie in ihrer Anhängerschaft für die Revolution umgehen müssen. Mit der Bildung des polnischen Nationalstaats nach dem Weltkrieg habe sich der Fokus zudem in diese Richtung verschoben. Im letzten Beitrag der zweiten Sektion nimmt Ulrich Wyrwa die »Herausbildung eines extremen Antisemitismus« in den Blick (S. 303 ff.).

Im dritten Themenblock schreibt Johannes Heck über das revolutionäre Geschehen in der Stadt Düsseldorf (S. 325 ff.), Klaus Wisotzky über den Essener Arbeiter- und Soldatenrat und die Sozialisierungsbewegung im Bergbau (S. 359 ff.), Michael Kanther und Andreas Pilger bearbeiten die Entwicklung in Duisburg und Hamborn (S. 383 ff.), während Stefan Goch sich übergreifend den – nach Fazit des Autors – letztlich enttäuschten Erwartungen linksradikaler Bergarbeiter-Organisationen im Ruhrgebiet widmet (S. 413 ff.). André Biederbeck schildert die Entwicklung des mehrheitssozialdemokratischen Milieus insbesondere in Dortmund (S. 473 ff.), während Reiner Rhefus den Gang der Revolution in Elberfeld und Barmen in den Blick nimmt (S. 507 ff.). Hans Peter Mensing beschreibt die Novemberrevolution in Köln und dabei auch die wichtige Rolle, die Konrad Adenauer auch im Zusammenspiel mit der Mehrheitssozialdemokratie einnahm (S. 541 ff.). Interessant ist der ausführliche Beitrag von Jens Hahnwald zu Arbeiterräten im kölnischen Sauerland (heute etwa der Bereich des Kreises Olpe und des Hochsauerlandkreises) (S. 559 ff.). Wilfried Reininghaus nimmt das westliche Münsterland und damit insgesamt eine Hochburg des Zentrums in den Blick (S. 609 ff.), während Rolf Westheider die Revolution im Kreis Halle betrachtet, und hier auch einige Anmerkungen zur Wahrnehmung der Umwälzung und Rolle des Bürgertums macht.

Die im Band versammelten Beiträge bieten so ein sehr lesenswertes Mosaik der unterschiedlichen regionalen Entwicklungen. Deutlich wird, dass die Revolution auf dem gesamten Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens ankam. In den ländlichen Regionen führte dies zu einer Entwicklung hin zu einer parlamentarischen Demokratie mit einer Dominanz des Zentrums oder der (national-) konservativen Parteien, während in den industrialisierten Regionen die Parteien der Arbeiterbewegung mit starken örtlichen Unterschieden politische Bedeutung gewannen und entfalteten, wobei es dort aber ebenfalls in unterschiedlichen Ausprägungen zu politischen Arrangements mit den bisherigen bürgerlichen Akteuren kam. Erkennbar wird zudem, wie schnell Akteure des gesamten politischen Spektrums damit begannen, die Möglichkeiten der neuen politischen Grundordnung auszuleuchten und auch mitzuprägen. Die regionale Geschichte der Revolution(en) 1918/19 ist immer wieder Teil der Forschung gewesen – zugleich dominiert im Gesamtbild aber meist ein Narrativ, das in Wilhelmshaven und Kiel beginnt und dann schnell nach Berlin wechselt, eventuell mit einem kurzen Abstecher zur Räterepublik nach München. Die im Band versammelten Beiträge zeigen demgegenüber ein hoch spannendes Panorama dessen, wie sich das Revolutionsgeschehen regional und konkret vor Ort zeigte und auswirkte – in diesem Fall im Rheinland und Westfalen.

Thilo Scholle, Lünen

Zitierempfehlung

Thilo Scholle: Rezension von: Frank Bischoff/Guido Hitze/Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Aufbruch in die Demokratie. Die Revolution 1918/19 im Rheinland und in Westfalen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Bd. 51), Aschendorff Verlag, Münster 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81932> [17.6.2021].

[1]Wilfried Reininghaus, Die Revolution 1918/19 in Westfalen und Lippe als Forschungsproblem. Quellen und offene Fragen. Mit einer Dokumentation zu den Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten, Münster 2016.

Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale

Rezension von: Brigitte Studer, Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale

Suhrkamp Verlag | Berlin 2020 | 618 Seiten, Broschur | 30,00 € | ISBN 978-3-518-29929-6

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Es ist fast schon erstaunlich, dass bislang niemand dieses Buch geschrieben hat. Schon seit einiger Zeit boomt die Globalgeschichte, die postkoloniale Kritik am Eurozentrismus hat neue Perspektiven hervorgebracht und biografisch arbeitende Historikerinnen und Historiker nehmen transnationale Verflechtungen in den Blick. Wenn es einen Gegenstand gibt, der geeignet erscheint, mit Hilfe dieser Ansätze untersucht zu werden, dann ist es die zwischen 1919 und 1943 existierende »Kommunistische Internationale« (Komintern). Etwa 80 Parteien gehörten dieser »Weltpartei« an. Ihre polyglotten Funktionärinnen und Funktionäre bewegten sich mit großer Selbstverständlichkeit über politische und geografische Grenzen hinweg, gesandt von der Moskauer Zentrale, um vor Ort die revolutionäre Linke zu stärken. »Das 20. Jahrhundert kannte wohl keine zweite Organisation und soziale Bewegung, die zugleich in ihrer Rhetorik derart international, in ihren Praktiken derart transnational und in ihrer Zielsetzung derart global ausgerichtet war«, schreibt auch Brigitte Studer (S. 33). Sie hat nun – man ist geneigt zu sagen: endlich – eine Globalgeschichte der Komintern vorgelegt.

Die emeritierte Berner Geschichtsprofessorin, die seit mehr als drei Jahrzehnten zur Historiografie des Kommunismus arbeitet, nimmt in ihrer Studie eine expliziert akteurszentrierte Perspektive ein. Sie erzählt also die Geschichte der Komintern anhand der sich immer wieder kreuzenden Lebenswege von rund zwei Dutzend Einzelpersonen, die alle das aufwiesen, »was man eine transnationale Biografie nennen kann« (S. 526). Diese Kommunistinnen und Kommunisten waren Teil »des wohl historisch einmaligen politischen Experiments, nach rationellen Methoden, auf der Basis einer durchdachten und differenzierten Organisation eine Revolution auf globaler Ebene zu planen, materiell vorzubereiten und durchzuführen« (S. 13). Ihre aufreibenden, von zahlreichen Ortswechseln und oftmals auch polizeilicher Verfolgung begleiteten Lebensumstände zeichnet Studer nach. In diesem Zusammenhang versteht sie das Engagement der Revolutionärinnen und Revolutionäre als berufliche Profession und fragt dementsprechend »nach den Arbeitsbedingungen und dem professionellen und privaten Alltag der von Moskau angestellten oder finanzierten Berufsrevolutionäre« (S. 14). Ihr Buch stelle daher »eine etwas andere Geschichte der Komintern« dar, »eine Geschichte der Komintern als Arbeitsort« (S. 27).

Naheliegend war es sicherlich, den Schweizer Jules Humbert-Droz in den Kreis der vorgestellten »Reisenden der Weltrevolution« aufzunehmen – nicht nur, weil Studer einst dessen Nachlass editierte, sondern auch, weil er sich als für die romanischen Länder zuständiger Kominternfunktionär länger in Frankreich, Italien, Spanien oder auch in Lateinamerika aufhielt. Ebenso plausibel ist die Auswahl Willi Münzenbergs, des gut vernetzten kommunistischen Medienunternehmers aus Berlin. Zugleich weist Studer darauf hin, dass sich zeitgenössische Geschlechterverhältnisse auf die Anstellungspolitik der Komintern übertragen hätten. Dies spiegele sich sowohl in den Quellen als auch in der Forschungsliteratur wider, wo »Männer oft unreflektiert als ›wichtige‹, Frauen als sekundäre Akteure behandelt werden.« Daher sei eine geschlechterhistorische Perspektive »absolut notwendig, wenn die Haltung und der Blick der historischen Akteure durch die Historiker und Historikerinnen nicht einfach übernommen werden soll« (S. 39). Dementsprechend finden sich in Studers Personensample überproportional viele Frauen (gemessen daran, dass sie im Apparat der Komintern nur ein Sechstel ausmachten), darunter prominente Akteurinnen wie die italienische Fotografin Tina Modotti, die russische Altbolschewistin Elena Stasova oder die Schwestern Margarete Buber-Neumann und Babette Gross aus Deutschland. Ebenso sind mehrere Akteurinnen und Akteure aus dem globalen Süden vertreten, von denen der Inder Manabendra Nath Roy sicherlich der Bekannteste ist. Insgesamt werden rund 320 Personen namentlich erwähnt und in die Darstellung einbezogen.

Studers Buch beginnt in Moskau im Sommer des Jahres 1920 und führt uns zum zweiten Weltkongress der Komintern, der vom revolutionären Enthusiasmus der anwesenden Delegierten geprägt war. Vertreterinnen und Vertreter aus verschiedenen Ländern kamen hier zu einer »historisch einmalige[n] Konvergenz der unterschiedlichen politischen Richtungen« zusammen (S. 61), geeint in ihrer Begeisterung für den jungen Sowjetstaat. Angesichts dieser multinationalen Zusammensetzung habe der Kongress für viele Delegierte eine erste praktische Erfahrung mit dem Internationalismus dargestellt. Zahlreiche der im Buch porträtierten Akteurinnen und Akteure nahmen teil, darunter die deutsche Kommunistin Hilde Kramer. Sie, die dort als Stenographin und Dolmetscherin tätig war, gehöre allerdings zu den vergessenen Teilnehmenden des Kongresses, weil sie – anders als die Delegierten – weder in Berichten noch in Memoiren erwähnt wird, betont Studer: »Auch die Gedächtnislandschaft hat eine soziale Ordnung« (S. 83).

Eine weitere Station aus der Frühzeit der Komintern, auf die Studer ihre Leserinnen und Leser mitnimmt, ist der »Kongress der Völker des Ostens«. Er fand im September 1920 in Baku statt, etwa 1.900 Delegierte aus Europa und Asien beteiligten sich. Seine Wirkung sei nicht zu unterschätzen, »legte er doch den Grundstein für die Integration neuer Gruppen in den Kampf der Arbeiterbewegung«, betont die Autorin. »Durch den Kongress öffnete sich die Komintern, bisher auf die Kategorie Klasse fokussiert, gegenüber den Kategorien Geschlecht und ›Rasse‹/Ethnie und ihren Interaktionen« (S. 124). Anschließend wendet Studer den Blick wieder gen Westen, nach Mitteleuropa. In den folgenden beiden Kapiteln steht Berlin im Fokus, wo das Westeuropäische Büro der Komintern angesiedelt war. Nicht nur deshalb charakterisiert die Autorin die Metropole neben Moskau als »zweites globales Betriebszentrum des internationalen Kommunismus« (S. 178). Die deutsche Hauptstadt habe als »europäischer Brückenkopf und transnationale Drehscheibe« gedient, über die Menschen, Gelder und Presseprodukte den Weg von Ost nach West und umgekehrt genommen hätten. Zudem sei Berlin ein »kulturelles Zentrum des internationalen Kommunismus« gewesen.

Im fünften Kapitel widmet sich Studer dem Antiimperialismus und den transkolonialen Netzwerken der Komintern – und damit einem Aspekt, den die Forschung erst in den letzten Jahren in den Blick genommen hat. Sie stellt beispielsweise den »Ersten Kongress gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus« (Brüssel 1927) oder den internationalen Kongress der »Negerarbeiter« (Hamburg 1930) vor und beschreibt die zentrale Rolle, die Willi Münzenberg beim Aufbau eines »globalen antikolonialen Solidaritätsraums« spielte (S. 262). Zugleich zeigt sie, wie stark Mitte der 1920er-Jahre im Westen die Unterstützung für die chinesische Revolution ausgeprägt war – um sich schließlich im sechsten und siebten Kapitel in die Zentren derselben zu begeben. Guangzhou, Wuhan und Shanghai hießen die Orte, an denen Komintern-Emissäre agierten und ihre Netzwerke spannen. Die beiden letzten Kapitel von Studers Studie behandeln schließlich den langsamen Niedergang der Komintern nach dem Scheitern der chinesischen Revolution, der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und der Etablierung des Stalinismus in der Sowjetunion. Sie folgt ihren Akteurinnen und Akteuren in den Exilort Paris, »das neue Zentrum des antifaschistischen Kampfs, […] wo die Komintern nun ihre Kader konzentrierte« (S. 395), und ins berüchtigte Moskauer Hotel »Lux«, wo die ausländischen kommunistischen Funktionärinnen und Funktionäre Mitte der 1930er-Jahre in einer »Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens« lebten (S. 440). Der Spanische Bürgerkrieg wurde dann zum »letzten und insgesamt sogar bedeutendsten Großeinsatz« der Komintern (S. 455), mit dem Studer ihren Band abschließt.

Detailliert zeichnet die Autorin auf knapp 600 Seiten die Lebenswege ihrer Protagonistinnen und Protagonisten während der 1920er- und 1930er-Jahre nach. Ihre Darstellung basiert dabei auf langjährigen Recherchen in den Komintern-Beständen des Russischen Staatsarchivs für sozio-politische Geschichte in Moskau. Von dort stammen auch die zahlreich abgedruckten, zum Teil wenig bekannten Porträtfotos der Funktionärinnen und Funktionäre. Ferner wertete Studer Egodokumente der entsprechenden Personen aus und griff auf die umfangreiche Forschungsliteratur zurück. Dass dabei kleinere Fehler unterlaufen, ist ebenso normal wie verzeihbar – beispielsweise wurde am 31. Dezember 1918 nicht der Spartakusbund gegründet, sondern die KPD (S. 146). Auch war der Hamburger Parteifunktionär John Wittorf nicht – wie häufig behauptet – mit dem Parteivorsitzenden Ernst Thälmann verschwägert, sondern lediglich befreundet (S. 194).

Auffällig sind unterdessen gewissen Leerstellen in Studers Studie. Zum einen betreffen sie die ausgewertete Literatur. Obwohl die Autorin zweifellos eine große Kennerin der Forschungen zum internationalen Kommunismus ist, bezieht sie seltsamerweise manche Standardwerke nicht mit ein. Dies trifft etwa auf Mario Keßlers Ruth-Fischer-Biografie oder auf die Arbeiten von Reiner Tosstorff zur spanischen Linkspartei POUM oder zur Profintern zu, obwohl beide Organisationen und auch die ehemalige KPD-Vorsitzende Fischer immer wieder in Studers Buch auftauchen. Zum anderen ist eine geografische Einengung zu beobachten, denn Studers Globalgeschichte spielt sich weitgehend auf den eurasischen Doppelkontinent ab. Das ist natürlich zum Teil dem Gegenstand geschuldet: Die Komintern war hier am stärksten vertreten und hier befanden sich die Zentren revolutionärer Bewegungen im Untersuchungszeitraum. Gleichwohl hätte ein eigenes Kapitel etwa zu Lateinamerika, wo in den 1930er-Jahren europäische Kommunistinnen und Kommunisten wie Olga Benario und Artur Ewert agierten, den Blick noch einmal weiten können.

Doch trotz dieser Kritikpunkte weiß Studers kulturhistorischer und kollektivbiografischer Zugang zur Geschichte der Komintern insgesamt zu überzeugen. Wenn sie etwa die offenen Paarbeziehungen der jungen Funktionärinnen und Funktionäre beschreibt, liefert sie lebensweltliche Einblicke, die in den bisherigen eher politikgeschichtlich orientierten Arbeiten bestenfalls am Rande eine Rolle spielten. Dies gilt auch für ihre Leitfrage nach der Arbeitswelt der Komintern-Kader. Diese war tatsächlich »dicht und bunt bestückt, bedeutend vielfältiger, als die Forschung bislang wahrgenommen hat« (S. 29). So schildert Studer die prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen im Exil, beschreibt den Umgang der Kader mit den teilweise widersprüchlichen Direktiven aus Moskau, zitiert Margarete Buber-Neumanns Haltung zu Überstunden und zeigt auf, wie mit zunehmender Routine die »Revolutionsromantik der Berufsrevolutionäre« schwand (S. 164). Auf diese Weise wird das innovative Potenzial ihres Ansatzes deutlich.

Studers Buch ist sehr lesenswert, aber zum Teil auch recht voraussetzungsreich. Politische Entwicklungen wie die Degeneration der Komintern analysiert sie nicht. Doch sie zeigt andere, bislang eher unbeachtete Aspekte dieses Wandels auf. So weist sie etwa darauf hin, dass politische und kulturelle Heterogenität irgendwann nur noch in der Außendarstellung der Internationale nützlich war – sich aber strukturell nicht mehr widerspiegelte. Auch verdeutlicht sie, dass zum Zeitpunkt der Auflösung der Komintern kein einziger der porträtierten ausländischen Protagonistinnen und Protagonisten mehr dort Mitglied war: »Entweder waren sie ausgeschlossen worden, hatten die Partei verlassen oder gestorben respektive umgebracht worden« (S. 536). Auch das sagt viel über diesen internationalen Zusammenschluss aus, der 1920 so enthusiastisch in Moskau und Baku seine Aktivitäten aufgenommen hatte.

Marcel Bois, Hamburg

Zitierempfehlung

Marcel Bois: Rezension von: Brigitte Studer, Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81933> [17.6.2021].

John T. Ducker: Beyond Empire. The End of Britain’s Colonial Encounter

Rezension von: John T. Ducker, Beyond Empire. The End of Britain’s Colonial Encounter

Bloomsbury Academic | London 2020 | 424 Seiten, gebunden | 25,00 £ | ISBN 978-1-78831-735-1

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Den Denkmalsturz von Bristol im Juni 2020 könnte man als kontroversen Beitrag zur inneren Dekolonisierung Großbritanniens werten. Auch wenn Edward Colstons Statue im Zuge der weltweiten Proteste gegen die Ermordung George Floyds im Hafen von Bristol versenkt wurde, markiert der ikonoklastische Furor in der Stadt am Avon doch ein seit längerem virulentes Unbehagen von Teilen der britischen Gesellschaft angesichts einer auf den ersten Blick beinahe geräuschlos abgewickelten Geschichte. Das Land, das laut einem geläufigen Aperçu ein Empire besaß, ohne ein solches zu sein, hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg seines kolonialen Besitzes auf eine Art entledigt, die weder – wie in Frankreich Ende der 1950er-Jahre – zu schwersten innenpolitischen Verwerfungen führte, noch gar – wie in Deutschland oder Österreich nach 1918 – einer »Generation der Unbedingten« (Michael Wildt) Vorschub leistete, die auf Rache sann. John T. Ducker möchte trotzdem nochmals Bilanz ziehen. Als Mitglied des Overseas Civil Service und danach fast ein Vierteljahrhundert lang als Mitarbeiter der Weltbank konnte Ducker aus erster Hand die Folgen der Dekolonisation vor Ort analysieren. Sein Buch bietet vielleicht auch deshalb keine neuen Forschungsperspektiven, sondern will von der Warte des Praktikers aus erklären, weshalb »these newly independent countries never had a chance« (S. 5). Diese Formulierung enthält in nuce bereits das Fazit der über weite Strecken buchhalterisch angelegten Darstellung. Von Indien und Sri Lanka abgesehen, habe das koloniale Erbe Britanniens nicht genug Zeit erhalten, um sich wirksam auf die Selbständigkeit vorzubereiten. Dass 1952, acht Jahre vor der Unabhängigkeit Nigerias, die Universität von Ibadan die ersten 32 Graduierten hervorbrachte, spreche Bände.

Ducker rekapituliert die zunächst disparaten Ansätze zur Verwaltung des weitverzweigten Kolonialreichs. Das System der indirekten Herrschaft ermöglichte unter Einbeziehung lokaler Honoratioren ein Empire on the cheap. Die Paramountcy-Doktrin von 1923 räumte den Interessen der Afrikaner Vorrang gegenüber denen der europäischen Siedler ein. Und am Vorabend des Zweiten Weltkriegs habe Großbritannien endgültig das polit-ökonomische Laisser-faire verabschiedet, um eine kostspielige Entwicklungsstrategie zu implementieren und die Kolonien schrittweise an die Regierungspraxis des Westminster-Systems heranzuführen. Trotz dieser Maßnahmen, die nach 1939 notgedrungen auf Sparflamme köchelten, prognostizierte die ausgewiesene Afrikaexpertin Margery Perham 1951 die Unabhängigkeit der afrikanischen Territorien für die Jahrtausendwende. Diese in der Literatur zur Dekolonisation häufig zitierte Einschätzung gilt Ducker als Beleg für sein ceterum censeo: Großbritannien habe schlichtweg »precious little time« (S. 31), um die monumentale Aufgabe der Emanzipation seiner Kolonien zu vollenden. Der apologetische Unterton, der Duckers Buch durchzieht, stützt sich auf diese Denkfigur. Insbesondere die nur knapp zwei Jahre, in denen Iain Macleod ab 1959 als Kolonialminister amtierte, sieht Ducker kritisch, da Macleod, der dem liberalen Flügel der Tories entstammte, den Prozess der Dekolonisation beinahe mutwillig beschleunigt habe. Ducker übersieht beziehungsweise unterschätzt hier jedoch den Druck, den die nationalistischen Bewegungen vor Ort und die geopolitischen Konstellationen des Kalten Kriegs ausübten. Premierminister Harold Macmillans berühmte Wind-of-Change-Rede in Kapstadt 1960 lieferte zudem das geschichtspolitische Framing, das Macleods Kurs rhetorisch unterfütterte.

Ducker beschreibt in den folgenden Kapiteln zentrale Aspekte des Dekolonisationsprozesses. Auf dem Terrain der Bildung hätten lange Zeit christliche Missionare die Verantwortung für die Schulen getragen. Erst im Juni 1945 habe die Asquith-Kommission unmissverständlich die Bedeutung universitärer Bildung für den Erfolg des nation building hervorgehoben. Da jedoch im Großbritannien der Nachkriegszeit selbst ein Mangel an Lehrkräften herrschte, fehlte entsprechendes Personal in den Kolonien. Schulen, so eine Studie von 1953, müssten die anspruchsvolle Aufgabe bewältigen, »both an instrument of stability and an instrument of change« (S. 69) zu sein. An der Universität Ibadan spürten Studenten aus dem Norden Nigerias, wo 1960 nur neun Prozent der Kinder eine Grundschule besuchten, erhebliche kulturelle Differenzen und fühlten sich »virtually ostracized« (S. 74), was einen langen Schatten vorauswarf auf die bis heute grassierenden ethnisch-religiösen Konflikte im bevölkerungsreichsten Staat Afrikas. Noch 1988 beklagte ein Weltbankbericht den chronischen Mangel an Fachkräften in den afrikanischen Nationen.

Auch der Blick auf das Regierungssystem offenbart eklatante Versäumnisse. Erst im Jahr 1942 wurden in der Goldküste (Ghana) und in Nigeria Afrikaner in den Exekutivrat, der Vorstufe eines Kabinetts, berufen. Zentralistische Tendenzen seien, so Ducker, von den Verantwortlichen billigend in Kauf genommen worden, um den Weg zur Unabhängigkeit zu begradigen. Doch auch so ließ sich die »the frequent and damaging intrusion of tribal and regional influence« (S. 110) nicht verhindern – mit folgenschweren Konsequenzen bis heute. Potenziert wurden die Probleme in Ostafrika durch die Anwesenheit europäischer Siedler und Grenzverläufe, die einem Bericht von 1927 zufolge historischen Zufällen geschuldet seien. 15 Jahre später sinnierte Macmillan als Staatssekretär im Kolonialamt darüber nach, die Siedler aus Kenia herauszukaufen, um zukünftig Komplikationen zu vermeiden. Weitere 15 Jahre darauf befand sich Tanganyika, so Ducker, in einem »over-rapid bandwagon« (S. 135), da die britische Regierung es sich nicht mit Julius Nyerere verderben wollte, der das Land dann in die Unabhängigkeit führte. Die Mau-Mau-Revolte in Kenia wird von Ducker kursorisch behandelt. Er spricht von der »horrific nature of the oaths« (S. 147), welche die Aufständischen ablegten und die Repression in den staatlichen Lagern erklären hülfen. Die eindringlichen Studien von Caroline Elkins und David Anderson über die kolonialen Gewaltexzesse im Kontext von Mau-Mau hätten Ducker die Augen öffnen können. Weiter beschleunigt wurde der Prozess der Dekolonisation durch Entwicklungen auf dem Gebiet der Zentralafrikanischen Föderation, die von Anbeginn unter einem unglücklichen Stern stand, da sie ohne den Konsens der afrikanischen Bevölkerung in Nord- und Südrhodesien sowie Nyasaland ins Leben gerufen wurde. Dass der Devlin-Bericht über die Vorkommnisse während des Ausnahmezustands in Nyasaland 1959 das Verhalten der Verantwortlichen dort mit denen eines Polizeistaats verglich, ließ in Whitehall die Alarmglocken schrillen. Vier Jahre später war die Föderation Geschichte.

Ducker stellt die rhetorische Frage, ob es sinnvoll gewesen sei, die Macht in den Kolonien einer »small, vociferous and ambitious minority« (S. 196) zu übergeben, die zufällig als erste in den Genuss höherer Bildung gelangt sei. Er legt damit den Finger in eine Wunde, die postkoloniale Gesellschaften noch lange zeichnen sollte. Lediglich Ghana habe eine Generation Zeit gehabt, den öffentlichen Dienst mit ausreichend qualifizierten Einheimischen zu besetzen. In Ostafrika hingegen habe ein »nightmare of different terms and conditions of service« (S. 214) geherrscht. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit hatten nur wenige Afrikaner bei den legendären King’s African Rifles den Rang des Majors erklommen, darunter mit Idi Amin ausgerechnet ein berüchtigter Despot im Uganda der 1970er-Jahre.

Die beiden Kapitel zum globalen Umfeld der Dekolonisation und zur Berichterstattung in der Presse sind wenig ergiebig. Dass die Pax Britannica spätestens nach 1945 im Mahlstrom des Kalten Kriegs unterging und die Präsidenten der Vereinigten Staaten für London nicht immer einfache Partner in Fragen der Dekolonisation waren, ist Konsens der Forschung. Die Auswahl der zitierten Presseartikel durch Ducker erfolgte offenbar nicht systematisch, dennoch finden sich dabei bedenkenswerte Kommentare. So schildert die »Times« im Januar 1957 den »sense of watching a film of history-in-the-making being run off in quick motion« (S. 299), was dem roten Faden von Duckers Narrativ entspricht. Einige Monate später befasst sich die »Times« mit der Problematik eines fehlenden »blueprint« (S. 306): die Erfahrungen in einer Kolonie konnten nicht umstandslos auf den Dekolonisationsprozess in einem anderen Territorium übertragen werden.

Duckers Fazit, an das sich ein umfangreicher Teil mit Dokumenten und Reden anschließt, stützt sich im Wesentlichen auf Einlassungen Alan Lennox-Boyds, des Vorgängers Macleods, aus den 1970er-Jahren. Demnach resultierte der beschleunigte Abschied vom Empire aus dem britischen Interesse an der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, den Problemen der heimischen Ökonomie und einer gewissen imperialen Erschöpfung. Die stärksten Passagen in Duckers Buch sind fraglos jene, die sich detailliert, beinahe enzyklopädisch mit den praktischen Herausforderungen des Dekolonisationsprozesses befassen. Dessen Einordnung in einen größeren Rahmen der britischen Nachkriegsgeschichte misslingt indes. Dass Ducker erst kurz vor Abschluss des Bandes die verdienstvolle, 1987 ins Leben gerufene Edition der »British Documents on the End of Empire« entdeckte, hilft dabei, den Stellenwert seiner Ausführungen realistisch zu gewichten.

Gerhard Altmann, Korb

Zitierempfehlung

Gerhard Altmann: Rezension von: John T. Ducker, Beyond Empire. The End of Britain’s Colonial Encounter, Bloomsbury Academic, London 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81934> [17.6.2021].

Jörg Thierfelder/Hans Norbert Janowski/Günter Wagner: Kirche – Sozialismus – Demokratie. Gotthilf Schenkel: Pfarrer, religiöser Sozialist, Politiker

Rezension von: Jörg Thierfelder/Hans Norbert Janowski/Günter Wagner, Kirche – Sozialismus – Demokratie. Gotthilf Schenkel: Pfarrer, religiöser Sozialist, Politiker (Geschichte Württembergs. Impulse der Forschung, Bd. 3)

W. Kohlhammer Verlag | Stuttgart 2020 | 277 Seiten, gebunden | 28,00 € | ISBN 978-3-17-033593-6

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In den Jahren 1932/1933 wandte sich der protestantische Pfarrer Gotthilf Schenkel in seinen Schriften und Predigten wiederholt gegen den Nationalsozialismus. So warnte er vor dem Antisemitismus wie auch vor dem Symbol der neuen Bewegung, dem falschen Kreuz. In einer SPD-Veranstaltung im Wahlkampf 1933 betonte er nochmals, auch in Zukunft müssten Gerechtigkeit, Menschenliebe und Frieden regieren und wenn, so Schenkel weiter, die Welt voll Nazis wäre, so müsse doch das Recht bestehen bleiben. Dieses mutige Auftreten gegenüber dem Nationalsozialismus hatte zur Folge, dass Schenkel noch im März 1933 als erster Pfarrer in Württemberg sein Amt in Stuttgart-Zuffenhausen verlor.

Doch Schenkel war nicht nur ein profilierter Gegner der Nationalsozialisten, sondern liberaler Theologe, Pazifist, Freimaurer, überzeugter Sozialdemokrat und in den 1950er-Jahren schließlich der erste Kultusminister des Landes Baden-Württemberg. Jörg Thierfelder, Hans Norbert Janowski und Günter Wagner sehen in ihm somit eine facettenreiche Persönlichkeit, gleichwohl mit klaren Konturen, die bis dahin noch nicht die ihr angemessene Würdigung erhalten habe. Auf der Grundlage des 2012 dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart übergebenen Nachlasses, der Personalakte im Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart sowie seiner zahlreichen Schriften zeichnen sie Schenkels Lebenslauf nunmehr kompetent nach.

Gotthilf Schenkel wurde 1889 als Sohn eines Basler Missionars in Udupi in Indien geboren. Bereits mit einem Jahr kam er nach Deutschland, 1908 bestand er im Evangelisch-Theologischen Seminar in Urach das Abitur. Unterbrochen durch den Dienst als einjährig Freiwilliger, studierte er bis 1914 Theologie in Tübingen. Nach dem ersten theologischen Staatsexamen war er Vikar in Freudenstadt und Wildbad. Zu diesem Zeitpunkt war er noch ganz im national aufgeheizten Denken der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs befangen. So rief er in einer Abschiedspredigt den ausrückenden Soldaten zu, das Reich sei im Recht und der Krieg durch den Übermut der Feinde provoziert worden. Auch meldete er sich bald als Freiwilliger, doch wurde er bereits im September 1914 schwer verwundet. Die Autoren beschreiben anschaulich, wie Schenkel ab diesem Zeitpunkt den Weg zum Pazifismus fand. Hierbei spielte die Dankbarkeit gegenüber französischen Soldaten, die ihm geholfen hatten, eine Rolle, aber auch der Einfluss von Otto Umfrid (1857–1920), ebenfalls ein protestantischer Pfarrer aus Württemberg, der in seinen Schriften sämtliche Mythen über den Krieg entlarvte und – so die Autoren in Anlehnung an Manfred Schmid – aufzuzeigen versucht habe, »dass eine Welt ohne Krieg nicht nur ein Postulat der Moral und der Vernunft wäre, sondern dass der auf Verträge und Vertrauen gegründete Dauerfriede auch realisierbar und damit eine Forderung und Aufgabe der praktischen Politik sei« (S. 68). Zugleich befasste sich Schenkel nunmehr mit der Ethik der Bergpredigt und der Frage, wie man mit erlittenem Unrecht umgehen solle. Der richtige Weg, um Unrecht zu begegnen, so Schenkel, »ist der Weg der Liebe, Dornenpfad und zugleich Sonnenpfad (…). Wer (…) den Weg der Liebe geht und auf alle Beleidigungen mit Erbarmen antwortet, dem gilt des Heilands Wort: Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen« (S. 69). Das Musterbeispiel für den richtigen Umgang mit Unrecht bildete für Schenkel Mahatma Gandhi (1869–1948), den er 1931 persönlich kennen lernen sollte; 17 Jahre später veröffentlichte er schließlich eine Biografie Gandhis.

Neben dem Eintreten Schenkels für den Frieden zeichnen die Autoren das Engagement des Pfarrers in der sozialen Frage nach. Schenkel war seit 1918 Stadtpfarrer in Zuffenhausen. Hier engagierte er sich unter anderem in der Bodenreformbewegung, aber auch für den Bau von Heimstätten für die Arbeiterschaft. Parteipolitisch gehörte Schenkel zunächst der DDP an. Nachdem diese jedoch 1928 eine Listenverbindung bei einer Kommunalwahl mit der NSDAP eingegangen war, wechselte Schenkel zur SPD. Hier stand er in der Tradition von Pfarrer Christoph Blumhardt (1842–1919) von dem er sagte, Blumhardt habe »im Sozialismus den Ruf Gottes an die Christenheit zur Lösung der sozialen Frage« herausgehört und „durch seinen Beitritt zur Sozialdemokratie die Brücke zwischen christlicher Kirche und sozialistischer Arbeiterschaft“ geschlagen (S. 38). Diesem Ziel fühlte sich auch Schenkel verbunden. Überhaupt wünschte er einen Umbau der Kirche und forderte immer wieder ein Christentum, das sich vor allem im sozialen Engagement für den Schwächeren niederschlage. Hier fühlte er sich dem Diktum Gustav Werners (1809–1887) verpflichtet: »Was nicht Tat wird, hat keinen Wert« (S. 17). Sehr ausführlich schildern die Autoren in diesem Zusammenhang die theologischen Positionen Schenkels als religiöser Sozialist – Positionen, die in der württembergischen Landeskirche zum Teil heftig umstritten waren. Schließlich wird der Freimaurer Schenkel vorgestellt. So wie Schenkel die Brücke zur Arbeiterschaft schlagen wollte, wollte er auch Gebildete für die Kirche wiedergewinnen. In den Idealen der Freimaurer Toleranz, Humanität, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Rechte der Minderheiten, sah er zugleich urchristliche Werte.

Auf die Auseinandersetzung Schenkels mit dem Nationalsozialismus wurde bereits eingegangen. Der Leser erfährt, dass Landesbischof Theophil Wurm (1868–1953) Schenkel keineswegs fallen ließ. Von 1933 bis 1945 musste Schenkel jetzt als unständiger Pfarrer in Unterdeufstetten bei Crailsheim wirken. Dank des Rückhalts bei seiner neuen Gemeinde konnte er sich trotz vielfältiger Denunziationen seitens der örtlichen Nationalsozialisten in der Gemeinde halten. In diesem Zusammenhang stellt der Band auch den engagierten Prediger Schenkel vor, der Jugendliche nicht zuletzt durch die Gründung eines Posaunenchores von NS-Jugendverbänden fernhielt.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte Schenkel wieder im großstädtischen Raum tätig werden. So wirkte er ab 1947 Oberesslingen, zugleich hatte er einen Lehrauftrag für Allgemeine Religionswissenschaften sowie Individual- und Sozialethik an der TH Stuttgart. Natürlich zeichnet der Band auch die Tätigkeit Schenkels bei der Neugründung der religiösen Sozialisten nach wie auch seine kurze Amtszeit als Kultusminister Württemberg-Badens beziehungsweise Baden-Württembergs. In die Amtszeit fällt unter anderem die Gründung des Amtsblattes Kultus und Unterricht. Auch bemühte sich Schenkel um die Einführung der christlichen Simultanschule in ganz Baden-Württemberg. Allerdings sollte es erst 1967 zu deren Einführung im Regierungsbezirk Württemberg-Hohenzollern kommen. Die Darstellung wird abgerundet durch eine Dokumentation von Schriften und Predigten Schenkels (S. 191–261).

Es ist den Autoren gelungen, mit Schenkel eine Persönlichkeit vorzustellen, die als Pfarrer mutig dem Nationalsozialismus widerstanden ist und dabei als religiöser Sozialist eine ganz eigene Position außerhalb der Bekennenden Kirche formuliert hat.

Michael Kitzing, Singen am Hohentwiel

Zitierempfehlung

Michael Kitzing: Rezension von: Jörg Thierfelder/Hans-Norbert Janowski/Günter Wagner, Kirche – Sozialismus – Demokratie. Gotthilf Schenkel: Pfarrer, Religiöser Sozialist, Politiker (Geschichte Württembergs. Impulse der Forschung, Bd. 3), W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81935> [17.6.2021].

Ian Kershaw: Achterbahn. Europa 1950 bis heute

Rezension von: Ian Kershaw, Achterbahn. Europa 1950 bis heute

Deutsche Verlags-Anstalt | München 2019 | 832 Seiten, gebunden | 38,00 € | ISBN 978-3-421-04734-2

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Darstellungen zur Geschichte Europas häufen sich. Sieben Überblicke zur Geschichte Europas sind allein 2018 und 2019 herausgekommen, zwei Überblicke zur europäischen Geschichte als Ganzes, drei Synthesen zur Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, zwei Synthesen zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert bzw. seit 1945, darunter auch die Synthese von Ian Kershaw.[1] Neu ist, dass wiederbelebende Überblicke angelsächsischer und französischer Autoren auf den deutschsprachigen Markt kommen, nachdem lange Zeit deutsche Autoren vorherrschten. Neu ist auch, dass die Synthesen, die Europa bis zur Gegenwart behandeln unter dem Eindruck der schweren Krisen der Europäischen Union seit 2009 geschrieben wurden.

Was bringt Ian Kershaw Neues oder anderes? Jedenfalls enthält sein Buch keine neue Einteilung der Epochen: nach den bitteren Notjahren, aber auch Weichenstellungen direkt nach dem Zweiten Weltkrieg behandelt er zuerst die politische Restabilisierung Europas und das Wirtschaftswunder Europas in den 1950er- und 1960er-Jahre, danach die Krisenzeit der 1970er-Jahre und den tiefen politische Umbruch 1989 mit dem Ende des Kalten Kriegs, daran anschließend die einigermaßen glücklichen europäischen 1990er-Jahre und frühen 2000er-Jahre, am Ende das Jahrzehnt der Krisen ab 2009 bis zur Gegenwart. Ian Kershaw hat diese Entwicklung zwar mit dem ungewöhnlichen Bild der Achterbahn zu fassen versucht. Im Ganzen präsentierter jedoch das Narrativ, das man erwartet, spannend und versiert geschrieben, aber kein neuer Plot.

Kershaw gibt selbst keine direkte Antwort darauf, was er Neues bieten möchte. Kershaw, Brite, Emeritus, der in Sheffield lehrte, hat seit Eric Hobsbawm die meistgekauften deutschsprachigen Bücher eines britischen Historikers zur jüngeren deutschen Geschichte geschrieben, ist vor allem durch seine Biografie Hitlers und danach durch den »Höllensturz«, durch seine Darstellung der europäischen Geschichte 1918–1949 bekannt geworden. Aber das Buch »Achterbahn« schreibt er nicht, wie man erwarten könnte, als eine Art zweiten Akt des 20. Jahrhunderts, als Wiederaufstieg nach dem »Höllensturz«. Er folgt nicht Eric Hobsbawms, der in seinem kurzen 20. Jahrhundert der verheerenden ersten Jahrhunderthälfte das »Golden Age« folgen ließ. Er hat auch eine andere Orientierung als das gleichzeitig geschriebene Buch Konrad Jarauschs zu Europa im 20. Jahrhundert mit dem vielsagenden Titel »Aus der Asche«. Kershaw fand es im Gegenteil schwierig, dieses Buch zu schreiben, weil sich in der Geschichte Europas seit 1950 kein zentrales Thema fand. Diese Epoche war »voller Wendungen und Wechselfälle, Auf und Abs und willkürlicher Wechselfälle« (S. 9). Deshalb wählte er den Titel »Achterbahn«. Ian Kershaw geht sogar so weit, für die Einleitung des Buches die Überschrift »Zwei Epochen der Unsicherheit« zu wählen, die Unsicherheit eines Atomkriegs in den 1950er-Jahren und die neue »Matrix der Unsicherheit«, die sich allmählich seit den 1980er-Jahren abzeichnete, die für Kershaw in der deregulierten Wirtschaft, in der Globalisierung, in der Digitalisierung und in der multipolaren Weltordnung besteht. Er sieht zwar durchaus Fortschritte in der Geschichte Europas seit 1950, die er eingehend behandelt: die enormen materiellen Verbesserungen des Lebensstandards und des Sozialstaats, die mentalen Fortschritte in der Toleranz gegenüber dem Anderen, im Respekt vor den Menschenrechten, in der Ablehnung der Todesstrafe, auch den politischen Fortschritt des Aufgebens kontinentaler Großmachtambitionen in Deutschland. Aber in dem Dreivierteljahrhundert seit 1950 geriet Europa in seiner Sicht von einer Unsicherheit in die andere. Deshalb »Achterbahn«.

Eine zweite Besonderheit des Buches: Mehr als die meisten anderen Synthesen ist das Buch vom dramatischen Erzählen großer Ereignisse geprägt. Große europäische Ereignisse seit der Jahrhundertmitte, die Berlin-Krise 1958, der Bau der Mauer 1961, die Studentenproteste von 1968, die Ölpreis- und Währungsschocks der 1970er-Jahre, der Zusammenbruch der südeuropäischen Diktaturen 1974/75, die Perestroika ab 1985, der Umbruch 1989 und die deutsche Einheit, der Bürgerkrieg in Jugoslawien, der Vertrag von Maastricht, die Finanzkrise 2009–2012, die Flüchtlingskrise 2015/16 und der Brexit 2016 werden spannend dargestellt und der Leser in die Dramatik hineingezogen. Darin besitzt Ian Kershaw eine Meisterschaft., die er souverän einsetzt. Man muss allerdings hinzufügen: Die historische Analyse fällt deshalb nicht weg. Das Buch enthält gleichzeitig eine ganze Reihe kluger Analysen etwa zur politischen Vereinheitlichung Westeuropas im Kalten Krieg, zur Instabilität des Ostblocks, zum west- wie osteuropäischen Wirtschaftswunder, zu den Folgen von 1968, zu der Bedeutung der Perestroika im östlichen Europa, zur Globalisierung Europas seit den 1990er-Jahren, zu den politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten der 2010er-Jahre. Solche starken Analysen drehen sich vor allem um politische Entwicklungen, nicht selten auch um ökonomische Entwicklung, seltener um kultur- oder sozialhistorische Umbrüche. Kultur- und Sozialgeschichte fällt nicht aus, aber wird nicht so bestechend analysiert wie etwa für das 19. Jahrhundert in den Synthesen von Willibald Steinmetz oder Richard Evans. Die Kombination von dramatischem Erzählen von Ereignissen und politischer Analyse ist jedoch eine der starken Besonderheiten des Buches.

Eine dritte Besonderheit ist die Darstellung der europäischen Nationalstaaten. Während Richard Evans in seiner Geschichte Europas im 19. Jahrhundert sich von vornherein von der nationalstaatlichen Darstellung absetzt, wechselt Kershaw den Zugang. Wenn es um westeuropäische politische Stabilisierung, um das Wirtschaftswunder, um die Kultur und die Aufarbeitung der Vergangenheit, um Unruhen im Ostblock, um Studentenbewegung oder um die Revolution von 1989 geht, dann ist sein Buch eine Wanderung durch die europäischen Nationalstaaten, unter denen Großbritannien und Deutschland besonders genau angesehen werden. Wenn es um die potenziell bedrohlichen Entwicklungen, also um Globalisierung, um Ölschocks, um internationales Währungssystem, um marktliberale Konjunkturpolitik und Abwendung vom Keynesianismus oder um Globalisierung geht, wird der Blick international. Auch in den Passagen über die Europäische Union werden nationalstaatliche Akteure meist im Hintergrund belassen. Seine Deutung der Europäischen Union ist stark von den europäischen Krisen seit 2009 geprägt. Er sieht die Europäische Union als notwendig und nutzbringend, eher zu wenig supranational, aber 2017, als er dieses Buch schrieb, auch als unfertig an, weil sie in seinen Augen zu wenig unter den Bürgern verankert und nicht genug entscheidungsstark angesichts der Globalisierung, des Klimawandels, der Digitalisierung und der multipolaren Weltordnung ist. Vielleicht hätte er 2020 etwas anders geschrieben.

Am Ende fragt man sich, wie weit die Deutung der »Achterbahn«, der »Auf und Abs« der europäischen Geschichte seit 1950 trägt. Sie erfasst Einiges, aber man hätte gerne dann und wann mehr Diskussion anderer Deutungen gelesen. Was spricht dagegen, die europäische Geschichte seit 1950 zuerst als Abstieg von der Weltherrschaft und dann als Wiederaufstieg zum souveränen Kontinent und Akteur in der Globalisierung schreiben? Oder sie zuerst als politische Zerklüftung und scharfe wirtschaftliche Gegen­sätze und später als politisch organisierter Kontinent mit wirtschaftlichen Konvergenzen zu schreiben? Und was spricht dagegen, die Geschichte Europas in ihren weltgeschichtlichen Zusammenhängen zu schreiben (nicht nur gelegentlich etwa in der Zeit des Koreakriegs oder bei den Kriegen in Afghanistan und Irak) und die intellektuellen Voraussetzungen der weltoffenen britischen akademischen Institutionen zu nutzen?Solche Fragen ändern nichts daran, dass dieses Buch eine erstklassige, hervorragend recherchierte, gut erzählende und gut analysierende, souverän organisierte, sehr lesenswerte Synthese der Geschichte Europas ist.

Hartmut Kaelble, Berlin

Zitierempfehlung

Hartmut Kaelble: Rezension von: Ian Kershaw, Achterbahn. Europa 1950 bis heute, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81936> [17.6.2021].

[1]Christophe Charle/Daniel Roche (Hrsg.), L’Europe. Encyclopédie historique, Arles 2018; Richard Evans, Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch 1815-1914, München 2016; Etienne Francois/Thomas Serrier (Hrsg.), Europa.Die Gegenwart unserer Geschichte, Darmstadt 2019; Konrad H. Jarausch, Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018; Johannes Paulmann, Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube, Europa 1850–1914, München 2019; Willibald Steinmetz, Europa im 19 Jahrhundert, Frankfurt am Main 2019.

Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955

Rezension von: Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955

Rowohlt Berlin | Berlin 2019 | 480 Seiten, gebunden | 26,00 € | ISBN 978-3-7371-0013-7

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Harald Jähner strukturiert seine Darstellung des Jahrzehnts zwischen Weltkriegsniederlage und Wirtschaftswunder mit der folgenden psychologischen Diagnose: »Während die Erinnerung die Vergangenheit für gewöhnlich in ein umso milderes Licht taucht, je mehr Jahre uns von ihr trennen, gilt für die Nachkriegszeit das Umgekehrte. Sie wurde im Rückblick immer düsterer. Ein Grund dafür liegt in dem verbreiteten Bedürfnis der Deutschen, sich als Opfer zu sehen. Je schwärzer die in der Tat schrecklichen Hungerwinter von 1946 und 1947 geschildert wurden, umso weniger wöge, so glaubten offenbar viele, am Ende ihre Schuld«. (S. 11)

Diesen Verdrängungsmechanismus stellt der Autor, früherer Kulturjournalist bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie der Berliner Zeitung und Honorarprofessor an der UDK Berlin, mehrfach als psychologische Konstante im deutschen Durchschnittsbewusstsein fest. »Der Überlebenstrieb schaltet Schuldgefühle ab«, hob er hervor, um sich dann die sein Buch durchziehende Grundfrage vorzulegen, wie »auf der Basis von Verdrängung und Verdrehung dennoch zwei auf ihre Weise antifaschistische, vertrauenerweckende Gesellschaften entstehen konnten«. (S. 13) Insbesondere die »Niemandszeit« zwischen 1945 und 1949 bildet eine Art blinden Fleck in der kollektiven Erinnerung, »weil ihnen das institutionelle Subjekt« fehle, das heißt eine deutsche Staatlichkeit im Sinne von normativer Zuständigkeit. (S. 14) Es waren die vier Siegermächte, die die Geschicke zwischen 1945 und 1949 leiteten und den Kampf um die Köpfe führten. Und viele dieser Köpfe waren nur allzu dankbar, nicht zu genau zurückschauen zu müssen. Es gab keine »Stunde Null«, sondern Millionen von Menschen, die um ihr nacktes Überleben kämpften, die ihre Heimat verloren hatten, kriegsversehrt, ausgebombt, beinahe verhungert waren, und es gab die Überlebenden der Konzentrationslager, die befreiten Zwangsarbeiter, die langsam zurückkehrenden Emigrantinnen und Emigranten.

Wie Jähner beschreibt, waren in dieser Lage des Chaos Urinstinkte gefragt, um das Essen zu sichern, um an Lebensnotwendiges zu kommen, also Schwarzmarkt und »Fringsen«, Tauschhandel und »Stoppeln« auf dem Feld, auch Plündern und Stehlen. Dies ist die psychologische Gemengelage, die Jähner diese Zeit als »Wolfszeit« charakterisieren lässt: »Dass sich jeder nur um sich selbst oder sein Rudel kümmerte, prägte das Selbstbild des Landes bis tief in die Fünfziger hinein«. (S. 10) Und Jähner lässt viele Zeitzeugen über diese »Wolfszeit« zu Worte kommen. Dazu gehören der Theaterkritiker Friedrich Luft und der NS-Verfolgte Walter Eiling ebenso wie die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, der Arzt Walter Seitz, der Schauspieler Fred Denger und der Dirigent Leo Borchard. Diesen Vier war es vergönnt, einen Ochsen unversehrt zu finden und mit Hilfe eines Sowjetsoldaten zu schlachten. Der Blutgeruch lockte weitere hungrige Menschen aus den Kellern und Trümmern, die sich über das Tier hermachten und es roh ausweideten. Szenen wie diese machen den Begriff »Wolfszeit« plastisch. (S. 20–22) Und zu alledem verfasste der Schriftsteller Wolfgang Borchert eine Blaupause der Amnesie, indem er die Heimatlosigkeit der Rückkehrer quasi zum Programm erhob, denn die verlorene Heimat stand synonym für die verlorene Erinnerung an die eigene Verantwortung und Mittäterschaft an der Katastrophe. Damit schrieben Borchert und andere Schriftsteller den Mitmenschen gewiss aus dem Herzen. Paul Celans »Todesfuge« fand, obschon 1948 erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht, noch lange keinen Eingang in die Herzen und Köpfe der Menschen. Die »Stunde Null« war die Chiffre für die Erinnerungsbereinigung der Verbliebenen und Heimkehrenden. Das Kapitel »In Trümmern« berichtet von Antifa-Ausschüssen, die in Duisburg ehemalige NS-Mitglieder zu Aufräumeinsätzen verpflichteten, damit diese einen Teil ihrer Schuld abtrügen, von Aufräumeinsätzen in Magdeburg, Berlin und anderswo, vom Bemühen der Alliierten, unbescholtene Bürgermeister zu finden und einzusetzen. In Dresden wurden die letzten »Enttrümmerungsarbeiten« erst 1977 eingestellt. (S. 42) Jähner widmet »Ruinenschönheit und Trümmertourismus« ein eigenes Unterkapitel, in dem sowohl die Dokumentation der Kriegsschäden als auch die daraus erwachsende eigentümliche Ästhetik menschlichen Lebens vor ausgebombten Innenstädten vor- und mit vielen Fotos dargestellt werden: »Gut machten sich in Trümmern spielende Kinder, Liebespaare und natürlich Mode. Während die einen noch in den Trümmern hausten, präsentierten andere darin die Abendkleider der ersten Nachkriegsgeneration«. (S. 52)

Um sich das Ausmaß von Zerstörung und Chaos vor Augen zu führen, sei folgender Satz des Autors zitiert: »Im Sommer 1945 lebten in den vier Besatzungszonen ungefähr 75 Millionen Menschen. Von ihnen waren weit mehr als die Hälfte nicht dort, wo sie hingehörten oder hinwollten«. (S. 61) Dies betraf die Soldaten, die aufs Land evakuierten Stadtbewohner, die KZ-Häftlinge, Gefängnisinsassen und Zwangsarbeiter, genauso die deutschen Flüchtlinge und die Vertriebenen aus Ost- und Ostmitteleuropa. 45 Prozent aller Wohnungen waren zerstört, vor allem in den Städten. So musste Kommunikation zu Fuß erledigt werden, dienten Haustüren an Trümmern oder andere geeignete Stellen als Nachrichtenstätten, zogen sich Menschen in Katakomben zurück und besuchten den Schwarzmarkt und andere Notwendigkeiten des Überlebens. Jähner erzeugt durch seine dichte Darstellung schnell das Bild eines ruhelosen, ameisenähnlichen Hin-und-her-Rennens, einer Rastlosigkeit aus Überlebenszwang. Auf eine weitere Ebene der »Wolfszeit«, nämlich die der Verrohung selbst der Displaced Persons als einer psychologischen Folge ihrer Versklavung durch das NS-Zwangssystem, weist Jähner ebenfalls hin. Andererseits blieb selbst befreiten KZ-Häftlingen oft nichts anderes übrig als ihre KZ-Kleidung auch weiterhin zu tragen, da sie ohne jegliche Habe waren. (S.74ff)

Zurecht relativiert Jähner die nachträgliche Beschönigung des Verhältnisses zwischen den angestammten deutschen Bewohnern und den zwölf Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen als einer Erfolgsgeschichte der Integration. Tatsächlich waren die Menschen aus dem verlorenen Osten zunächst ungern gesehene Nahrungs- und Wohnungskonkurrenten, wurden als »Zigeunerpack« oder »Polacken« beschimpft und der vor 1945 aggressiv nach Außen gerichtete Rassismus betraf nun die deutschen Binnenmigranten. Nach 1949 lebte man tatsächlich eher nebeneinander als miteinander, auch eine soziale Heterogenisierung fand lange Zeit nicht statt. Man blieb lieber im eigenen »Wolfsrudel«. Und wer immer noch menschliches Strandgut war, fand sich meistens auf den Bahnhöfen wieder. Und das war ebenso Alltag unter dem Wolfsgesetz: Mundraub war eine wichtige Strategie des Überlebens. Wer sich auf dem Schwarzmarkt bewegte, musste selbst mit allen Wassern gewaschen sein oder eben dies erlernen, um nicht unterzugehen.

Dem bereitete die Währungsreform vom 20. Juni 1948 nach und nach ein Ende. Dennoch führten wiederum deren Ungleichgewichte zu erneuten sozialen Spannungen, die sich beispielsweise in lokalen Marktunruhen und im Generalstreik in der Bizone vom 12. November 1948 entluden, was bei Jähner allerdings unerwähnt bleibt. Ein Fazit des Autors: »Mag man auch die mangelnde Wahrheitsliebe der deutschen Nachkriegsgesellschaft verurteilen, so kommt man kaum umhin, ihr eine Verdrängungsleistung zu attestieren, von der die Nachkommen aufs äußerste profitierten «. (S. 405) Schließlich erhielten sie noch in den Trümmern von den Alliierten die Chance zu einem Neuanfang, selbst wenn dieser in den Kalten Krieg und die deutsche Teilung mündete. Jähners Kaleidoskop einer Zwischenzeit zwischen Nachkriegschaos und wirtschaftswunderlicher Selbstgerechtigkeit ist lesenswert und überdies reichlich mit Fotomaterial illustriert. Dafür gab es übrigens den Preis der Leipziger Buchmesse 2019 in der Kategorie Sachbuch/Essayistik.

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

Zitierempfehlung

Holger Czitrich-Stahl: Rezension von: Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955, Rowohlt Verlag, Berlin 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81937> [17.6.2021].

Stephen Wertheim: Tomorrow, the World. The Birth of U.S. Global Supremacy

Rezension von: Stephen Wertheim, Tomorrow, the World. The Birth of U.S. Global Supremacy

Harvard University Press | Cambridge/London 2020| 272 Seiten, gebunden | 23,95 £ | ISBN 978-0-67424-866-3

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Auch nach der Abwahl von Präsident Donald Trump werden die Diskussionen um die US-amerikanische Rolle in der Welt nicht verstummen. Es ist das Verdienst Stephen Wertheims, mit seinem Buch den Blick auf die historischen Ursprünge der amerikanischen Stellung als globale Supermacht zu lenken, die uns – auf den ersten Blick – beinahe als selbstverständlich erscheint.

Wertheim zielt darauf ab, bis in die Gegenwart fortbestehende Vorstellungen zu erschüttern, es sei die natürliche Rolle der Vereinigten Staaten, als globale, militärisch dominante Führungsmacht in Erscheinung zu treten. Vielmehr habe es sich dabei um eine bewusste Entscheidung gehandelt, die in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs gefallen sei (S. 3).

Im Mittelpunkt des Buches steht die Frage, wie es zu dieser Entscheidung kam und wie sie sich ideengeschichtlich rekonstruieren lässt, wobei Wertheim als »agent that made the decision for dominance« (S. 7) die außenpolitische Elite des Landes ausmacht. Dazu zählen für ihn primär die Experten der Stiftungen, Universitäten, Denkfabriken und Medien. Da der außenpolitische Apparat der amerikanischen Regierung bei Kriegsausbruch personell schwach besetzt war, konnten diese etwa 100 Experten als »proto-national security state« (S. 8) der Nachkriegsplanung fungieren. Letztlich sei es ihnen gelungen, die Zielsetzung globaler amerikanischer Dominanz in »the obvious-seeming response to the events of the war« (S. 8) zu verwandeln.

Im ersten Kapitel umreißt Wertheim US-amerikanische Ideen des Internationalismus seit der Nationsgründung bis in die 1930er-Jahre. Er hebt darauf ab, dass Internationalismus zunächst mit friedlicher Interaktion mit anderen Nationen assoziiert und als Gegenmodell zur europäischen Machtpolitik aufgefasst worden sei. Erst Mitte der 1930er-Jahre sei Internationalismus von Befürwortern einer globalen amerikanischen Vorherrschaft besetzt und in diesem Sinne umgedeutet worden. Dafür erfanden sie die Kategorie des Isolationismus als pejorativen Kampfbegriff, um gegenteilige Positionen zu diskreditieren. Das zweite Kapitel rückt Frankreichs zeitgenössisch überraschende militärische Niederlage gegen NS-Deutschland im Mai/Juni 1940 in den Fokus. Von den Planern als Schock wahrgenommen, habe dieses Ereignis zu einer Neubewertung der amerikanischen Rolle in der Welt geführt. Dabei stand den Experten keine Gefahr für das eigene Staatsgebiet vor Augen, sondern das »specter of a Nazi-led world order« (S. 51). Wie im dritten Kapitel dargelegt wird, sei das Projekt globaler amerikanischer Machtprojektion im Verlauf des Jahres 1941 zunächst als amerikanisch-britische Zusammenarbeit ohne Beteiligung anderer Nationen angedacht gewesen. Allerdings stellte dies die Eliten gegenüber der US-Öffentlichkeit vor ein gravierendes legitimatorisches Problem. Ihre globalen Dominanzvorstellungen waren kaum von imperialistischen Herrschaftsambitionen zu unterscheiden, die doch bisher dem nationalen Selbstverständnis als negative Kontrastfolie dienten. Um dieses Problem zu lösen, so Kapitel vier, ließen sich die Experten entgegen ursprünglichen Absichten auf die Idee einer Weltorganisation ein, allerdings keineswegs aus Überzeugung, sondern als Täuschungsmanöver – als »simulacrum of Wilsonianism […], making supremacy safe for democracy.« (S. 132) Kapitel fünf argumentiert dementsprechend, dass die Debatte über die Vereinten Nationen in der US-Öffentlichkeit zwischen 1943 und 1945, die vermeintlich zwischen Isolationisten und Internationalisten ausgetragen worden sei, tatsächlich einer Legitimationskampagne gleichkam: »Advocates of postwar supremacy seamlessly blended their cause with that of world organization.« (S. 165) Seitdem, so Wertheims Fazit, habe sich in allen US-Administrationen dieser Konsens der globalen amerikanischen Dominanz fortgesetzt (S. 179–180).

Das Buch hinterlässt insgesamt einen zwiespältigen Eindruck, was nicht zuletzt mit seinem hybriden Charakter zusammenhängt: Einerseits handelt es sich um eine eloquente, durchaus anregende tagespolitische Streitschrift, die den bis heute fortbestehenden weltumspannenden Dominanzanspruch der USA kritisch hinterfragt.[1] Andererseits hat das Buch mit seinen ambitionierten Thesen zugleich den Ehrgeiz, als quellengesättigte historische Studie und gewichtige Forschungsintervention gelesen zu werden. Dabei fällt ins Auge, wie schmal sich der tatsächliche Untersuchungszeitraum – 1939 bis 1945 – und der empirische Untersuchungsgegenstand – knapp 100 Intellektuelle, die in diesem Zeitraum hunderte Ideenpapiere verfassten – gegenüber den weitreichenden historischen Schlussfolgerungen ausnehmen. Die relative Bedeutung dieses Expertenzirkels für das Regierungshandeln wird nie ganz zufriedenstellend abgewogen, sondern erscheint eher als konzeptionelle Setzung. Die zentrale Frage, wie aus Expertendiskursen und Denkschriften – zumal in dieser ungewöhnlichen Konstellation – konkret implementierte Politik hervorging, wird nicht beantwortet. Dies hängt auch damit zusammen, dass die politischen Entscheidungsträger in Wertheims Darstellung kaum in Erscheinung treten. Diese verengte (Akteurs-)Perspektive führt außerdem dazu, dass moralische Motive oder Aufladungen des außenpolitischen Handelns kategorisch ausgeblendet werden.

Darüber hinaus irritiert, wie statisch und teleologisch Wertheims Auffassung eines 1945 erreichten und bis in die Gegenwart reichenden Konsenses der globalen Vorherrschaft innerhalb der amerikanischen Politik erscheint. Die zeitgenössische Offenheit der nachfolgenden Geschichte des Kalten Krieges, die außerhalb des empirischen Blickfeldes der Untersuchung liegt, ist Wertheim kaum eine Randnotiz wert. Dabei wäre es angezeigt, seine Befunde in eine breitere Perspektive der amerikanischen Hegemonieaspirationen im 20. Jahrhundert einzuordnen. Blickt man allein auf die ersten Jahre nach Kriegsende, so wird deutlich, dass damals die amerikanische Orientierung auf globale militärische Vorherrschaft vielleicht angelegt, aber keineswegs ausgemacht war. Die Militarisierung der amerikanischen Eindämmungspolitik erfolgte beispielsweise erst 1950 und wäre ohne den überraschenden Angriff nordkoreanischer Truppen auf Südkorea – der Beginn des Koreakriegs – kaum vorstellbar gewesen.[2]

Während die Studie viele aufschlussreiche Detailbeobachtungen aufweist und als politische Intervention besticht, ruht ihr historisches Gesamtargument auf brüchigem Fundament.

Arvid Schors, Köln

Zitierempfehlung

Arvid Schors: Rezension von: Stephen Wertheim, Tomorrow, the World. The Birth of U.S. Global Supremacy, Harvard University Press, Cambridge/London 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81938> [17.6.2021].

[1] Nicht zufällig ist der Autor stellvertretender Forschungsleiter des »Quincy Institute for Responsible Statecraft«, eines Think Tanks, der für eine neue amerikanische Außenpolitik wirbt. Vgl. URL: <https://quincyinst.org/author/swertheim/>; URL: <https://quincyinst.org/about/> (15.6.2021).

[2] Vgl. Hal Brands, What Good is Grand Strategy? Power and Purpose in American Statecraft from Harry S. Truman to George W. Bush, Ithaca/London 2014, S. 45–49; Arvid Schors, Historische Quellenanalyse, in: Claudius Wagemann/Achim Goerres/Markus Siewert (Hrsg.), Handbuch Methoden der Politikwissenschaft, Wiesbaden 2018, S. 13–14.

 

Wolfgang Dunkel/Heidemarie Hanekop/Nicole Mayer-Ahuja (Hrsg.): Blick zurück nach vorn. Sekundäranalysen zum Wandel von Arbeit nach dem Fordismus

Rezension von: Wolfgang Dunkel/Heidemarie Hanekop/Nicole Mayer-Ahuja (Hrsg.), Blick zurück nach vorn. Sekundäranalysen zum Wandel von Arbeit nach dem Fordismus (Internationale Arbeitsstudien, Bd. 25)

Campus Verlag | Frankfurt am Main/New York 2019 | 327 Seiten, kartoniert | 39,95 € | ISBN 978-3-593-51096-5

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Gegen Ende des 20. Jahrhunderts setzte eine Debatte um die Anwendbarkeit der in quantitativen Forschungskontexten längst verbreiteten Praxis der Sekundäranalyse auf qualitative Forschungsdaten ein. Von hier an dauerte es noch gut 20 Jahre, bis in der Bundesrepublik die Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) ins Leben gerufen wurde. Innerhalb einzelner Disziplinen mit relativ homogenen Methodenpaletten kam es schon vor dieser Initiative zu Vorstößen im Bereich der Archivierung und Kuratierung der ansonsten nicht zu bewältigenden Heterogenität qualitativer Forschungsdaten. Dazu zählt auch die Sektion Arbeits- und Industriesoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, für die die Sozialforschungsstelle Dortmund, das Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München, das Soziologische Forschungsinstitut in Göttingen sowie das Institut für Soziologie an der Universität Jena umfangreiche und recht homogene Datenmengen sammelten. Der von den Autoren und Autorinnen aus diesen Instituten verfasste Band »Blick zurück nach vorn« leistet gleich drei Beiträge: Er stellt das Forschungsdatenzentrum eLabour vor, vertieft die methodologische Debatte zur Sekundäranalyse qualitativer Daten und gibt einen Einblick in Pilotprojekte, im Rahmen derer Forschende an den in eLabour archivierten Beständen experimentierten.

In der Einleitung stecken Nicole Mayer-Ahuja, Wolfgang Dunkel und Heidemarie Hanekop den zeitlichen Rahmen der folgenden Kapitel ab: nach dem Fordismus oder »nach dem Boom« (eine innerhalb des Sammelbandes häufig zitierte Formulierung von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael aufzugreifend). Die einzelnen Primärstudien mit ihrem privilegierten Blick ins Innere der Werkstore dienen laut den Autoren und Autorinnen als »Brennspiegel, in dem sich ökonomische Entwicklungen, Veränderung von politischer Regulierung sowie gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Reproduktion ›im Kleinen‹ niederschlagen und untersuchen lassen (S. 11). Die nachfolgenden Kapitel zeigen auch, welche Fallstricke der Wandel als Untersuchungsobjekt bereithält.

Dem Kapitel »Archivierung und Sekundäranalyse qualitativer Daten aus der Arbeitsforschung« kommt eine Leitfunktion zu. Es führt in die internationale Debatte um die Archivierung und Sekundäranalyse qualitativer Daten ein, umreißt die methodologischen Herausforderungen und stellt das Forschungsdatenzentrum eLabour vor. Hanekop und Dunkel versuchen darin, Gütekriterien für eine Trennung von Forschungsdaten und ihren Erzeugern und Erzeugerinnen zu entwickeln. Sie plädieren für eine »doppelte Kontextualisierung«, die die Forschenden mit der notwendigen Kompetenz ausrüstet, um mit dem Material der Primärstudie souverän umzugehen: die »Kontextualisierung der Daten im Entstehungskontext« und die »Kontextualisierung des Forschungsgegenstandes« (S. 48). Zudem enthält das Kapitel grundlegende Überlegungen zum Thema Datenschutz und der in qualitativen Kontexten angebrachten Forschungsethik.

Die folgenden sieben empirischen Pilotstudien experimentieren mit unterschiedlichen Längsschnittmethoden. Mayer-Ahuja und Peter Birke wählen eine Re-Analyse von vier qualitativen Fallstudien in der bundesdeutschen Automobilindustrie aus dem Zeitraum von Anfang der 1990er- bis Mitte der 2000er-Jahre, um die Wechselwirkungen zwischen veränderten Kooperationsformen im Arbeitsprozess und Labor Unrest zu untersuchen. Aus Vorsicht, das experimentelle Verfahren der Sekundäranalyse nicht gleich beim ersten Anlegen zu überspannen, bleiben die Ergebnisse dieser Studie etwas tautologisch. Zumindest gelingt es, eine Ahnung von dem Möglichkeitsraum zu vermitteln, der mit dieser Methode erreichbar ist, und den Eindruck einer Transparenz, die dafür notwendig ist.

Weniger zurückhaltend formuliert Thomas E. Goes seine Analyse der Veränderung von Arbeitsbeziehungen in der Automobilindustrie zwischen 1980 und Anfang der 2000er-Jahre. Er betreibt viel Aufwand, um die Wendepunkte zwischen »einem hegemonialen Kontrollsystem« und einem »hegemonialen Marktdepotismus« (S. 99) zu identifizieren. Die Leserinnen und Leser gewinnen den Eindruck, dass die Sekundäranalyse mit ihrer Gebundenheit an die jeweilige Ursprungsfragestellungen und entsprechend vorstrukturierte Forschungsdaten besser geeignet wäre, Epochenbeschreibungen zu dekonstruieren als zu konstruieren. Diese Beobachtung machen in ihrem bemerkenswerten Beitrag voller methodologischer Reflexionen Wolfgang Menz und Sarah Nies. Sie weisen auf den für die Open-Access-Bewegung so wesentlichen Gedanken hin, dass die Sekundäranalyse eine einmalige Gelegenheit biete, »die in jedem Projekt produzierten ›inhaltlichen Überschüsse‹« (S. 179) zu heben. Als einzige weisen sie auch auf ein Problem hin, das die Leserinnen und Leser bereits in den vorhergehenden Kapiteln zu spüren bekamen: das »Darstellungsproblem« (S. 213). Während der Betriebskontext der Primärstudien eine gewisse Kohärenz und sogar narrative Dimension bietet, bricht diese Einheit in Sekundäranalysen in mehrere Kontexte, was es schwierig macht, nicht den Überblick zu verlieren. Hier deutet sich ein Dilemma der Methode an: Je mehr aufrichtigen Kontextualisierungsaufwand die Autoren und Autorinnen betreiben, desto mehr artet die Beschreibung der Befunde in einem Rhizom aus.

In ihrem Beitrag wiesen Menz und Nies auch auf das durch einen stark eingeschränkten Materialpool bedingte iterative Verfahren hin, das sich hinter jeder Sekundäranalyse verbirgt. Die an Längsschnittperspektiven interessierten Soziologen und Soziologinnen befinden sich hier übrigens in derselben Position wie Historikerinnen und Historiker, die ihr Forschungsdesign von jeher mit der Verfügbarkeit von Forschungsdaten abstimmen mussten. Umso fruchtbarer wäre ein interdisziplinärer Dialog über Forschungsdesigns, Konzepte von Zeitlichkeit und Wandel, der in diesem Band leider vernachlässigt wird. Aus Beiträgen wie dem von Felix Bluhm – eine Sekundäranalyse einer Schiffbaustudie des SOFI aus den 1970er-Jahren – wird deutlich, welch reichen Schatz die Primärstudien für die Arbeitsgeschichte darstellen. Eine ähnliche Informationsdichte wäre mittels Oral History nie zu erreichen. Ein Daten- und Methodenmix, bestehend aus Archivforschung und Sekundäranalyse, stellt eine vielversprechende methodologische Herausforderung dar, die in diesem Band keiner Prüfung unterzogen wird.

Wenngleich der Schwerpunkt der vorgestellten Pilotprojekte auf Längsschnittmethoden liegt, so erschöpft dieser Zugang das Potenzial der Sekundäranalyse nicht. Das Ziel John Lüttens und Jakob Kösters im letzten Beitrag des Bandes ist es nicht, den Wandel der Gesellschaftsbilder des Prekariats abzubilden, sondern die Ergebnisse einer aktuellen Studie durch anreicherndes Material zu differenzieren. Ihre Identifikationen nicht-rechtspopulistischer Anteile in den Gesellschaftsbildern deutet die Möglichkeit der Methode an, die jeweiligen Primärstudien gegen den Strich zu lesen. Damit unterminieren sie die inhärente Gefahr der Sekundäranalyse einer Zementierung der Tendenzen innerhalb der Forschungslandschaft. Die Dominanz der Automobilindustrie (vier der sieben Sekundäranalysen) zeigt das Risiko auf, mittels Sekundäranalysen Anachronismen wie den einer Industriegesellschaft zu befördern. Allein der Beitrag von Heike Jacobsen und Ellen Hilf über den Wandel von Berufssachlichkeit im Einzelhandel bietet hier einen dringend benötigten Kontrapunkt. Richtig ist aber auch, dass diese Befangenheit in Zukunft allein dadurch aufgehoben werden kann, dass sich eLabour möglichst schnell etabliert und von Forschenden mit diversen Interessen zur Archivierung ihrer Forschungsdaten herangezogen wird.

Peter Wegenschimmel, Wien

Zitierempfehlung

Peter Wegenschimmel: Rezension von: Wolfgang Dunkel/Heidemarie Hanekop/Nicole Mayer-Ahuja (Hrsg.), Blick zurück nach vorn. Sekundäranalysen zum Wandel von Arbeit nach dem Fordismus (Internationale Arbeitsstudien, Bd. 25), Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81939> [17.6.2021].

Jan-Otmar Hesse/Christian Kleinschmidt/Roman Köster/Tim Schanetzky (Hrsg.), Moderner Kapitalismus. Wirtschafts- und Unternehmenshistorische Beiträge

Mohr Siebeck | Tübingen 2019 | IX + 518 Seiten, gebunden | 109,00 € | ISBN 978-3-16-158907-2

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Der stattliche Band mit dem anspruchsvollen Titel »Moderner Kapitalismus« versammelt neben einer Einleitung der Herausgeber 27 Beiträge, mit denen Werner Plumpe anlässlich seines 65. Geburtstags geehrt wird. Der erste von fünf Themenblöcken behandelt begriffliche und theoretische Fragen und eröffnet mit dem anregenden Versuch Jan-Otmar Hesses, ausgerechnet die als Antipoden bekannten Karl Marx und Eugen Böhm-Bawerk miteinander ins Gespräch zu bringen. Das gelingt, indem Marx’ Ausführungen zur Zirkulation als Ausweis einer Tendenz zur fortwährenden Zerlegung von Produktionsprozessen gelesen und in Beziehung zu Böhm-Bawerks Thesen zu immer längeren »Produktionsumwegen« gesetzt werden. Damit ist indessen keine dogmengeschichtliche Miszelle intendiert. Vielmehr soll so der Blick systematisch auf die komplexen globalen Wertschöpfungsketten gelenkt werden, welche die jüngere wirtschaftswissenschaftliche Forschung verstärkt analysiert hat und die Hesse zum Ausgangspunkt »einer kritischen Analyse des Kapitalismus« (S. 25) nehmen will. Im Anschluss an diesen programmatischen Beitrag widmet sich Thomas Welskopp in dem ihm eigenen streng systematischen Zugriff der Frage nach dem Stellenwert der »freien Lohnarbeit« im Kapitalismus. Ohne die grundsätzliche Kompatibilität des Kapitalismus mit verschiedenen Formen unfreier Arbeit zu bestreiten, sieht er im »Eindringen des Kapitals in die unmittelbare Organisation der Produktions- und damit der Arbeitsprozesse« (S. 45) letztlich doch eine systematische Verbindung zwischen freier Lohnarbeit und Kapitalismus. Mehr wissenschaftsgeschichtlich ausgerichtet ist der Beitrag Roman Kösters zur Kapitalismusdebatte in den USA der Zwischen- und Nachkriegszeit, den er in ein überzeugendes Plädoyer für mehr begriffsgeschichtliche Forschung ausmünden lässt. Nicht mehr ganz im Zentrum der Begriffs- und Theoriediskussion stehen die übrigen Aufsätze des ersten Teils: André Steiner zeigt, dass es dem sozialistischen Weltmarkt nie gelang, sich vom kapitalistischen gänzlich unabhängig zu machen, Michael C. Schneider umkreist das Verhältnis von Wissenschaft und kapitalistischer Wirtschaft und Raymond G. Stokes stellt jüngere Debatten um einen grünen Kapitalismus vor.

Der zweite Themenblock stellt Unternehmen in den Mittelpunkt, so zum Beispiel Andreas Fahrmeir in einer anregenden Skizze die examination boards des britischen Bildungssystems. Teils geht es hier um konkrete Einzelunternehmen, wenn etwa Joachim Scholtyseck ein spannendes Kapitel aus der Geschichte des Darmstädter Familienunternehmens Merck erzählt oder Karl Lauschke die Auseinandersetzungen um den Fortbestand der Bremer Hütte 1979–1981 nutzt, um sein Programm einer systematischen Verbindung von Arbeiter- und Unternehmensgeschichte zu entfalten. Die übrigen Beiträge fragen allgemeiner nach den Bedingungen des Erfolgs von Unternehmen oder in Unternehmen. Alfred Kieser demontiert den Mythos eines besonderen unternehmerischen Charismas und Jörg Lesczenski geht der Hauskarriere als einem vermeintlichen Spezifikum deutscher Unternehmensführung im 20. Jahrhundert sowohl hinsichtlich ihrer Verbreitung als auch bezüglich ihrer Leitbildfähigkeit nach. Nicht völlig überzeugend fallen dann Andrea H. Schneider-Braunbergers Thesen zu den Besonderheiten von Familienunternehmen aus, weil die Repräsentativität ihrer wenigen Beispielfirmen unklar bleibt. Dagegen baut Jörg Sydows Plädoyer für eine verstärkte Verbindung von Theorie und Geschichte auf dem Feld der Forschungen zu Unternehmensnetzwerken eine tragfähige Brücke zu Hesses Eingangsbeitrag.

Ganz unterschiedliche Aspekte werden dann auch im dritten Teil unter dem Stichwort »Konsum« aufgegriffen. Ben Wubs kombiniert die bekannten Ausführungen von Sombart und Simmel zur Mode mit knappen Bemerkungen zu Stoffmessen in Frankfurt am Main und Paris nach dem Zweiten Weltkrieg sowie allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Luxus und Demokratie; für den Geschmack des Rezensenten ist das viel zu luftig, als das es in Mode kommen sollte. Ungleich solider sind Vera Hierholzers Rekonstruktion des Kampfes agrarischer Interessenverbände gegen die Margarine im späten Kaiserreich und die informierte Analyse von Lutz Budrass zu kontroversen ernährungsphysiologischen Einschätzungen der Kartoffel in Deutschland während des Ersten Weltkriegs. Christian Kleinschmidt lenkt schließlich den Blick auf die konsumkritischen Invektiven Wilhelm Röpkes, die sich nahtlos einordnen in eine Gesellschaftsauffassung, die als restaurativ-reaktionär weniger falsch als unzureichend beschrieben wäre, wie ein glänzender, von Kleinschmidt wohl übersehener Aufsatz Josef Moosers[1] schon vor Jahren präzise herausgearbeitet hat.

Ein weites Feld behandeln mit »Staats- und Wirtschaftsordnung« auch die Beiträge zum vierten Themenblock. Hochinteressant ist etwa Ralf Bankens Analyse der Folgen des britischen Kaperkriegs 1803–1806 für große bergische Handelshäuser, der die Integration der entwickelten rheinischen Gewerbeerzeugung in den Welthandel der Zeit um 1800 sehr plastisch werden lässt. Ganz grundsätzlich diskutiert dann Louis Pahlow das Verhältnis von Recht und Kapitalismus und demonstriert am Beispiel der Termin- und Börsengeschäfte des späten 19. Jahrhunderts wie eine rechtshistorisch informierte Analyse dieses Zusammenhangs aussehen könnte. Peer Vries’ Beitrag bleibt unkommentiert, weil sein Verfasser einen Umgang mit Kritik pflegt, der weit außerhalb des in der Wissenschaft Üblichen und Zulässigen steht. Als der Rezensent ihn 2016 in dieser Zeitschrift in einem Forschungsbericht[2] kritisch erwähnte, erhielt er nicht nur eine vielseitige E-Mail mit Anwürfen und Beschuldigungen, sondern musste wenig später von Kollegen erfahren, dass diese Mail offensichtlich über einen großen, dem Rezensenten bis heute unbekannt gebliebenen Verteiler verschickt worden war, wohl auch deshalb in englischer Sprache, damit die Diffamierungen auch jene erreichen konnten, welche die in deutscher Sprache formulierte Kritik an Vries gar nicht lesen können. Es ist bemerkenswert, dass ein solches Gebaren, das mit den Grundprinzipien einer der Offenheit und Öffentlichkeit verpflichteten Wissenschaft gänzlich unvereinbar ist, ausgerechnet im Kreise der Wirtschaftshistoriker toleriert wird, die ansonsten nicht müde werden, die Bedeutung von Institutionen, zu denen ja auch Mindeststandards gehören, für das Funktionieren von Wettbewerb herauszustreichen. Von einiger Aktualität ist der von Tim Schanetzky aufgegriffene Begriff des »garantierten Kapitalismus«, ein schon zeitgenössisch nachgewiesenes Etikett für die Wirtschaft der Weimarer Republik. Schanetzky zeigt zunächst, wie in der Diskussion der späten 1970er-Jahre der von Fritz Blaich wieder in die Debatte eingebrachte Begriff sehr rasch von der Borchardt-These verdrängt wurde, und dann, dass dies insofern bedauerlich ist, als dass er daran zu erinnern geeignet war, dass neben den Sozialausgaben auch massive Industrieinvestitionen für die Weimarer Republik typisch waren. Zeitlich knüpft Johannes Bähr mit einer quellennahen Analyse von Deutungen der Weltwirtschaftskrise innerhalb des Reichsverbands der Deutschen Industrie unmittelbar daran an. Die historische Rückbesinnung mit aktuellen politischen Reformvorschlägen verbindet schließlich Harm G. Schröters Blick auf Schiedsgerichte, die von gut funktionierenden und selbstverwalteten Institutionen der Kaufmannschaft in jüngster Zeit zu Tummelplätzen internationaler Anwaltskanzleien geworden seien, deren professionalisiertes und honorarorientiertes Handeln sie zum Medium der Interessendurchsetzung großer Kapitalgesellschaften gemacht habe, was grundlegende Reformen erforderlich mache.

Der Schlussteil des insgesamt sehr lesenswerten Bandes behandelt »Finanzmärkte«. Margrit Schulte Beerbühl zeigt hier zunächst sehr überzeugend, dass es nicht angeht, eine Spekulationskrise wie die 1799 von Hamburg ausgehende als »vormodern« zu etikettieren. Schließlich schlug der Zusammenbruch des überdehnten Hamburger Kreditmarkts, der vor allem Spekulationen auf Zuckerimporte finanzierte, nicht nur auf Handels- und Geldhäuser in Bremen, London und Stockholm, aber auch in Basel, Augsburg und an der amerikanischen Ostküste durch, sondern hatte ernste Folgen für protoindustrielle Produzenten in Europa und Plantagenbesitzer in der Karibik. Dass das englische Parlament die Unterstützung der Letzteren durch Schatzbriefe beschloss, erscheint ebenso aktuell wie die Entsendung von Schiffen mit Geld und Edelmetallen zur Liquiditätssicherung. Ähnliche Dramatik hat Dieter Zieglers präzise Sezierung der Entscheidungsstrukturen in der Commerzbank während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik nicht zu bieten. Ihren Nutzen mindert das nicht. Ausgehend von einer Artikelserie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschreibt dann Korinna Schönhärl, wie in den 1960er-Jahren Günther Schmölders umfragebasiertes Konzept der Steuermoral alternative Forschungsansätze völlig an den Rand drängte – eine interessante Vignette. Und schließlich versucht Friederike Sattler eine Präzisierung des Konzepts des »Finanzmarktkapitalismus«, das ja in der Tat oft sehr unbestimmt geblieben ist. Ob sie allerdings gut beraten ist, dazu vor allem darauf zu schauen, wie sich seit den Ölkrisen der 1970er-Jahre die Terminkontrakte auf Öl auf Ölindustrie und Finanzspekulation verteilten, scheint angesichts der langen Geschichte von Termingeschäften überhaupt fraglich. Das ist hier nicht abschließend zu klären.

Festgehalten sei deshalb abschließend nur, dass jede und jeder, die/der sich für den modernen Kapitalismus oder das wirtschaftliche Geschehen seit dem späten 18. Jahrhundert interessiert, viele der Beiträge dieser Festschrift mit großem Gewinn lesen wird. Dass die Herausgeber einleitend zu Protokoll geben, dass viele der Beiträger ihre Themen »häufig und lange unter Verwendung von anderen Großbegriffen« (S. 5) untersucht hätten, ist nur ehrlich und bewahrt sie davor, eine theoretisch-methodische Einheitlichkeit vorzutäuschen, die kaum ein Sammelband besitzt. Beurteilt nach genretypischen Maßstäben ist dies ein recht gelungenes Exemplar.

Friedrich Lenger, Gießen

Zitierempfehlung

Friedrich Lenger: Rezension von: Jan-Otmar Hesse/Christian Kleinschmidt/Roman Köster/Tim Schanetzky (Hrsg.), Moderner Kapitalismus: Wirtschafts- und unternehmenshistorische Beiträge (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften im 21. Jahrhundert, Bd. 4), Mohr Siebeck, Tübingen 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 61, 2021, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81929> [17.6.2021].

[1]  Josef Mooser, Liberalismus und Gesellschaft nach 1945. Soziale Marktwirtschaft und Neoliberalismus am Beispiel von Wilhelm Röpke, in: Manfred Hettling/Bernd Ulrich (Hrsg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 134­–163.

[2]Friedrich Lenger, Die neue Kapitalismusgeschichte. Ein Forschungsbericht als Einleitung, in: AfS 56, 2016, S. 3–37.

Christoph Becker-Schaum/Philipp Gassert/Martin Klimke (Hrsg.): The Nuclear Crisis. The Arms Race, Cold War Anxiety, and the German Peace Movement of the 1980s

Rezension zu: Christoph Becker-Schaum/Philipp Gassert/Martin Klimke (Hrsg.): The Nuclear Crisis. The Arms Race, Cold War Anxiety, and the German Peace Movement of the 1980s (Protest, Culture and Society, Bd. 19)

Berghahn Books | New York 2016 | 394 Seiten, gebunden | 135,00 $ | ISBN 978-1-78-533267-8

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Der Protest gegen die NATO-Nachrüstung in den 1980er-Jahren war eine transformative Erfahrung für die westdeutsche politische Kultur. Das ist die These des vorliegenden Sammelbands zu »The Nuclear Crisis«, ein durchaus doppeldeutiger Titel, der auch auf das Innerste der westdeutschen Gesellschaft deuten kann. Das Buch entstammt einem gemeinsamen Forschungsprojekt der Herausgeber zu »The Nuclear Crisis: Cold War Cultures and the Politics of Peace and Security, 1975–1990«. Er enthält 18 Beiträge von Historikerinnen und Historikern zur Friedensbewegung und dem Anti-Nachrüstungsprotest der 1980er-Jahre in Politik und Kultur, die jeweils mit Auswahlbibliografien abgeschlossen werden. Zudem wird der selektive Leser durch das umfangreiche Register am Ende des Bands reich belohnt. Nach der informativen Einleitung der Herausgeber leuchten vier Beiträge den internationalen Hintergrund des Kalten Kriegs und der Entspannungspolitik aus (Anja Hanisch, Tim Geiger, Oliver Bange und Hermann Wentker), gefolgt von Jan Hansen zu den politischen Parteien. Die folgenden sieben Texte beleuchten Strukturdimensionen der Friedensbewegung und Felder der zivilgesellschaftlichen Debatte: Ökopazifismus (Silke Mende und Birgit Metzger), Intellektuelle (Marianne Zepp), Institutionen (Christoph Becker-Schaum), Orte des Protests (Susanne Schregel), Akteure (Saskia Richter), die ostdeutsche Friedensbewegung (Rainer Eckert), die medial-visuellen Strategien der Friedensbewegung (Kathrin Fahlenbrach und Laura Stepane) und etwas später noch die feministische Friedensbewegung (Reinhild Kreis). Ein weiterer Block beschäftigt sich mit den Adressaten und Bündnispartnern, den Kirchen (Sebastian Kalden und Jan Ole Wiechmann) und den Gewerkschaften (Dietmar Süß), sowie der Polizei, die einerseits für Ruhe sorgte, andererseits aber in Teilen mitarbeitete (Michael Sturm). Am Schluss stehen drei Kapitel zur Zivilverteidigung (Claudia Kemper), zum atomaren Weltende in Film, Literatur und Musik (Philipp Baur) und zu den mittelfristigen Auswirkungen auf das Ende des Kalten Kriegs (Florian Pressler).

1979 hatten die westlichen Alliierten, von der westdeutschen und der britischen Regierung angestoßen, beschlossen, eigene Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik (und Italien sowie Großbritannien) zu stationieren. Die Regierungschefs wollten damit verhindern, dass die neuen sowjetischen SS20 Mittelstreckenraketen die nukleare Sicherheit der USA von derjenigen Westeuropas trennten und womöglich politisch unterschieden – mit voraussehbar katastrophalen Folgen für die Bundesrepublik (und die DDR). Der Nachrüstungsbeschluss war eine mehrfache Reaktion. Zum einen reagierte er auf die zunehmende Entfremdung zwischen Westeuropa und Washington durch den Vietnamkrieg. Das setzte sich mit Ronald Reagan fort, der sich als imperialistisches Feindbild eignete. Auch das Verhältnis zwischen der westdeutschen Regierung und der Carter Administration galt als zerrüttet. Damit aber wurde der Protest gegen die NATO-Nachrüstung zur Debatte um den Ort und die Rolle der Bundesrepublik Deutschland im westlichen Bündnis. Die nachfolgende Protestbewegung gipfelte im Herbst 1983 in der größten Demonstration der deutschen Geschichte mit über einer Million Teilnehmern im Bonner Hofgarten. Obwohl die Pershing-Raketen stationiert wurden, blieb die Protestbewegung aktiv und veränderte die politische Kultur der Westdeutschen nachhaltig. Ihre Aktionsformen folgten den emotionalen Protestmobilisierungen in den USA.

Der Band thematisiert vier Ebenen der Protestbewegung: Es ging erstens um die Stärkung und das Selbstverständnis der westdeutschen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, der zeitgleich immer mehr Aufmerksamkeit fand. Zweitens standen das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und die Rolle Westdeutschlands im westlichen Bündnis zur Debatte. Für die Friedensbewegung bedeutete das die anspruchsvolle Aufgabe, gleichzeitig Kritik an Washington zu üben und damit nicht die Vereinigten Staaten als Gesellschaft, Kultur und Leitbild zu meinen. Heinrich Böll insistierte darauf, eigentlich erst von der US Literatur befreit worden zu sein. Drittens wirkte sich die Friedensbewegung massiv auf das westdeutsche politische System und die Parteien aus. Auch über die Grünen hinaus entstand so etwas wie ein friedens- und sozialpolitischer Konsens, der den älteren Wertewandel seit den 1960er-Jahren fortsetzte. Schließlich wirkte die Friedensbewegung – viertens – im letzten Jahrzehnt des Kalten Kriegs. Beschleunigte die Friedensbewegung das Ende der Blockkonfrontation oder hielt der Protest gegen die Missiles sie auf? Viele Aktivisten der westlichen Friedensbewegung standen in engem Austausch zu östlichen Bürgerrechtlern, die nicht nur gegen Raketen, sondern mehr noch gegen die innere Repression protestierten.

Obwohl der letzte Beitrag von Florian Pressler dem widerspricht, durchzieht den Band doch weitgehend die These, dass der Streit um den Frieden letztlich Arbeit am bundesrepublikanischen Konsens bedeutete (Philipp Gassert). Die Akteure trugen ihren Streit mit zivilgesellschaftlichen Mitteln, auch mit zivilgesellschaftlichem Ungehorsam aus und einigten sich damit performativ auf die Grundlagen und Formen gesellschaftlicher Debatte. Das erleichterte die Akzeptanz auch in der CDU/CSU. Die Friedensbewegung stand einerseits für die Sehnsucht nach Synthese und Gemeinschaft. Andererseits etablierte sie zivile Formen des Konfliktaustrags, den »unblutigen Dauerstreit der demokratischen Öffentlichkeit« (Helmut Dubiel), was ein Kennzeichen moderne Zivilisation bildete.

Siegfried Weichlein, Fribourg

 

Zitierempfehlung:

Siegfried Weichlein: Rezension von: Christoph Becker-Schaum/Philipp Gassert/Martin Klimke (Hrsg.): The Nuclear Crisis: The Arms Race, Cold War Anxiety, and the German Peace Movement of the 1980s (Protest, Culture and Society, Bd. 19), Berghahn Books, New York 2016, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81928> [27.4.2020].

Peter Beule: Auf dem Weg zur neoliberalen Wende? Die Marktdiskurse der deutschen Christdemokratie und der britischen Konservativen in den 1970er-Jahren

Rezension zu: Peter Beule: Auf dem Weg zur neoliberalen Wende? Die Marktdiskurse der deutschen Christdemokratie und der britischen Konservativen in den 1970er-Jahren (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 180)

Droste Verlag | Düsseldorf 2019 | 576 Seiten, gebunden | 64,00 € | ISBN 978-3-7700-5343-8

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In den vergangenen 15 Jahren ist eine Reihe wichtiger Studien erschienen, die sich um eine historische Rekonstruktion jener »langen Wende zum Neoliberalismus« (Wolfgang Streeck) bemühen, mit der der Übergang von einem durch keynesianische Konjunkturpolitik und einen wachsenden Wohlfahrtsstaat eingehegten Nachkriegskapitalismus zu einer monetaristischen Politik der Inflationskontrolle sowie zu tiefgreifenden marktliberalen Strukturreformen gemeint ist, der ab den späten 1970er/frühen 1980er-Jahren insbesondere in Großbritannien und den USA vollzogen wurde. In seiner an der Universität Bonn entstandenen Dissertation fragt der Historiker Peter Beule, inwieweit diese neoliberale Wende bereits in den Marktdiskursen der britischen Conservative Party und der deutschen Unionsparteien während der 1970er-Jahre vorbereitet wurde oder ob die wirtschaftspolitischen Diskurse innerhalb der beiden Parteien in dieser Zeit eher durch Kontinuität geprägt waren. Beule versteht seine Untersuchung dabei als Beitrag zu einer »vergleichenden, kulturgeschichtlich erweiterten Parteiengeschichtsschreibung« (S. 32), weil es ihm darum geht, die Besonderheiten der Marktdiskurse von Tories und CDU/CSU unter anderem auf die in Großbritannien und Deutschland jeweils vorherrschenden narrativen Rahmungen der Nachkriegsordnung und ihrer krisenhaften Entwicklung in den 1970er-Jahren zurückzuführen und die wirtschaftspolitischen Antworten beider Parteien als einen nicht zuletzt sprachpolitisch geführten Kampf um kulturelle Hegemonie nachzuvollziehen.

Diese Fokussierung auf Sprache und Diskurse liegt schon deshalb nahe, weil die politische und kulturelle Deutungshoheit Mitte der 1970er-Jahre eindeutig auf sozialdemokratischer Seite liegt, und Beule macht in seinem Buch sehr deutlich, dass die Parteiführungen von Tories und Union im Bewusstsein dieser Defensivposition die Notwendigkeit, Politik als einen »Kampf der Ideen« (Friedrich A. Hayek) zu begreifen und auf eine sprachliche Wende hinzuwirken, zunehmend als Voraussetzung für einen Regierungswechsel erkannt haben. Während des »sozialdemokratischen Jahrzehnts« (Bernd Faulenbach) haben sich konservative bzw. christdemokratische Parteien aus der Ernüchterung darüber, dass es den Sozialdemokraten gelungen war, die hegemoniale Sprache der Modernisierung, Demokratisierung und der sozialen Gerechtigkeit in ihrem Sinne zu prägen, intensiv darum bemüht, diesen Kampf um die Begriffe aufzunehmen. Beule kann zeigen, dass die »semantische Offensive« (S. 381) der Tories nach dem Ende der glücklosen Heath-Regierung im Jahr 1974 auf die Adaption einer radikalen Marktsprache, die Polarisierung zwischen einem nicht nur als ökonomisch ineffizienten, sondern auch als moralisch korrupt dargestellten Sozialismus einerseits und einer die Freiheit des Individuums schützenden Marktwirtschaft andererseits zielte. Aus der Sicht von Margaret Thatcher, die seit 1975 den Parteivorsitz innehatte, und anderer marktliberaler Tories waren die im internationalen Vergleich ernüchternden britischen Wachstumsdaten und Inflationsraten eine unmittelbare Konsequenz des postwar consensus, der informellen Verständigung von Labour und Tories auf eine keynesianische Nachfragesteuerung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Thatcher und ihre Verbündeten durch ihr – auch auf der sprachlichen Ebene – kompromissloses Bekenntnis zum Kapitalismus überwinden wollten. Mit seiner besonderen Berücksichtigung der Krisendiskurse der 1970er-Jahre kann Beule zeigen, dass die Wahrnehmung eines politisch-ökonomischen Niedergangs, die im Vereinigten Königreich seinerzeit sehr viel verbreiteter war und mit der IWF-Krise von 1976 und dem Winter of Discontent 1978/79 ihren Höhepunkt erreichte, den Tories einen solchen radikalen Bruch mit der Nachkriegsordnung erleichterte. Demgegenüber blieb die deutsche Christdemokratie den Kategorien des Nachkriegskonsenses, insbesondere dem Modell der sozialen Marktwirtschaft, treu, da der ökonomische Erfolg dieses Ordnungsmodells – das, anders als die wesentlich von der Labour-Regierung Clement Attlees gestaltete britische Nachkriegsordnung, immerhin ein Produkt der unionsgeführten Regierungen der 1950er-Jahre war – schlechterdings nicht infrage gestellt werden konnte. Beule erinnert daran, dass selbst Franz-Josef Strauß, der, anders als Helmut Kohl und ähnlich wie Thatcher, für eine stärker konfliktorientierte, den Wert der Marktfreiheit betonende Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner plädierte (man denke nur an seinen berüchtigten »Freiheit statt Sozialismus«-Wahlkampf von 1976), stets – im Einklang mit der für die Union so bedeutsamen katholischen Soziallehre – die Notwendigkeit hervorgehoben hat, die soziale Marktwirtschaft als einen dritten Weg, als Alternative sowohl zum Sozialismus als auch zum Kapitalismus zu begreifen (S. 256f.). Von einer neoliberalen Wende im eigentlichen Sinne kann daher, wie Beule richtig konstatiert, im Falle der christdemokratischen Programmatik auch gar keine Rede sein.

Einen besonders gelungenen – und den für die Forschung zur »neoliberalen Wende« vielleicht interessantesten – Teil stellt das vierte und letzte Kapitel der Arbeit dar, das sich mit den Interaktionen von Tories/Union und der »neoliberalen Außenwelt« beschäftigt (371ff.). Beule zeichnet hier detailliert persönliche Kontakte zwischen neoliberalen Vordenkern und Parteieliten, insbesondere aber die Verflechtungen zwischen dem Institute of Economic Affairs (IEA) und den marktliberalen Akteuren der Konservativen Partei sowie die Gründung des Centre for Policy Studies (CPS) durch Keith Joseph und Margaret Thatcher nach und beschreibt, wie gerade das CPS, das 1974 explizit als marktliberales Gegengewicht zur Forschungsabteilung der Parteizentrale gegründet worden war, eine wichtige Rolle bei der Steigerung der Akzeptanz für eine wirtschaftsliberale Politik innerhalb der Konservativen Partei spielte. Thatchers glühende Bewunderung für Hayek ist weithin bekannt und sie wird von Beule unter anderem durch Auszüge von Thatchers Korrespondenz mit dem Ökonomen bestätigt. Umso interessanter ist aber der Hinweis, dass Thatcher in den 1970er-Jahren keineswegs zu den auffälligsten neoliberalen Ideologen in der Konservativen Partei zählte. Es waren vor allem Thatchers erster Schatzkanzler, Geoffrey Howe, und ihr »intellektueller Mentor« (S. 394) Keith Joseph, die fest in das neoliberale Netzwerk des IEA integriert waren, welches Intellektuelle, ökonomische Akteure, Journalisten und Politiker der Konservativen Partei in einen Austausch über die Vorzüge einer monetaristischen Politik als Rezept gegen die »britische Malaise« brachte. Beule kann zeigen, dass der – vor allem in seiner Rolle als CPS-Gründer – überaus umtriebige Joseph einer der intellektuellen Köpfe der neoliberalen Wende innerhalb der Konservativen Partei war. Den politischen Aktivitäten, Reden und Schriften von Joseph schenkt Beule besonders viel Aufmerksamkeit – sein Nachlass wurde für die Untersuchung systematisch ausgewertet –, was insofern sehr erfreulich ist, als Thatchers späterer Bildungsminister hierzulande als intellektueller und organisatorischer Wegbereiter der »Thatcher-Revolution« noch relativ unbekannt sein dürfte. Mag sein, dass diese Fokussierung insofern kritikwürdig ist, als ein Akteur wie James Prior (seit 1975 in Thatchers Schattenkabinett zuständig für die Arbeitsmarktpolitik), dem bei der Formulierung der offiziellen wirtschaftspolitischen Programmatik während der Oppositionsjahre ein zumindest in formaler Hinsicht wesentlich größerer Einfluss zukam, demgegenüber kaum zu Wort kommt. Angesichts der Konzentration des Autors auf die Frage nach Triebkräften für die neoliberale Wende ist diese Fokussierung aber gerechtfertigt. Zudem wird der Konflikt zwischen Prior – einem führenden Vertreter der moderaten »Wets«-Faktion innerhalb von Thatchers Schattenkabinett – und den marktliberalen Kräften in der Frage der Kooperation mit den Gewerkschaften von Beule durchaus reflektiert (S. 424ff.).

Leider wird der Lesefluss dieses überaus informativen Buches durch viele Wiederholungen und allzu weit ausholende Darstellungen von Bekanntem unnötig behindert. Es ist z.B. nicht nachvollziehbar, warum im zweiten Kapitel der Arbeit eine insgesamt knapp fünfzigseitige Reflexion programmatischer Entwicklungstendenzen innerhalb der Labour Party und der SPD seit 1945 notwendig ist, um die Krisenerzählungen von Tories und Union verständlich zu machen. Dieser geringfügige Kritikpunkt kann aber den Wert der Studie nicht mindern: Peter Beule hat mit ihr einen materialreichen und lesenswerten Beitrag zur parteigeschichtlichen Aufarbeitung der neoliberalen Wende vorgelegt.

Danny Michelsen, Jena

 

Zitierempfehlung:

Danny Michelsen: Rezension von: Peter Beule: Auf dem Weg zur neoliberalen Wende? Die Marktdiskurse der deutschen Christdemokratie und der britischen Konservativen in den 1970er-Jahren (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 180), Droste Verlag, Düsseldorf 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81927> [27.4.2020].

Bernhard Gotto: Enttäuschung in der Demokratie. Erfahrung und Deutung von politischem Engagement in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er und 1980er Jahre

Rezension zu: Bernhard Gotto: Enttäuschung in der Demokratie. Erfahrung und Deutung von politischem Engagement in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er und 1980er Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 119)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2018 | IX + 402 Seiten, gebunden | 59,95 € | ISBN 978-3-11-052906-7

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Erwartung, Erfahrung und Enttäuschung sind mittlerweile zum basso continuo der historischen Analyse des 19. und 20. Jahrhunderts geworden. Bernhard Gotto will eruieren, wie Enttäuschung in der Demokratie entsteht, in welchen Erscheinungsformen sie auftritt und welche Folgen sie zeitigt. Seine an der Münchener Graduiertenschule »Enttäuschung im 20. Jahrhundert« (IfZ/LMU) entstandene Habilitationsschrift hat eine eigene analytische Definition anzubieten: Gotto entwirft Enttäuschung als eine Form der Gegenwartsperzeption, die (a) sich auf Erwartungen (vorgängige Prognosen) wie Erfahrungen (bewertete Vergangenheit) bezieht, (b) die ausbleibende Erfüllung der Erwartungen als unangenehm beschreibt und (c) auf die Wiederherstellung sozialer Beziehungen und Verhaltensnormen zielt, deren Störung sie anzeigt (S. 13).Emotionsgeschichtlichen Grundannahmen folgend, betont Gotto, Enttäuschung sei ein wandelbares Gefühlskonzept, dessen Äußerung als Subjektivierungsstrategie und relationales Verhalten gegenüber der sozialen und kulturellen Umwelt aufzufassen sei. Kollektive Enttäuschung versteht er als eine kontingente Hervorbringung politischer Kultur, ein Reflex zeitgebundener gesellschaftlicher Selbstverständigung. Diese Annahmen führen Gotto zur Analyse von Enttäuschung als einem Phänomen politischer Kommunikation und als eine Strategie der sinnstiftenden Aneignung von Wirklichkeit. Mitnichten, so sein konzeptioneller Einwand gegenüber politikwissenschaftlichen Modellen, wohne Enttäuschung quasi naturgesetzlich der Demokratie, gewissen Krisenzeiten oder bestimmten Partizipationsformen inne.

Mit dieser konzeptionellen Grundlegung vermag die Studie auch einen Beitrag zur Analyse politischer Vergemeinschaftungsprozesse zu leisten. Auf der Basis neuester sozialpsychologischer Erkenntnisse postuliert Gotto, Enttäuschung sei zwar eine emotionale Markierung von Dissens, drücke dabei jedoch Verbundenheit und die Bereitschaft zur Kooperation aus – anders als Ärger oder Empörung, die Schuld zuwiesen. Nimmt man die von Gotto referierte Hypothese der Psychologie, kommunizierte Enttäuschung sei »conducive to establishing mutually beneficial relationships« (S. 15), tatsächlich für die historische Analyse ernst, dann sprengte dies allerdings – ganz nebenbei – die gängigen Interpretationen der politischen Kulturgeschichte, die kollektiver Enttäuschung eher desintegrative Wirkungen für politische Gemeinwesen zuschreiben, und dies vor allem mit Blick auf die Zwischenkriegszeit. Mit seinem konzeptionellen Fokus kann Gotto hier neue Debatten über die politische und gesellschaftliche Erzeugung und Wirkung von Enttäuschung im 20. Jahrhundert anregen. Allerdings gehörte dazu notwendig die Reflexion darüber, inwiefern von der Sozialpsychologie individueller Enttäuschung auf die Historiografie kollektiver Enttäuschung geschlossen werden kann. Als problematisch erweist sich, dass Gotto in seinen Quellen häufig Enttäuschung und Empörung sowie Wut oder Ärger in Kombination vorfindet (z.B. S. 66, 70, 306). So erscheint es schwierig zu beurteilen, in welchen Fällen die Enttäuschungsartikulation auf die Fortsetzung der gestörten sozialen Beziehung (oder die gefühlte Zugehörigkeit zum politischen Gemeinwesen) zielte und in welchen Fällen Empörung, Wut oder Ärger überwogen – und damit die Auflösung dieser sozialen Beziehung (zum Beispiel der Parteiaustritt) im Raum stand.

Gotto widmet sich einer historischen Periode, die gemeinhin als besonders enttäuschungsanfällig gilt und schließlich in der Bundesrepublik die zeitdiagnostische Signatur der »Politikverdrossenheit« hervorbrachte: die 1970er- und 1980er-Jahre. Doch nicht am Etikett der »großen Ernüchterung« mit dem Ölpreisschock, das jüngst ja mehrfach korrigiert worden ist, arbeitet Gotto sich ab. Vielmehr verweist er zu Recht auf die Steigerung der Partizipationserwartungen in der sozial-liberalen Reformära und auf die Hoffnungen im Zeichen der postulierten christlich-liberalen »Wende«, das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Staat und Bürger neu zu justieren. Diese spezifischen Erwartungskontexte umklammern seinen Untersuchungszeitraum und machen ihn für eine Analyse politischer Enttäuschungserfahrungen hochgradig interessant.

Trotz des theoretischen Aufwands wird nicht klar, warum eigentlich die Bundesrepublik zum Untersuchungsfall wird und was ihre enttäuschungshistorischen Charakteristika ausmacht, vor deren Hintergrund dann erst fundierte Aussagen über den Wandel der politischen Kultur, die Akzeptanz und Stabilität der westdeutschen Demokratie und die Deutung von politischer Partizipation möglich wären, wie Gotto sie anstrebt (S. 16). Zumindest eine europäisch vergleichende Einordnung anhand der Forschungsliteratur hätte sich die Rezensentin an dieser Stelle gewünscht. Denn durch die ausbleibende Reflexion über die Spezifik der Bundesrepublik gerät aus dem Blick, dass Enttäuschungserfahrungen ein wichtiges Fundament bundesrepublikanischen Sprechens über Politik bildeten: Enttäuschung über die erste Weimarer Demokratie, Enttäuschung über den Nationalsozialismus und seine Folgen, Enttäuschung über den verlorenen Krieg und die Defizite der politischen Führung, Enttäuschung auf der politischen Linken über die vermeintliche »Restauration« einer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung, aber auch Enttäuschung über die Wiedergutmachungspolitik, die Grenzen des Sozialstaats oder über den Bonner Parlamentarismus waren seit den 1940er-Jahren in die demokratische Kultur der Bundesrepublik eingelassen. Man hätte daher mit Blick auf Deutschland im Grunde auch die Normalität von Enttäuschung voraussetzen können und stärker nach Enttäuschungstoleranz oder nach den Faktoren ausbleibender Enttäuschung fragen können. Der Autor indes sucht nach Enttäuschung und findet sie auch.

Drei disparat erscheinende, aber in der Gesamtbilanz gewinnbringend kombinierte Fallstudien führen durch das Buch. Zum einen betrachtet Gotto zwei wichtige politische Reformvorhaben, die das Verhältnis zwischen Bürger und Staat tangierten und die jeweils symbolisch für die Einlösung der großen Versprechen standen, mit denen die Regierungslager antraten: die Reform der Mitbestimmung von 1976 als Vehikel ökonomischer Demokratisierung und partizipatorischer Emanzipation unter der sozial-liberalen Koalition; und die Steuerreform der 1980er-Jahre als Fanal von ›Leistungsgerechtigkeit‹ und größerer Autonomie des Einzelnen gegenüber dem Staat. Zum anderen analysiert Gotto Enttäuschung als Produkt politischen Engagements. Eine Fallstudie zur autonomen Frauenbewegung widmet sich dem mit utopischen Hoffnungen auf Emanzipation, Autonomie und direkte Demokratie verbundenen Engagement in diesem Alternativmilieu. Ergänzt wird sie durch ein abschließendes, eher flächiges Kapitel über (enttäuschtes) politisches Engagement an der Basis politischer Parteien, unter Bürgerinnen und Bürgern und in alternativen Bewegungen.

Alle drei Fallstudien sind durchweg bravourös recherchiert und avancieren zu eigenen Geschichten der Enttäuschungsproduktion, -artikulation und des Enttäuschungsmanagements (auch der Überwindung von Enttäuschung) durch politische Kommunikation respektive durch Arbeit am Selbst im Alltag der Engagierten. Die Temporalitäten, ja Dramaturgien von Erwartung und Enttäuschung werden dabei aus der Perspektive unterschiedlicher Akteure minutiös rekonstruiert: politische Verantwortungsträger in ihren Flügelkämpfen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, führende und lokale Funktionäre, Aktivisten der Alternativbewegungen sowie Bürgerinnen und Bürger, moderiert, repräsentiert und ›angeheizt‹ durch die Massenmedien und Meinungsforschungsinstitute. Besonders instruktiv sind die Passagen zu Antizipation, Entstehung und Überwindungsversuchen von Enttäuschung im Umkreis der genannten Reformvorhaben, die vor allem auf Entemotionalisierung und nachträgliche Dämpfung der Erwartungen zielten. Die tragende Rolle der Massenmedien und namentlich die enttäuschungsproduzierenden Rahmungen, die von den Fernsehmagazinen ausgingen, kommen sehr gut zur Geltung und motivieren zu weiterführenden Fragen bezüglich der massenmedialen ›Verantwortung‹ für die seit den 1970er-Jahren um sich greifenden Diagnosen gebrochener Versprechen und begrenzter Leistungsfähigkeit von Regierungspolitik. Wie sich ein mit großen Erwartungen aufgeladenes Reformprojekt binnen weniger Jahre zu einem Symbol der Niederlage und des Regierungsstreits oder zu einer Gefahr für die Marktwirtschaft umdeuten ließ, davon erzählt der Großteil der Studie – und kann so auch als ein Handbuch zur »gescheiterten Reform« als Ergebnis politischer Kompromissbildung und (misslingender) politischer Kommunikation in der pluralistischen Demokratie gelten.

Unterm Strich steht bei Gotto vor allem die Negation zentraler Thesen der jüngeren Zeitgeschichte, die ohne die tiefschürfenden Archivrecherchen formuliert wurden, die Gotto sich zugemutet hat: Von einer Enttäuschungsdekade in den 1970er-Jahren und einem Zuversichtsjahrzehnt in den 1980er-Jahren könne keine Rede sein. Ein »komplexes Nebeneinander von Hoffnungen und Enttäuschungen« sei durchweg anzutreffen; nichts spreche für einen mentalen »Strukturbruch« Mitte der 1970er-Jahre (S. 349). Zudem war Enttäuschung häufig auf einzelne (Interessen-)Gruppen beschränkt und schien manchmal gar ein Konstrukt massenmedialer und demoskopischer Politikbeobachtung zu sein (etwa durch Suggestivfragen). Viele Westdeutsche, die sich ›lediglich‹ in der Rolle der Wahlbürgerinnen und Wahlbürger oder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sahen, zeigten sich häufig gar nicht so enttäuscht wie mancher Gewerkschafts- oder Parteifunktionär oder die Avantgarden alternativer Demokratiekonzepte.

Für Letztere konstatiert Gotto mehrfach einen eklatanten »Utopieverlust«, der sich aus der Praxis alternativer demokratischer Politik vor Ort ergab; Enttäuschung im Rahmen von politischem Engagement wurde so – das vielleicht wenig überraschend – zu einem Proprium jener, die besonders hohe Erwartungen hegten. Das taten Vertreterinnen der Frauenbewegung vor allem hinsichtlich der Resonanz und Anerkennung, die sie sich in ihrer peer group erhofften, so Gotto. Blieb diese aus, folgte auf die Enttäuschung häufig ein neuerliches Engagement und neu aufkeimende Hoffnung in einem anderen Projekt, sodass Enttäuschung wesentlich an gewisse Etappen der individuellen »Bewegungsbiographie« gekoppelt war. Für das Gros der Wahlbürgerinnen und Wahlbürger gelte indes, dass die Erwartungen häufig einfach gar nicht so hoch waren: im Umfeld der Mitbestimmungsreform wegen der viel dringlicher erscheinenden Probleme der Geldwertstabilität, im Umfeld der christlich-liberalen Steuerreform vor allem wegen des traditionellen Bilds vom schröpfenden Fiskus und einer damit verbundenen Abgeklärtheit gegenüber hochfliegenden Versprechungen der CDU und des Bundesfinanzministers.

Das eher schlaglichtartig gehaltene letzte Kapitel kann systematisch Gründe anführen, die aus (gesteigerten) Partizipationswünschen enttäuschende Erfahrungen machten: Das Gefühl der Parteibasis oder der Wählenden, nicht ernst genommen zu werden, der als störend empfundene Streit politischer Verantwortungsträger, der Schamgefühle auslösen konnte, die Verortung an den Rändern des politischen Spektrums, die innerhalb einer politischen Organisation zu Marginalisierungsgefühlen führen konnten, gehörten dazu. Gotto hebt hervor, dass die Neuorganisation in einer kleineren Partei hier vor Resignation bewahren konnte (ein Plädoyer für die Funktionalität belächelter Kleinstparteien), und betont zudem auch das Vermögen der größeren Parteien wie auch der sozialen Bewegungen, die soziale Beziehung zu den Enttäuschten nach einer gewissen Zeit zu kitten (als Paradebeispiel dient die Parteikarriere  Klaus Uwe Benneters in der SPD) und aus Enttäuschungen über ausbleibende Realisierungserfolge alternativer Demokratiekonzepte zu lernen.

All das sind wichtige Detailbeobachtungen einer gereiften bundesrepublikanischen Demokratie, doch ob sie ein solches Proprium des Untersuchungszeitraums darstellen, wie Gotto aufgrund der gesteigerten Partizipationserwartungen und gewandelten Demokratiekonzepte annimmt, bleibt zu klären. So wie er der These einer durchschlagenden »Emotionalisierung« des Politischen in den 1970er- und 1980er-Jahren widerspricht und zu Recht die grundsätzliche Bedeutsamkeit von Emotionen in der politischen Kommunikation der Bundesrepublik postuliert, sind viele seiner Beobachtungen zu den Enttäuschungsaffinitäten und Konflikten auf dem Feld demokratischer Partizipation auch für die 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahre zutreffend. Vielleicht veränderten sich Erwartung und Erfahrung im Umgang mit der repräsentativen Demokratie und ihren Partizipationschancen um 1970 doch nicht so sehr qualitativ, sondern erhielten lediglich eine Massenbasis, die politische Kommunikation wie politische Partizipationspraxis vor ungekannte Herausforderungen stellte. Bernhard Gottos Buch wird für demokratiehistorische Fragen dieser Art künftig eine unverzichtbare Referenz bleiben.

Claudia Gatzka, Freiburg

 

Zitierempfehlung:

Claudia Gatzka: Rezension von: Bernhard Gotto: Enttäuschung in der Demokratie. Erfahrung und Deutung von politischem Engagement in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er und 1980er Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 119), De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2018, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81926> [27.4.2020].

 

Marietta Meier/Mario König/Magaly Tornay: Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980

Rezension zu: Marietta Meier/Mario König/Magaly Tornay: Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980

Chronos Verlag | Zürich 2019 | 336 Seiten, gebunden | 38,00 € | ISBN 978-3-0340-1545-5

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Fast wie Smarties sehen die kleinen rosa Pillen aus, die auf dem Buchdeckel abgebildet sind. Bei den 25.000 Dragées mit der Nummer G 35259, gelagert in einem Metallbehälter, handelt es sich um den Wirkstoff Ketimipramin (auch Ketotofranil genannt), ein trizyklisches Antidepressivum. Mit diesem Stoff führte der Schweizer Psychiater Roland Kuhn in der Klinik Münsterlingen im Auftrag der Pharmafirma Geigy in den 1960er-Jahren an über 1.000 Patientinnen und Patienten seine größte und am längsten dauernde klinische Versuchsreihe durch. Die Prüfsubstanz sollte nie auf den Markt kommen.

Seit langem ist bekannt, dass in psychiatrischen Kliniken der Schweiz nicht zugelassene Medikamente an Patientinnen und Patienten getestet wurden.[1] Als sich 2012 in den Medien die Vorwürfe häuften, dass Roland Kuhn in der vom Kanton Thurgau gegründeten Klinik Münsterlingen solche Studien mit »Heimkindern« gemacht habe, zog die Politik nach: 2016 gab der in der Nordostschweiz gelegene, ländliche Landesteil als einer der ersten ein Forschungsprojekt in Auftrag, um die Vorwürfe wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Neben dem Umfang und dem Ausmaß der klinischen Versuche sollte insbesondere die Frage nach der Einwilligung der betroffenen Personen geklärt werden.

Die nun vorliegende historische Studie von Marietta Meier, Magaly Tornay, Mario König (der kürzlich verstorben ist) unter Mitarbeit von Ursina Klauser zeichnet ein ernüchterndes Bild: Unter der Leitung des Oberarztes und späteren Direktors – Kuhn – testete die Klinik von 1946 bis 1980 im Auftrag verschiedener Pharmaunternehmen mindestens 67 Stoffe (S. 271) an mindestens 1.112 Personen (S. 272), darunter auch an Kindern. Insgesamt starben 36 Personen während oder kurz nach der Verabreichung der Prüfsubstanzen (S. 226), bei insgesamt zehn vermutet das Autorenteam einen möglichen Zusammenhang zwischen der Todesursache und dem verabreichten Stoff (S. 228).

Neben Einleitung und Schluss umfasst das Buch acht Kapitel. Die Hauptkapitel zeichnen chronologisch die Entwicklung der Medikamentenversuche bis Ende der 1970er-Jahre nach (Kapitel 1, 2, 4 und 6) und verorten sie im jeweiligen zeithistorischen Kontext. Kapitel 8 widmet sich den 1980er-Jahren: Kuhn war zwar nun pensioniert, forschte und testete aber in seiner Privatpraxis unermüdlich weiter. Die übrigen Kapitel nehmen thematische Längsschnitte vor: Etwas spät erfährt man in Kapitel 3 Genaueres über die Prüfpatientinnen und -patienten, Kapitel 5 handelt von den (immensen) Material-, Informations- und Geldflüssen, und Kapitel 7 untersucht, inwiefern die Prüfsubstanzen zu »fatale[n] Zwischenfälle[n]« (S. 223) mit schwerwiegenden Komplikationen führten.

Die akribisch recherchierte, quellenorientierte Studie profitiert von einer außergewöhnlich guten Quellenlage: Neben dem umfangreichen Privatnachlass Kuhns und seiner späteren Ehefrau Verena Gebhart, die sich zunehmend auf die ambulante Behandlung von Kindern und Jugendlichen spezialisierte und ebenfalls in klinische Versuche involviert war, umfasst das Archiv der Klinik Akten von 1840 bis 1980. Darunter befinden sich etwa 30.000 Krankenakten, davon je zur Hälfte stationäre und ambulante Dossiers. Zusätzlich konsultierte die Forschungsgruppe Bestände von Pharmaunternehmen, mit denen Kuhn kooperierte. Dies waren hauptsächlich Vorgängerfirmen des heutigen Novartis-Konzerns: Geigy, Ciba, Ciba-Geigy, Sandoz und Wander. Daneben konsultierte die Gruppe auch das Archiv von Swissmedic, der früheren Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel (IKS). Durch diese mussten die Kantone seit 1942 neue Heilmittel vor der Zulassung begutachtet und registrieren lassen. Schließlich führte die Gruppe Gespräche mit Zeitzeuginnen und -zeugen, vor allem mit ehemaligen Patientinnen und Patienten, und machte sogenannte Experteninterviews mit der Ärzteschaft, Pflegenden, aber auch mit Politikern und Angestellten der Pharmaindustrie.

Die vorliegende Studie ist nicht die erste, aber wohl die umfassendste zu Medikamentenversuchen in der Psychiatrie, die in den letzten Jahren erschienen sind.[2] Ein großes Verdienst des Buchs ist die gezielte Aufdeckung der Verbindungen und der Zusammenarbeit der Klinik mit der Pharmaindustrie: Die Trias »Klinik, Forschung und Industrie« (S. 21) ist nicht voneinander zu trennen. Auch die Unterscheidung zwischen Therapie und klinischem Versuch war fließend (vgl. S. 145). Kuhn, der Mitte der 1950er Jahre auf die antidepressive Wirkung von G 22355 (das 1958 als Tofranil durch die Firma Geigy auf den Markt kam) hingewiesen und mit dieser »Entdeckung« seinen größten Erfolg gefeiert hatte, etablierte sich in der Folge als kompetenter Prüfer für die pharmazeutische Industrie.

Verschiedene Unternehmen fragten ihn oft und gerne für die Durchführung klinischer Versuchsreihen an. 1956 führte er in Münsterlingen beispielsweise gleichzeitig sieben Versuche für Geigy durch (vgl. S. 77). Angetrieben durch seine wissenschaftliche Neugier, profitierten er und die Klinik finanziell enorm. Die Forschungsgruppe schätzt, dass Kuhn an den Versuchen mindestens 3,5 Millionen Franken (Nominalwert) (vgl. S. 179) verdiente. Die Klinik wiederum kam dadurch nicht nur zu kostenlosen Medikamenten, sondern erhielt Vergütungen für Laborleistungen und Apparaturen (vgl. S. 182). Erst das Heilmittelgesetz vom Jahr 2002 regelte die Durchführung klinischer Versuche auf Bundesebene und auf Gesetzesstufe (vgl. S. 196).

Die Studie verortet sodann die Medikamentenversuche in einem zeitgenössischen Kontext. Aus heutiger Sicht ist insbesondere die fehlende Einwilligung der Betroffenen erschreckend. Der Weltärzteverbund erließ zwar 1964 die Deklaration von Helsinki, welche diese Einwilligung vorsah, und die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) gab 1970 Richtlinien für die Forschung am Menschen heraus. Diese waren allerdings nicht rechtsverbindlich, sondern hatten bloß empfehlenden Charakter. Wenig überraschend scherte sich Kuhn nicht um diese Vorgaben. Einwilligungserklärungen finden sich in den Akten erst für die 1980er Jahre. Retrospektiv gab der Psychiater freimütig bekannt, dass er nie um Zustimmung fragte, um ein Versuchspräparat zu prüfen, sondern seine Patienten schlicht informiert habe, dass sie da ein neues Mittel schluckten, das vielleicht helfe (vgl. S. 280).

Der Titel des Buchs lautet zwar »Testfall Münsterlingen«. Doch die Studie handelt weniger von der Institution als der Person Kuhns, die alle Fäden in der Hand zu halten schien. Dieser akteursorientierte Ansatz führt dazu, dass die Handlungsabläufe und Verantwortlichkeiten in der Klinik sowie ihre strukturellen Bedingungen unklar bleiben. Statistische Auswertungen zum Ausmaß und Umfang der Versuche finden sich kaum. Diese werden anhand der Biografie Kuhns qualitativ nachgezeichnet, was das Risiko birgt, dass die Darstellung Kuhns akribisch geführtem und mit Annotationen versehenem Nachlass folgt, also seine Sichtweise übernimmt.

Nicht nur in der Schweiz, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum fanden Medikamentenversuche statt: Münsterlingen war »kein Einzelfall« (S. 273). Die im Klappentext versprochene »Verortung in der zeitgenössischen Prüfungslandschaft« wird jedoch nicht eingelöst. Die Einleitung nimmt zwar vorweg, dass die Studie »in erster Linie auf Quellenarbeit beruht« und sich deswegen »ein langer Bericht zum Forschungsstand« (S. 19) erübrige. Dennoch wäre es wünschenswert gewesen, die Münsterlinger Praxis in den größeren psychiatriegeschichtlichen Kontext einzuordnen. Wenig erfährt man zudem über die Betroffenen, über ihre Erfahrungen, Einschätzungen und Bewertungen der an ihnen vorgenommenen Versuche. Die Interviews wurden hauptsächlich dazu verwendet, um die Lücken der schriftlichen Quellen zu schließen.

Gewinnbringend bleibt die Nachzeichnung der Umbrüche in der Psychiatrie, die in den 1950er-Jahren von einem ungebremsten therapeutischen Optimismus angetrieben wurde. Die »pharmakologische Wende« versprach neue Therapiemöglichkeiten, auch für Menschen, die bislang nicht als therapierbar galten. Die Studie entwirft das Bild eines Wissenschaftlers, der einem paternalistischen Selbstverständnis folgend sich mehr für seine Prüfsubstanzen als für die Menschen interessierte, die er behandelte. Überzeugt von den Chancen, die die Pharmakotherapie versprach, nahm er für den wissenschaftlichen Fortschritt große Risiken in Kauf, die andere trugen, nicht er. Weder seitens der Klinikleitung noch der Aufsichtsbehörde stieß er auf Widerstände. Es war am ehesten noch die Industrie, die ihn bremste und ihn vor dem »freihändigen Kombinieren« (S. 80) warnte.

Als sich Mitte der 1970er-Jahre statistische Verfahren und kontrollierte Studien durchzusetzen begannen, mit denen die Wirksamkeit neuer Stoffe geprüft wurden, vertrat Kuhn plötzlich ein überholtes Paradigma. Zeit seines Lebens blieb er von seinen qualitativen und am Einzelfall orientierenden Forschungsmethoden überzeugt. Auch die zunehmende staatliche Regulierung lehnte er ab. Der einst so gefragte Tester versank zunehmend in der Bedeutungslosigkeit.   

Mirjam Janett, Zürich

[1] Seit 2002 sind zum Beispiel die Medikamentenversuche der zürcherischen Psychiatrischen Klinik Burghölzli (heute Kantonale Psychiatrische Universitätsklinik) bekannt. Vgl. Tanja Rietmann/Urs Germann/Flurin Condrau, »Wenn ihr Medikament eine Nummer statt eines Markennamens trägt.« Medikamentenversuche in der Zürcher Psychiatrie 1950–1980, in: Beat Gnädinger/Verena Rothenbühler (Hrsg.), Menschen korrigieren. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen im Kanton Zürich bis 1981, Zürich 2018, S. 201–254, hier S. 201.

[2] Für die Schweiz siehe die Dissertationen von: Katharina Brandenberger, Psychiatrie und Psychopharmaka. Therapien und klinische Forschung mit Psychopharmaka in zwei psychiatrischen Kliniken der Schweiz, 1950–1980, Universität Zürich, 2012; Julia Manser-Egli, Klinische Prüfung nicht zugelassener Präparate an der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau zwischen 1950 und 1970, Universität Bern, 2019. Zudem die Studien von: Urs Germann, Medikamentenprüfungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel, 1953–1980. Pilotstudie mit Vorschlägen für das weitere Vorgehen, Bern 9.3.2017; Rietmann/Germann/Condrau, »Wenn ihr Medikament eine Nummer statt eines Markennamens trägt.«; Paul Richli, Bericht über den Umgang mit Arzneimittelversuchen in der Luzerner Psychiatrie in den Jahren 1950–1980 aus rechtlicher Sicht. Im Auftrag des Gesundheits- und Sozialdepartements des Kantons Luzern, Luzern 2018; Marina Lienhard/Flurin Condrau, Psychopharmakologische Versuche in der Psychiatrie Baselland zwischen 1950 und 1980. Bericht zuhanden der Psychiatrie Liestal, Zürich 2019. Für Deutschland siehe exemplarisch: Volker Hess/Laura Hottenrott/Peter Steinkamp, Testen im Osten. DDR-Arzneimittelstudien im Auftrag westlicher Pharmaindustrie, Berlin 2016; Sylvia Wagner, Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern, in: Sozial.Geschichte Online 19, 2016, S. 61–113; Sylvelyn Hähner-Rombach/Christine Hartig, Medikamentenversuche an Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Heimerziehung in Niedersachsen zwischen 1945 und 1978. Forschungsprojekt im Auftrag des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, 2019.

 

Zitierempfehlung:

Mirjam Janett: Rezension von: Marietta Meier/Mario König/Magaly Tornay: Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980, Chronos Verlag, Zürich 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81925> [27.4.2020].

 

Hans-Rainer Sandvoß: Mehr als eine Provinz! Widerstand aus der Arbeiterbewegung 1933–1945 in der preußischen Provinz Brandenburg

Rezension zu: Hans-Rainer Sandvoß: Mehr als eine Provinz! Widerstand aus der Arbeiterbewegung 1933–1945 in der preußischen Provinz Brandenburg (Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Reihe A: Analysen und Darstellungen, Bd. 15)

Lukas Verlag | Berlin 2019 | 623 Seiten, gebunden | 29,80 € | ISBN 978-3-86732-328-4

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Hans-Rainer Sandvoß gehört zu den Koryphäen der deutschen Forschung und Publizistik über den Arbeiterwiderstand gegen das NS-Regime von 1933-1945. Sein Augenmerk richtete er dabei zunächst auf die Berliner Bezirke, später auf den Widerstand von Berliner Religionsgemeinschaften und nun auf den Arbeiterwiderstand in der preußischen Provinz Brandenburg, die das Gebiet des heutigen Bundeslandes Brandenburg einschloss und bis an die »Grenzmark« Posen-Westpreußen reichte. Seit 1977 Referent an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, wurde er Herausgeber (und Hauptautor) einer 14-bändigen Schriftenreihe über den Widerstand in den Bezirken Berlins zwischen 1933 bis 1945.[1] 2006 wurde er aufgrund der Studie »Die ›andere‹ Reichshauptstadt. Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin von 1933 bis 1945« promoviert, deren Vorarbeiten bis in die 1980er-Jahre zurückreichen.

Seine Motivation erschließt sich aus den Anmerkungen im Klappentext: »Der Widerstand gegen das NS-Regime sei, so ist es mitunter zu hören, ausgeforscht. Eine Gesamtdarstellung des facettenreichen Widerstandes aus der Arbeiterbewegung in der preußischen Provinz Brandenburg hat indes lange gefehlt«. Diese Lücke versucht der Autor zu schließen, was ihm eindrucksvoll gelingt. Überhaupt führte seine Blickrichtung auf die lokalen und regionalen Ausprägungen des Widerstands zu einer weit über die über lange Zeit vorherrschenden parteigeschichtlichen Narrative hinaus. Der kleinräumige Blick bot wertvolle Erkenntnisse über die viel differenzierteren Strukturen des Widerstands, denn jeder Berliner Kiez entwickelte seine eigenen Besonderheiten und spiegelte daher die Vielfalt des Soziallebens wider. Übertragen auf politische »Großstrukturen« wie Parteien oder Gewerkschaften ergab sich folglich eine klarere Optik auch im Großen. Damit wirkte Sandvoß methodisch sicherlich stilbildend.

In seiner Einleitung nimmt er auf den bisherigen Forschungsstand zum Widerstand in der Provinz Brandenburg Bezug. Dieser habe seine Hauptquellen in den Forschungen seitens der DDR, die er differenziert würdigt, ohne über die politisch an die SED gebundenen Betrachtungs- und Beurteilungswinkel zu schweigen. Aber die nun nach 1990 neu zu erschließenden Archive und Sammlungen aus der ehemaligen DDR waren für Sandvoß vielsprechende Quellen zur weiteren systematischen Aufarbeitung des Arbeiterwiderstands. Seine Aufgabenstellung lautete: »Die Gesamtdarstellung zum Widerstand aus der Arbeiterbewegung in der früheren Provinz Brandenburg bleibt trotzdem als große Herausforderung weiter bestehen und muss mehr sein als die Addition lokaler Studien« (S. 16). Auf ein weiteres Erfordernis weist er hin. Bislang wurden die seit 1945 zu Polen gehörenden, östlich der Oder gelegenen Teile der Provinz von der Würdigung ihres Widerstandskampfs ausgespart. Dabei gab es intensive Vernetzungen zwischen Berlin und der Provinz, auch jenseits der Oder.

Dies alles erschloss der Verfasser aus den Quellen der NS-Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden, den Prozessakten und den Unterlagen der lokalen und Sondergerichte beim Landgericht Berlin im Bundesarchiv und den Landesarchiven Berlin und Brandenburg. Dass ihm die entsprechenden nazistischen Einlassungen schwer im Magen lagen, unterlässt Sandvoß nicht zu erwähnen (S. 19). Als Korrektiv zog er – soweit verfügbar – die Selbstzeugnisse der Opfer zu Rate. Viele dieser Widerständler und Widerständlerinnen aber sind längst tot, ihre Zeitzeugenschaft also für immer erloschen. Weiterhin stützte er sich auf die Quellen der Organisationen der Arbeiterbewegung in ihrer vollständig zu erschließenden Bandbreite. Durch die Abgrenzungen aus der Zeit des Kalten Kriegs indes entstanden auch hier in den Quellensammlungen und historischen Bewertungen entsprechend verengte Deutungen, die es zu überwinden galt: So fehlten in den DDR-Archiven eher Quellen aus der alten Sozialdemokratie, den Zwischengruppen wie der SAP oder den freien Gewerkschaften. Doch allein das Inhaltsverzeichnis zeugt von der Akribie des Autors bei der Rekonstruktion. So folgt auf die Einleitung das Kapitel über den Widerstand aus dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das noch tendenziell einen eher allgemeinen Zugriff auf dessen Organisation und die Widerstandstätigkeit bis zur Auflösung 1933 zeigt (S. 27–103). Doch hier werden Einzelschicksale präsentiert, die vom vergeblichen Versuch der Abwehr des drohenden Faschismus und den erlittenen Peinigungen nach dessen Machtusurpation Zeugnis ablegen. Diese verarbeitete Sandvoß in einem Unterkapitel dieses Abschnitts (S. 90–103).

Als nächstes Kapitel folgt die Aufarbeitung des Widerstands aus den Reihen von SPD und freien Gewerkschaften (S. 104-268). Hier beginnt sein Blick auf die lokalen Strukturen des Widerstands seine Wirkung zu entfalten, wird aber in eine Gesamtbetrachtung eingebettet. Dabei behält der Autor die Übergangsphase zwischen der Auflösung der Weimarer Republik nach 1930 und der Machtübertragung an Hitler am 30. Januar 1933 im Blickfeld, wie er eindrucksvoll am vergeblichen Kampf der SPD-Bezirksorganisation des »roten Nowawes«, des heutigen Babelsberg in Potsdam, zeigt (S. 116–124). In aller Kürze, aber für das Verständnis der politischen Umstände unerlässlich, skizziert er überdies die innersozialdemokratischen Konflikte zwischen Anpassung und Widerstand nach dem 30. Januar und dem Parteiverbot am 22. Juni 1933. Er kann dabei auch auf Vorarbeiten zurückgreifen wie jene von Ingrid Fricke über Franz Künstler, den linken Neuköllner Sozialdemokraten (USPD/SPD)[2] oder von Siegfried Heimann über den Brandenburger Oberbürgermeister Paul Szillat[3]. Sandvoß griff zudem die in einer verdienstvollen mehrbändigen Schriftenreihe erscheinenden Dokumentationen über gewerkschaftlichen Widerstand und Verfolgung von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern auf.[4]

Es folgt ein Kapitel über den Widerstand der »Zwischengruppen« zwischen SPD und KPD, wozu zum Beispiel die Sozialistische Arbeiterpartei, der »Leninbund,« der »Rote Stoßtrupp«, Rätekommunisten, aber auch Einzelpersonen wie Gustav Mauritz (ehemals KPD, Nowawes) und Wolfgang Abendroth (Kommunistische Partei (Opposition)), der später bedeutende Politikwissenschaftler und Staatsrechtler, gezählt werden (S. 269–340). Die archivalische Überlieferung in den Archiven der DDR erlaubte eine flächendeckende Erschließung der Aktivitäten der KPD in der Provinz (S. 341–570). Die KPD registrierte im gesamten Bezirksverband über 37.800 Mitglieder, davon knapp 31000 in Berlin. Dort überholte sie nach dem Staatsstreich Franz von Papens vom 20. Juli 1932 sogar die SPD an Wähleranhang. Mit der stalinistischen »Sozialfaschismus«-These isolierte sich die KPD jedoch von der sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Auf dem platten Land blieb sie daher eine marginale Kraft, nur in den Klein- und Mittelstädten der Region besaß sie eine nennenswerte Mitgliedschaft. Die Kommunisten wurden vom NS-Terror nach dem 30. Januar 1933 genauso überrollt wie die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften. Doch ihre lokalen Aktivitäten und ihre bedeutenden Widerstandsgruppen und Widerstandszentren, hier besonders die Lausitz, werden von Sandvoß sichtbar gemacht. Dabei weist er noch auf wissenschaftlich unerschlossene Gruppen des Widerstands (Anarchosyndikalisten, Rätekommunisten) hin (S. 578). Sein Abschlussfazit deshalb: »Brandenburg braucht auch den Widerstandsvergleich mit Berlin nicht zu scheuen – ganz im Gegenteil: Es war weit mehr als eine Provinz« (S. 580).

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

[1] Die Bände sind mittlerweile (bis auf eine Ausnahme) kostenlos online verfügbar, vgl. URL: https://www.gdw-berlin.de/angebote/publikationen/widerstand-berlin-1933-1945/#c82, [22.4.2020].

[2]Ingrid Fricke, Franz Künstler (1888–1942). Eine politische Biographie, Berlin 2016.

[3]Siegfried Heimann, Paul Szillat 1888-1958, Berlin 2016

[4] Vgl. zur Schriftenreihe »Gewerkschafter im Nationalsozialismus. Verfolgung – Widerstand – Emigration« auf der Webseite des Verlags: URL: http://metropol-verlag.de/book_series/gewerkschafter-im-nationalsozialismus-verfolgung-widerstand-emigration/  [22.4.2020].

 

Zitierempfehlung:

Holger Czitrich-Stahl: Rezension von: Hans-Rainer Sandvoß: Mehr als eine Provinz! Widerstand aus der Arbeiterbewegung 1933–1945 in der preußischen Provinz Brandenburg (Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Reihe A: Analysen und Darstellungen, Bd. 15), Lukas Verlag, Berlin 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81924> [27.4.2020].

 

Kristoffer Klammer: ›Wirtschaftskrisen‹. Effekt und Faktor politischer Kommunikation. Deutschland 1929–1976

Rezension zu: Kristoffer Klammer: ›Wirtschaftskrisen‹. Effekt und Faktor politischer Kommunikation. Deutschland 1929–1976 (Historische Semantik, Bd. 28)

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2019 | 495 Seiten, gebunden | 80,00 € | ISBN 978-3-525-31059-5

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In den Jahren 2010 bis 2012 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft an der Universität Trier ein Projekt zur »Sprachlichen Konstruktion wirtschafts- und sozialpolitischer Krisen in der Bundesrepublik Deutschland von 1973 bis heute« gefördert, in dem fünf solcher »Krisen« von der Ölkrise 1973/74 bis hin zur Finanzkrise 2008/09 untersucht worden sind. Auf die Konzeption und einige erste Ergebnisse dieses diskurslinguistischen Forschungsprojekts[1] bezieht sich die hier zu besprechende geschichtswissenschaftliche Dissertation Kristoffer Klammers des Öfteren, insbesondere in ihrer sehr instruktiven Verortung der Studie unter dem Titel »Anknüpfungen« (S. 35–48): »Einige der grundlegenden Erkenntnisinteressen dieser Studien decken sich mit denen der vorliegenden Arbeit; theoretische Annahmen, methodisches Vorgehen und einzelne empirische Befunde bieten interessante Anregungen. Ein direkter Ergebnisvergleich ist indes schwierig« (S. 46) – und das letztlich aufgrund »disziplinär begründete[r] Unterschiede« (S. 47). Für den Rezensenten aus dieser anderen Disziplin ist es interessant zu sehen, wie ein Historiker mit sehr ähnlichen Erkenntnisinteressen an den gleichen Gegenstand herangeht und diesen mit ähnlichen analytischen Kategorien, aber gerade in der Darstellungsform doch ganz anders bearbeitet. Dabei kommt er einerseits zu methodisch weniger gut abgesicherten, andererseits zu inhaltlich zum Teil differenzierteren Ergebnissen.

Bedauerlich ist, dass Klammer die wichtigsten Ergebnisse des diskurslinguistischen Forschungsprojekts in Form der Dissertationen von David Römer und Kristin Kuck bei Abschluss seines Manuskripts noch nicht zur Verfügung standen.[2] In diesen werden mit den Methoden der Topos-Analyse (= Analyse von Argumentationsmustern) bzw. der Metaphernanalyse die sprachliche Konstruktion einerseits der »Wirtschaftskrisen« von 1973/74, von 1982 und 2003 und andererseits der »Krisen« von 1973/74, von 1997 und 2003 verglichen. Erst die Ergebnisse dieser umfassenden Studien hätten es Klammer ermöglicht, »auf Basis der eigenen Ergebnisse nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden« (S. 47) in der sprachlichen Konstruktion der Wirtschaftskrisen, die zum großen Teil nach seinem Untersuchungszeitraum liegen, zu fragen und dabei die Vor- und Nachteile der größeren »sprachwissenschaftliche[n] Differenziertheit« (ebd.) der linguistischen Studien und seiner besseren »Einbindung semantischer Befunde in die […] Politik- und Wirtschaftsgeschichte« (ebd.) abzuwägen.

Das kann in diesen wenigen Zeilen einer Rezension auch nicht nachgeholt werden, wäre aber reizvoll. Klammers Ausblick darauf, dass nach der von ihm für die Jahre 1973 bis 1976 angesetzten »kleinen Weltwirtschaftskrise« über Wirtschaft und Wirtschaftspolitik beständig in einem Krisen-Modus geredet wird (S. 455f.), somit also beständig »Krisen« sprachlich konstruiert werden, kann mit den diskurslinguistischen Untersuchungen einerseits bestätigt, andererseits aber auch differenziert werden, insofern eben doch Zeiträume bestimmt werden können, in denen »Krisen« mit mehr oder weniger Anbindung an volkswirtschaftliche Daten herbeigeredet und auch politisch instrumentalisiert worden sind. Als inhaltlich interessanter Bezug zwischen den historiografischen und den diskurslinguistischen Ergebnissen sei nur erwähnt, dass Klammer schon für die 1970er-Jahre eine Zunahme angebotsorientierter Lösungsvorschläge gegenüber keynesianischen »Rezepten« konstatiert, was bei Römer dann als Durchsetzen neoliberaler Positionen im Diskurs seit dem Lambsdorff-Papier von 1982 bis hin zu den Agenda-2010-Beschlüssen akribisch herausgearbeitet wird. Kritisch kann hier angefügt werden, dass auch Klammer, obwohl er den Fokus auf die sprachliche Konstruktion von Krisen und damit u.a. auch auf die diskursiv errungenen Deutungshoheiten über politische Vorschläge zur »Überwindung« von Krisen legt, dazu neigt, wie andere Historikerinnen und Historiker, die solche »Krisen« in Überblicksdarstellungen und »sach«geschichtlich behandeln, bestimmte Diskurspositionen als der Sache angemessen erscheinen zu lassen, zum Beispiel dass der Sozialstaat überfordert worden sei oder dass die Steuerbelastung für Unternehmen habe verringert werden müssen. Römer zeigt demgegenüber eindrücklich, dass und wie Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker der seit 1982 hegemonialen Diskursposition sozusagen hinterherschreiben.

Innerhalb seiner Zunft verortet sich die Studie Klammers in der Tradition historisch-semantischer Analysen, wie sie seit den 1970er-Jahren im Gefolge der »Geschichtlichen Grundbegriffe« insbesondere auch von Klammers Doktorvater Willibald Steinmetz erarbeitet worden sind. Sie nimmt dabei das Diktum Reinhart Kosellecks ernst, dass Sprache nicht nur Indikator, sondern auch Faktor der Geschichte ist: »Überspitzt: Die Semantik erzeugte die Krise« (S. 452) – was allerdings sogleich eingeschränkt wird: »Vielmehr standen Prozesse semantischen Wandels in einem Wechselverhältnis mit nicht-sprachlichen Veränderungen.« (Ebd.) Bei der Interpretation seiner Sprach-Geschichten rekurriert Klammer immer wieder auf die in dieser Tradition etablierten Begriffe des Erfahrungsraums und des Erwartungshorizonts sowie auf die Zeitachse Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, was es ihm ermöglicht, Einzelergebnisse in größere Zusammenhänge einzuordnen (vgl. z.B. einleitend schon S. 16f.), was aber auch manches Mal zu vagen allgemeinen Einordnungen führt, wie dass in der Deutung einer Situation als »Krise« die Gegenwartsorientierung des Sprechers zentral sei oder dass die Ursachen einer Krise in der Vergangenheit verortet worden seien.

Ein historiografisches Erkenntnisinteresses ist bei allen drei Krisen auch der »Abgleich« zwischen dem Reden über eine Krise mit den volkswirtschaftlichen Indikatoren und politischen Ereignissen, die ex post zur (geschichtswissenschaftlichen) Interpretation des Geschehens als Krise oder Wirtschaftskrise, als Weltwirtschaftskrise, als (nur) Wachstumsdelle oder als Ölpreiskrise geführt haben. Dabei sei eben bisher die Wahrnehmung, das »Wissen« der Zeitgenossen, ob und dass es eine »Krise« gibt und der Einfluss dieses Wissens auf das Geschehen nicht angemessen berücksichtigt worden. Der zeitgenössischen Interpretation des Geschehens als »Krise« oder »Wirtschaftskrise« kann die Geschichtswissenschaft mit der Untersuchung des öffentlich-politischen Sprachgebrauchs gerecht werden. Der Autor begründet überzeugend, dass für die untersuchten Zeiten, für seine drei »Fallstudien« Parlamentsprotokolle sowie jeweils ausgewählte Zeitungen der Qualitäts- und der Boulevardpresse geeignete Quellen sind.

Die drei sprachlichen Kategorien, die er im Einzelnen untersucht, entsprechen dem in diskurslinguistischen Untersuchungen etablierten Methodenset der Analyse von Argumentationsmustern (Topoi), Metaphern und Schlüsselwörtern. Im Vergleich zu linguistischen Studien geht der Autor mit den Analyse-Begriffen locker um und verzichtet auf die in der Sprachwissenschaft üblichen Herleitungen und akribischen Differenzierungen bei der Anwendung dieser Begrifflichkeiten. Der sprachwissenschaftliche Rezensent gesteht aber gerne zu, dass der Historiker mit diesem lockeren, eher unterminologischen Gebrauch von »Topoi«, »Redemustern«, »Sprachmustern«, »Metaphern«, »Einzelbegriffen« und auch »Semantik(en)« seinen Erkenntnisinteressen durchaus nicht schadet und dass dies dem Verständnis nicht abträglich ist. Dazu trägt auch die gewählte, für historiografische Studien wohl übliche narrative Darstellung der Sprach- und Krisen-Geschichten bei, auch wenn diese in ihrer Vielzahl von zitierten Einzelstimmen gerade in den chronologisch vorgehenden Kapiteln, in denen die Krisenphasen dargestellt werden, manchmal etwas ermüdend ist.

Das Darstellungsproblem seiner Analyseergebnisse hat der Autor mit seiner narrativen Form in gänzlich anderer Weise gelöst als es in den erwähnten linguistischen Studien geschieht. In einem ersten Kapitel werden jeweils »einschlägige Forschungsergebnisse respektive gängige Krisennarrative referiert« (S. 48). In einem ersten Analyseschritt werden sodann die Krisenphasen anhand der für sie jeweils »dominierenden« »Sprachmuster (Topoi)« (ebd.) aufgezeigt und auch bestimmt. Während dies auf die genannte chronologische Erzählung hinausläuft, die eben auch festlegt, wann jeweils für die zeitgenössischen Sprecher eine Vorlaufphase, der Höhepunkt sowie das Ende einer »Krise« gewesen sind und als welche Art von »Krise« diese verstanden wurden, sind die beiden jeweils folgenden Kapitel systematischer angelegt.

Im ersten wird der Fokus jeweils auf einzelne sprachliche Mittel gelegt, mit denen die Akteure ihr Verständnis der politischen und wirtschaftlichen Situation ausgedrückt haben. In allen drei Krisen wird dabei auf den Ausdruck Krise selbst und mit ihm gebildete Komposita geachtet sowie auf metaphorische Konzepte, mit denen die abstrakten »Ereignisse« verständlich gemacht wurden. Während in den Krisen 1929–1933 und 1966/67 nur Organismus- und Maschinen-Metaphern wichtig waren, beobachtet der Verfasser in den Jahren 1973 bis 1976 eine größere Vielfalt von Metaphern. Als »Einzelbegriffe« werden für die Weimarer Zeit Vertrauen und Psychologie, Not, Elend und Opfer sowie Kampf und Krieg analysiert, für die »Wachstumsdelle« von 1966/67 die Funktion der »Begriffe« Stabilität, Wachstum und Vertrauen behandelt und für die 1970er-Jahre wiederum Opfer-Semantiken, wie der Historiker das nennt, aber auch der Appell an die Vernunft ins Zentrum der Analyse gerückt.

In einem jeweiligen letzten Schritt folgen »grundlegendere Betrachtungen zu einzelnen Akteursgruppen und ihrer Verwendung bestimmter Begriffe und Argumentationsmuster, Veränderungen (der Breite) des Spektrums möglicher Aussagen, sprachlich hergestellten Raumbezügen sowie dem Verhältnis des Krisendiskurses zu angrenzenden Diskursen« (S. 49), wie der Autor das recht heterogene Konglomerat von Ergebnisdarstellungen in diesen Kapiteln recht prägnant zusammenfasst. Für Weimar wird hier zum Beispiel die »begrenzte Diskussionsbereitschaft« über konkrete wirtschafts- und sozialpolitische Lösungsvorschläge seitens Nationalsozialisten und Kommunisten, für die es immer um die »Systemfrage« ging, herausgestellt, für die 1960er-Jahre wird der fehlende Bezug auf Vergangenheit in Form von Ursachendiskussionen vermerkt sowie dass die Krisen-»Semantik« den realen Krisen-Indikatoren vorausging. In den 1970er-Jahren bestand die Strategie der Regierungsparteien, um die eigene Verantwortung für die »Krise« klein zu halten, in synchronen Vergleichen mit stärker betroffenen vergleichbaren Volkswirtschaften, während die Unionsparteien mit diachronen Vergleichen zu den wirtschaftlichen Erfolgen ihrer Regierungszeit die Verantwortung der Regierung betonten. Ein weiterer wichtiger Diskussionsgegenstand in den Krisendebatten der 1970er-Jahre war die Diagnose einer »Epochenwende«, wie sie historiografisch mit der Festlegung der seitherigen Entwicklung als der »nach dem Boom« auch ex post verankert ist.

Neben der somit angedeuteten Vielzahl von interessanten Einzelergebnissen zum Sprachgebrauch und somit zur sprachlichen Konstruktion oder Organisation der drei Krisen zielen die Untersuchungen natürlich auch darauf, Gemeinsamkeiten der Konstruktion von Wirtschaftskrisen in der Mitte des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Beides – Spezifika und Gemeinsamkeiten – trägt Klammer in einem kurzen und konzisen Schlusskapitel zusammen und wagt dabei auch den erwähnten Ausblick auf die mögliche »Dauerkrise der Gegenwart« (S. 455). Jeweils wiederkehrende und somit für Krisendiskurse wohl konstitutive Topoi, Metaphern und um Krise, aber auch um Vertrauen und Opfer kreisende Grundbegrifflichkeiten sind ebenso wie der wiederkehrende und zentrale Referenzpunkt der Arbeitsmarktlage übergreifende sprachliche Mittel, Krisen zu konstruieren. Auch der Umschlag des Krisenbegriffs vom Ereignis- zum Strukturbegriff kehrt wieder, und dass von Krise hochfrequent die Rede ist in Zeitabschnitten, in denen die ökonomischen Daten die Krise noch nicht ausweisen, sind Anzeichen für die Relevanz der Sprache für »Wirtschaftskrisen«. Diese Befunde zeigen, dass Klammer mit seiner historisch-semantischen Analyse auch für die Geschichtswissenschaft wesentliche neue Erkenntnisse zum Verständnis der drei ausgewählten Wirtschaftskrisen geleistet hat, die auch für den Nicht-Fachmann aus der Nachbarwissenschaft sehr lesenswert sind.  

Martin Wengeler, Trier

[1] Vgl. insb. Martin Wengeler/Alexander Ziem (Hrsg.), Sprachliche Konstruktionen von Krisen. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein fortwährend aktuelles Phänomen, Bremen 2013.

[2]David Römer, Wirtschaftskrisen. Eine linguistische Diskursgeschichte, Berlin/Boston 2017; Kristin Kuck, Krisenszenarien. Metaphern in wirtschafts- und sozialpolitischen Diskursen, Berlin/Boston 2018.

 

Zitierempfehlung:

Martin Wengeler: Rezension von: Kristoffer Klammer: ›Wirtschaftskrisen‹. Effekt und Faktor politischer Kommunikation. Deutschland 1929–1976 (Historische Semantik, Bd. 28), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81923> [27.4.2020].

 

Hubertus Buchstein/Henning Hochstein (Hrsg.): Otto Kirchheimer – Gesammelte Schriften, Bd. 2: Faschismus, Demokratie und Kapitalismus

Rezension zu: Hubertus Buchstein/ Henning Hochstein (Hrsg.): Otto Kirchheimer – Gesammelte Schriften, Bd. 2: Faschismus, Demokratie und Kapitalismus

Nomos Verlag | Baden-Baden 2018 | 575 Seiten, gebunden | 59,00 € | ISBN 978-3-8487-4732-0

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Otto Kirchheimer (1905–1965) zählt zu den bedeutenden Protagonisten der politischen Wissenschaft in Deutschland. Politisch und wissenschaftlich in der Weimarer Republik sozialisiert, wurde er als Sozialdemokrat und Jude von den Nazis verfolgt und ins Exil getrieben. In der Weimarer Republik war er zunächst als Jurist und Anwalt tätig, zu seiner Biografie gehört aber auch die Zusammenarbeit mit Carl Schmitt, der sein Doktorvater wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb er im amerikanischen Exil, erlangte dennoch ebenfalls in Deutschland als Politikwissenschaftler größere Bekanntheit. Es liegt nun Band 2 der auf sechs Bände angelegten Ausgabe von Kirchheimers »Gesammelte(n) Schriften« vor.

Die Arbeiten Kirchheimers, insbesondere die zur Verfassungstheorie und Faschismustheorie, erfreuten sich zu Zeiten der Studentenbewegung der 1960er-Jahre einiger Popularität, sind meist aber nur noch antiquarisch zu erwerben. Umso verdienstvoller ist jetzt die von einem Team um den in Greifswald lehrenden Professor Hubertus Buchstein begonnene Herausgabe seiner Schriften. Die Reihenfolge der Bände folgt nicht chronologisch den Lebensjahren Kirchheimers, sondern ist thematisch geordnet. So enthielt der »Recht und Politik in der Weimarer Republik« gewidmete Band 1 auch Texte, die erst nach dem Ende der Republik geschrieben wurden. Ähnlich verhält es sich mit dem hier vorliegenden Band 2 zu »Faschismus, Demokratie und Kapitalismus«. Im Mittelpunkt stehen dabei Texte, die im Exil in Frankeich und den USA während der NS-Herrschaft verfasst wurden, enthalten sind aber auch Texte aus der Nachkriegszeit. Inhalt, Form, Umfang und Anlass der Texte sind dabei sehr unterschiedlich; sie reichen von kurzen Rezensionen über Broschüren bis hin zu längeren wissenschaftlichen Abhandlungen. Erkennbar wird dennoch implizit eine gewisse biografische Ordnung der Texte anhand der Lebensphasen Kirchheimers. So befasst sich die Einleitung in dem Band mit Texten zur Weimarer Republik vor allem mit Kirchheimers Lebensstationen bis zur Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Jahr 1933.

Eine ähnliche Orientierung auf die Lebensdaten beinhaltet auch die der vorliegenden Textsammlung vorangestellte und überaus informative Einleitung durch Hubertus Buchstein, in der dieser souverän die Lebensstationen Kirchheimers während des Exils der 1930er- und 1940er-Jahre mit einer Einordnung der im Band versammelten Texte verbindet. Inhaltlich hebt Buchstein hervor, dass aus den Texten im Zeitverlauf eine bemerkenswerte Kontinuität, zum Teil aber auch eine deutliche Revision hervorgehe (S. 8). Breiteren Raum widmet die Einleitung auch der Auseinandersetzung Kirchheimers mit Carl Schmitt (S. 24ff.), die so weit ging, dass es Kirchheimer gelang, 1935 anlässlich des »11. Internationalen Kongresses für Strafrechts- und Gefängniswesen« in Deutschland aus dem Exil heraus eine in der Aufmachung der von Carl Schmitt herausgegebenen Reihe »Der deutsche Staat der Gegenwart« entsprechende kritische Auseinandersetzung mit dem Recht des ›Dritten Reichs‹ unter dem Titel »Staatsgefüge und Recht des dritten Reichs« ins Land zu schmuggeln (im Band abgedruckt S. 152ff.). Deutlich wird in der Einleitung auch die schwierige persönliche und berufliche Situation des von seiner Ehefrau und Tochter zeitweilig getrenntlebenden Kirchheimer. Beruflich suchte er nach wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten, was ihm letztlich erst mit der nach viel Mühe erreichten Übersiedlung in die USA und der Arbeit für das Institut für Sozialforschung einigermaßen gelang – auch wenn das Verhältnis Kirchheimers insbesondere zu Max Horkheimer nicht spannungsfrei blieb.

Die im Band versammelten Artikel bieten eine Reihe interessanter Einsichten. So setzt Kirchheimer sich im Text »Anmerkungen zur Theorie der nationalen Souveränität« aus dem Jahr 1934 pointiert mit der Weimarer Rechts- und Staatslehre auseinander (S. 132ff.). Während Hermann Heller positiv gewürdigt wird, lehnt Kirchheimer Hans Kelsen, der »die Rechtswissenschaft zu einer Art Mathematik der Kulturwissenschaften« machen wolle, ab (S. 147). Sie stelle die »letzte Phase der Rechtsstaatsidee dar«, die dazu verurteilt sei, im Zustand reiner Theorie zu verbleiben. Diese Textpassage illustriert einmal mehr das Dilemma, dass die Mehrzahl der sich als links verstehenden Verfassungsrechtler der Weimarer Republik mit dem Ansatz Kelsens nichts anfangen konnten, obwohl dieser durchaus für gesellschaftsverändernde Politikansätze anschlussfähig gewesen wäre.

In dem bereits angesprochenen Text zum Rechtsverständnis des ›Dritten Reichs‹ spielt die Transformation des Rechtsstaatsbegriffs eine wichtige Rolle. Während Rechtsstaat ehemals den Versuch der Objektivierung durch Garantien und Schematisierung bedeutet habe, so habe sich dies jetzt verkehrt: »Die Garantien, dass Recht gefunden wird, liegen nicht mehr im Gesetz, sondern in dem Ausrichten der einzelnen Entscheidung nach der nationalsozialistischen Weltanschauung.« (S. 155) Letztlich werde die politische Justiz durch die geheime Staatspolizei ausgeübt, die nur »im Fall der Opportunität« nach Beendigung des eigenen Verfahrens den Fall an das Volksgericht oder Sondergerichte »zur nochmaligen Verhandlung auf Grund der von ihr und mit ihren spezifischen Mitteln gesammelten Beweise« abgaben (S. 166). Für den Bereich des Arbeitsrechts sieht Kirchheimer eine Absicherung von Kapitalinteressen, indem es industriellen Kreisen neben der freien Verfügung über die Produktionsmittel auch das Recht garantiere, »die Bedingungen des Arbeitsverhältnisses nach ihrem Gutdünken festzusetzen« (S. 173f.). Über eine eigene Sozialverfassung verfüge das ›Dritte Reich‹ nicht, sondern folge den Interessen der wirtschaftlich Starken. Nur in Zeiten der Gefahr würden halbe und niemals erfüllte Versprechen an die Arbeiterschaft als der schwächeren Sozialpartei gemacht (S. 178).

Innerhalb des Instituts für Sozialforschung war Kirchheimer in die Vorbereitung verschiedener Ausarbeitungen der Institutsmitglieder eingebunden. Zu Max Horkheimers Manuskript »Autoritärer Staat« stellte er heraus, dass das Argument, eine Revolution könne »ökonomisch-politische in rein technische Probleme« verwandeln, unpassend sei (S. 213f.): Zwischen »Herrschafts- und Servicebürokratie« bestünden unter jeder Gesellschaftsform wesentliche Unterschiede. Lenins Verweis auf die Organisation der deutschen Post als Vorbild für die Verwaltungsorganisation einer sozialistischen Gesellschaft ist für Kirchheimer nicht zutreffend: Die Leitung der gesamten Produktion werfe »Wertvorrangfragen« auf, die je nach den gewählten Lösungen zu ganz unterschiedlichen Resultaten führe. Diese Unterschiede seien für die Verwaltungsobjekte allerdings von höchster Bedeutung – und eben nicht einfach durch eine rein technisch verstandene Organisation lösbar (S. 214).

In »Strukturwandel des politischen Kompromisses« (S. 271ff.) aus dem Jahr 1941 zieht Kirchheimer mit Blick auf das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus den Schluss, da Geld nicht länger als Vermittler zwischen ökonomischem und politischem Leben diene, müsse nun eine andere Koordinationsinstanz für das gesellschaftliche Leben gefunden werden. Übrig geblieben sei die Institution der Führerschaft, die zwischen den rivalisierenden Gruppen schlichten müsse. »Ihre Macht beruht auf der Fähigkeit, jedes Gruppenopfer durch Vorteile auszugleichen, die letztlich aber nur im internationalen Bereich erlangt werden können, das heißt: Durch eine imperialistische Politik«.

In einer Rezension zu Ernst Fraenkels »Doppelstaat« stellt er die These von einem Fortbestehen eines Rechts- neben dem nationalsozialistischen »Maßnahmestaat« in Frage (S. 301ff.). Seine eigene Sicht auf die tatsächliche Rechtsordnung der NS-Diktatur lässt sich ausführlicher dem ebenfalls 1941 erschienenen Text »Die Rechtsordnung des Nationalsozialismus« (S. 309ff.) entnehmen. Kirchheimers eigenes Fazit lautet hier, Recht und Rechtspraxis seien zum Instrument erbarmungsloser Herrschaft und Unterdrückung im Interesse derer geworden, die an den Hebeln wirtschaftlicher und politischer Macht säßen (S. 330).

Der mit 165 Seiten umfangreichste Einzeltext des Bandes ist die 1943 erschienene und hier wie im Original auf Englisch abgedruckte Abhandlung »The Fate of Small Business in Nazi Germany« (S. 333ff.), in der Kirchheimer sich mit den Interessen des Kleinunternehmertums als früher Stütze der NS-Bewegung auseinandersetzt. Anhand der Auswertung und Diskussion einer Fülle von statistischem Material arbeitet Kirchheimer dabei heraus, dass die konkreten ökonomischen Interessen und Erwartungen dieser Gruppe letztlich keine Erfüllung gefunden hätten.

Zu den auch in der Einleitung angedeuteten bemerkbaren Kontinuitäten in Kirchheimers Texten gehört hier sicherlich der Blick auf die Rolle von Kapitalinteressen für die Politik des Dritten Reichs und letztlich auch die Verbindung von ökonomischen Interessen und diktatorischer Herrschaft. Dabei wird sehr deutlich, dass Kirchheimer dies gerade nicht als abstrakte politische These verstand, sondern diese Perspektive auch empirisch sorgfältig begründen wollte.

Insgesamt bietet der hier besprochene Band einen interessanten und informativen Einblick in die Themen und Ansichten Kirchheimers insbesondere während der Jahre des Exils zur Zeit der NS-Herrschaft und lädt zugleich dazu ein, aus Kirchheimers Ansätzen auch aktuelle Themen der Verknüpfung ökonomischer Interessen und politischer Herrschaft zu betrachten.

Thilo Scholle,Lünen

 

Zitierempfehlung:

Thilo Scholle: Rezension von: Hubertus Buchstein/Henning Hochstein (Hrsg.): Otto Kirchheimer – Gesammelte Schriften. Bd. 2: Faschismus, Demokratie und Kapitalismus, Nomos Verlag, Baden-Baden 2018, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81922> [27.4.2020].

Siegfried Mielke/Stefan Heinz: Alwin Brandes (1866–1949). Oppositioneller – Reformer – Widerstandskämpfer

Rezension zu: Siegfried Mielke/Stefan Heinz: Alwin Brandes (1866–1949). Oppositioneller – Reformer – Widerstandskämpfer (Reihe Gewerkschafter im Nationalsozialismus. Verfolgung – Widerstand – Emigration, Bd. 9)

Metropol-Verlag | Berlin 2019 | 566 Seiten, gebunden | 29,00 € | ISBN 978-3-86331-486-6

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In der von Siegfried Mielke und Stefan Heinz herausgegebenen Schriftenreihe »Gewerkschafter im Nationalsozialismus. Verfolgung – Widerstand – Emigration« sind seit 2012 mittlerweile neun sehr verdienstvolle und materialreiche Studien über die deutsche Gewerkschaftsbewegung und einige bedeutende Repräsentanten unter der NS–Diktatur erschienen. Der Schwerpunkt lag dabei vor allem auf dem Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV), der mitgliederstärksten und wichtigsten freien Gewerkschaft, die von 1891 bis zu ihrer Auflösung 1933 existierte, und dem Wirken antifaschistischer Mitglieder nach der Zwangsauflösung durch das NS–Regime am 2. Mai 1933. Auch dieser 9. Band, zum zweiten Mal eine Biografie eines wichtigen Funktionärs, sticht in jeder Hinsicht hervor. Zum 150. Jubiläum der Gründung eines einheitlichen Metallarbeiterverbands (28.–30.11.1869 in Braunschweig) erschien die Biografie von Alwin Brandes (1866–1949), der dem DMV von 1919 bis 1933 vorstand.[1] Das Vorwort stammt daher vom Ersten Vorsitzenden der IG Metall, Jörg Hofmann.

Für Gewerkschafter des Kaiserreichs und der Weimarer Republik wie Alwin Brandes, geboren am 12. Juni 1866 im sächsischen Groß-Schönau, gilt allzu häufig, dass sie von der Geschichtswissenschaft stiefmütterlich behandelt wurden. Dies liegt vor allem an der schwierigen Quellenlage, aber auch an einer leicht hochnäsigen Bewertung dieser oft aus sehr einfachen Verhältnissen stammenden Akteure der Sozialgeschichte. Umso mehr sind Siegfried Mielke und Stefan Heinz bestrebt, das Leben und Wirken dieser in ihrer Zeit prägenden und dennoch heute vergessenen Arbeitervertreter der Nachwelt wieder zugänglich zu machen. Sicher gehört Brandes in eine Reihe historisch bedeutender Vorsitzender der deutschen Metallarbeitergewerkschaften wie Robert Dißmann, Otto Brenner, Willy Bleicher, Eugen Loderer und Franz Steinkühler.

Zu den Problemen der Quellenlage zählte das Fehlen eines Nachlasses. Die Verfasser mussten somit auf die detektivische Recherche in diversen Bibliotheken und Archiven zurückgreifen. Erst seit seiner Zeit als Magdeburger Stadtverordneter, besoldeter Gewerkschaftsfunktionär und Reichstagsabgeordneter eröffnete sich eine umfassendere Quellenbetrachtung aus solidem Fundus. Und so kann Brandes im Geist seiner Generation von Sozialdemokraten und Gewerkschaften als Verkörperung des Typus eines »Arbeiterbeamten« charakterisiert werden, der nach seiner Ausbildung und nach erfolgreichem Start in der Arbeiterbewegung schnell in ihr aufging und von ihr besoldet wurde.

Seine Geburt stand unter keinem guten Stern. Zwei Tage nach seiner Geburt brach der deutsch-österreichische Krieg von 1866 aus, in dem Sachsen auf Seiten Wiens stand und somit kurz darauf auf der Seite der Verlierer. Mittellos floh die Familie zunächst nach Halle/Saale, zog mehrfach in der Region zwischen Saale, Elbe und Harz um und blieb seit 1892 in Magdeburg. Der junge Alwin wäre 1866 beinahe an der Cholera verstorben, die sich an den Frontlinien des Kriegs verbreitete. In Magdeburg erlernte Alwin das Schlosserhandwerk, ging auf Wanderschaft, nahm nebenbei Musikunterricht und lernte in Halle seine spätere Frau Minna kennen. Politisiert wurde der junge Schlosser und Maschinenbauer vor allem durch den Sozialdemokraten Wilhelm Hasenclever. Der inzwischen verheiratete Familienvater Alwin trat am Ende des Jahres 1890, dem Jahr des Reichstagswahltriumphs und des Auslaufens des »Sozilistengesetzes«, der Sozialdemokratie bei, die sich seit dem Hallenser Parteitag von 1890 SPD nannte. In dem zur Krupp AG gehörigen Grusonwerk wirkte er seit 1891 fortan als Vertrauensmann des DMV. Im Jahr 1900 wurde er zum Geschäftsführer der DMV-Verwaltungsstelle Magdeburg gewählt. In Magdeburg dürfte er auch den radikalen Aktivisten Otto Feige kennen gelernt haben, der mit ziemlicher Sicherheit als B. Traven in die Literaturgeschichte einging.[2]

Kennzeichnend für Brandes’ politisches Agieren war, bei einer gewissen Affinität zu radikaleren Positionen innerhalb der SPD und der Gewerkschaften, ein vermittelndes Auftreten. Dies galt auch für den »Burgfrieden«, den die Führungen beider Arbeiterorganisationen bei Beginn des Ersten Weltkriegs mit der Reichsleitung geschlossen hatten. 1916 wurden die innerfraktionellen offenen Gegner der Kriegskredite aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen und bildeten die »Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft« (SAG). Brandes warb um Verständnis für die Gemaßregelten und verstärkte im Krieg sein offensives Auftreten für eine drastische Änderung der Gewerbeordnung und forderte die Einführung des Achtstunden-Arbeitstags und das Verbot der Sonntagsarbeit für Frauen. Die Spaltung der Sozialdemokratie konnte Brandes indes nicht verhindern und trat im Dezember 1917 der USPD bei.

Die umfassendste Rekonstruktion des Lebens und Wirkens von Brandes finden sich in den beiden Kapiteln zur Weimarer Republik und seiner Tätigkeit als DMV-Vorsitzender (Kap. 5) und zu seiner Widerstandstätigkeit während der NS-Diktatur (Kap. 7) Während der Novemberrevolution 1918/19, die er als Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats in Magdeburg[3] erlebte und mitgestaltete, versuchte Brandes, die beiden konkurrierenden Perspektiven der Nationalversammlung und der Rätedemokratie miteinander zu verbinden. Hier zeigte sich einmal mehr der von den Biografen herausgestellte Charakterzug eines Vermittlers zwischen den Strömungen. Den Rätegedanken übertrug er konsequent auf die Fragen der Sozialisierung und der »Betriebsdemokratie« und blieb diesem letzteren Konzept auch während der Weimarer Republik treu. Betriebsdemokratie und Wirtschaftsdemokratie, wie sie die SPD als programmatisches Konzept formulierte, bedingten einander. Doch auch hier baute die Realgeschichte kaum tragfähige Brücken, und so vollzog sich auch im DMV die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung infolge der RGO-Politik der KPD. Eine »Einheitsfront von unten« war 1932/33 mit Brandes nicht zu machen.

Schon in der Weimarer Republik engagierte sich Brandes antifaschistisch, einmal als Unterstützer des »Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold«, aber auch als Mitglied des »Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik«, der nach dem Mord an Walther Rathenau durch das »Republikschutzgesetz« begründet wurde. Auch als Reichstagsabgeordneter (1920–1924, 1928–1933) war er mit dem Aufstieg der NS-Bewegung konfrontiert. Da er die Tolerierungspolitik gegenüber der Präsidialregierung Brüning nach außen mittrug, um die SPD nicht weiteren Zerreißproben auszusetzen, geriet auch er zwischen die Stühle. Als Hitler an die Macht gebracht wurde, war die Arbeiterbewegung zu geschwächt und gespalten, um ihn wirkungsvoll abzuwehren. Es blieb für Brandes der Weg in den Widerstand, den er von 1933–1945 konsequent einschlug, der ihm auch die Qualen der KZ-Haft und einen Prozess vor dem »Blutgericht«, dem Volksgerichtshof eintrug. Dieses Kapitel ist ohne Zweifel das spannendste dieser Biografie. In den ihm verbleibenden Jahren bis zu seinem Tod am 6. November 1949 wandte sich Brandes dem Aufbau der Gewerkschaftsbewegung als Einheitsgewerkschaft zu. Zum FDGB stand er schnell in Opposition.

Diese Biografie, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung und der IG Metall, ist in jeder Hinsicht gelungen und empfehlenswert.

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn


[1]Eine weitere Biografie aus dieser Reihe: Gunter Lange, Siegfried Aufhäuser (1884–1969). Ein Leben für die Angestelltenbewegung, Berlin 2013.

[2] Vgl. Jan-Christoph Hauschild, Das Phantom. Die fünf Leben des B. Traven, Berlin 2018.

[3]Am 6. April 1919 wurde Brandes auf Anordnung von Reichswehrminister Gustav Noske wegen angeblicher Vorbereitung einer Verschwörung verhaftet, musste aber nach sechs Tagen wieder entlassen werden.

 

Zitierempfehlung

Holger Czitrich-Stahl: Rezension von: Siegfried Mielke/Stefan Heinz: Alwin Brandes (1866–1949). Oppositioneller – Reformer – Widerstandskämpfer (Reihe Gewerkschafter im Nationalsozialismus. Verfolgung – Widerstand – Emigration, Bd. 9), Metropol-Verlag, Berlin 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81921> [27.4.2020].

Mario Keßler: Westemigranten. Deutsche Kommunisten zwischen USA-Exil und DDR

Rezension zu: Mario Keßler: Westemigranten. Deutsche Kommunisten zwischen USA-Exil und DDR (Zeithistorische Studien, Bd. 60)

Böhlau Verlag | Köln/Weimar etc. 2019 | 576 Seiten, gebunden | 65,00 € | ISBN 978-3-412-50044-3

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Das Thema hat es in sich: das Mit-dem-Leben-davongekommen-Sein; die sich türmenden Hürden der Einreise in die sich abschottenden USA; die beruflichen Schwierigkeiten und wirtschaftlichen Engpässe des Exilantenlebens; zumal bei den jüdischen Genossinnen und Genossen das quälende Wissen, zumindest die Ahnung, um das Schicksal der im deutschen Machtbereich zurückgelassenen Verwandten; die nicht minder quälenden Gewissensfragen rund um den deutsch-sowjetischen Pakt und die Moskauer Prozesse; schließlich der Sieg der Alliierten und die Hoffnung auf einen fundamentalen Neubeginn in Deutschland, wohin man der Kommunistenhatz der Trumanzeit entkommen wollte; die wirtschaftliche Sicherheit in der jungen DDR, wo Opferrenten und wohldotierte Lehrstühle der Remigranten harrten; dann die Verdächte, was an kultureller Konterbande im Gepäck der »Westemigranten« mitgeführt worden sein könnte; die Parteiüberprüfungen; die Prozesse in den Bruderstaaten, die Mario Keßler zu Recht als antisemitisch klassifiziert; und die Frage nach dem richtigen Handeln: ob man sich pragmatisch einrichten, mahnend die Stimme erheben oder das Weite suchen sollte… Keßler, Autor der angezeigten Kollektivbiografie, hat über zahlreiche seiner Protagonisten bereits Einzelstudien vorgelegt und darf somit als ausgewiesener Fachmann gelten. Sein Buch, das von der ersten bis zur letzten Seite fesselt, besticht durch Sachkenntnis, kritische Empathie und, immer mal wieder, einen äußerst feinen Humor.

Etwa vier Dutzend sehr unterschiedliche Personen stehen im Fokus des Interesses. Gemeinsam war ihnen, dass sie (was bei der Einreise in die USA tunlichst verschwiegen werden sollte) Mitglied der Kommunistischen Partei waren oder dieser zumindest nahestanden. Das FBI, das die deutsche Emigrantenszene ohnedies beobachtete, gab sich bei den Kommunistinnen und Kommunisten besondere Mühe. Nach ihrer Rückkehr in die DDR tat es der Staatssicherheitsdienst den amerikanischen Kollegen gleich. Die sorgsame Auswertung sowohl der FBI- als auch der Stasi-Unterlagen sorgt für eine spannungsreiche Lektüre. Manch einer der Exilanten, insonderheit Bertold Brecht, begann sein Gastland regelrecht zu hassen – was ihn nicht daran hinderte, 1941 die amerikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Andere, wie der Biochemiker Samuel Mitja Rapaport, dem Präsident Harry S. Truman das Certificate of Merit, die höchste Zivilauszeichnung, verliehen hatte, hätten sich wohl durchaus vorstellen können, in den USA zu bleiben, was ihnen durch die politische Großwetterlage indes verunmöglicht wurde. Auch Stefan Heym, der sich selbst übersetzte und ein deutsch-amerikanischer Autor im Wortsinn wurde, und Franz Carl Weiskopf verließen die USA nur auf äußeren Druck. Wesentlich prominenter war der Fall Gerhart Eislers, der beileibe nicht jener Superagent war, als den ihn seine Schwester den amerikanischen Sicherheitsbehörden schmackhaft machen wollte, wohl aber ein in konspirativer Arbeit erfahrener KP-Spitzenfunktionär. Die Familienfehde der Eislers, der Charlie Chaplin die Qualität eines Shakespearedramas zuerkannte, bleibt uns der Ruth-Fischer-Biograf Keßler selbstredend nicht schuldig.[1]

Ausführlich schildert er die Organisationsgeschichte des 1944 gegründeten Council for a Democratic Germany, in dem Exilkommunisten wie Albert Schreiner und Jacob Walcher (beide mit abweichlerischer Vergangenheit) mit anderen politischen Kräften zusammenarbeiteten und wo eine insgesamt »offene, pluralistische Diskussionskultur« herrschte (S. 162). Genau diese Kultur aber machte die Remigranten dem Staatssicherheitsdienst der DDR verdächtig. »Amerikanische Krankheit«, dieser Begriff ging in den 1950er-Jahren als Synonym für allzu liberalistische und kosmopolitische Neigungen um. Der Krankheitsverlauf konnte tödlich sein, und es grenzt an ein Wunder, dass keiner der hier untersuchten USA-Remigranten den DDR-Strafvollzug persönlich kennenlernen musste. Während der Rabbinersohn Albert Norden, auch er ein German-Council-Mitglied, in ZK und Politbüro aufsteigen sollte, war es der aus Mexiko heimgekehrte Paul Merker, der sich, als Nichtjude, Anschuldigungen zionistischer Betätigung stellen musste und in Haft genommen wurde. Dass es in der DDR, anders als in der Tschechoslowakei und in Ungarn, zu keinem großen Schauprozess mehr kam, war sein und vieler anderer Remigranten Glück. Wer glaubhaft Selbstkritik übte, wer Selbstverleugnung nicht scheute, konnte im neuen Staat Karriere machen; wer dies verweigerte, eher nicht. Schreiner und Walcher, einstmals Mitglieder von KPO und SAPD, mögen für diese beiden Möglichkeiten stehen.

Die aus Amerika Heimgekehrten wurden beargwöhnt, überwacht, mit ihnen wurden Gespräche geführt, Akten wurden über sie angelegt – aber sie wurden auch benötigt. Im ideologischen Kampf brauchte man Leute, die den Gegner kannten. Hermann Budzilawski, langjähriger Herausgeber der Exil-Weltbühne, musste als früheres SPD- und jetziges SED-Mitglied seine Verlässlichkeit erst noch beweisen und holte zu Rundumschlägen aus, die von konservativer Kulturkritik mitunter kaum zu unterscheiden waren. Andere, Alfred Kantorowicz, Ernst Bloch und Stefan Heym, ließen sich nicht (dauerhaft) verbiegen und mussten, da, wie Keßler schreibt, der linke Kritiker den Parteioberen stets gefährlicher schien als der rechte Gegner, die Konsequenzen tragen: indem sie das Land verließen, das Leben eines Dissidenten führten oder, wie der besonders tragische Fall der Familie Duncker, schwiegen. Das Panorama, das Keßler entfaltet, die Porträts, die er zeichnet, die Gedankenwelten, in die er uns führt, können hier nur angerissen werden. Immer wieder werden Seitenstränge seiner Erzählung verfolgt, verweilen wir bei dieser oder jener Person und lernen auf diese Weise viel über die kleine, bei Wohlverhalten privilegierte, aber doch stets als Außenseiter behandelte Gruppe der USA-Remigranten in der DDR. Auch sie gehörten, um Maxim Leos Bestseller zu zitieren, zu jener »Minderheit, die in der DDR die Macht übernommen hat[te] und sich trotzdem fremd fühlt[e] in diesem Deutschland, aus dem sie einst vertrieben« worden war.[2] Eine Minderheit, der mit politischen Etikettierungen (»antifaschistischer Widerstand« vs. »Unrechtsstaat«) nicht beizukommen ist und die unser Interesse verdient. Auch wenn es bereits geweckt worden ist – Keßler hält es wach.

Max Bloch, Köln

[1] Vgl. Mario Keßler, Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895–1961), Köln/Weimar etc. 2013.

[2]Maxim Leo, Haltet euer Herz bereit. Eine ostdeutsche Familiengeschichte, München 2011, S. 26.

 

Zitierempfehlung:

Max Bloch: Rezension von: Mario Keßler: Westemigranten. Deutsche Kommunisten zwischen USA-Exil und DDR (Zeithistorische Studien, Bd. 60), Böhlau Verlag, Köln/Weimar etc. 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81920> [27.4.2020].

 

Martin Kohlrausch: Brokers of Modernity. East Central Europe and the Rise of Modernist Architects, 1910–1950

Rezension zu: Martin Kohlrausch: Brokers of Modernity. East Central Europe and the Rise of Modernist Architects, 1910–1950

Leuven University Press | Leuven 2019 | 399 Seiten, broschiert | 55,00 € | ISBN 978-94-6270-172-4

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Es ist Common Sense, dass man die Moderne als ein westliches Konzept versteht, wie es sich in den Bereichen der Kunst, der Architektur und des Städtebaus manifestierte, wie es auf Leitideen und sozialen Bewegungen fußte, die sich in (West-)Europa und den USA entwickelten. Zugleich existiert ein wahrer Kult um die stark vermarktete, aber nur halb verstandene Moderne mit ihren Pilgerorten wie Weimar, Dessau, Marseille oder Berlin.

Inzwischen geriet die Vorstellung einer westlichen bzw. europäischen Moderne von verschiedenen Seiten unter Druck. Das Konzept wurde dynamisiert, behielt aber seine historiografische Kontur. Es ist, zum Ersten, längst klar, dass »Moderne« nicht per se etwas Positives ist, sondern dass zu ihr sehr destruktive Phänomene und Gewalten gehören. »Moderne« Technologien dienten auch der Menschenvernichtung, nicht allein dem Aufbau neuer gerechter und ›rational‹ gestalteter Welten. Zum Zweiten wurde die Vorstellung einer allein ›europäisch‹ oder ›westlich‹ geprägten Moderne auf globalgeschichtlicher Ebene kritisiert, es wurde auf ›alternative‹ Modernen, Konzepte und Bewegungen verwiesen. Zum Dritten betonten einige Stimmen, dass die Moderne, speziell die modernistische Architektur, keineswegs nur in Westeuropa beheimatet ist. Sie stand auf sehr komplexe Weise mit den Umbrüchen in ganz Europa nach dem Ersten Weltkrieg in Zusammenhang.

Hier setzt das Buch von Martin Kohlrausch an, der sich dem östlichen Zentraleuropa zuwendet, das heißt den nach 1918 entstehenden neuen Nationalstaaten Ungarn, Tschechoslowakei und – insbesondere – Polen. Der Autor insistiert darauf, dass Moderne, verstanden als Reformbewegung, als äußerst intensiver kommunikativer und diskursiver Zusammenhang und als praktischer Impuls für die Modernisierung und Verbesserung von Gesellschaft, Bauen und Wohnen, in hohem Grad im östlichen Zentraleuropa zu verorten ist. Obwohl zu dieser Geschichte die Sowjetunion als extrem modernisierendes Regime, wo deutsche Ingenieure und Architekten wie Ernst May tätig wurden, dazugehört, geht Kohlrausch auf diesen Komplex allerdings nicht weiter ein, und konzentriert sich auf Polen, ohne transnationale Zusammenhänge der Architekturmoderne und die besonderen Beziehungen zu einschlägigen Akteuren in den Nachbarländern wie Deutschland zu unterschlagen.

Der Verfasser entwickelt starke Thesen und diese auf ungewöhnlich reichhaltiger Quellenbasis: Die für die Formierung der Moderne in Architektur und Städtebau maßgebliche Congrès Internationaux d`Architecture Moderne (CIAM) sei, erstens, deutlich stärker als bislang wahrgenommen wurde, von östlichen Akteuren geprägt gewesen, und die sich wiederum in einem eigenen Zusammenhang organisierten, der CIAM-Ost. Dieser Zusammenhang kam durch sehr enge persönliche Beziehungen, brieflichen Austausch, auf Konferenzen und kleineren Treffen sowie projektbezogenes Zusammenarbeiten zustande. Kohlrausch nennt ferner realisierte modellhafte Bauvorhaben, Siedlungen und Schlüsselbauten der Architekturmoderne. Zweitens arbeitet er die Rolle heraus, die in Polen modernistische Architekten wie Szymon und Helena Syrkus als technische und politisierte Experten für den Wandel von Städten und Gesellschaften übernahmen. Hierzu führt der Autor die Figur des »Ingenieur-Architekten« ein. Er schreibt der CIAM-Ost einen radikaleren Charakter als ihren westlichen Kollegen zu, was teils durch den Reformdruck, der in Zentraleuropa bestand (extreme Wohnungsnot, ungeheure demografische Dynamik besonders in Warschau, besondere Defizite bei der Infrastrukturentwicklung), zu erklären ist, teils dadurch, dass die polnische Staatsadministration sich selbst von ihrer modernisierenden Funktion her begriffen habe.

Die CIAM-Ost stand so im internationalen Zusammenhang, verstand sich als internationalistische Gruppe, diente aber auch nationalen Aufbauzielen. Sie ging explizit vom Begriff der Moderne aus, agierte im Zuge eines nachholenden Modernisierungsprogramms und entwickelte wachsend eigene Varianten und Designs. Drittens verdeutlicht der Verfasser die einengenden Rahmenbedingungen, unter denen die Ingenieurarchitekten handelten: Der Krieg hatte zwei Millionen Gebäude vernichtet, die neuen Territorien waren durch beträchtliche ethnische und politische Spannungen geprägt. Die Berufsgruppe der Architekten war erst dabei, sich (allerdings sehr rasch) zu formieren, dem Reformwohnungsbau standen nur geringe Fonds zur Verfügung. Das Programm der Effizienzsteigerung stieß außerhalb der Metropole (wie man ergänzen sollte, in der kleinbäuerlichen und kleinstädtischen Gesellschaft) auf nicht überwindbare Schwierigkeiten. Planungstechniken mussten erst erprobt, deren visuelle Veranschaulichung fortentwickelt werden. Schließlich erzielte der polnische Staat große Fortschritte bei der Infrastrukturentwicklung (Hafen von Gdingen), litt indes aber unter allgemeiner wirtschaftlicher Knappheit. Dennoch: der Raum des östlichen Europas erscheint bei Kohlrausch entschieden als »space of opportunities« und staatliche (offensichtlich weniger städtische) Akteure zogen verschiedene große Wohnungsbauprogramme auf, von denen modernistische Architekten profitieren konnten.

Martin Kohlrausch setzt in seinen empirischen Kapiteln sein Exposé sehr gekonnt um: Er charakterisiert zunächst den neuen Typ des Architekten als sich selbst so verstehenden, teilweise als solchen anerkannten sozialpolitischen Experten. Die Leitbegriffe Technologie, Planung und Technokratie werden quellenreich erläutert, die Selbstorganisation der Berufsgruppe (hauptsächlich deren Spitze) aufgearbeitet. Es werden Modellprojekte vorgestellt und auf deren Design eingegangen. Kohlrausch rekonstruiert die Medialität der Bewegung (»communicating social change through architecture«) und unterstreicht die Gründung eigener Journale sowie die Rolle von Ausstellungen. Der Autor vollzieht die internen Diskussionsprozesse der Szene nach, bis diese durch rechtsradikale und radikalnationalistische Tendenzen in den Gesellschaften selbst immer mehr unter Druck geriet. Schließlich behandelt der Autor die traurige Geschichte von erzwungener (und manchmal scheiternder) Emigration, schließlich der Internierung und Verfolgung im ausgreifenden Nationalsozialismus. Das Buch schließt mit Ausblicken auf den Neubeginn der Stadtplanungen in Warschau nach dessen Untergang schon Ende 1944, bis die Reformgruppen 1949 weitgehend durch die stalinistische Machtübernahme gestoppt wurden.

Manche Komplexe hätte man sich näher ausgeführt gewünscht (insbesondere Belege für die Kooperation von Architekten und modernisierender Bürokratie sowie zur praktischen Umsetzung von Stadtbauplänen über 1945 hinaus), indes kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Verfasser das Äußerste geleistet hat, was überhaupt möglich war, betrachtet man vor allem die Zugänglichkeit von Quellen, die er erstmalig erschlossen hat. Die Arbeit rückt demnach nicht nur die Gewichte in der Wahrnehmung dessen, was Architekturmoderne überhaupt ist, zurecht, sondern weist die beträchtliche diskursive Kraft von Modernisierungsbewegungen in Zentraleuropa nach. Dass die polnischen Architekten durch den nationalsozialistischen Krieg zu einem Drittel den Tod erlitten, gehört ebenso zum Gesamtbild wie der von Kohlrausch souverän erbrachte Nachweis, wie viele konstruktive Impulse aus dem untersuchten Raum auf die Entstehung der Disziplin Städtebau ausgingen.

Clemens Zimmermann, Saarbrücken

 

Zitierempfehlung:

Clemens Zimmermann: Rezension von: Martin Kohlrausch: Brokers of Modernity. East Central Europe and the Rise of Modernist Architects, 1910–1950, Leuven University Press, Leuven 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81919> [27.4.2020].

 

Manuel Limbach: Bürger gegen Hitler. Vorgeschichte, Aufbau und Wirken des bayerischen »Sperr-Kreises«

Rezension zu: Manuel Limbach: Bürger gegen Hitler. Vorgeschichte, Aufbau und Wirken des bayerischen »Sperr-Kreises« (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 102)

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2019 | 569 Seiten, gebunden | 83,00 € | ISBN 978-3-525-31071-7

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Im August 1944, als die alliierten Truppen in Florenz einrückten, verließ der ehemalige bayerische Kronprinz Rupprecht nach Monaten deutscher Besatzung sein Versteck. Ein Brigadier, Kommandant der amerikanischen Garnison, wurde des huldvollen Danks des Hauses Wittelsbach teilhaftig und ließ, so wird berichtet, bei der Abschiedsparade stolz »das bayerische Kreuz zwischen den amerikanischen, englischen, französischen Auszeichnungen auf seiner Heldenbrust glitzern, ehe er seine Soldaten zum Sturm auf die Gotenlinie führte«.[1] Seit vier Jahren lebte Rupprecht schon im selbstgewählten Exil, und die Zeit nach dem Sturz des Nationalsozialismus imaginierte er als die Zeit eines neu zu begründenden bayerischen Königtums. Das hatte er in den letzten Jahren in zahlreichen Denkschriften vor allem der amerikanischen und britischen Administration – ohne allzu große Resonanz – unermüdlich zu verdeutlichen gesucht und so hatte er sich 1933/34 bereits gegenüber dem bayerischen Gesandten beim Reich, Franz Sperr, und dem ehemaligen Reichswehrminister Otto Geßler geäußert. Diese Gespräche waren, erfahren wir aus Manuel Limbachs Bonner Dissertation, die Initialzündung des »Sperr-Kreises«, einer bayerischen Widerstandsgruppe, die sich vornehmlich aus Teilen der bürgerlichen Elite zusammensetzte und Vorkehrungen treffen wollte für ein postnationalsozialistisches Bayern: die Zeit »Danach«.

Neben Geßler und Sperr, der im Juni 1934 sein politisches Amt niederlegte, gehörte der vormalige Reichswirtschaftsminister Eduard Hamm zum Führungszirkel der Gruppe. Da, wie Limbach betont, die Entscheidung zum Widerstand immer eine persönliche Entscheidung ist, werden die Lebensläufe Sperrs, Geßlers und Hamms bis 1933 (»Bayerische Karrieren in der Weimarer Republik«) ausführlich behandelt. Sperr fand sich nach seinem Rücktritt ebenso wie die beiden ehemaligen DDP-Mitglieder Geßler und Hamm auf dem politischen Abstellgleis wieder – ohne sich hiermit jedoch zufriedengeben zu wollen. Als ehemaliger bayerischer Offizier und Spitzenbeamter trat er, gemeinsam mit Geßler, in Gespräche mit dem Kronprinzen ein, zu denen etwa ab 1936 auch Hamm hinzugezogen wurde. Aus diesen Gesprächen resultierte Sperrs unermüdliche Netzwerkarbeit. Es ging ihm darum, möglichst überall im Land nicht nationalsozialistische Vertrauensleute in Wehrmacht, Polizei, Wirtschaft und Justiz zu gewinnen, die im Fall eines Umsturzes Ordnung und Sicherheit garantieren könnten. Der Kronprinz fungierte hierbei als eine Art »Integrationsfigur«, da man ihm zutraute, »den Übergang von der Diktatur zu einer neuen Ordnung« zu gewährleisten. Wie diese »neue Ordnung« aussehen sollte, ließ man geflissentlich offen. Die Wiederherstellung des Rechtsstaats war Common Sense; ob die Rückkehr zur Monarchie hingegen als realpolitisch praktikabel anzusehen war oder nicht, blieb Gegenstand der Diskussionen. Limbach mahnt daher, den »Sperr-Kreis« nicht als primär monarchistisch einzuordnen. Das alle Mitglieder des Kreises einende Band war aber Bayern, dessen föderale Rechte es nach dem Sturz des Nationalsozialismus zu wahren und durchzusetzen galt.

Zivile Einrichtungen wie die »Deutsche Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaft« dienten als Tarnung für Sperrs konspirative Tätigkeit; dasselbe galt für die »Münchener Rückversicherungsgesellschaft« unter dem schillernden Kurt Schmitt, vormals ein Finanzier der NSDAP und Hitlers Reichswirtschaftsminister, die Sperr und Hamm ein Unterkommen bot und von Limbach sogar als ein »Hort des Widerstands« bezeichnet wird. Der Kontakt ins Ausland lief über Geßler. Die Verbindung zu seinem früheren Marineadjutanten (und nunmehrigen Abwehrchef) Wilhelm Canaris ermöglichte ihm seine Reisen in die Schweiz (zu Joseph Wirth), nach Florenz (zu Rupprecht) und zum Vatikan. Das Zwielichtige, das diese Reisen umgab, übergeht Limbach in seiner spannenden Darstellung nicht: Indem Geßler gegenüber den Westalliierten den Preis eines erhofften Friedensschlusses in die Höhe zu treiben suchte, agierte er teilweise im Sinne des Regimes, und manch anderem Widerständler schien er sich während der Phase deutscher Siege zu einem regelrechten Nazi zu mausern. Über Alfred Delp bestanden Beziehungen Sperrs zum »Kreisauer Kreis«, und am 21. September 1943 kam es sogar zu einem Treffen mit Helmuth James Graf von Moltke. Auf dessen Umsturzpläne – die »Kreisauer« wollten in Bayern den Erstschlag führen – reagierte Sperr hingegen verhalten. Dies wiederholte sich bei einem Treffen mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 6. Juni 1944, als dieser ihn, ausgerechnet am »D-Day«, in die Attentatspläne einweihte. Diese Zögerlichkeit wird von Limbach kritisch gewertet: Der »Sperr-Kreis« habe ausschließlich »zweckorientiert« – mit Blick auf Bayern – gehandelt; indem er sich einer aktiven Mitwirkung an den Umsturzplänen verweigerte, habe er die Fortdauer des Regimes, die Fortdauer des Mordens und die Fortdauer des Sterbens an den Fronten in Kauf genommen.

Diese Haltung begründet der Autor überzeugend: Der »Sperr-Kreis« setzte sich in erster Linie aus bürgerlichen Honoratioren älteren Semesters zusammen, die allesamt das Trauma von 1918/19 erfahren hatten, als Chaos und Anarchie über das von ihnen glorifizierte Bayernland fegten. Eine solche Situation wollten sie – nach dem ersehnten Ende des ungeliebten Hitlerreichs – verhindern helfen. Umstürzler, gar Revolutionäre waren sie nicht, und vor diesem Hintergrund durften die jungen Offiziere, die den »entscheidenden Wurf« (Henning v. Treskow) wagen wollten, auf ihre Unterstützung nicht rechnen. Abgesehen davon waren die Möglichkeiten des »Sperr-Kreises« begrenzt: Limbach zählt 49 gesicherte Mitglieder der Gruppe zuzüglich eines weiteren Unterstützerkreises. Ihr Fokus lag auf einem bayerischen Weg aus der Misere, gegebenenfalls einem bayerischen Sonderfrieden mit den Westalliierten, und hierfür suchten sie die Unterstützung des ehemaligen Generalstabschefs Franz Halder und des sich nicht minder windenden NS-Reichsstatthalters Franz Ritter von Epp. Vom Attentatsversuch des 20. Juli 1944 erfuhren Sperr und seine Freunde aus dem Radio. In Bayern war von einem Umsturzversuch ansonsten kaum etwas zu spüren, wodurch der bayerische Widerstand beim Praxistest eigentlich versagte. Aufgrund einer älteren Kabinettsliste Carl Friedrich Goerdelers, die durch die Gestapo sichergestellt worden war, wurde Geßler am 22. Juli verhaftet. Unter der Folter gab er die Namen Sperrs und Hamms preis, die am 28. Juli beziehungsweise 2. September ebenfalls in Haft genommen wurden. Sperr wurde am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet; Hamm hatte sich der Hinrichtung durch einen tödlichen Sprung aus dem Fenster des Gestapogefängnisses entzogen. Einzig Geßler, was bemerkenswert ist, kam ohne Anklage davon.

Das Ausmaß der konspirativen Tätigkeit des »Sperr-Kreises« blieb der Gestapo verborgen, wodurch es kaum zu weiteren Verhaftungen kam. (Franz Reisert und Joseph-Ernst Fugger von Glött kamen mit Haftstrafen davon.) Einige jüngere Mitglieder des Kreises hatten im Frühjahr 1945 Verbindungen zur »Freiheitsaktion Bayern«, die aber nicht, wie mitunter geschehen, als eine Fortsetzung des enthaupteten »Sperr-Kreises« anzusehen ist. Nach Kriegsende hatten die meisten Mitglieder des Kreises einflussreiche Posten in Bayern und im Bund inne und hielten das Andenken an Franz Sperr und Eduard Hamm wach, wobei sie lange auf wenig Resonanz stießen. Kronprinz Rupprecht musste nach seiner Rückkehr nach Bayern den Traum einer Restauration des Königtums zerplatzen sehen. Aber die bayerische Integrität und der bayerische Einfluss – Hauptanliegen des »Sperr-Kreises« – blieben nach Kriegsende immerhin gewahrt. Anteil hieran hatten auch viele seiner Mitglieder, denen die CSU vielfach zur politischen Heimat wurde.

Die Bedeutung des »Sperr-Kreises« für die deutsche Widerstandsbewegung sollte man nicht überschätzen. Das tut Limbach in seiner ausgewogenen und durchdachten Studie aber auch an keiner Stelle. Unterschätzen sollte man sie jedoch genauso wenig. Der »Sperr-Kreis« war sowohl für die »Kreisauer« als auch für Goerdeler und Stauffenberg ein entscheidender Posten in ihrer Rechnung. Von der Widerstandsforschung bislang kaum beachtet, hat Limbach mit seiner Studie zum »Sperr-Kreis« Pionierarbeit geleistet.

Max Bloch, Köln

[1]Max Krell, Das alles gab es einmal, Frankfurt am Main 1961, S. 291.

 

Zitierempfehlung:

Max Bloch: Rezension von: Manuel Limbach: Bürger gegen Hitler. Vorgeschichte, Aufbau und Wirken des bayerischen »Sperr-Kreises« (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 102), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81914> [27.4.2020].

 

Frederico Trocini (Hrsg.): Robert Michels e la Prima Guerra Mondiale. Lettere e documenti (1913–1921)

Rezension zu: Frederico Trocini (Hrsg.): Robert Michels e la Prima Guerra Mondiale. Lettere e documenti (1913–1921) (Fondazione Luigi Einaudi onlus, Studi, Bd. 60)

Leo S. Olschki Editore | Florenz 2019 | xii + 737 Seiten, gebunden | 65,00 € | ISBN 978-88-222-6611-8

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Der Soziologe Robert Michels (1876–1936) zählte zu den Pionieren seiner Disziplin und spielte von der Jahrhundertwende bis in die 1930er-Jahre eine Schlüsselrolle in den deutsch-italienischen Kulturbeziehungen. Die Edition der Korrespondenzen Michels’ in der Epoche des Ersten Weltkriegs, die Federico Trocini herausgegeben und mit einer vorzüglichen Einleitung versehen hat, stellt einen bedeutsamen Quellenbestand zur Biografie und zum Werk des Soziologen bereit und eröffnet neue Forschungsperspektiven. Einem größeren Publikum bekannt geworden war Michels durch seine 1911 publizierte »Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie«, die sich vor allem mit den sozialistischen Parteien in Deutschland, Frankreich und Italien befasste. Bei der Erstellung seiner Studie stützte sich der junge Intellektuelle auf Beobachtungen, die er während seines Engagements in der deutschen und italienischen Sozialdemokratie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gemacht hatte. Allerdings löste sich Michels aus Enttäuschung über das Scheitern des reformistischen Kurses der Parteien wieder vom Sozialismus. Danach strebte er eine Universitätskarriere an und knüpfte rasch Beziehungen zu den führenden Soziologen seiner Zeit in Deutschland und Italien.

Dass Michels heute dennoch – anders als Georg Simmel oder Max Weber – nicht zum engeren Kreis der Gründerväter der Soziologie gezählt wird, hängt eng mit seiner eigentümlichen transnationalen Biografie zusammen. Aufgrund seines sozialistischen Engagements blieb Michels im Deutschen Kaiserreich eine Universitätslaufbahn verwehrt, sodass er in Turin eine Privatdozentur übernahm und nach Italien übersiedelte, was für seine gesamte wissenschaftliche und politische Entwicklung eine fundamentale Rolle spielte. Für die spätere Rezeption des Werks von Michels ist der Umstand grundlegend, dass er sich in den 1920er-Jahren der faschistischen Bewegung annäherte und schließlich als eine Art intellektueller Vermittler des Regimes von Mussolini in Deutschland wirkte. Einen in biografischer Hinsicht möglicherweise noch tieferen Einschnitt bildete freilich der Erste Weltkrieg, wie der vorliegende Briefband eindrücklich zeigt. Trotz einer 1913 erfolgten Berufung auf ein Ordinariat für Politische Ökonomie in Basel erklärte Michels nämlich im Ersten Weltkrieg seine Loyalität gegenüber der italienischen Nation und trat ab 1915 offen für die irredentistischen Ziele des Königreichs Italien ein. Die Entscheidung für Italien hatte weitreichende Folgen für den Soziologen, der während des Kriegs bei seinen italienischen Freunden und Kollegen mühsam um Anerkennung ringen musste, während er in Deutschland massive Kritik auf sich zog und selbst Max Weber oder Werner Sombart mit ihm brachen.

Die Komplexität der Entscheidungsprozesse, die Michels durchlief, lässt sich mit Trocinis überzeugender Zusammenstellung von Briefwechseln hervorragend nachvollziehen. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich die Edition nicht auf die Zeit des Ersten Weltkriegs im engeren Sinne beschränkt, denn Trocini hat in seinem Band die Briefe aus der Zeitspanne von 1913 bis 1921 einbezogen, also jene Jahre als Eckdaten gewählt, in denen Michels die italienische Staatsbürgerschaft beantragte bzw. diese schließlich erhielt. Einige der Briefe sind zwar bereits in anderen Editionen publiziert worden, doch darf es als große Leistung der vorliegenden Edition gelten, dass die Korrespondenzen Michels’ erstmals für eine geschlossene Epoche zusammengeführt worden sind und damit ein Gesamtbild entsteht. Dazu trägt auch die gelungene Kommentierung der Briefe und einer ganzen Reihe von beigefügten Dokumenten bei, die konzise Informationen bietet und es dem Leser ermöglicht, die Korrespondenzen in politisch-biografische Zusammenhänge einzuordnen. Eine besondere Transferleistung erbringt der Band für italienische Leserinnen und Leser, da die Korrespondenzen des Kosmopoliten Michels, der seine Briefe in deutscher, italienischer oder französischer Sprache verfasste, in italienischer Übersetzung veröffentlicht werden.

Zur Erschließung des Briefwechsels trägt auch die durchdachte Struktur der Edition bei. Zunächst bietet Trocini mit einem einleitenden Essay einen Abriss der Biografie Michels’ im Ersten Weltkrieg (S. 1–49), der das Dilemma des deutsch-italienischen Intellektuellen in der Epoche des Ersten Weltkriegs herausarbeitet und namentlich die ebenso politisch wie biografisch relevante Problematik der Nation in den Vordergrund rückt. Als überaus nützlich erweist sich auch der »thematische Index« (S. 51–89), mit dem die Briefe unter zehn Oberthemen eingruppiert werden, was das Briefkonvolut für den Nutzer strukturiert und ein gezieltes Nachschlagen erleichtert, aber dennoch die einzelnen Brieftexte als solche zur Geltung kommen lässt. Manche neue Perspektive ergibt sich erst durch die von Trocini geleistete thematische Erschließung. Dies gilt etwa auch für bereits zuvor publizierte Briefe von Max Weber, die in der vorliegenden Edition in einem neuen Licht erscheinen. Von großem Nutzen sind in diesem Zusammenhang auch die beigefügten Dokumente, namentlich entlegen publizierte Zeitungsartikel von Michels. In fünf thematischen Kapiteln, denen jeweils eine kurze Einleitung vorangestellt ist, erfolgt schließlich die eigentliche Edition der Briefe und Dokumente. Detaillierte Verzeichnisse und Indices runden das Werk Trocinis ab.

Eine erste Gruppe von Dokumenten befasst sich mit der Berufung von Michels nach Basel. Die Entscheidung, den Ruf anzunehmen, fiel Michels nicht leicht, da er auf eine Professur in Italien gehofft hatte. Umso schwerer wog die in den Briefen des zweiten Kapitels behandelte Problematik des Ersten Weltkriegs, den Michels 1914 zunächst vehement ablehnte, wie er am 2. September 1914 seinem Turiner Mentor Achille Loria schrieb (S. 263f.): »Ich bin nach wie vor jene Seele in Not, die ich mit Beginn dieses abscheulichen Krieges geworden bin. Ich bin begeistert von meinen Freunden in Italien, die mich mit wahrer Freundschaft behandeln. Alles andere bringt mich zum Verzweifeln. Mein Herz blutet angesichts des Schicksals von Frankreich, das mir sehr am Herzen liegt. Ich sehe voraus, dass dem Krieg eine dauerhafte Epoche des Grolls und des unendlich grausamen Hasses folgen wird. Auch wenn ich weit davon entfernt bin, Deutschland allein die Schuld zuzuschreiben, sehe ich in W[ilhelm] II. einen der Hauptschuldigen und wünsche ihm alles Übel.«

Wie die Briefe von 1914 und 1915 zeigen, ergab sich für Michels nach dem Eintritt Italiens in den Krieg auf Seiten der Alliierten die Notwendigkeit, sich für eine Seite zu entscheiden. Dabei wird deutlich, wie vielschichtig dieser Prozess war, der keineswegs als einfacher Abschied von seinen Vorkriegsidealen betrachtet werden kann. Schmerzhaft war der Bruch mit deutschen Freunden wie Max Weber, der Michels’ deutsch-italienischer Situation und dessen existenziellen Nöte zwar Respekt zollte, aber den Basler Soziologen unmissverständlich dazu aufrief, sich nicht zu politischen Streitfragen zu äußern, sondern zu schweigen (S. 374–376). Diesem Rat folgte Michels freilich nicht und verteidigte seit Mai 1915 offen und energisch die Kriegsziele Italiens und propagierte eine »Italianität«, mit der er sich voll und ganz identifizierte. Abgeschlossen wird der Band mit Briefen, welche die von Michels ersehnte italienische Staatsbürgerschaft betreffen, die er 1921 tatsächlich erhielt. Die nach 1918 verfassten Briefe machen allerdings zugleich deutlich, wie sehr Michels nach dem Ende des Ersten Weltkriegs daran gelegen war, seine alten Kontakte in Deutschland und Frankreich wiederzubeleben und sein transnationales Netzwerk von Korrespondenten aus der Vorkriegszeit erneut aufzubauen. Die von Federico Trocini vorgelegte Briefedition liefert insofern viele neue Einsichten und dürfte sich rasch als Standardwerk nicht nur der Forschung zu Robert Michels, sondern der deutsch-italienischen Ideen- und Wissenschaftsgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts insgesamt erweisen. 

Thomas Kroll, Jena

 

Zitierempfehlung:

Thomas Kroll: Rezension von: Frederico Trocini (Hrsg.): Robert Michels e la Prima Guerra Mondiale. Lettere e documenti (1913–1921) (Fondazione Luigi Einaudi onlus, Studi, Bd. 60), Leo S. Olschki Editore, Florenz 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81917> [27.4.2020].

 

Max Bloch (Hrsg.): Albert Südekum. Genosse, Bürger, Patriarch. Briefe an seine Familie 1909–1932

Rezension zu: Max Bloch (Hrsg.): Albert Südekum. Genosse, Bürger, Patriarch. Briefe an seine Familie 1909–1932

Böhlau Verlag | Köln/Weimar etc. 2017 | 288 Seiten, gebunden | 40,00 € | ISBN 978-3-412-50627-8

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Schon der Titel der Briefedition macht deutlich, dass hier kein gewöhnlicher »Genosse« im Fokus steht. Albert Südekum (1871–1944) war das, was man gemeinhin einen »rechten« Sozialdemokraten nennt. Doch erscheint auch diese Kennzeichnung nicht völlig ausreichend, um den besonderen Typus zu beleuchten: Südekum kam aus bildungsbürgerlichem Hause und schloss sich unmittelbar nach Auslaufen des Sozialistengesetzes der wiedergegründeten deutschen Sozialdemokratie an. Damit war er zwar kein Solitär, wie vergleichbare Fälle (Georg Gradnauer, Wolfgang Heine) belegen, aber in der SPD blieb er bis zum politischen Karriereende 1920 die Personifizierung des Typus eines »rechten«, durch und durch patriotisch gesinnten Sozialdemokraten, der die »Burgfriedenspolitik« ab 1914 an führender Stelle mittrug und legitimierte. Der langjährige Reichstagsabgeordnete von Nürnberg und finanzpolitische Experte der SPD-Fraktion avancierte bei Kriegsende 1918 zum preußischen Finanzminister. Lenin hatte bereits 1915 über den bekannten »Burgfriedens«-Politiker geurteilt: »Das Wort ›Südekum‹ hat die Bedeutung eines Gattungsnamens erhalten: Es bezeichnet den Typus des selbstzufriedenen, gewissenlosen Opportunisten und Sozialchauvinisten. Es ist ein gutes Zeichen, dass alle Welt mit Verachtung von den Südekums spricht.« (S. 9).

Diese Beurteilung ist gewiss eine Kennzeichnung von linksradikaler Seite, die der Persönlichkeit im Ganzen nicht gerecht wird. Doch zeigt sie auch, in welcher Weise der heute fast vergessene Politiker zur Dämonisierung unter (weiter linksstehenden) Zeitgenossen regelrecht einlud. Anders als Gradnauer, Heine oder Eduard David galt Südekum schon früh und insbesondere in der eigenen Partei wegen seines betont bürgerlichen Habitus, wegen seiner Einheirat in eine vermögende Unternehmerfamilie und nicht zuletzt wegen seiner Villa in Berlin-Zehlendorf zumindest als Exot. Für die innerparteiliche Linke war er, der »rechte Genosse«, als Reizfigur die Zielscheibe von Häme, Spott und Verachtung. In der parteieigenen Presse, in der er bis 1903 Karriere gemacht hatte, und erst recht als Finanzexperte der Reichstagsfraktion galt er hingegen als versierter und belastbarer Arbeiter, der weit über die Grenzen der eigenen Partei hinaus Respekt und Anerkennung erfuhr. Seine Villa in Zehlendorf entwickelte sich mit der Zeit zur Drehscheibe des linksbürgerlichen Diskurses.

Die vorliegende Edition vertieft manchen Aspekt der Persönlichkeit, der in Max Blochs großer biografischer Studie zu Südekum nicht so stark zum Zuge kam, weil in dieser 2009 veröffentlichten Monografie das Politische (und kaum das Familiäre) im Vordergrund stand. Dass der Herausgeber und Urenkel von Südekum überhaupt einen solchen Band veröffentlichen konnte, hat mit einem Fund auf dem Dachboden des Zehlendorfer Hauses zu tun. Bloch hat die Briefe des Familienpatriarchen Südekum vor allem an seine Ehefrau und an eine seiner Töchter chronologisch geordnet, für jedes Jahr mit einer kurzen Einführung versehen und Michael Wolffsohn für ein Geleitwort gewinnen können. Überdies wurden vom Herausgeber ein biografischer Prolog und ein ebensolcher Epilog als Rahmensetzung eingerichtet, um die Briefe zu kontextualisieren. Besonderes Augenmerk verdienen die zuletzt abgedruckten »Kondolenzschreiben an die Witwe«, die Südekums Bedeutung als widerständiger Netzwerker in der letzten Phase der NS-Diktatur verdeutlichen: Die Briefe, die u.a. Theodor Heuss, Carl Friedrich Goerdeler, Jakob Kaiser, Ernst von Harnack, Graf Westarp, Theodor Leipart oder Paul Löbe schrieben, geben immer wieder auch einen Eindruck von der Persönlichkeit des Verstorbenen: Anders als Lenin schätzte Heuss etwa diese Eigenschaften an Südekum: »Er war klug, tapfer, ritterlich und gütig […] ein Kavalier.« (S. 249).

Freilich ist die Briefsammlung als disparat zu bezeichnen, was zeitliche Lücken ebenso meint wie die unterschiedliche Bedeutung der einzelnen Briefe. Einen »Mehrwert« in politischer Hinsicht und mit Blick auf die Persönlichkeit vermitteln vor allem die wenigen Schreiben von 1909 bis 1914, besonders aber diejenigen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, in der Südekum häufig von der Frau und der Familie getrennt war. Merkwürdig unterbelichtet bleibt dagegen die Zeit der Revolution und seiner Ministertätigkeit; hier sind kaum (relevante) Briefe überkommen. Für die Jahre 1920 und 1921 ist sogar nur ein einziger Brief überliefert. Für die spätere Zeit sind es eher Briefe an seine Tochter Rosemarie und an seine Ehefrau Annemarie, die Südekum als treu sorgenden Familienvater und Ehemann zeigen, der u.a. Reiseeindrücke formuliert. Letztere stammten zumeist von Reisen, die er als frisch gebackener Zündholz-Unternehmer machte.

Die politisch relevanten Briefe zeugen von Südekums reformsozialistischer Einstellung, die etwa harsche Abwehrreflexe gegen die »Rosa-Luxemburg-Gruppe« beinhalten, und sie zeugen von einem Patriotismus, der hin und wieder verhärtete Züge annimmt. Als etwa die Nürnberger Parteileitung 1911 Luxemburg und einen englischen Genossen zu einer Demonstrationskundgebung einladen wollte, opponierte Südekum gegen die Anführerin des linken Flügels wie auch gegen den »nichtswürdigen Deutschenfresser« aus England recht erfolgreich – und zwar sehr zum Leidwesen (»Wutgeheul«) eines Nürnberger Funktionärs (S. 50). Einem weiteren Nürnberger Funktionär habe er seine Meinung »in einer Weise gesagt, dass ihm Hören und Sehen verging« (S. 51). Während einer Kur im schweizerischen Lenzerheide Ende 1913 notierte Südekum über einige seiner Landsleute: »Aber zum Ertragen der hiesigen Deutschen gehört schon ein wenig Humor und Sarkasmus. Namentlich ist da die Sorte ›veränglendeter‹ Deutscher, deren Bestreben, die Muttersprache zu malträtieren, einfach Brechreiz hervorruft.« (S. 59). Im Weltkrieg, den er als Verteidigungskrieg betrachtete, machte er vor allem als (gescheiterter) politischer Reisender ins neutrale Ausland von sich reden, später dann als Militär und eindrücklicher Verfechter eines interfraktionellen Bündnisses aus SPD, Liberalen und katholischer Zentrumspartei. Im Juli 1917 schrieb er seiner Frau: »Also: jetzt Friedensprogramm u. Parlament[arische] Regierung – das ist das Ziel.« (S. 148).

Seinem »Herzenswunsch«, die »Erhebung in den Offiziersstand« (S. 67), kam er im Krieg bald näher: 1915 meldete er sich als Reserve-Unteroffizier bei einem Infanterie-Regiment und wurde u.a. in Brüssel und in Rumänien im rückwärtigen Dienst eingesetzt. Nur wenige Tage nach seiner freiwilligen Meldung schrieb er erheitert seiner Frau: »Heute tüchtig gewirkt, Liebstes. Die Freiübungen mit Bajonettierübungen tun sehr gut.« (S. 68). Auch von der »Abendtafel« beim deutschen Generalgouverneur in Brüssel war Südekum angetan – »dort war es sehr gut« (S. 99). Weniger erbaulich fand er dagegen die Unterkunft in Bukarest, was er mit dem Stoßseufzer »Herrgott, sind diese Rumänen Schweine!« (S. 135) quittierte. Solche nationalistischen Rülpser finden sich freilich selten, seine tiefe Abscheu gegen die Art und Weise des Kanzlerwechsels 1917 und die alldeutschen Expansionisten wirken keineswegs gekünstelt. Doch ist es auffallend, wie stark Südekum in das monarchische System integriert war: Nach einem Kaiserempfang im Juli 1917 berichtete er begeistert seiner Frau, der Kaiser habe ihn »besonders ausgezeichnet« (S. 154), was wohl auch daran lag, dass er als Reichstagsabgeordneter in Leutnantsuniform und mit dem Eisernen Kreuz geschmückt erschienen war.

Nach seinem Ausscheiden als preußischer Finanzminister fühlte sich Südekum von der eigenen Partei, der (M)SPD, im Stich gelassen und abserviert. Im April 1920 hatte er als Protagonist einer sozialdemokratisch-bürgerlichen Koalitionslinie und wegen seiner Verhandlungen mit den Kapp-Putschisten sein Amt verloren. Dass er bei diesem Revirement nicht der einzige war – auch Gustav Noske oder Wolfgang Heine mussten gehen –, konnte ihn nicht milder stimmen. Quasi als Kommentar zum neuen Görlitzer Programm der (M)SPD notierte er im Sommer 1921 aufgebracht: »Ein Blick auf die sogen[annte] ›Politik‹ der SPD zeigt jetzt, dass man eigentlich gar nicht mehr mittun kann. Die Hanswurstiade einer doppelten Ausfertigung des Programmentwurfs – einer mit, einer ohne ›Klassenkampf‹ – ist doll; die widerwärtige Demagogenpolitik als ›opponierende Regierungspartei‹ ist einfach würdelos.« (S. 173). Die narzisstische Kränkung saß zu tief, als dass Südekum ein einigermaßen objektives Urteil über ein Programmdokument hätte abgeben können, das der (M)SPD tatsächlich den Weg zu einer Volkspartei eröffnete; Südekum konnte und wollte es nicht sehen.

Im Ganzen betrachtet verdient dieser Band größere Beachtung dadurch, dass hier ein fast vergessener Sozialdemokrat, Parlamentarier und Minister als Politiker und Mensch klarere Konturen erhält, dass äußerst interessante Facetten einer deutsch-jüdischen Familie (Südekums Frau war getaufte Jüdin) sichtbar werden und dass zudem die Kondolenzbriefe an die Witwe 1944 das erstaunlich breite Netzwerk dieses Politikers offenbaren. Zu guter Letzt darf an dieser Stelle auch auf die gelungene bibliophile Gestaltung des Bandes hingewiesen werden.

Mike Schmeitzner, Dresden

 

Zitierempfehlung:

Mike Schmeitzner: Rezension von: Max Bloch (Hrsg.): Albert Südekum. Genosse, Bürger, Patriarch. Briefe an seine Familie 1909–1932, Böhlau Verlag, Köln/Weimar etc. 2017, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81916> [27.4.2020].

 

Felix Axster/Nikolas Lelle (Hrsg.): »Deutsche Arbeit«. Kritische Perspektiven auf ein ideologisches Selbstbild

Rezension zu: Felix Axster/Nikolas Lelle (Hrsg.): »Deutsche Arbeit«. Kritische Perspektiven auf ein ideologisches Selbstbild (Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2)

Wallstein Verlag | Göttingen 2018 | 287 Seiten, broschiert | 29,90 € | ISBN 978-3-8353-3207-2

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Das Buchcover zeigt zwei Fotos: das Eingangstor des ehemaligen KZ Sachsenhausen mit dem Schriftzug »Arbeit macht frei« neben dem traditionellen Siegel der deutschen Qualitätsarbeit »Made in Germany« auf einem Elektrogerät. Selten führt ein Titelblatt so zuspitzend auf den Kern des Buches hin. Beide abgebildeten Fotos verbindet der Topos der »Deutschen Arbeit«. Dem rückt der von Felix Axster und Nikolas Lelle herausgegebene Sammelband multiperspektivisch und kritisch auf den Leib. Dafür versuchen die Beiträge dessen lange ideologischen Kontinuitätslinien offenzulegen: »In Deutschland gibt es […] eine lange Tradition, die Einzigartigkeit ›Deutsche Arbeit‹ zu betonen und ›Arbeitsscheue‹ von Anderen, von Jüdinnen und Juden, von Sinti und Roma usw. zu behaupten.« (S. 9) Wie ideologisch wirkmächtig das Konstrukt der »Deutschen Arbeit« war und auch noch ist, belegt der Band überzeugend.

Vor allem ein Werk des 19. Jahrhunderts wird durchgehend als prägend hervorgehoben, nämlich Wilhelm Heinrich Riehls Buch »Die deutsche Arbeit« aus dem Jahr 1861.[1] Es benennt eine Figur, die es schon zuvor gab – wie Christine Achinger in ihrem Beitrag darlegt. Dies zeigt sie am Beispiel des Romans »Soll und Haben«, verfasst von Gustav Freytag. Er beschreibt in diesem Buch von 1855 einen vorgeblichen Antagonismus des deutschen Bürgertums gegenüber Juden, Polen und dem Adel. Die Arbeitseinstellung diente ihm dabei als Differenzmerkmal. Ihr kommt eine besondere Rolle zu: »Als vorgeblich konkrete Form gesellschaftlicher Vermittlung wird diese Arbeit zum Gegenmittel gegen die bedrohlichen, abstrakten Züge der Moderne.« (S. 281). Auf diese langen Traditionslinien hatte bereits Joan Campell in seinem Werk »Joy in Work, German Work« von 1989 hingewiesen.[2] Auf den Schultern seiner Untersuchungen steht auch der vorliegende Band. Er erweitert aber den Anspruch und auch die zeitliche Dimension über 1945 hinaus. Die weitgefasste Aufgabe des Bandes formulieren die Herausgeber so: »Die Beschäftigung mit der Entstehung, der Charakteristik und den Effekten des Topos ›Deutsche Arbeit‹ ist also mehr als wissenschaftlicher Natur. Sie ist zugleich ein (erinnerungs-) politisches Unterfangen, das Aufarbeitung betreiben will.« (S. 15) Die teilweise recht lose geordneten Aufsätze konzentrieren sich folglich auf den Nationalsozialismus, die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik und die Kolonialgeschichte.

Durch die Aufsätze zum Nationalsozialismus ziehen sich einige Kernelemente: Beispielsweise beschäftigen sich die Autorinnen und Autoren an diversen Stellen mit der frühen Rede Adolf Hitlers »Warum sind wir Antisemiten?« vom 13. August 1920. Besonders intensiv setzen sich Klaus Holz und Jan Weyand mit ihr auseinander und kommen dabei zu dem Schluss: »Mit den Begriffen der Arbeit und der Nation wird im Antisemitismus ein Selbstbild einer Wir-Gruppe entwickelt, das den Antisemitismus an andere kollektive Selbstbilder anschlussfähig macht.« (S. 89) Ebenso zieht sie Werner Kowitzer in seiner semantischen Analyse heran: Er vergleicht die »dichten Begriffe« Arbeit und »Rasse«, in denen normative und deskriptive Anteile verschmolzen sind. Sie wurden im Ergebnis in eine antisemitische Erzählung eingebunden.

Die Beiträge zum Nationalsozialismus schließen an den Sammelband »Arbeit im Nationalsozialismus« an – herausgegeben von Marc Buggeln und Michael Wildt[3], wovon letzterer auch im vorliegenden Band mit einem Aufsatz vertreten ist. Er schlägt den Bogen von der symbolischen Anerkennung – zum Beispiel über den 1. Mai als »Tag der nationalen Arbeit« – bis »Vernichtung durch Arbeit«. Abschließend spürt er der Frage nach, was das nationalsozialistische Arbeitsverständnis als Dienst an der ›Volksgemeinschaft‹ ausmachte: »Was die Arbeit im Nationalsozialismus unterscheidet, ist erstens der massive Versuch, jedes individuelle Moment, jede Form der Selbstverwirklichung, zugunsten der Kollektivität zurückzudrängen.« (S. 130) Dabei wurde klar, wer nicht zur »Volksgemeinschaft« gehören durfte. »Das zweite Differenzmerkmal bestand in der Destruktivität. Nur im Nationalsozialismus kam das Schlagwort von der ›Vernichtung durch Arbeit‹ auf beziehungsweise die Vorstellung, dass Menschen durch Arbeit ›verschrottet‹ werden sollten.« (S. 131) Daran anschließend widmet sich Sandra Rokahr der »missglückten Befreiung«, wie sie es nennt, also die negative Aufhebung entfremdeter Arbeit im Nationalsozialismus. Sie erfolge aber nur in der »antisemitischen Arbeit« für die »Volksgemeinschaft« mit »sinnfreier Arbeit als Folter« (S. 153) für Jüdinnen und Juden. Außerdem beschreibt Lisa Eiling wie der Kieler Nationalökonom Bernhard Harms ein »Ideal geistiger ›deutscher Arbeit‹ als intellektueller Dienst an der Volksgemeinschaft« (S. 169) vertrat.

Für die frühe Nachkriegszeit fragt Nikolas Lelle nach dem »Fortleben der Vergangenheit« im Sinne Theodor W. Adornos. Es gelte zu klären, ob das nationalsozialistische Verständnis fortlebte oder eine ältere Tradition aufgegriffen wurde. Die bisherige Forschung – wie die wichtige von Alf Lüdtke[4] – sei dahingehend noch zu unbestimmt geblieben. Für ein »transformiertes Fortleben« verweist Lelle exemplarisch auf die »Trümmerfrau«, den Ordoliberalismus und die Managementschule des Harzburger Modells. Damit reißt er das Feld vielversprechend an. Weitere anknüpfende Beiträge, die sich dezidiert mit der Nachkriegszeit befassen, enthält der Band aber nicht.

Den Blick weiten die Beiträge zur Kolonialgeschichte, die an Sebastian Conrads Thesen zur Nation[5] anknüpfen: Felix Axster untersucht an vier Werken aus dem Zeitraum von den 1880er- bis zu den 1920er-Jahren von vier unterschiedlichen deutschen Autoren »die Figur des guten deutschen Kolonisten«. Diesem bescheinigten die Verfasser eine »außergewöhnliche Befähigung zum Kolonisieren« (S. 248). Sie begründeten dieses Urteil mit seiner Kompetenz in der »Erziehung zur Arbeit«. Die Rolle der Arbeit stellen auch zwei Beiträge zur ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika heraus: Laut Minu Haschemi Yekani hingen Arbeit, Klima und der »Rasse«-Diskurs eng zusammen. Den Konnex belegt er über die Diskussion um den Arbeitseinsatz von Arbeitern aus dem asiatischen Raum im tropischen Klima. Im nachkolonialen Tansania wiederum traten laut Andreas Eckert koloniale Diskurse in transformierter Form in der Kampagne für einen afrikanischen Sozialismus (»Ujamaa«) auf. So stellte dieser das dezentral-ländliche Arbeiten gegen das städtisch-fremde »Schmarotzertum«. Schlussendlich unterstreicht Eckert damit beispielhaft, dass zwar die Geschichte der Arbeit als Global Labour History nicht in Grenzen des Nationalstaats zu schreiben sei, aber dennoch mit ihm stark interagierte.

Im Ergebnis gelingt es diesem wertvollen Band, die Kontinuität des Topos der »Deutschen Arbeit« überzeugend und mannigfaltig herauszuarbeiten. Dies ist gerade in einer Zeit bedeutend, in der das Arbeiten am Selbst und Nützlichkeitsideologien propagiert werden. Der Eindruck eines recht statischen Charakters des Topos lädt aber dazu ein, noch näher zu untersuchen, wie er transformiert wird. Dafür ist auch ein präziser Blick auf die Rezipientinnen und Rezipienten nötig. Zwar geht zum Beispiel Torben Möbius am Beispiel der Gutehoffnungshütte in der Weimarer Republik auf die interne Unternehmenskommunikation ein. Dabei erschließt er über die Werkszeitung jedoch nur die einseitige Werbung für die Betriebsgemeinschaft – während die Sichtweisen der Belegschaften noch im Dunkeln bleiben. Wie wurde das ideologische Selbstbild angenommen? Ähnlich aufschlussreich könnte es sein, das Gegenbild der Nicht-Arbeit und damit der »Arbeitsscheuen« präziser zu erfassen. An diesen Beispielen wird deutlich, dass der Sammelband ein lohnendes Forschungsfeld ideenreich deutlich erweitert hat.

Oliver Gaida, Berlin

[1]Wilhelm Heinrich Riehl, Die deutsche Arbeit, Stuttgart 1861.

[2]Joan Campbell, Joy in Work, German Work. The National Debate, 1800­–1945, Princeton 1989.

[3]Marc Buggeln/Michael Wildt (Hrsg.), Arbeit im Nationalsozialismus, München 2014.

[4] Vgl. Alf Lüdtke, Männerarbeit Ost und West, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Archäologie der Arbeit, Berlin 2002, S. 35­–47.

[5]Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006.

 

 

Zitierempfehlung:

Oliver Gaida: Rezension von: Felix Axster/Nikolas Lelle (Hrsg.): »Deutsche Arbeit«. Kritische Perspektiven auf ein ideologisches Selbstbild (Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2), Wallstein Verlag, Göttingen 2018, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81891> [27.4.2020].

André Biederbeck: Das Dortmunder Arbeitermilieu 1890–1914. Zur Bedeutung von Räumen und Orten für die Konstituierung einer sozialistischen Identität

Rezension zu: André Biederbeck: Das Dortmunder Arbeitermilieu 1890–1914. Zur Bedeutung von Räumen und Orten für die Konstituierung einer sozialistischen Identität

Böhlau Verlag | Köln/Weimar etc. 2018 | 426 Seiten, gebunden | 60,00 € | ISBN 978-3-412-51110-4

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Eine lokalgeschichtliche Tiefenbohrung besonderer Art legt André Biederbeck mit seiner Arbeit über das »Dortmunder Arbeitermilieu 1890–1914« vor. Das aus einer Dissertation an der Landesgeschichtlichen Abteilung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hervorgegangene Buch kombiniert den Milieuansatz von Rainer M. Lepsius mit erinnerungsgeschichtlich geleiteten Herangehensweisen eines Maurice Halbwachs und Jan Assmann sowie raumsoziologischen Überlegungen. Ziel der Arbeit ist es dabei, die oft postulierte – aber nach Meinung des Autors bisher zu wenig systematisch erforschte – Bedeutung von Arbeiterlokalen als Orte und Räume der Identitätsbildung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Kaiserreich detailliert zu untersuchen. Dieser klare und überzeugende theoretische Ansatz wird in einer ausführlichen Einleitung entfaltet. Biederbeck sieht durchaus die Schwächen und Probleme der Milieutheorie – etwa, dass Milieugrenzen fließender waren als das Modell aussagte. Andererseits gesteht Biederbeck dem Milieuansatz eine höhere Erklärungskraft für die Erforschung der Arbeiterbewegung zu als beispielsweise klassenanalytischen Theorien.

Ein Sozialmilieu ist für Biederbeck in direkter Anlehnung an Lepsius gegeben, wenn »›mehrere Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtenspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen‹ in jeweils besonderer Weise zusammenfallen« (S. 18). Orte und Räume zur Entfaltung einer kollektiven Identität sind »›nicht nur Schauplätze‹« von »›Interaktionsformen‹« der Gruppen, »›sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung‹«. Diese von Jan Assmann entliehene (einmal fälschlicherweise Maurice Halbwachs zugeschriebene) Formulierung ist Biederbeck so wichtig, dass er sich an drei zentralen Stellen seiner Arbeit (S. 12, 109, 317f.) auf sie bezieht. Generell sieht Biederbeck in Anlehnung an den Spatial Turn Orte und Räume nicht als etwas an sich Gegebenes, die »das Verhalten der Menschen einseitig« bestimmen, sondern als »Ergebnis sozialer Konstruktionen und menschlichen Handelns« (S. 25f.).

Untersuchungsgegenstand ist die sozialdemokratische Dortmunder Arbeiterbewegung mit ihren Lokalen und Treffpunkten. Mittels einer akribischen Auswertung der in der Arbeiterpresse veröffentlichten Veranstaltungshinweisen rekonstruiert Biederbeck eine umfassende Liste mit 176 Vereinsstätten. Aus dieser Liste destilliert der Autor »Knotenpunkte« des sozialmdemokratischen Milieus heraus, in denen unterschiedliche sozialdemokratische Organisationen mit unterschiedlichen Veranstaltungsformen und -typen zusammenfanden und so »durch wiederkehrende Handlungsroutinen und symbolische Markierungen zu zentralen Orten der Erinnerung und der sozialistischen Identität wurden« (S. 28).

Nach einem ausführlichen Forschungsüberblick zur Dortmunder Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung wird im nächsten Kapitel die Stadt Dortmund mit ihren wirtschaftlichen, demografischen und siedlungsstrukturellen Entwicklungen vorgestellt. Zusammenfassend werden die »Angleichung der betrieblichen Erfahrungswelten«, Dequalifizierungsprozesse sowie die Annäherung der sozialen Lagen der Arbeiterschaft herausgestrichen. Doch bevor diese Einordnung zu holzschnittartig wird, macht der Autor auf Differenzierungsmerkmale wie unterschiedliche Wohnverhältnisse, Herkunft und Formen der Lebensführung aufmerksam (S. 83f.). An diesen strukturgeschichtlichen Überblick schließt sich ein Kapitel über die Dortmunder Sozialdemokratie und Gewerkschaften mit ihren Mitgliedern, Wahlergebnissen, Vereinen, Presseorganen, Konsumgenossenschaften und kulturellen Aktivitäten an. Biederbeck sieht angesichts des dabei entstandenen dichten Gefüges ein sozialistisches Milieu in Dortmund als gegeben an.

Mit dem Kapitel »Topographie des sozialistischen Arbeitermilieus« ist Biederbeck nach über 100 Seiten bei seinem eigentlichen Thema angekommen. Hier bietet er auf Grundlage seiner Zeitungsanalyse einen quantitativen Überblick der von ihm in die Untersuchung einbezogenen 176 Vereinstreffpunkte: ihre Verteilung über das Stadtgebiet, ihre Frequentierung, die Art, Dauer und Häufigkeit ihrer Nutzung. So wurden im Untersuchungszeitraum beispielsweise fast die Hälfte der Lokale weniger als ein Jahr, in 20 Prozent der Fälle allerdings zehn Jahre und länger genutzt. Da diese quantitative Analyse noch wenig über die Eindringtiefe des sozialdemokratischen Milieus aussagt, geht Biederbeck im anschließenden Kapitel einen Schritt weiter und untersucht 22 Orte, die sich als Knotenpunkte des Milieus ausmachen lassen: Sie wurden lange und häufig genutzt und waren für verschiedene Veranstaltungsformen geeignet. Biederbeck untergliedert diese Orte noch einmal nach »Allgemein- und Partikularorte«: Erstere wurden häufig von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften genutzt, aber nicht exklusiv durch das Milieu, während Partikularorte – insbesondere das Gewerkschafts-, Vereins- und Redaktionshaus – exklusiv den sozialdemokratischen Organisationen vorbehalten waren (S. 139f.). Für insgesamt zwölf Orte aus beiden Kategorien sowie einigen Verkaufsstellen der Konsumgenossenschaft geht der Autor anschließend an eine detaillierte Analyse. Dazu nutzt er nicht nur die Arbeiterpresse, um die dortigen Veranstaltungen zu typisieren, sondern nutzt Bauakten, Stadtpläne und Reiseführer, um die jeweiligen Knotenpunkte in der Stadtlandschaft zu situieren. Leitende Fragestellung ist dabei der »Grad der gesellschaftlichen Abschottung« sowie die durch die Knotenpunkte vermittelte Identität. Die Allgemeinorte mussten erst in einem Prozess des »spacing« (Martina Löw) durch eine eigene Ausschmückung mit Bannern, Schildern oder Büsten für den jeweiligen Zweck angeeignet werden. Da aber gerade an solchen Orten mit ihren meist großen Sälen Festveranstaltungen stattfanden, kam ihnen ein wichtiges Erinnerungsmoment zu. Bei den Partikularorten wiederum war es so, dass das Redaktionsgebäude der Arbeiterzeitung zwar einen zentralen Identitätskern der Arbeiterbewegung bildete, aber durch seine Raumstruktur für die alltägliche oder außeralltägliche Veranstaltungskultur kaum eine Rolle spielte; es bildete daher gewissermaßen einen sekundären Knotenpunkt. Das Gewerkschaftshaus wiederum beherbergte zahlreiche Auskunftsstellen, etwa das Arbeitersekretariat, und war daher eng mit der Arbeiterschaft verbunden. Darüber hinaus fungierte das Gebäude als zentraler Veranstaltungsort, so dass mit diesem Treffpunkt Aktivitäten aus anderen Lokalen und Stadtvierteln abgezogen wurden und an diesem Knotenpunkt eine deutliche Milieuverdichtung und Abschottungstendenz zu erkennen war. Schließlich kam den Verkaufsstellen des Konsum- und Sparvereins eine besondere Rolle zu. Ein Netz an Verkaufsstellen wurde geschaffen, das den Alltag prägte, Identifikationsmöglichkeiten schuf und die Leistungsmöglichkeiten der Bewegung repräsentierte.

Daraufhin widmet Biederbeck den Feierlichkeiten zum 1. Mai ein eigenes Kapitel, um nicht mehr nur aus der Perspektive der Orte, sondern aus dem Blickwinkel einer besonderen Veranstaltungsform zu weiteren Erkenntnissen zu kommen. Hauptergebnis ist dabei, dass bei dieser Veranstaltung, allein durch ihre Größe bedingt, immer wieder »Allgemeinorte« genutzt wurden. Bei den öffentlichen Versammlungen kam der Wunsch zum Ausdruck, »von der übrigen Bevölkerung als gleichwertiger Teil der Stadtgesellschaft wahrgenommen zu werden« (S. 339). Repressionen der Behörden machten andererseits die politisch-gesellschaftliche Ausgrenzung deutlich.

Auf den knappen Ausblick auf die Weimarer Jahre am Schluss des Buches hätte der Autor vielleicht verzichten sollen. Auf nur sieben Seiten kann dieses Kapitel der komplexen Situation, die durch die Spaltung des früheren gemeinsamen Milieus in zwei politische Lager geprägt war, nicht gerecht werden.

Kritisch anmerken lässt sich schließlich auch, dass die Knotenpunkte zwar detailliert und mit einer Vielzahl an Quellen vorgestellt werden, aber ihre Bedeutung als individuelle Orte für Männlichkeit, Geselligkeit, Diskussion, Rausch und gegenseitiger Bestätigung (beziehungsweise Abgrenzung) etwas zu kurz kommt. Biederbeck sah angesichts fehlender autobiografischer Quellen keine Möglichkeit für einen kulturgeschichtlichen Zugang gegeben. Das hätte ohne Frage auch den Rahmen des soliden, überzeugend aufgebauten und umgesetzten Buches gesprengt. Aber in seinem umfangreich ausgewerteten Quellenkorpus hätten sich bestimmt einige kulturgeschichtliche Facetten gefunden. Sie hätten in diesem Buch, das der Arbeiterbewegungsgeschichte mit seiner Mischung aus Milieuansatz, Erinnerungskultur und Raumsoziologie eine hilfreiche Perspektive hinzufügt, die Bedeutung der Knotenpunkte für Milieu- und Identitätsbildung der Sozialdemokratie noch näherbringen können.

Jürgen Schmidt, Berlin

 

Zitierempfehlung:

Jürgen Schmidt: Rezension von: André Biederbeck, Das Dortmunder Arbeitermilieu 1890–1914. Zur Bedeutung von Räumen und Orten für die Konstituierung einer sozialistischen Identität, Böhlau Verlag, Köln/Weimar etc. 2018, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81914> [27.4.2020].

 

Willy Buschak (Hrsg.): Solidarität im Wandel der Zeiten. 150 Jahre Gewerkschaften

Rezension zu: Willy Buschak (Hrsg.): Solidarität im Wandel der Zeiten. 150 Jahre Gewerkschaften

Klartext Verlag | Essen 2016 | 482 Seiten, broschiert | 29,95 € | ISBN 978-3-8375-1572-5

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Angesichts einfacher Recherchemöglichkeiten im Internet sowie in digitalen Bibliothekskatalogen ist es kein Problem mehr, sich Inhalte von Büchern schnell und bequem zu erschließen. Dennoch würde man unter dem sehr breiten und allgemeinen Buchtitel »Solidarität im Wandel der Zeiten – 150 Jahre Gewerkschaften« zunächst nicht erwarten, dass fast ein Drittel dieses 454 Seiten umfassenden Buches (ohne Anhang) aus einer ausführlichen Biografie über den Tabakarbeiter und Gewerkschaftsgründer Friedrich Wilhelm Fritzsche besteht. Ein klein wenig wurde damit die Chance vertan, Fritzsche über den Kreis eingeweihter Gewerkschaftshistoriker bekannter zu machen.

Die instruktive Biografie stammt aus der Feder von Willy Buschak, der sich schon mehrmals mit dem 1825 in Leipzig unehelich geborenen Fritzsche beschäftigte. Doch dies ist die bisher umfangreichste Würdigung, in die Buschak auch neue Aspekte und ergänzende Materialien einfließen lässt: Quellen zur Familiengeschichte, neue Perspektiven, zum Beispiel auf das Leipziger Stadtviertel, in dem Fritzsche groß wurde, und neue Gesichtspunkte zu Fritzsches sozialen, politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen der Gewerkschaftsarbeit und der Gesellschaft allgemein. Geradezu klassisch durchlief Fritzsche sämtliche zentralen Phasen der deutschen Arbeiterbewegung. Er gehörte 1848/49 der »Arbeiterverbrüderung« an, kämpfte in Leipzig auf den Barrikaden und erlebte in den frühen 1860er-Jahren die gesamte Leipziger Vereinsgründungsphase, die schließlich 1863 zur Gründung des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« (ADAV) führte. Fritzsche und seine Mitstreiter Julius Vahlteich und Otto Dammer waren es auch, die Ferdinand Lassalle »an der Spitze einer so bedeutenden Bewegung« wie der Arbeiterbewegung sehen wollten und ihn aufforderten, das Präsidentenamt des ADAV zu übernehmen. Als Zigarrenarbeiter war Fritsche ebenfalls an der Gründung des Allgemeinen Deutschen Cigarren-Arbeiter-Vereins (ADCAV) 1865 als erste Gewerkschaft (neben den Buchdruckern und nach ersten Vorläufern in der 1848er-Revolution) beteiligt. Schon seit 1869 gehörte Fritzsche – mit Unterbrechungen – dem Reichstag an und vermittelte 1875 im schwierigen Vereinigungsprozess zwischen dem ADAV und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Schließlich litt er als Ausgewiesener unter den Verfolgungsbedingungen des Sozialistengesetztes. Dieser Weg eines sozialdemokratischen Urgesteins nahm ab den 1880er-Jahren eine andere Richtung. 1881 reiste Fritzsche in die USA, um Spendengelder für die deutschen Sozialdemokraten zu sammeln. Als Gerüchte die Runde machten, er wolle in den USA bleiben, wies er dies zurück. »Mit dem staatlichen Betrag von 13.000 Mark« kam Fritzsche im Mai 1881 nach Deutschland zurück (S. 176), um dann doch bereits im Juni 1881 samt seiner Familie endgültig auszuwandern. Vorwürfe, Fritzsche habe möglicherweise Gelder aus der Gewerkschaftskasse der Zigarrenarbeiter nicht ordnungsgemäß verwaltet, begleiteten ihn in der Folgezeit. Wie berechtigt die Anschuldigungen waren, lässt sich nach Willy Buschaks Meinung heute nicht mehr feststellen. In den USA jedenfalls arbeitete Fritzsche weiter für die sozialistische Bewegung. 1905 starb er in Baltimore. Buschak lässt in dieses Leben immer wieder übergreifende Aspekte und Themen einfließen, so die zwiespältige Haltung der Zigarrenarbeiter zur Frauenarbeit, die Frage nach klassengesellschaftlichen Strukturen im 19. Jahrhundert, der Arbeiterbewegung als sozialer Bewegung mit ihren Streiks. Etwas spärlich fällt mit einer Seite das Kapitel zu dem »Arbeiterdichter« Friedrich W. Fritzsche aus. Hier wäre die eine oder andere Analyse von Fritzsches Werken hilfreich gewesen. Ansonsten verknüpft Buschak seine Biografie immer wieder mit Forschungsergebnissen und stellt die autobiografische Darstellung Fritzsches in Beziehung zu anderen Quellen.

Dieser biografischen Würdigung einer Gründungsfigur der deutschen Arbeiterbewegung lassen sich thematisch zwei weitere Beiträge zur Seite stellen. Zum einen analysiert Susanne Schötz Fritzsches Heimatstadt Leipzig zwischen Revolution und Reichsgründung mit ihren politischen Vereinen und bürgergesellschaftlichen Organisationen. Die im Aufsatztitel erwähnten Aspekte der Ungleichheit und des Protests scheinen dagegen nur am Rande auf. Zum anderen erhellt ein zweiter Beitrag von Willy Buschak eine weitere Facette von Friedrich Wilhelm Fritzsches Wirken: Er wendet sich in einem erinnerungsgeschichtlichen Ansatz dem Gebäude in der Dresdner Straße in Leipzig zu, in dem 1863 der ADAV und 1865 die Zigarrenarbeiter-Gewerkschaft gegründet wurde. 1977 ließ die SED-Bezirksleitung Leipzig das heruntergekommene Gebäude abreißen. Zwar wurde der frühere Versammlungsort fotografisch dokumentiert, doch von den gesicherten und eingelagerten Bauteilen »fehlt heute leider jegliche Spur« (S. 432). Im weitesten Sinne kann man auch noch Reiner Tosstorffs Beitrag in Beziehung zu Fritzsches Wirken stellen: Tosstorff geht es in seinem Beitrag um deutsch-amerikanische gewerkschaftliche Austauschprozesse, wofür Fritzsches Leben nach 1881 auch stand. Tosstorff beschreibt die USA-Reisen von deutschen Gewerkschaftsfunktionären. Standen vor dem ersten Weltkrieg diese Besuche noch ganz im Zeichen der gegenseitigen organisatorischen Hilfe und des Lernens, erschienen nach dem Ersten Weltkrieg (ähnlich wie Fritzsche 1881) die deutschen Gewerkschafter vor allem als Bittsteller.

Diese vier Beiträge machen deutlich über die Hälfte des Sammelbands aus. Alle anderen Beiträge bieten gewissermaßen eine erweiterte Gewerkschaftsgeschichte, die sich zeitlich auf das 20. Jahrhundert beziehen. Das Spektrum ist dabei äußerst breit, doch der Bezug auf den titelgebenden Aspekt der »Solidarität im Wandel« sowie gewerkschaftliche Kernthemen scheint bei allen Beiträgen durch. Axel Weipert wendet sich einer Rivalin der Freien Gewerkschaften in der Frühphase der Weimarer Republik zu: der Berliner Betriebsrätezentrale, die die revolutionäre Rätebewegung aufrecht erhalten wollte, aber es – abgesehen von ihrem Kampf gegen den konterrevolutionären Kapp-Putsch und einer beeindruckenden Großdemonstration gegen das Betriebsrätegesetz im Jahr  1920 – nie zu »einer nachhaltigen politischen Wirkung« brachte (S. 215). Manfred H. Bobke-von Camen bietet einen Längsschnitt über die Entwicklung der gewerkschaftlichen Basisgrößen der Mitbestimmung und des Tarifvertrags. Stefan Müller blickt auf die »humanisierungspolitische Offensive der 1970er-Jahre«, auf die sich auch die neuesten Bemühungen der Gewerkschaften um »gute Arbeit« noch gelegentlich beziehen (S. 254). Karsten Uhl stellt den durch die Computerisierung ausgelösten Strukturwandel in der Druckindustrie sowie die damit einhergehenden Streiks in den 1970er- und 1980er-Jahre in eine neue Perspektive. Er analysiert die Berichterstattung in der DDR über diesen Wandlungsprozess, der langfristig dazu führte, dass die Zeitungsherstellung »ohne die Facharbeit von Druckern und Setzern« auskam (S. 301). Die DDR-Medien ließen diesen technologischen Aspekt, der auch ihre eigenen Druckerzeugnisse erfasste, weitgehend unkommentiert und ordneten die Arbeitskämpfe vor allem in eine »internationale Krise des Kapitalismus« ein (S. 291).

Ebenfalls der DDR-Geschichte wendet sich Renate Hürtgen zu. Die Autorin verdeutlicht, wie der von ihr als Staatsgewerkschaft definierte Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) als Interessenvertretung für die Arbeiterschaft nicht zur Verfügung stand. Stattdessen kämpften Arbeiter und Arbeiterinnen mit eigensinnigen Mitteln und Eingaben um ihre »Würde als Arbeiter«. Keineswegs beherrschten Bummelei und Innovationsunlust das Arbeitsleben, sondern die Arbeiterschaft wollte »die Selbstachtung wiedererlangen«, »ordentlich arbeiten und ihrem Wert entsprechend entlohnt werden« (S. 325).

Rainer Fattmann stützt in seinem Beitrag die neueren Forschungsergebnisse, die – gegenüber älteren Thesen – die »antreibende und aktive Rolle« der »europäischen Gewerkschaften am Beginn des europäischen Integrationsprozesses« herausgearbeitet haben (S. 375). »Friedenssicherung und Wohlstandsmehrung« bildeten dabei die »Leitsterne gewerkschaftlicher Europapolitik« (S. 386).

Die Beiträge von Iris Kloppich und Stefan Berger – beide Texte werden nicht im Vorwort erwähnt – ordnen die Gewerkschaftsgeschichte der letzten 150 Jahre zusammenfassend ein. Sie streichen dabei die Rolle der Gewerkschaften bei der Durchsetzung der Sozialversicherungen, der Humanisierung der Arbeitswelt, der Demokratisierung und bei der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Besserstellung der Arbeiterschaft heraus. Berger macht aber auch auf Grenzen der Solidarität aufmerksam, wenn er auf globale Ungleichheiten hinweist: »Ist nicht die Ausbeutung von vielen Arbeitern in vielen anderen Teilen der Welt, etwa Asien, Afrika und Lateinamerika ursächlich mit relativ hohen Löhnen in der westlichen Welt verbunden?« (S. 448).

Trotz der Spannweite der Themen bleibt noch einmal hervorzuheben, dass sich der rote Faden gewerkschaftlicher Solidarität durch alle Beiträge zieht und Wandlungsprozesse anschaulich werden. Für einen gewerkschaftsgeschichtlichen Band wäre sicherlich auch eine betriebsgeschichtliche Perspektive von unten, wie sie 2017 etwa Marco Swiniartzki vorlegte, bereichernd, gewesen. Dennoch bleibt als Gesamteindruck, über 150 Jahre Gewerkschaftsgeschichte in breiter Perspektive informiert worden zu sein.

Jürgen Schmidt, Berlin

 

Zitierempfehlung:

Jürgen Schmidt: Rezension von: Willy Buschak (Hrsg.), Solidarität im Wandel der Zeiten – 150 Jahre Gewerkschaften, Klartext Verlag, Essen 2016, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81913> [27.4.2020].

 

Detlef Lehnert (Hrsg.): Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870–1970

Rezension zu: Detlef Lehnert (Hrsg.): Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870–1970 (Historische Demokratieforschung, Bd. 11)

Metropol Verlag | Berlin 2017 | 360 Seiten, gebunden | 24,00 € | ISBN 978-3-86331-350-0

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Der vorliegende Band erschien in der Reihe Historische Demokratieforschung, die von der Paul-Löbe-Stiftung Weimarer Demokratie und der Hugo-Preuß-Stiftung organisiert und betreut wird. Herausgeber Detlef Lehnert leitet die Bände jeweils umfassend und instruktiv ein, wobei er sowohl den aktuellen Forschungsstand, die historisch-politische Relevanz des Themas als auch die Diskursfacetten in interdisziplinärer Hinsicht präsentiert und erläutert. Dem Wissenschaftlichen Beirat dieser Reihe gehören Peter Brandt (Berlin/Hagen), Dian Schefold (Bremen) und Peter Steinbach (Berlin) an. Der Band geht auf eine Tagung zurück, die im November 2014 in Hagen stattfand. In seiner Einleitung führt Lehnert den besonderen Begriffsakzent für den deutschsprachigen Raum in Europa an. Bei »Google« finden sich zum Begriff »Staatsdenker« ca. 11.000 Treffer. Im Vergleich dazu konnten zum Begriff »Verfassungsdenker« nur 184 Fundstellen ausgewiesen werden. Die weibliche Form fällt fast völlig unter den Tisch. Daraus schließt Lehnert wohl nicht zu Unrecht auf einen begrifflichen Etatismus in der deutschen Verfassungslehre, die die Verfassung dem Staat nachordnet und nicht, wie in der angloamerikanischen Verfassungslehre, konstitutiv für die Staatsbildung ist. Dabei repräsentieren die hier vorgestellten Verfassungsdenker natürlich nicht allein entweder die eine oder andere dieser beiden Grundperspektiven der Verfassungslehre, sondern zeigten sich oft wechselseitig beeinflusst von den Rezeptionen britischer, französischer oder amerikanischer Positionen, teils auch durch Erfahrungen des Exils.

Die zwölf Autorinnen und Autoren dieses Bandes sind Repräsentanten der Rechts-, Geschichts- und Politikwissenschaften. Dies findet seinen Niederschlag auch in der Akzentuierung der vorgestellten Verfassungsdenker. Allgemein jedoch eint alle Beiträge der biografische Bezug und der zeitlich eingegrenzte Kontext eines Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht die Zwischenkriegszeit. Denn entweder wirkten diese Rechtslehrer in der Weimarer Republik bzw. in der Ersten Republik Österreichs, waren also an den Debatten und Positionen der Kaiserreiche geschult, oder sie wuchsen in der Zwischenkriegszeit auf und nahmen, auch während des Exils während der NS-Diktatur, die Erfahrungen der Niederlage der Demokratien in ihr eigenes Verfassungsrechtsdenken auf. Zu den hier berücksichtigten Verfassungsdenkern gehören Otto Hintze (1861–1940), Otto von Gierke (1841–1921), Hugo Preuß (1860–1925), Hans Kelsen (1881–1973), Carl Schmitt (1888–1985), Karl Löwenstein (1891–1973) und Wolfgang Abendroth (1906–1985). Sie verkörpern drei Generationen von Rechtswissenschaftlern, die auch die Periodisierung des Bandes strukturieren: Gehörten Hintze, von Gierke, Preuß, aber auch Robert Redslob und Leo Wittmayer in die Phase »Vom Kaiserreich zur Republik«, so bilden Kelsen, Adolf Julius Merkl, Willibald Apelt, Hans Nawiasky und Schmitt »Von der Weimarer und Ersten Republik zur Nachkriegsperiode« ab. »Verfassungslehren der Nachkriegsdekaden mit ideen- und realhistorischen Rückblenden« findet man bei Abendroth und Löwenstein. Dass es nicht allein um akademische Prozesse geht, verdeutlichen bereits die Bemerkungen auf dem Klappentext. So entwarf Kelsen die Verfassung Österreichs von 1919. Schmitts Wirken verknüpft sich vor allem mit der Phase der »Präsidialkabinette« in der Zeit der Reichspräsidentschaft von Hindenburgs mit der autoritären Anwendung des Artikels 48 und des präsidialen Auflösungs- und Ernennungsrechts der Artikel 25 und 53 der Weimarer Reichsverfassung. Abendroth wiederum repräsentierte einen antifaschistisch-sozialistischen »Kampf um Verfassungspositionen« für die Ausgestaltung des Sozialstaatspostulats im Grundgesetz und vertrat betont gewerkschaftsnahes und emanzipatorisches Rechtsdenken, mit dem er die »Marburger Schule« der Politikwissenschaften aus der Taufe hob. Dass Verfassungsfragen immer auch Machtfragen sind und waren (Lassalle), erkennt man trefflich auch an Hugo Preuß, dem Vater der Verfassung von Weimar, und an Hans Nawiasky, der nach dem »Preußenschlag« vom 20. Juli 1932 seine »Bundesstaatstheorie« als Prozessvertreter Bayerns gegen die Zerstörung des Föderalismus zur Geltung zu bringen suchte.

Das Politische am Verfassungsdenken erschließt sich dem Leser und der Leserin nicht lediglich im theoretischen, sondern im praktischen Wirken der genannten Verfassungsdenker und ihrer jeweiligen Biografie. So erinnert Peter Steinbach an Abendroths gutachterliches bzw. kommentierendes Agieren an der Seite oder für die Gewerkschaften und die Arbeiterbewegung. Er bezieht sich u.a. auf Abendroths Engagement gegen das Verbot politischer Streiks, das auf Drängen der Arbeitgeberverbände und der Adenauer-Regierung seit 1951 betrieben und 1952 durchgesetzt wurde. Mit Vehemenz stritt Abendroth für den Erhalt des umfassenden gewerkschaftlichen Streikrechts auch im politischen Raum als Mittel der Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 3 GG als kollektives Recht. Abendroth ging es wie keinem der anderen Rechtsdenker, sieht man vielleicht vom Österreicher Kelsen ab, um die prozessuale Fortentwicklung der politischen Demokratie zur sozialen Demokratie in einer prinzipiell antagonistischen Gesellschaft. Das Sozialstaatspostulat als Verfassungsauftrag nach dem Willen des Souveräns lasse sogar eine demokratisch-sozialistische Transformation der Gesellschaft nach Art. 14, 15 und 20 GG zu, so Abendroth in der »Forsthoff-Kontroverse« über den normativen Gehalt des Grundgesetzes.

Die Deutschen haben nicht erst seit Hitler ein Problem mit dem Patriotismus. Dass ein »Verfassungspatriotismus« (Dolf Sternberger) in durchaus britischem Sinne eine Richtschnur sein kann, der die Deutschen folgen könnten, wird von Lehnert ausdrücklich betont. Mag die Lektüre über die »Verfassungsdenker« mitunter schwere Kost enthalten, so zeigen die vorgestellten Repräsentanten durch ihr Leben und Wirken, wie wichtig eine gezügelte und zivilisierte Form des Nachdenkens über die eigene Geschichte und ihre Erfolge und Fehlleistungen sein kann.

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

 

Zitierempfehlung:

Holger Czitrich-Stahl: Rezension von: Detlef Lehnert (Hrsg.), Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870–1970 (Historische Demokratieforschung, Bd. 11), Metropol Verlag, Berlin 2017, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81912> [27.4.2020].

 

Ewald Grothe/Arthur Schlegelmilch (Hrsg.): Constitutional Moments

Rezension zu: Ewald Grothe/Arthur Schlegelmilch (Hrsg.): Constitutional Moments. Erträge des Symposions des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften, des Instituts für Geschichte und Biographie und des Archivs des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit am 13. und 14. April 2018 an der FernUniversität in Hagen (Veröffentlichungen des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften, Bd. 20)

Berliner Wissenschafts-Verlag | Berlin 2020 | 226 Seiten, kartoniert | 44,00 € | ISBN 978-3-8305-3982-7

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Der Band enthält eine Reihe hochinteressanter Beiträge zu einer breiten Palette unterschiedlicher Themen, Orte und Zeiten. Was sie vereinen soll, ist das von Bruce A. Ackerman übernommene Konzept des »constitutional moment«, »um die Unterscheidung zwischen dem normalen politischen Alltag und hervorstechenden Ereignissen oder Phasen des Umbruchs« zu bestimmen (S. 7). Dieser Ansatz beruht auf zwei Prämissen. Die erste liegt im ackermanschen Konzept selbst und die zweite in der Voraussetzung, dass sich diese als globale Theorie zur Untersuchung konstitutioneller Vorgänge in anderen Teilen der Welt eignet. Ackerman selbst hat diesen Anspruch nicht erhoben. Sein einschlägiger Artikel bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die amerikanische Verfassungsgeschichte, wobei es ihm darum geht, »those rare moments when political movements succeed in hammering out new principles of constitutional identity« herauszuarbeiten, wobei er wiederholt die Eigenständigkeit und Singularität der amerikanischen Verfassungsentwicklung betont, die für ihn von Anbeginn nicht europäisch, sondern eben amerikanisch ist.[1] Selbst wenn man bereit ist, dem ackermanschen Konzept und seiner Interpretation der amerikanischen Verfassungsgeschichte mit den drei von ihm so benannten constitutional moments zuzustimmen, erhebt sich die Frage, wie weit es sich auf andere Länder und Zeiten übertragen lässt und welcher spezifische Erkenntnisgewinn sich dabei dank dieses Konzepts ergibt. Der Band, das Ergebnis einer Hagener Konferenz, geht dieser Frage in zwölf Beiträgen nach, und die Antworten der einzelnen Autoren fallen höchst unterschiedlich aus.

Dass die Wahlkapitulationen des Alten Reichs oder dessen Ende (Wolfgang Burgdorf) konstitutionelle Momente darstellen könnten, lässt sich schwerlich behaupten, zumal es sich im ersteren Fall um eine vormoderne Verfassung handelt, die sich nicht einfach mit modernen geschriebenen Verfassungen vergleichen lässt, während das Ende des Reiches eher durch einen »Napoleonischen Moment« als durch einen konstitutionellen Moment gekennzeichnet war. Die Entstehung der Weimarer Verfassung in die Verfassungsdiskussion während des Ersten Weltkriegs zurückzuverfolgen (Steffen Bruendel) ist ebenso legitim wie spannend. Doch das in einem konstitutionellen Moment münden zu lassen, ist schwerlich mit dem Konzept von Ackerman vereinbar. Auch »Ulbrichts ›Constitutional Moment‹« im Schatten des Prager Frühlings (Arthur Schlegelmilch) erscheint primär der Konferenzthematik geschuldet. Die mag für den »›Machtwechsel‹ von 1969« mit dem Regierungsantritt der sozial-liberalen Koalition (Ewald Grothe) schon passender sein, wohingegen sie mit dem Umbruch in der DDR 1989/90 (Hans-Jürgen Misselwitz) wiederum eher schwer vereinbar scheint und bei den Betrachtungen von Dian Schefold über »Tag der deutschen Einheit, Reichsgründungstag, Verfassungstag« völlig herausfällt.

Bei den außerdeutschen Analysen (Frankreich 1814–1830, Fabian Rausch; Italien 1861–1915, Werner Daum; den Ostblockstaaten, Guntolf Herzberg) wirkt die Konferenzthematik schon sehr aufgesetzt, während Peter Schiffbauer in seiner umfangreichen Untersuchung des europäischen Verfassungsprozesses von 2004 den »Constitutional Moment« schlicht als »heuristische Krücke« bezeichnet (S. 181). So ähnlich haben das wohl auch die beiden Völkerrechtler Christian Tomuschat und Markus Kotzur in ihren jeweiligen Beiträgen gesehen.

So bleibt als ein Fazit, dass es zwar durchaus außeramerikanische Beispiele geben mag, auf die sich Ackermans Konzept des »Constitutional Moment« sinnvoll anwenden lässt. Darüber hinaus scheint mir jedoch ein weiteres Fazit angebracht, nämlich dass der vorliegende Band eine Fülle anregender und aufschlussreicher Beiträge enthält, die ihn, selbst wenn der eine oder andere davon unter dem Prokrustesbett gelitten hat, in das er gezwängt wurde, ohne dass dies in der Sache zu einem Erkenntnisgewinn geführt hätte, höchst lesenswert machen.

Horst Dippel, Kassel

[1]Bruce Ackerman, »Constitutional Politics/Constitutional Law”, in: Yale Law Journal, 99, 1989, S. 453–547, hier: S. 545.

 

Zitierempfehlung:

Horst Dippel: Rezension von: Ewald Grothe/Arthur Schlegelmilch (Hrsg.): Constitutional Moments. (Veröffentlichungen des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften, Bd. 20), Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81911> [27.4.2020].

 

Michael Lysander Fremuth: Menschenrechte. Grundlagen und Dokumente

Rezension zu: Michael Lysander Fremuth: Menschenrechte. Grundlagen und Dokumente

Berliner Wissenschafts-Verlag | Berlin 2020 | XIII + 713 Seiten, kartoniert | 29,80 € | ISBN 978-3-8305-3995-7

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Das Buch des Wiener Menschenrechtlers ist ein Grundlagenwerk, das sich laut Klappentext an eine breite Nutzerschicht von Oberstufenschüler*innen und Student*innen über Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen, Journalist*innen bis schließlich an alle interessierten Bürger*innen wendet. Dieser Absicht dient eine gut 170 Seiten umfassende Einleitung, auf die ein über 500 Seiten langer Dokumententeil folgt mit fast 80 ausnahmslos auf Deutsch wiedergegebenen Dokumenten. Diese teilen sich auf in historische Rechtsdokumente (8 Dokumente – von der Magna Carta von 1215 bis zur französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789), internationale Rechtsdokumente (41 Dokumente – von der Charta der Vereinten Nationen von 1945 bis zur Erklärung der Yogyakarta-Prinzipien über die Anwendung von Menschenrechten in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität von 2007), regionale Rechtsdokumente, darunter europäische (19 Dokumente – von der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 bis zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000), amerikanische (2 Dokumente: die Amerikanische Konvention der Menschenrechte von 1969 und das Zusatzprotokoll von San Salvador von 1988), afrikanische (2 Dokumente: die Banjul-Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker von 1981 und das zugehörige Maputo-Protokoll von 2003) und arabisch-islamische und asiatische (3 Dokumente: die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990, die Arabische Charta der Menschenrechte von 2004 und die ASEAN-Erklärung der Menschenrechte von 2012). Abschließend folgen drei nationale Rechtsdokumente (das Grundgesetz von 1949, die 2019 aktualisierte Fassung der politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und das österreichische Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder in der konsolidierten Fassung vom 12. September 2019). Es versteht sich von selbst, dass manche dieser Dokumente lediglich mit den einschlägigen Auszügen abgedruckt sind.

Die Einführung in diese Auswahl ist konzise und in strikter juristischer Argumentation gehalten, die immer wieder durch illustrierende Beispiele aufgelockert wird, die zumal dem Nichtjuristen Argumentationsgang und Verständnis erleichtern. Zunächst werden Begriff und Wesen der Menschenrechte behandelt, sodann ihre Klassifizierungen, gefolgt von einem kurzen historischen Abriss und Begründung, Rechtsquellen und Anwendbarkeit der Menschenrechte. Die zweite Hälfte der Einleitung ist dem Schutz und der Durchsetzung der Menschenrechte gewidmet – mit über 70 Seiten der Schwerpunkt der Ausführungen –, worauf ein abschließendes Kapitel mit einer eine juristische Examensprüfung suggerierende Entwicklung eines Falls einer Menschenrechtsverletzung und der sich daraus ergebenden Arbeit mit den Rechtsquellen, dem schließlich ein Ausblick auf aktuelle Entwicklungen folgen. Ebenso wie bei der Dokumentenauswahl legt die Einführung das Schwergewicht auf die Vereinten Nationen und ihre Rolle im internationalen Menschenrechtsschutz mit der Folge, dass die rechtstheoretische Ebene eindeutig im Vordergrund steht, gegenüber der die Praxis der Menschenrechte in der Welt weitgehend ausgeblendet bleibt.

Für den Sozialwissenschaftler ist dies alles sehr lehrreich und trägt nachhaltig zur Klärung einer Materie bei, die jenseits ihrer juristischen Fundierung politische Entwicklungslinien auf regionaler wie globaler Ebene begleitet und vielfach prägt. Umso bedauerlicher ist, dass ausgerechnet Fremuths kurze Geschichte der Menschenrechte als der mit Abstand schwächste Teil des Werks gelten muss. Hier vermisst man nicht allein bereits für die Antike Namen wie Hammurabi und Justinian, sondern generell die Entwicklung des Rechts zu dem alles durchdringenden Regelwerk menschlicher Gesellschaft. Zumal in seiner anglo-amerikanischen Ausprägung, die er mit sechs seiner acht historischen Rechtsdokumente heraushebt, wäre die Bedeutung des Rechts zur Sicherung der Freiheit der Bürger darzulegen gewesen, aus der sich bereits im Mittelalter das Konzept der Begrenzung der Regierungsgewalt zum Schutz von Recht und Freiheit entwickelte, das mit der Unterstützung des jüngeren Naturrechts erst die Entstehung erster Menschenrechtserklärungen am Ende des 18. Jahrhunderts ermöglichte. Eine Aufdeckung der nicht nur Deutschland das 19. Jahrhundert über prägenden Diskussion um angeborene oder erworbene Rechte hätte schließlich gerade in Kulturräumen, in denen Recht nicht wie in England mit Freiheit, sondern bereits semantisch mit Ordnung verbunden ist – das Spannungsfeld von Freiheit und Ordnung wird von Fremuth wiederholt thematisiert –, nachdrücklich zum Verständnis seiner stets betonten, vom traditionellen deutschen Staatsrecht vehement zurückgewiesenen Auffassung vom vorstaatlichen Charakter der Menschenrechte beigetragen.

Horst Dippel, Kassel

 

Zitierempfehlung:

Horst Dippel: Rezension von: Michael Lysander Fremuth: Menschenrechte. Grundlagen und Dokumente, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81910> [27.4.2020].

 

Sandra Trawny und Ina Lohse: Die »Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft«

Doppelrezension zu: Sandra Trawny: Die »Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft« und ihre Vorgängerinnen zwischen Staatenbund und Nationalstaat 1853–1870 (Gesellschaft versus Recht)

Berliner Wissenschafts-Verlag | Berlin 2020 | 311 Seiten, gebunden | 60,00 € | ISBN 978-3-8305-3981-0

Ina Lohse: Die »Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft« im Deutschen Reich 1871–1918. 3.340 Rezensionsbeiträge der deutschen Jurisprudenz zwischen Konstitutionalismus und Parlamentarismus (Gesellschaft versus Recht)

Berliner Wissenschafts-Verlag | Berlin 2019 | 601 Seiten, gebunden | 88,00 € | ISBN 978-3-8305-3952-0

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Die beiden anzuzeigenden Werke gehören zu einer fünfteiligen Untersuchung der »Kritischen Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft«, die durch ihren aktuellen Herausgeber Peter-Alexis Albrecht angeregt wurde. Davon sind bislang die Bände für die Weimarer Republik (1919–1932) (Markus Lubawinski, 2015) und der für die Jahre nach der Neugründung 1986 (bis 2011) (Annabelle Voßberg, 2017) erschienen. Der Band über die Zeit des Nationalsozialismus (1933–1944) steht derzeit noch aus.

Die »Kritische Vierteljahresschrift« ist ein spezifisches Produkt des 19. Jahrhunderts, ein Jahrhundert, das zu den Glanzzeiten der deutschen Jurisprudenz gehört. Die Französische Revolution hatte das Thema der Kodifikation nachdrücklich auf die Tagesordnung gesetzt. Der Code civil von 1804 – bis 1814 auch in Teilen Deutschlands geltendes Recht, auf dem linken Rheinufer als »Rheinisches Recht« bis 1900 – und das ABGB (Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch) von 1811 für die deutschen Erbländer des Kaisertums Österreich sind nur zwei markante Beispiele. Doch der Kodifikationsstreit in der Historischen Rechtsschule vertagte die Frage im nachnapoleonischen Deutschland. Stattdessen wurden in einer zunehmenden Zahl deutscher Staaten Verfassungen eingeführt, und, um das Blickfeld zu erweitern, gab Carl Mittermaier gemeinsam mit Carl Salomo Zachariä bzw. Robert von Mohl (ab 1842) von 1829–1856 die »Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes«heraus. Ebenfalls bei Mohr in Heidelberg erschien ab 1853 die »Kritische Zeitschrift für die gesammte Rechtswissenschaft«, herausgegeben von fünf jungen Heidelberger Dozenten, während zeitgleich die Münchener Professoren Carl Ludwig Arndts, Johann Caspar Bluntschli und Josef Pözl die »Kritische Ueberschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft«bei Cotta in München herausbrachten. Diese beiden letzteren Zeitschriften wurden ab 1859 unter dem Titel »Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft«, weitergeführt zunächst unter der alleinigen Herausgeberschaft von Pözl bei Cotta. Nach dessen Tod Anfang 1881 trat dann Max von Seydel an diese Stelle. Bis 1918 kam es naturgemäß zu weiteren Wechseln in der Herausgeberschaft, und auch der Verlag, seit 1870 Oldenbourg, änderte sich mehrfach.

Der von der Zeitschrift samt ihren beiden Vorgängerinnen abgedeckte Zeitraum setzt mithin nach der fehlgeschlagenen nationalen Einigung von 1848/49 mit der Zeit der Reaktion ein, als zugleich der Deutsche Zollverein weiter wuchs und schließlich von Bismarck die nationale Einigung mit den Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich betrieben wurde. Es ist die Epoche der rasant fortschreitenden Industrialisierung Deutschlands mit den dramatisch anwachsenden Städten, dem stürmischen Bau von Straßen, Kanälen und Eisenbahnen und der Massenauswanderung. Es entstanden politische Parteien und Gewerkschaften, und die politisch-soziale Konfrontation führte zu den Sozialistengesetzen, aber auch zur Begründung des modernen Wohlfahrtsstaats. Das Verhältnis von Staat und Kirche wurde neu definiert, und die Militarisierung der Gesellschaft nahm immer neue Formen an und mündete am Ende in den Ersten Weltkrieg. Aber es ist auch die Zeit, in der die Rechtseinheit Deutschlands immer weitere Fortschritte machte und vom einheitlichen Wechsel- und Handelsrecht über das Strafgesetzbuch, die Strafprozess- wie die Zivilprozessordnung schließlich zur großen Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuches führte, die das System des Pandektenrechts, aber auf dem linken Rheinufer auch das »Rheinische Recht« ablöste. Alles zusammen ergibt eine unendliche Themenfülle für eine Zeitschrift, die explizit »Gesetzgebung und Rechtswissenschaft« gewidmet ist.

Nicht allein Historikerinnen und Historiker wünschen zu erfahren, wie sich die führende deutsche juristische Rezensionszeitschrift zu diesen Themen positionierte, zumal ihre Herausgeber zu den eifrigsten Rezensenten gehörten. Doch diese Erwartungen werden weitgehend enttäuscht. Die immense Zahl der Rezensionen, aus der Trawny in ihren Ausführungen zur näheren Bestimmung eine Auswahl herausgreift, während Lohse sie für ihren Zeitraum insgesamt einzubeziehen sucht, wird in den wenigsten Fällen über formal-quantitative Gesichtspunkte hinausgehend behandelt. Dieser Grundcharakter wird noch gefördert durch das Eigenverständnis, mit beiden Bänden einen Beitrag zur Zeitschriftenforschung zu leisten, der die inhaltlichen juristischen und rechtstheoretischen Fragen hintenanstellt. Das ist zweifellos ein legitimer Ansatz, schränkt aber notgedrungen die Aussagekraft beider Publikationen ein. So fehlt merkwürdigerweise ein Register zur Erschließung der Tausende von Rezensionen in beiden Bänden. Es bleibt dem Leser nur, die hunderte Seiten umfassenden akribischen Auflistungen der Rezensionen durchzusehen, um herauszufinden, wer welches Werk in welchem Band rezensiert hat. Da helfen einem die dank des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte und der DFG vorliegenden Digitalisate aller Zeitschriftenbände ungleich leichter weiter – nicht nur, weil sie über Register verfügen.

Doch selbst innerhalb ihrer begrenzten Zielsetzung stört nicht nur der häufig pedantisch-didaktische Duktus. Übergeordnete Zusammenhänge werden mitunter nicht beachtet, so wenn etwa Trawny die Verlagsorte der rezensierten Werke gewichten will, ohne dabei in Rechnung zu stellen, dass Leipzig nicht erst in dieser Epoche das Zentrum des deutschen Buchhandels war (S. 60f.). In beiden Bänden basieren Biografien der Herausgeber und Mitarbeiter oftmals ausschließlich auf Nekrologen, ohne in Rechnung zu stellen, dass diese nach dem Grundsatz de mortuis nihil nisi bene geschrieben wurden, gegenüber denen kritische Evaluierungen unbeachtet gelassen wurden. Die verwandten Termini und Begriffe sind mitunter unpassend, so etwa wenn Trawny von dem »Staatsverständnis […] breite[r] Kreise der Bevölkerung« der 1850er/1860er-Jahre spricht, demgemäß »der Monarch im Auftrag und als Diener des Volkssouveräns agieren sollte« (S. 39), eine für das Deutschland dieser Epoche eher ahistorische Vorstellung. Lohse bezeichnet wiederholt das Deutsche Reich als »Staatenbund« (S. 15, 231) – so weit wollte noch nicht einmal Max von Seydel gehen – oder als »Demokratie« (S. 102, 229). Aber es gibt auch jene Fälle, bei denen größere Sorgfalt hilfreich gewesen wäre, etwa bei falschen oder verschriebenen Jahreszahlen – so muss es bei Lohse, S. 30, 1888 statt 1861 heißen – oder Autorennamen (so etwa Buelow statt richtig Buelon, in Trawny, S. 81, 215, oder etwa Volker Ullrich, der bei Lohse wiederholt auch als Ulrich auftaucht) und nicht zuletzt, wie Stichproben ergaben, bei mitunter fehlerhaft transkribierten Zitaten (Trawny, S. 93f.; Lohse, S. 219, 224). Schade, dass Einsatz und Fleiß nicht zu Ergebnissen geführt haben, die beide Bände für Historikerinnen und Historiker ebenso wertvoll gemacht hätten wie die von ihnen behandelten Zeitschriften.

Horst Dippel, Kassel

 

Zitierempfehlung:

Horst Dippel: Rezension von: Sandra Trawny: Die »Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft« und ihre Vorgängerinnen zwischen Staatenbund und Nationalstaat 1853–1870 (Gesellschaft versus Recht), Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2020 und Ina Lohse: Die »Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft« im Deutschen Reich 1871–1918. 3.340 Rezensionsbeiträge der deutschen Jurisprudenz zwischen Konstitutionalismus und Parlamentarismus (Gesellschaft versus Recht), Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 60, 2020, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81909> [27.4.2020].

 

Hans-Peter Ullmann, Das Abgleiten in den Schuldenstaat. Öffentliche Finanzen in der Bundesrepublik von den sechziger bis zu den achtziger Jahren

Rezension zu Hans-Peter Ullmann, Das Abgleiten in den Schuldenstaat. Öffentliche Finanzen in der Bundesrepublik von den sechziger bis zu den achtziger Jahren, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, 424 S., geb., 60,00 €, ISBN 978-3-525-30111-1

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Es ist bekannt, dass die sozial-liberale Koalition unter den Kanzlern Brandt und Schmidt nicht nur die Bundesrepublik unter dem Motto »Mehr Demokratie wagen« reformierte und mit ihrer »Neuen Ostpolitik« das Verhältnis zur DDR und östlichen Nachbarstaaten neu fundierte, sondern auch die öffentliche Verschuldung drastisch erhöhte. Wie, warum und durch wen das geschah, mit welchen Argumenten, Konflikten und Bündnissen, das erfährt man im Einzelnen aber erst in Hans-Peter Ullmanns magnum opus, das hier zu besprechen ist. Es fußt auf umfangreichem Archivmaterial aus den einschlägigen Ämtern, Ministerien, Verbänden und Ausschüssen, auf Parteiquellen, Nachlässen wichtiger Akteure und einer Reihe von Interviews. Es wertet Kabinettsprotokolle parlamentarische Debatten, aber auch Expertengremien, wirtschafts- und finanzwissenschaftliche Zeitschriften sowie Tages- und Wochenzeitungen aus – neben zeitgenössischen Meinungsumfragen und der Forschungsliteratur, die allerdings, was die Finanzgeschichte der Bundesrepublik angeht, bis zum Erscheinen dieses bahnbrechenden Werkes äußerst spärlich gewesen ist. Das Buch ist eine neue, insgesamt ernüchternde Deutung der sozial-liberalen Koalitionen von 1969 bis 1982, ein Standardwerk zur Geschichte der öffentlichen Finanzen der von der Frühzeit der Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung und letztlich eine eindringliche Fallstudie zur Funktionsweise der parlamentarischen Parteiendemokratie im Spannungsfeld von Wirtschaftskonjunkturen, Öffentlichkeit, Institutionen und maßgeblich Handelnden in der »alten« Bundesrepublik. Es handelt sich um eine Herkulesarbeit mit wichtigen Erträgen für viele Bereiche der Zeitgeschichte.

Anfangs skizziert Ullmann Grundzüge der bundesdeutschen Finanzpolitik unter den Kanzlern Adenauer und Erhard: den lange erfolgreichen Kampf um einen einigermaßen ausgeglichenen Haushalt ohne Steuererhöhungen und größere Kreditaufnahme, der allerdings seit den späten fünfziger Jahren angesichts rasch wachsender gesellschaftlich-politischer Ansprüche unter Druck geriet und allmählich ungeplant expandierte. Die Finanzkrise von 1965/66 trug erheblich zum Zerbrechen der Regierung Erhard bei.

Ausführlich und umfassend analysiert Ullmann die Entstehung der von ihm als »Expansionskoalition« bezeichneten diskursiv-politisch-sozialen Bewegung seit den späten 1950er-Jahren, die den »Gegensatz zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut« publizistisch immer häufiger skandalisierte, auf Ausweitung der Staatstätigkeit drängte, keynesianisch inspirierte »Fiscal policy« befürwortete und von einem heterogenen, aber von Mitte der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre einflussreichen Bündnis getragen wurde, zu dem Politiker der verschiedenen Parteien (vor allem aber Sozialdemokraten), hohe Beamte, Vertreter von Verbänden (insbesondere der Gewerkschaften), wirtschafts- und finanzwissenschaftliche Experten, Meinungsmacher in den Medien und, wie Umfragen zeigten, wachsende Teile der Bevölkerung mit steigenden Ansprüchen gehörten. Der Systemwettbewerb mit der DDR spielte eine Rolle, die Rezession von 1966/67 auch. Den siegreichen Durchbruch dieser Mentalitäts-, Denk- und Handlungsrichtung brachte die Große Koalition (Kiesinger-Brandt) 1966–1969. Durch sie – ihr Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, die Umgestaltung des Haushaltsrechts und die Reform der Finanzverfassung – wurden entscheidende Weichen gestellt, die jetzt einsetzende »mittelfristige Finanzplanung« projektierte erstmals Zuwachsraten des Haushalts über das erwartete Wachstum des Sozialprodukts hinaus und eine deutlich steigende öffentliche Verschuldung. Diese Expansion habe noch »kontrolliert« stattgefunden, jedenfalls im Vergleich zur zweiten »dynamischen« Expansionsphase in den ersten Jahren der sozial-liberalen Regierung Brandt-Scheel (1969–1972), in denen es unter dem Einfluss verbreiteter Reformeuphorie, in der Erwartung fortdauernden Wachstums und im Vertrauen auf eine schier unbegrenzte Belastbarkeit der Wirtschaft zu einer immensen Steigerung der öffentlichen Ausgaben – insbesondere im Sozialbereich, für Bildung und Wissenschaft und im öffentlichen Dienst – kam und zur Inkaufnahme stark expandierender Kreditaufnahme (auch in Jahren raschen ökonomischen Wachstums, also keineswegs antizyklisch), gegen zunehmende Warnungen und Proteste der zuständigen Fachminister Axel Möller und Karl Schiller, die 1971 und 1972 zurücktraten. »Es gelang nicht, Ausgaben und Einnahmen aufeinander abzustimmen und mit den konjunkturellen Erfordernissen in Einklang zu bringen.« Für die Jahre 1972–1975 diagnostiziert Ullmann eine dritte (»pragmatische«) Expansionsphase, zunehmend unter dem Einfluss des Doppelministers Helmut Schmidt, der aber mit seiner Politik moderater Steuererhöhungen und überschaubar bleibender Kreditfinanzierung angesichts der vorher getroffenen Entscheidungen, steigender Preise und hoher Tarifabschlüsse an seine Grenzen stieß, erst recht als mit der Rezension von 1974/75 im Land und international der Boom der Nachkriegsprosperität zu Ende ging.

Ullmann zeigt dann im Einzelnen wie im Zusammenspiel von sich drehender öffentlicher Meinung, Wissenschaft, organisierten Interessen und wachsenden Teilen der Politik die »Expansionskoalition« mit ihrer Planungseuphorie und ihrem Vertrauen in keynesianische »Fiscal policy« seit Mitte der 1970er-Jahre erodierte und in harten Konflikten allmählich einer »Konsolidierungskoalition« Platz machte. Die Regierung, jetzt unter Kanzler Schmidt, versuchte umzusteuern, doch ohne durchgreifenden Erfolg. Als Folge vorher getroffener Entscheidungen, angesichts rückläufiger Einnahmen aufgrund nachlassenden Wirtschaftswachstums und bedingt durch die fehlende Bereitschaft für radikalere Sparmaßnahmen vor allem in der regierenden SPD beschleunigte sich die Nettokreditaufnahme sogar, und mit ihr die Zinslast. Endgültig scheiterte Finanzminister Matthöfer mit seiner vorsichtigen Konsolidierungspolitik an der zweiten Ölkrise 1979/80 und der ihr folgenden Rezession. »Zu niedrig angesetzte Ausgaben für wichtige Einzelpläne und eine Reihe teils voraussehbarer, teils unerwarteter Mehrausgaben ließen den Haushalt aus den Fugen geraten.« Der Parteienstreit um die notwendige Konsolidierung trug wesentlich zum Bruch der sozial-liberalen Koalition 1982 bei.

Zwar betont Ullmann, dass die Mitte-Rechts-Regierung unter Kanzler Helmut Kohl in den folgenden Jahren nicht die von ihr versprochene Wende, sondern nur eine »unfertige Konsolidierung« ins Werk gesetzt habe. In der Tat kam es in der Bundesrepublik nie zu der »neoliberalen« Wende, die Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA vorexerzierten. Doch die tatsächlich durchgesetzten Einsparungen, Umschichtungen und Privatisierungen ließen – in Umkehrung des Trends der vorangehenden anderthalb Jahrzehnte – sowohl die Sozialleistungsquote wie die Staatsquote insgesamt zwischen 1982 und 1989 deutlich sinken (von 33 % auf 30 % bzw. von 50 % auf 45 %). Und die Nettoverschuldung des öffentlichen Gesamthaushalts ging in diesen Jahren von 4,3 % auf 1,5% des Bruttosozialprodukts zurück, bevor mit der deutschen Vereinigung die Karten neu gemischt wurden.

Der Autor beurteilt die Finanzpolitik der sozial-liberalen Koalition unter Brandt und Schmidt – anders als die der vorausgehenden Großen Koalition – sehr kritisch. Die öffentlichen Haushalte seien stärker gewachsen, »als es konjunkturpolitisch sinnvoll und finanzpolitisch akzeptabel gewesen wäre« (S. 189). In sorgfältig erarbeiteten, wenn bisweilen auch unzureichend erläuterten Grafiken (S. 244–248) zeigt er die exorbitante Steigerung der Schuldenquote von unter 20 % 1969 auf fast 40 % 1982 (für Bund, Länder und Gemeinden zusammen), schneller als in den anderen großen OECD-Ländern. Damit stieg – und das erscheint mir als die gewichtigste Zahl – der Anteil der Zinsausgaben an den Gesamtausgaben des Staats von 3 % 1969 auf ca. 8 % 1982. Zu Recht folgert Ullmann, dass der Gestaltungsspielraum der Politik schrumpfte und weiter zu schrumpfen drohte. Ullmanns Analyse überzeugt. Man begreift, dass ein Umsteuern politökonomisch nötig und – ebenso wichtig – parlamentarisch-demokratisch möglich war, wenn auch nicht ohne Regierungswechsel. Man sieht an diesem Beispiel auch, dass Entwicklungen, die häufig als »neoliberale« Wende beklagt werden, jedenfalls partiell aus Widersprüchen der vorangehenden Entwicklungsphase hervorgingen.

Ullmanns Darstellung endet allerdings empirisch wie perspektivisch mit der Wiedervereinigung. Sie stellt sich nicht dem Befund, dass die sozial-liberale Verschuldungspolitik die Bundesrepublik langfristig weder ökonomisch noch politisch geschwächt zu haben scheint. Sie bezieht nicht ein, dass die öffentliche Verschuldung vieler Länder vor allem seit 2008 Ausmaße erreicht hat, die die sozial-liberalen Schulden der 1970er- und 1980er-Jahre als relativ bescheiden erscheinen lassen. Sie stellt nicht in Rechnung, dass unter den international stark veränderten finanzpolitischen Bedingungen der Gegenwart und (vermutlich) auch der überschaubaren Zukunft, angesichts eines weltweit radikal reduzierten Zinsniveaus und bei zunehmender Bereitschaft, Schuldentilgungen zumindest sehr weit in die Zukunft zu verschieben, hohe Verschuldung aufhören kann, der politische Sprengsatz zu sein, zu dem sie in den 1980er-Jahren zu werden begann. Vielmehr mag deutlich erhöhte öffentliche Verschuldung zu investiven Zwecken aus ökonomischen, sozialen und außenpolitischen Gründen in Ländern wie der Bundesrepublik dringend geboten sein. Das entkräftet Ullmanns eindringliche Analyse für seinen Untersuchungszeitraum zwar überhaupt nicht. Aber die Frage stellt sich, ob sich nicht im Licht der jüngsten Verhältnisse und Erfahrungen die Deutung der sozial-liberalen Phase der Bundesrepublik samt ihrer Finanzpolitik erneut ändern könnte.

Jürgen Kocka,Berlin

Zitierempfehlung:

Jürgen Kocka: Rezension von: Hans-Peter Ullmann, Das Abgleiten in den Schuldenstaat. Öffentliche Finanzen in der Bundesrepublik von den sechziger bis zu den achtziger Jahren, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 59, 2019, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81906> [9.10.2019].

Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR, Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945–1957; Band II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957–1976; Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977–1990

Rezension zu Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR, Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945–1957; Band II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957–1976; Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977–1990, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018, S. 2429, geb., 286,00 €, ISBN 978-3-647-30192-1

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Angesichts von Gerd Dietrichs monumentaler »Kulturgeschichte der DDR« kommt man nicht umhin, über das Konzept einer Kulturgeschichte etwas genereller nachzudenken, zumal einer deutschen. Die 2009 im Hanser-Verlag erschienene Kulturgeschichte der Bundesrepublik, die ich gemeinsam mit Axel Schildt verfasst habe, ist viel gelobt, aber auch kritisiert worden, unter anderem dafür, nicht die Kulturgeschichte beider deutscher Staaten erzählt zu haben.[1] »Viel Hüben und wenig Drüben« war etwa eine Besprechung im »Parlament« überschrieben, in der uns »Westbindung« vorgeworfen wurde.[2] Hier wurde die Absicht deutlich, im Rückblick zusammenzubinden, was nicht zusammengehörte – oder doch auf jeden Fall nicht gemeinsam existierte, sondern in Form getrennter Staaten und Gesellschaften, die, das wusste schon Leopold von Ranke, grundsätzlich als Individuen zu betrachten sind. Mir scheint, dass dieses geschichtspolitische Motiv mittlerweile etwas weniger stark vorgetragen wird, nicht zuletzt, weil die historische Forschung die Eigenlogik beider Gesellschaften in den vergangenen Jahren immer genauer herausgearbeitet hat, wie sie jenseits des von Christoph Kleßmann postulierten produktiven Ansatzes einer »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte« bestanden hat. Derartige Verflechtungen gab es natürlich, wie auch Dietrichs Kulturgeschichte der DDR immer wieder deutlich macht, aber darin gehen eben die Geschichten der beiden deutschen Staaten nicht auf.

Offener gegenüber dieser Konstellation hatte sich schon 2009 Hermann Glaser gezeigt, der hoffte, der »Platz« für eine Kulturgeschichte des »ostdeutschen Weg[es]« würde bald besetzt werden »mit der gleichen Umsicht, Gründlichkeit und unter Ausbreitung eines ähnlichen Materialreichtums, der im vorliegenden Werk an die 700 Seiten füllt«.[3] Leider hat er nicht mehr erleben können, dass Dietrichs Werk mit fast 2.500 Seiten nicht nur unser bescheidenes Buch weit übersteigt, sondern auch Glasers eigene Kulturgeschichte der Bundesrepublik, die 1989 in ebenfalls drei Bänden mit knapp 1.200 Seiten erschienen war.[4] Insofern ist, was beim Erscheinen unseres Buches noch schmerzliche Lücke war, nun auf überwältigende Weise ausgefüllt worden. Was wohl Hans-Ulrich Wehler zu dieser Proportion gesagt hätte, der der DDR, Stefan Heym zitierend, lediglich die Rolle einer »Fußnote« der Geschichte zugestehen wollte?[5]

Trotz ihres jeweils eigenen Gegenstands sind unsere beiden Kulturgeschichten methodisch »verflochten«, um mit Kleßmann zu sprechen, denn – und hier sind wir bei konzeptionellen Fragen – ihr Ansatz und ihre Struktur ähneln sich. Erstens geht Gerd Dietrich von einem weiten Kulturbegriff aus, wie es nach dem cultural turn eigentlich kaum mehr anders sein könnte. Weil in seinem Werk Kulturgeschichte weniger Gegenstand als Forschungsperspektive ist, gibt es im Prinzip keinen Aspekt der DDR-Geschichte, der nicht in die Darstellung einbezogen und »kulturalistisch« betrachtet werden kann. Darunter zum Beispiel immer wieder die Grundzüge der DDR-Wirtschaftsgeschichte, die nicht nur die Grundlage für Kultur in der DDR abgab, sondern auch Diskurse und Legitimitäten beeinflusste und umgekehrt von ihnen geprägt wurde. Wie beispielsweise zu Zeiten des »Neuen Ökonomischen Systems« (NÖS) an der Begeisterung für Kybernetik und Systemtheorie oder unter Honecker an der Maßgabe von der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« zu studieren ist. Insofern handelt es sich de facto um eine veritable Geschichte der DDR, die allerdings durch ihren neuen Blick besticht: Er ist zwangsläufig weniger politisch als üblich, sondern bezieht breit etwa den Alltag ein, also eine in gewisser Weise »unpolitische« Sphäre, wobei derartige Begriffe – dazu später mehr – immer problematisch sind. Konzeptionell wirft dies allerdings die Frage auf, wie »alles« dargestellt werden kann, um nicht als beliebige Aneinanderreihung historischer Fakten zu langweilen.

 

Dass dies hier nicht der Fall ist, liegt daran, dass Dietrich zweitens die Kulturgeschichte der DDR in den übergeordneten Kapiteln durch jeweils drei Zugriffe durchmustert – a) wird die Geschichte der Alltags- und Populärkultur betrachtet, b) die politische Kultur und c) die »Hochkultur« bzw., weniger wertgeladen gesprochen, die Künste. Natürlich sind die zeitlichen Zäsuren DDR-spezifisch und daher nicht ganz parallel zu unserer Kulturgeschichte der Bundesrepublik, aber wer wollte, könnte durch diese Anlage die jeweiligen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland vergleichend lesen – und auf diese Weise auch Eigenlogiken und Verflechtungen in ihrer jeweils zeitspezifischen Form nachvollziehen.

In diesen Zusammenhang gehört aber auch drittens eine unsichtbare Struktur, die darin besteht, dass die Auswahl der Themen und ihre Anordnung nicht zufällig sind, sondern in ihrer jeweiligen Bedeutung im zeitlichen Verlauf gründen. So wird zum Beispiel die Geschichte des Films, die theoretisch in jeder der neun Perioden, die der Autor identifiziert hat, eine Rolle spielen müsste, nicht sklavisch abgearbeitet, sondern mal intensiver – nämlich in seiner Relevanz für den spezifischen Zeitabschnitt –, mal weniger intensiv oder gar nicht beleuchtet: In der »Trümmerzeit« steht seine Bedeutung als »Traumfabrik« im Mittelpunkt, in den frühen 1950er Jahren seine Verstaatlichung, ab Mitte des Jahrzehnts rückt er in den Hintergrund zugunsten des Aufstiegs des Fernsehens, dann wieder taucht er nicht unter Populärkultur auf, sondern es werden signifikante Werke der DEFA unter inhaltlichen und ästhetischen Aspekten in den Kapiteln zu den Künsten behandelt. Ähnlich geht es mit Mode, Architektur, den Akademien, der Religiosität, der Sexualität, den Geschlechterverhältnissen usw., durchsetzt von schönen Miniaturen etwa zu Alfred Kurella oder Brigitte Reimann, zum Montagemöbelprogramm MDW, zur »Indianistik« oder zur Geburt der Kulturwissenschaft, die in der DDR lange vor der Bundesrepublik als akademisches Fach etabliert wurde. Alles in allem entsteht so eine ebenso vielfältige wie durchdachte und pointierte Darstellung, die die zeitspezifische Kontur des jeweils Behandelten herausarbeitet und gleichzeitig den Nachvollzug der langen Linie über die Zäsuren hinweg ermöglicht. Glücklicherweise räumt Dietrich dem Geschilderten den nötigen Platz ein, so dass es nicht nur kurz angerissen, sondern ausführlich dargelegt und kontextualisiert wird. Das ist einer der großen Vorteile dieser drei dicken Bände: Mag sein, dass sie weniger prägnant sind als ein kurzer Lehrgang, aber dafür kommt man immer in den Genuss, sich in die Komplexität der Dinge versenken zu können.

Der Autor nimmt sich auch die Zeit, über die Voraussetzungen eines solchen Projekts gründlich nachzudenken, zum Beispiel über die Tragfähigkeit von in der Forschung kursierenden Konzepten in Verbindung mit dem Diktaturbegriff (»Fürsorgediktatur«, »partizipative Diktatur« etc.), die er allesamt für allzu pauschalisierend hält, ohne sie grundsätzlich abzulehnen. Stattdessen untersucht er die Verhältnisse historisch konkret und diskutiert die Brauchbarkeit derartiger Interpretamente, um dann jeweils ihre Berechtigung bzw. Mängel zu benennen. Insbesondere den nach der »Wende« modischen Diktaturenvergleich hält Dietrich mit Lutz Niethammer für fatal, weil durch eine derartige »Großideologisierung« die Lebenserfahrung der DDR-Bürgerinnen und Bürger überhaupt nicht in den Blick geraten sei. Die Stasi-Fixierung »bleibt normativ und teleologisch und zeichnet die DDR als negatives Kontrastbild von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit« (XIII). Grundsätzlich geht Dietrich hingegen von einer Spannung zwischen »dem egalitären sozial-kulturellen System und der autoritären politischen Diktatur« (798) aus, wodurch der Lebenserfahrung der Bürger ein großer Spielraum eingeräumt wird.

30 Jahre post festum ist ein guter Zeitpunkt für einen abständigeren Blick auf die Kulturgeschichte der DDR, eben weil sich Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft gerade auf diesem Terrain so intensiv ausgetobt haben, dass man übergeordnete Zugriffe souveräner abwägen kann und es an empirischen Detailstudien, auf denen eine Synthese fußen könnte, nicht mangelt. Der Verfasser bewegt sich ganz auf der Höhe der zeitgeschichtlichen Forschung – er argumentiert mit Spezialisten wie Martin Sabrow, Thomas Lindenberger, Mary Fulbrook, aber auch Günter Benser, wobei seine wichtigsten Gewährsleute Dietrich Mühlberg für die kulturwissenschaftliche und Wolfgang Engler für die sozialwissenschaftliche Perspektive sind.

Natürlich wirft ein solches Werk auch Fragen auf. Meine erste rührt aus der Perspektive einer bundesdeutschen Kulturgeschichte, denn von dort aus gesehen verwundert der hohe Stellenwert, der der Kulturpolitik zugemessen wird. Vielleicht gerade weil sich die Grundstruktur unserer Bücher stark ähnelt, fällt auf, dass die Spannung zwischen Staat und Gesellschaft bei Dietrich deutlich stärker hervortritt und die Gesamtinterpretation dadurch durchgängig politischer ist. Untersucht wird die DDR als »Kulturstaat« (S. XXff.) in der Tradition des Liberalismus und der Arbeiterbewegung, der seinen ökonomischen Rückstand gegenüber dem Westen durch kulturelle Überlegenheit zu kompensieren versuchte. Entsprechend schließen die drei Bände auch jeweils mit einer »kulturpolitischen Bilanz«. Aus westdeutscher Perspektive würde man diesen Aspekt weniger stark gewichten. Nicht, dass es dort keine Kulturpolitik gegeben hätte, nur war sie sehr viel uneinheitlicher, stärker durch checks and balances geprägt, allein schon dadurch, dass sie Ländersache war, aber auch durch die Parteienvielfalt und die verschiedenen Akteure, die hier jeweils eigene Interessen verfolgten, darunter nicht zuletzt die kommerzielle Kulturindustrie. Dietrich hatte sich vorgenommen, »sich von der dominierenden politischen Geschichtsschreibung zu lösen und die DDR stärker mit kulturwissenschaftlichen und praxeologischen Ansätzen zu untersuchen, um sie ›ambivalenzfähig‹ zu machen« (S. XXVI). Das ist sicherlich weithin gelungen, es stellt sich jedoch die Frage, ob durch die starke Akzentuierung der Kulturpolitik nicht doch unter der Hand das Politische zur determinierenden Kraft geraten ist. Auch wenn natürlich eine unpolitische Kulturgeschichte der DDR ein Ding der Unmöglichkeit ist, so wäre doch immerhin denkbar, zum Beispiel eine Geschichte des Alltags zu schreiben, die stärker von unten, von den Akteuren her gedacht ist und durch Abschwächung der politischen Überdetermination durch Partei und Staat den zivilgesellschaftlichen Stimmen mehr Kraft verliehe und sich damit auch teilweise von diesen Bestimmungskräften emanzipieren könnte.

Zweitens und direkt damit im Zusammenhang stellt sich die methodische Frage, inwieweit die Quellenlage eine derartige Sicht begründen könnte. Mir scheint, dass »im Dietrich« die Kulturpolitik der SED jenen kulturgeschichtlich bestimmenden Platz einnimmt, den Axel Schildt und ich für die Bundesrepublik als gesellschaftliche Basisprozesse eher der Sozialgeschichte zugemessen haben. Wenn die politische Determination eine stärkere Rolle spielte als gesellschaftliche Wandlungsprozesse, dann muss ihr natürlich auch entsprechende Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Frage ist, ob man nicht diese von der SED gewollte Bestimmung forschungspraktisch konterkarieren könnte, wobei sich natürlich die Frage nach den Quellen stellt. Dietrichs Kulturgeschichte bezieht die empirische Sozialforschung der DDR umfassend ein, aber es fällt doch auf, dass sie deutlich weniger üppig sprudelte als im Westen, wo zum Beispiel Daten der Demoskopie und der Konsumforschung in großen Mengen vorliegen. Daher erscheint es für die DDR erheblich schwieriger, kulturgeschichtliche Fragen einigermaßen repräsentativ zu beantworten, zum Beispiel solche nach subjektiven Wertzuschreibungen. Ich stelle mir diese Frage auch vor dem Hintergrund der sehr theoretischen Vorstellung, Dietrich fasste (wie Glaser) eines Tages seine dreibändige Kulturgeschichte in einem Band zusammen, und ein Verlag würde unser beider Bücher gemeinsam im Schuber verkaufen.[6] Würde dann nicht allein schon aufgrund der disparaten Quellensituation der Eindruck einer offenen Gesellschaft West und einer dirigistischen Gesellschaft Ost präformiert?

Und drittens drängt sich eine Frage zur Bewertung des historischen Verlaufs der DDR-Geschichte und hier besonders des Anfangs auf. So einleuchtend es ist, die Geschichte nicht ausschließlich von ihrem Ende her zu betrachten, sondern ihre Offenheit in Rechnung zu stellen und damit den Eigenwert historischer Phasen herauszuarbeiten, so unerlässlich ist es doch auch, Anlagen für die spätere Entwicklung in früheren Phasen zu identifizieren. Und da hebt Dietrich für die frühen Jahre vor der Stalinisierung den Aspekt der »Offenheit und Pluralität« hervor, der auch auf manchen Feldern beschrieben wird – etwa anhand des Kabarettbooms, der Existenz einer unabhängigen Zeitschrift wie »Ost und West« oder der Entstehung einer »Ostmoderne« in Architektur und Städtebau. Andererseits wird Dietrich Staritz zugestimmt, der konstatierte, die Politik der Sowjetischen Militäradministration, die KPD zu bevorzugen und die Sozialdemokraten durch die Einheitspartei zu schwächen, habe »der politischen Pluralität in Ostdeutschland sehr früh sehr enge Grenzen« gesetzt (S. 73). Gerade angesichts der großen Bedeutung, die der von der SED bestimmten Kulturpolitik beigemessen wird, leuchtet daher der übergeordneten Befund nicht unbedingt ein.

Wenn Schildt und mir »Westbindung« vorgeworfen wurde, dann war das nicht auf unsere Herkunft bezogen. Bei Gerd Dietrich spielt die Herkunft in der Regel eine zentrale Rolle bei der Bewertung seines Buches. Dass der Autor in der DDR sozialisiert wurde und gearbeitet hat, scheint mir in erster Linie ein Vorteil zu sein, denn die Verbindung der professionellen Distanz des Historikers zu seinem Gegenstand mit einem sozialisationsbedingten Sensorium für die Problemlagen ist hier auf das Fruchtbarste gelungen. Doch oftmals wird in den bislang erschienenen Besprechungen die Sozialisation des Verfassers als potenziell problematisch betrachtet, ein Rezensent bezeichnete das Werk gar als »Verteidigungsschrift«.[7] Und Ilko-Sascha Kowalczuk muss sich doch sehr wundern, dass hier »die Produkte der Zeitgeschichtsschreibung aus der DDR […] kommentarlos als wissenschaftliche Referenzwerke verwendet werden«.[8] Was doch eigentlich nur dafür spricht, dass die Forschung in der DDR nicht über einen Kamm geschoren werden kann – ebenso wenig wie der Staat oder seine Kultur an sich. Entscheidend für die Qualität sind immer noch die Komplexität der Darstellung und Deutungskraft der Analyse. Wenn Gerd Dietrich ein wenig dazu beigetragen hat, auch auf diesem Gebiet die üblichen Etikettierungen zu überwinden, wäre das nur zu begrüßen. Und in Wirklichkeit zerschellt ja doch alle Kritik im Detail an dem Massiv überlegener historiografischer Synthese, an dem großen Buch, das Gerd Dietrich vorgelegt hat und das noch für viele Jahre Bestand haben wird. Es ist wichtig, dass der Verfasser dabei den Anspruch des Historikers auf Objektivität aufrechterhält, auch wenn natürlich jeder und jede weiß, dass es sie niemals ganz geben kann. Erfrischenderweise wird er in gewisser Weise auch gleich wieder geschichtsphilosophisch relativiert dadurch, dass der Autor auf dem emanzipatorischen Potenzial von Kultur insistiert. Denn sie, so sieht er es mit Walter Benjamin, generiere Mut, Zuversicht und List, die »immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage« stellte. »Das galt und gilt selbstredend für die Herrschenden in der DDR«, so der Verfasser, »aber auch für die in der alten wie der neuen Bundesrepublik.«. (S. XLII)

 

[1]Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009.

[2]Ralf Hanselle, Viel Hüben und wenig Drüben, in: Das Parlament, 12./19.10.2009, S. 14.

[3]Hermann Glaser, »Coole« Kulturgeschichte, in: Deutschland-Archiv, 2/2010, S. 358–359.

[4]Hermann Glaser, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1: Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945–1948, München 1985; Bd. 2: Zwischen Grundgesetz und Großer Koalition 1949–1967, München 1986; Bd. 3: Zwischen Protest und Anpassung 1968–1989, München 1989.

[5]Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, München 2008, S. 361.

[6] So hatte es einer der Rezensenten 2009 imaginiert: Hanselle, Viel Hüben und wenig Drüben.

[7]Frank Hoffmann, Rezension zu: Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, Göttingen 2018, in: sehepunkte 19, 2019, Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/2019/04/32287.html> [14.8.2019].

[8]Ilko-Sascha Kowalczuk, Rezension zu: Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, Göttingen 2018 , in: H-Soz-Kult, 19.12.2018, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-29923> [15.7.2019].

Zitierempfehlung:

Detlef Siegfried: Rezension von: Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR, Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945–1957; Band II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957–1976; Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977–1990, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 59, 2019, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81905> [9.10.2019].

Scott H. Krause, Bringing Cold War Democracy to West Berlin. A Shared German-American Project, 1940–1972

Rezension zu Scott H. Krause, Bringing Cold War Democracy to West Berlin. A Shared German-American Project, 1940–1972, Routledge, London/New York 2019, X + 284 pp., hardcover, 105.00 £, ISBN 978-1-138-29985-6

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Over the past four decades, if not before, network theory has been an influential approach in sociological research with a predominant focus on quantification. Business sociology provides a good example. Looking at management and supervisory boards of companies, the task was to identify which key people of major corporations also had seats on the boards of other companies and thus to establish the connections between them. What was to be reconstructed were the ties between them and to plot them graphically as often highly complex structures of two- or even three-dimensional networks. It did not take long for network theory to attract historians, but from the start they were more interested in the qualitative aspects of ties between individual actors, and instead of studying business networks, they also turned to political and cultural ones. The aim was to examine the interactions of individuals involved in a particular network and to tease out the quality of relationships as well as mutual perceptions. This was perhaps less rigorous, but it certainly opened a window to a world of ties that were different from the older research on the history of »circles«, such as the George-Kreis, that tended to be exclusive and inward-looking.

Scott Krause has made network theory his starting-point, but as a historian decided to work with Peter M. Haas’s notion of epistemic communities, marked by a »shared set of normative and principled beliefs which provide a value-based rationale for social action«. (p. 8) His epistemic community gathered in West Berlin, and he traces, as a first step, its »experiences of the fight against National Socialism, exile, and disillusionment with Soviet-style Communism«. This, he argues, constituted the set of convictions that the German members of the Berlin network shared despite their different backgrounds. No less important, Krause introduces a second group, i.e., the remigrés who, together with the first group, created the »common policy enterprise of portraying Berlin’s western sectors as the showcase of Cold War Democracy« against »totalitarianism«.

Krause believes that »discovering and examining this network of propagandists of ›freedom‹« will allow him first of all to add »nuance to the conception of democratization as a distinct transfer of cultural attitudes from a newly minted superpower to a shattered society through the translation of cultural concepts by remigrés. Secondly, he highlights »the challenges the political left encountered in postwar Germany and the extent to which American officials contributed to the restructuring of an anti-Communist Left in Germany.«

If this is the conceptual framework that Krause puts forward, what is the empirical backup that he provides for his examination of such major political figures as Ernst Reuter, the governing mayor of Berlin, and Willy Brandt, his successor on the German side, and, on the American side, Shepard Stone, the Public Affairs director under US High Commissioner John McCloy, the American journalists around the RIAS radio station, or Hans Hirschfeld, who returned from New York to West Berlin as Reuter’s public relations manager. The author shows how they became members of a network with a political agenda of fostering West Berlin’s international position as an »outpost of freedom«.

The book starts with a depressing account of Berlin at the end of the war, devastated by bombing and fierce street fighting. Early visitors to the city had conflicted reactions to the city, once the hub of Weimar culture, but after 1933 the nerve center of a brutal dictatorship that had planned and unleashed a world war and the murder of millions of Jews and other minorities in the Holocaust. The contrast is perhaps best summed up by a quote from John J. Maginnis, a US general, who remarked in November 1945: »I could sit in my office and say with conviction that these Germans, who had caused so much harm and destruction in the world, had some suffering coming to them, but out here in the Grunewald, talking with people individually, I was saddened by their plight. It was the difference between generalizing on a faceless crowd and looking into one human face.«

Krause then moves swiftly from the city’s history in 1945/46 to the escalating crisis of 1947/48 when East-West tensions mounted and the Cold War began in the middle of Berlin. However, before dealing with the Berlin Blockade and the role of Ernst Reuter, he takes the reader across the Atlantic to discuss the »origins of the Outpost network« in New York between 1933 and 1949. Here, he introduces two refugees from Nazi Germany as the linchpins of this particular network, Paul Hertz and Hans Hirschfeld. Before 1933, the latter had been charged with coordinating the media relations of the Social Democratic Prussian government, but his career ended abruptly in the summer of 1932 in the wake of Reich chancellor Franz von Papen’s Preussenschlag. Having escaped to the United States, Hirschfeld became quite frustrated with the passivity of the American population toward the Nazi threat. But the New York intellectual milieu also enabled the formation of strong ties, guiding the refugees towards a »new esteem for liberal democracy and the renunciation of Soviet Communism«, transforming »an initially anti-fascist consensus into an anti-totalitarian« one.

In the meantime and after several bureaucratic delays, Ernst Reuter had returned to Berlin with his family from his Turkish exile in November 1946. Trying to establish himself politically in Berlin, he promoted his notion of freiheitlicher Sozialismus. This was »the conviction of sharing fundamental political ideals of liberal democracy [that now] facilitated the formation of the Outpost network that linked returned Social Democrats and American officials«, posted in West Berlin. Enter Shepard Stone and his wife Charlotte who had become close friends of the Hirschfelds in New York. After the war, this particular »network reconstituted itself in Berlin, where it incorporated new German and American members and successfully couched its political aspirations within the narrative of the Outpost of Freedom in the opening Cold War.«

It was Paul Hertz and Stone who persuaded an initially reluctant Hirschfeld to return to Germany. But it was Reuter’s return that paved the road to Berlin for a number of other members of the network, among them Willy Brandt who with is Norwegian passport became the press attaché with the Norwegian Military Mission before he decided to reacquire German citizenship. Another important network figure was the US Army Major Karl F. Mautner. Hailing from Vienna, his family had moved to Hungary in 1938 whence he emigrated to the United States, while his parents stayed behind and in 1944 perished in the Nazi Holocaust. What was remarkable about him and others who had lost family in camps is that they were prepared to set aside their bitter memories about the past and to commit themselves to the rebuilding of Berlin under Reuter’s leadership.

What greatly reinforced the ties among them was the imposition by Stalin of the Berlin Blockade in June 1948 whose success was thwarted by Washington and London when they ordered their air forces to fly close to 278,000 missions to Tempelhof with a total freight of 2.3 million tons of food and other vital supplies for Berlin’s embattled inhabitants. When Stalin abandoned the Blockade in September 1949, he had helped not only to forge a strong sense of Berlin’s position as an »outpost of freedom« inside the Soviet Bloc, but also to create solidarities with the American public that made it possible for the city to weather the next three crises in 1953. First there was McCarthy’s anti-Communist witch hunt which put individuals like Stone and institutions, such as the Berlin Amerikahaus, under a cloud. In June followed the uprising of workers against the Ulbricht regime in East Germany that was brutally suppressed by Soviet tanks. Finally, there was the death of Reuter on 29 September 1953 which slowly opened the way for the rise of Brandt to the position of Governing Mayor. In 1962, he and his American network were confronted with the next dangerous crisis when Ulbricht decided to stop the free movement of Berliners between the four Allied sectors and to build the Wall right through the middle of the city.

Krause subsequently provides many valuable details and insights into Brandt’s policies and the hostility he faced from Konrad Adenauer’s Christian Democratic Party and into the origins of his Ostpolitik and reconciliation with West Germany’s eastern neighbors. The other illuminating chapter is the story of the RIAS radio station and the networks of American and German journalists who broadcast Berlin’s position as the Outpost of Freedom around Europe.

Overall Krause’s book may not offer anything that was not known before in broad outline. But his network approach makes it possible for him focus not only on the top decision-makers but also on the second layer of experts and network specialist without whom the policies at the top cannot be understood. It is a deeply researched book that makes it a worthwhile and illuminating read.

Volker Berghahn,New York

Zitierempfehlung:

Volker Berghahn: Review of: Scott H. Krause, Bringing Cold War Democracy to West Berlin. A Shared-German American Project, 1940–1972, Routledge, London/New York 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 59, 2019, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81902> [9.10.2019].

 

Axel Schildt/Wolfgang Schmidt (Hrsg.), »Wir wollen mehr Demokratie wagen«. Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens (Willy-Brandt-Studien, Bd. 6)

 

Rezension zu Axel Schildt/Wolfgang Schmidt (Hrsg.), »Wir wollen mehr Demokratie wagen«. Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens (Willy-Brandt-Studien, Bd. 6), Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2019, 296 S., brosch., 32,00 €, ISBN 978-3-8012-0549-2

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Willy Brandts Satz zu mehr Demokratie in seiner ersten Regierungserklärung als Kanzler 1969 hat sich längst von der konkreten Situation emanzipiert und ist zum scheinbar alles erklärenden Stichwort für den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler der Bundesrepublik geworden, parallel zu seinem bildlich festgehaltenen Kniefall ein Jahr später in Warschau. »Zeitworte« nennt Martin Sabrow das einleitend, wenn er generell für die Zeitgeschichte eine solche Loslösung von der zitierfähigen Erstnutzung herausarbeitet, so wie es in anderen Medien mit »Schlagbildern« geschildert und erörtert worden ist. Dieses Überstrapazieren des Begriffs »mehr Demokratie wagen« gibt auch einigen Autorinnen und Autoren des Bandes selbst zu denken, die dann doch gerade diesen Differenzierungsprozess angehen und leisten.

Hier jedoch werden in 14 Fallbeispielen Kontexte erarbeitet, welche gerade den Demokratieanspruch mit der politischen, sozialen und nicht zuletzt intellektuellen Realität konfrontieren. Hierbei hat Brandt, die SPD, die diversen linken sozialen Bewegungen zwar einen angemessenen Schwerpunkt, jedoch sucht der Band tendenziell mehrere Jahrzehnte bundesrepublikanischer Geschichte in den Blick zu nehmen. Vier Beiträge widmen sich der Entwicklung bis 1969. So spürt Kristina Meyer dem sozialdemokratischen Demokratiepostulat gerade im Hinblick auf den Umgang mit der NS-Zeit nach, findet viele Defizite, plädiert dennoch für Nachsicht. Links- oder auch rechtsintellektuellen, nicht konformen Sehnsuchtsorten spürt Alexander Gallus nach, und sieht bei einigen Linken eine Projektion auf Willy Brandts Formel, der Liberal-Konservative eher skeptisch gegenüberstanden. Ideengeschichtlich sucht Jens Hacke den Demokratisierungsappell Brandts als »dynamischen und offenen, tendenziell unabschließbaren Prozess« zu umreißen. Was hier als Möglichkeit der Planung schon anklang, führt Elke Seefried konkret am Regierungshandeln der Jahre ab 1969 aus, indem sie schlüssig den latenten Widerspruch von (autoritativer) Planung von oben und Demokratisierung hervorhebt. Bei Detlef Siegfried sind es die schon seit den 1950er-Jahren entwickelten und in der APO wirksamen Thesen von partizipatorischer Demokratie (Johannes Agnoli u.a.), die dann immerhin zum Teil von Brandts werbendem Appell integriert werden konnten.

Fünf Beiträge (Seefrieds Beitrag zur Planung wurde schon erwähnt) widmen sich der Umsetzung in der Zeit bis 1974. Innerparteilich wurde zwar viel an neuem Engagement mobilisiert – so Dietmar Süß –, jedoch führte dies vielfach in der konkreten Debattenkultur und politischen Umsetzung zu Enttäuschungen. Er spricht von »überzogenen Erwartungen, ideologischer Abschottung, jugendlich-männlicher Überheblichkeit«, der er Beharrungskräfte des Parteiestablishments gegenüberstellt. Knud Andresen geht es um die Mobilisierung der Jugend, zumal der Gewerkschaften (Jugendzentren); Alexandra Jaeger widmet sich der Umsetzung des von ihr »Radikalenbeschluss« genannten Erlasses in der Hamburger SPD (Brandt hatte diesen von Anfang an voll mitgetragen) und schließlich ermittelt Daniela Münkel die von der DDR-Führung zunächst wahrgenommenen Chancen, die dann bei Brandts auch dort populär erscheinendem Aufbruch destabilisierend wirken konnten. Alle diese Beiträge zeichnet ein verständnisvoller, aber kritischer Umgang mit einem so einfach scheinenden Demokratieaufbruch dar.

Von konservativer Seite gab es in der BRD bei der CDU große ideologische Vorbehalte gegenüber einer Demokratisierung nicht nur des Staates, sondern der Gesellschaft, wie Martina Steber in einem überblicksartigen Essay zum Vergleich mit den britischen Entwicklungen hin zum Thatcherismus zeigt. Doch da sind wir schon in den 1980er-Jahren. Neben diesem BRD-britischen Vergleich finden sich zwei analoge zu Frankreich und den USA. Während Hélène Miard-Delacroix behutsam Ähnlichkeiten aufzeigt, jedoch den großen Unterschied zur französischen planification hervorhebt, die erst unter Valéry Giscard d’Estaing ab 1974 vergleichsweise Reformen auslösen konnten, provoziert Philipp Gassert mit einer positiven Parallele Nixon-Brandt: Während ersterer mit radikal anti-linker Rhetorik glänzte und sich somit ganz anders positionierte, wiesen die US-Sozialreformen jener Jahre für Gassert doch manche Parallelen zur konkreten Brandtschen Reformpolitik auf.

Noch weiter von Brandt entfernen sich die aufschlussreichen Beiträge zur internationalen Dimension von Demokratisierung. Es ist schon früher gezeigt worden, dass Entwicklungspolitik unter Kanzler Brandt noch nicht im Vordergrund stand; Bernd Rother weist aber für die späteren Jahre in der Sozialistischen Internationale nach, dass Demokratie im westlichen Sinne angesichts der Konkurrenz zu kommunistischen Bemühungen kein allein entscheidendes Kriterium war. Diesen Befund unterstreicht Frank Bösch nochmals, allerdings vornehmlich für die Zeit nach der Regierung Brandt: Demokratie und Menschenrechte spielten in unterschiedlichen Weltgegenden – Lateinamerika, Ostasien u.a. – für alle bundesdeutschen Regierungen eine untergeordnete Rolle gegenüber anderen Interessen. Hier zeigt sich – und das sollte man wohl weiter befragen –, dass innergesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und entsprechende Politik per se im internationalen Staatensystem ganz andere Austarierungen erforderten als politische Werte wie Demokratie und Menschenrechte.

Doch insgesamt gilt für den ganzen Band, dass hier eine mittlere Forschergeneration, die zum Teil jahrelang einschlägig geforscht hat, das Leitwort des »Demokratie-Wagens« in Theorie und Praxis kontextualisiert und dabei zwar viel Luft aus dem Begriff herauslässt, dafür aber beachtenswerte neue Sichtachsen und Erkenntnisse gewinnt. Der Verlag kündigt den Band als Beitrag zum 50-jährigen Jubiläum von Brandts Regierungsantritt an – genau eine solche Jubelschrift ist er jedoch glücklicherweise nicht geworden. Er ging vielmehr aus einer Tagung von 2017 hervor, die von Axel Schildt maßgeblich geprägt worden war. Leider starb Schildt kürzlich, so dass er zwar die von ihm mit Wolfgang Schmidt verfasste Einleitung noch mitgestalten konnte, das Erscheinen des Bandes aber nicht mehr erlebte. So ist unter der Hand »Wir wollen mehr Demokratie wagen« zu einem Kabinettstück vielfältiger kritischer Zeitgeschichtsschreibung in Deutschland geworden, für die gerade Axel Schildt über Jahrzehnte maßgeblich als Autor und Anreger tätig gewesen ist: fast schon eine – unbeabsichtigte – erste Gedenkschrift.

Jost Dülffer,Köln

Zitierempfehlung:

Jost Dülffer: Rezension von: Axel Schildt/Wolfgang Schmidt (Hrsg.): »Wir wollen mehr Demokratie wagen«. Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens (Willy-Brandt-Studien, Bd. 6), Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2019, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 59, 2019, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81907> [9.10.2019].

 

Cédric Hugrée/Etienne Penissat/Alexis Spire (Hrsg.), Les classes sociales en Europe. Tableau des nouvelles inégalités sur le vieux continent

Rezension zu Cédric Hugrée/Etienne Penissat/Alexis Spire (Hrsg.), Les classes sociales en Europe. Tableau des nouvelles inégalités sur le vieux continent, Éditions Agone, Marseille 2017, 272 S., brosch., 19,00 €, ISBN 978-2-74-890333-1

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Dieses Buch möchte soziale Klassen wieder zum Thema wissenschaftlicher Forschung machen, nachdem es in den vergangenen Jahrzehnten in den Hintergrund getreten ist. Dabei geht es den Autoren nicht primär um eine Weiterentwicklung von theoretischen Konzepten der sozialen Klassen, sondern um eine Nutzung des Konzepts für die empirische Forschung. Sie haben dabei zwei Ambitionen: Sie möchten erstens erreichen, dass in der Forschung zur sozialen Ungleichheit nicht mehr nur Ungleichheit zwischen Individuen, sondern auch Ungleichheit zwischen den heutigen sozialen Klassen untersucht wird. Sie arbeiten mit einem Konzept von drei sozialen Klassen, Unterschicht (classes populaires), Mittelschicht (classes intermédiaires) und Oberschicht (classes supérieures). Dabei legen die Autoren ein breites Verständnis von sozialer Ungleichheit zugrunde. Sie untersuchen nicht nur, wie die meisten der jüngsten ökonomischen Untersuchungen hierzu, Einkommens- und Vermögensunterschiede, sondern auch Arbeitsbedingungen, Bildung, Wohnen und Lebensweisen sowie Ungleichheiten zwischen Geschlechtern und Generationen, unter anderem um die Möglichkeiten einer neuen sozialen Bewegung zu eruieren. Die zweite, besonders originelle Ambition: Das Buch möchte zudem die Unterschiede zwischen den sozialen Klassen nicht im nationalen Rahmen, sondern in der ganzen Europäischen Union untersuchen. Dieser Versuch ist in der gegenwärtigen Soziologie selten. Die Autoren stützen sich dafür vor allem auf Daten des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat), über Arbeitskräfte (Labour Force System), über Arbeits- und Lebensbedingungen (EU-SILC), über Weiterbildung (Adult Education Survey) und auf Daten der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound). Diese Daten werden teils schon seit den 1980er-Jahren, teils aber erst seit wenigen Jahren erhoben. Das Buch beschränkt sich deshalb auf die Gegenwart und verfolgt den längeren historischen Wandel nicht. Wenn Eurostat seine Kategorien beibehält, dürfte die Auswertung dieser europäischen Daten zukünftig auch für Historikerinnen und Historiker von großem Interesse sein.

Das Buch der Soziologen des »Centre national de la recherche scientifique« enthält eine ganze Reihe beachtenswerter Resultate. Davon seien drei erwähnt: Es ist nicht gänzlich überraschend, aber aus Sicht eines Historikers des 19. und 20. Jahrhunderts doch bemerkenswert, dass die Unterschicht in der Europäischen Union weniger als die Hälfte der Bevölkerung (in den Großstädten noch weniger), die Mittelschicht ungefähr ein Drittel, und die Oberschicht ungefähr ein Fünftel der aktiven Bevölkerung (in den Großstädten noch mehr) umfasst, also die Unterschicht deutlich schmaler und die Oberschicht deutlich breiter ist als im Europa des 19. und auch noch der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Autoren zeigen darüber hinaus in origineller Weise, dass die Oberschicht nicht überall in Europa gleich breit ist, im westlichen Europa, darunter Großbritannien, Frankreich, Deutschland, aber auch im heutigen Polen deutlich breiter ist als anderswo in Europa. Dagegen ist die Unterschicht im südlichen Europa und auch meist im östlichen Europa umfangreicher als im europäischen Durchschnitt. Die Autoren betonen auch, dass diese drei Klassen keineswegs homogen sind. Die wichtigste Trennlinie in der Unterschicht sehen sie in wachsender Lohnabhängigkeit im Westen, dagegen im Anwachsen von kleinen Selbständigen im Süden und Osten Europas. Zentrale Spaltungslinien in der Mittelschicht liegen für sie zwischen stabiler Staatsbeschäftigung und instabilerer privater Beschäftigung. Die wichtigste und zunehmende Abgrenzung innerhalb der Oberschicht entsteht für sie durch die Gegensätze zwischen reichen Managern und den von prekärer Situation bedrohten kulturellen und intellektuellen Berufen der Oberschicht. Schließlich stellen die Autoren auch spürbare Unterschiede der sozialen Lage heraus zwischen den relativ abgesicherten Unterschichten des Nordens und den stärker von Prekarität und internationaler Konkurrenz bedrohter Unterschichten des Südens, auch Frankreichs. Sie sehen in den Sparzwängen der Europäischen Zentralbank und dem Abbau staatlicher sozialer Sicherung einen wesentlichen Grund für diese Divergenz innerhalb der Europäischen Union. Die Stärke des Buches liegt vor allem in solchen europäischen Vergleichen.

Die Grundintention, soziale Klassen in der Europäischen Union zu untersuchen, wird in dem Buch allerdings nicht vollständig eingelöst. Die Wahl der drei Klassen und die Zuordnung von Berufsgruppen wird nicht genügend erläutert. Jedenfalls geht es nicht nur um soziale Hierarchien. Die Unterschichten nehmen zwar in dieser Darstellung durchweg die unteren sozialen Ränge ein, aber die Mittelschichten und die Oberschichten stehen, so entnimmt man dem Buch (S. 223), zu einem erheblichen Teil in der sozialen Hierarchie nebeneinander. Zudem werden zwar die Divergenzen innerhalb der drei sozialen Klassen gut ausgeleuchtet, aber was diese sozialen Klassen zusammenhält, welche Verflechtungen, welche gemeinsamen Erfahrungen, welche gemeinsamen sozialen Konflikte und politische Repräsentationen bestehen, bleibt zu wenig untersucht. Trotz neuartiger Ergebnisse überzeugt das Buch nicht darin, dass man die soziale Ungleichheit in der Europäischen Union nur als Ungleichheit zwischen diesen drei sozialen Klassen untersuchen kann.

Hartmut Kaelble,Berlin

Zitierempfehlung:

Hartmut Kaelble: Rezension von: Cédric Hugrée/Etienne Penissat/Alexis Spire (Hrsg.), Les classes sociales en Europe. Tableau des nouvelles inégalités sur le vieux continent, Éditions Agone, Marseille 2017, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 59, 2019, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81908> [9.10.2019].

 

Andrew L. Johns/Mitchell B. Lerner (Hrsg.), The Cold War at Home and Abroad. Domestic Politics and US Foreign Policy since 1945, University Press of Kentucky

Rezension zu Andrew L. Johns/Mitchell B. Lerner (Hrsg.), The Cold War at Home and Abroad. Domestic Politics and US Foreign Policy since 1945, University Press of Kentucky, Lexington 2018, vi + 332 S., geb., 60,00 $, ISBN 978-0-813-17573-7

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Charlie Wilson hatte es leicht als Abgeordneter. Fast zweieinhalb Jahrzehnte lang vertrat der Demokrat den zweiten Kongressdistrikt von Texas in Washington. Schenkt man der filmischen Stilisierung von Wilsons bewegtem Leben Glauben, so konnte sich der schillernde Politiker deshalb ungestört dem Afghanistankrieg widmen, weil seine Wählerinnen und Wähler vergleichsweise anspruchslos waren: Der von Tom Hanks kongenial verkörperte Wilson musste seinem Elektorat nur dessen Waffenbesitz garantieren und es ansonsten in Ruhe lassen. Das Bedingungsgeflecht, das Innen- und Außenpolitik während des Kalten Kriegs bildete, war freilich nicht immer so geschmeidig zu entwirren. Die Autorinnen und Autoren des von Andrew Johns und Mitchell Lerner herausgegebenen Sammelbands haben sich vorgenommen, mithilfe eines methodisch modernisierten Ansatzes der Politikgeschichte die Wechselbeziehung zwischen der nationalen und der internationalen Arena in der Ära der Blockkonfrontation zu beleuchten.

Wie schmal der Grat zwischen Information und Propaganda in einer Demokratie ist, exemplifiziert Autumn Lass anhand des im US-Außenministerium angesiedelten »Office of Public Affairs«. Diese Einrichtung sollte Fakten eigentlich wirklichkeitsgetreu verbreiten, konnte jedoch der Versuchung nicht widerstehen, selbst Fakten in die Welt zu setzen, um einer in den späten 1940er-Jahren zunächst skeptischen Öffentlichkeit die Notwendigkeit einer offensiven Strategie im Kalten Krieg näherzubringen. Information und Indoktrination waren demnach zwei Seiten derselben Medaille. Dies gilt nicht zuletzt für den Vietnamkrieg. David L. Prentice zeichnet die politische Karriere des Abgeordneten Melvin Laird nach, der als »political attack dog« (S. 37) Präsident Lyndon B. Johnson zusetzte, gleichzeitig aber als Repräsentant eines pragmatischen Republikanismus des Mittleren Westens etwa die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung nicht kategorisch abwies. Laird sprach sich gegen einen Einsatz von Bodentruppen in Indochina aus, forderte stattdessen ein massives Bombardement, um amerikanischen Soldaten einen blutigen Opfergang zu ersparen. Einen Verhandlungsfrieden lehnte er strikt ab. Später gab er einer revisionistischen Lesart des Vietnamkonflikts Nahrung, indem der die zögerliche Haltung des Kongresses für die ausbleibenden Erfolge auf dem Schlachtfeld verantwortlich machte. So aufschlussreich Prentice’ Studie in Bezug auf Lairds Metamorphose vom Falken zum Pessimisten ist, so wenig erhellt aus ihr die dem Sammelband leitmotivisch vorangestellte »Tocqueville Oscillation« (Walt Rostow) zwischen Innen- und Außenpolitik. Ganz anders indes bei Chrisopher Foss: Sein Aufsatz analysiert am Beispiel Henry »Scoop« Jacksons überzeugend die Wechselwirkung beider Politikfelder. Jackson vertrat über Jahrzehnte hinweg hartnäckig die Interessen des Staates Washington auf Bundesebene. So gelang es ihm, Bundesgelder für Militäreinrichtungen und Nuklearanlagen in den pazifischen Nordwesten zu lenken, selbst wenn der Kongress eigentlich zu Sparrunden ansetzte. Neben einem »brash display of nuclear cheerleading« (S. 70) blieb auch sein Lobbying zugunsten des Flugzeugkonzerns Boeing im Gedächtnis und trug ihm 1970 den ersten Platz im parlamentarischen Subventionsranking ein. Bittere Ironie: Selbst die Beseitigung der nuklearen Hinterlassenschaften in Hanford sicherte Jobs. Liberale schätzten Jackson als Kümmerer, Konservative hoben seine sicherheitspolitische Kompromisslosigkeit hervor. Allerdings hegte Jackson früh Sympathien für China, und als sich das Land unter Deng Xiaoping zu öffnen begann, verstand es der gewiefte Senator, zuvörderst seinen Heimatstaat Washington vom sich belebenden transpazifischen Handel profitieren zu lassen. Industrie-, Forschungs- und Sicherheitspolitik gingen Hand in Hand.

Daniel G. Hummel bringt in seinem ebenfalls überzeugend recherchierten Aufsatz die Religion ins Spiel. Er veranschaulicht die Bemühungen Marc Tanenbaums, mit Billy Graham einen der einflussreichsten Evangelikalen für eine proisraelische Allianz zu gewinnen und damit gleichzeitig den interreligiösen Dialog zu fördern. Als Anhänger der prämillenarisch-dispensationalistischen Eschatologie wahrte Graham theologisch Distanz zu antijüdischen Strömungen des Evangelikalismus und eignete sich so im Besonderen als Brückenbauer. Der Sechstagekrieg 1967 sowie Grahams Unterstützung für den später in Ungnade gefallenen Präsidenten Richard Nixon stellten die neue Allianz auf eine schwere Belastungsprobe. Hummel zeigt, wie sich Graham seit Mitte der 1970er-Jahre vom Nahostkonflikt abwandte, zumal er den Aufstieg der religiösen Rechten mit ihrer genuin politisch-kulturkämpferischen Agenda kritisch beäugte.

Henry R. Maar und Tizoc Chavez befassen sich intensiver mit Nixon, wobei Chavez das eindringlichere Porträt gelingt, indem er Nixons medial brillant inszenierte Reisen in das ›Reich der Mitte‹ und nach Moskau als Ausfluss einer »storybook presidency« (S. 148) charakterisiert. Die ebenso knappen wie traumatischen Niederlagen bei den Präsidentschafts- und Gouverneurswahlen 1960 bzw. 1962 hatten Nixon in der Auffassung bestärkt, dass der medialen Begleitmusik mindestens derselbe Stellenwert beizumessen sei wie der politischen Substanz. Dass ausgerechnet der linkische und introvertierte Republikaner auf die Macht des Fernsehens und die Dynamik der Gesprächsdiplomatie setzte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Und so öffnete der ehedem »coldest of cold warriors« (S. 154) 1972 die Türen zur Volksrepublik China, was einer sicherheitspolitischen Revolution gleichkam und obendrein von den ökonomischen Turbulenzen zuhause ablenkte, welche die Gewissheiten von Bretton Woods zum Einsturz brachten. Es nimmt daher nicht wunder, dass Nixons Chinareise John Adams zu einer raffinierten Oper inspirierte, die einen angestammten Platz im Repertoire der Moderne reklamieren kann.

Hideaki Kami und Amanda C. Demmer führen am Beispiel der Exilkubaner bzw. -vietnamesen vor Augen, wie der elitäre Zirkel des außenpolitischen Establishments von Graswurzellobbyisten auf Trab gehalten werden kann. Demmer erläutert differenziert die Aktivitäten der »Families of Vietnamese Political Prisoners Association« (FVPPA), die sich beharrlich für die Freilassung der nach 1975 in Umerziehungslagern internierten Regimegegner engagierte. Dabei stieß die Organisation in den USA anfangs auf ein gerüttelt Maß an Desinteresse, das erst überwunden zu werden vermochte, als das Schicksal der Kriegsgefangenen, Vermissten und der »Amerasians« zu einem Trumpf im Verhandlungspoker auf dem Weg zu einer Normalisierung der vietnamesisch-amerikanischen Beziehungen avancierte. In die Karten spielte der FVPPA außerdem die Renaissance der Familienwerte in der Rhetorik Ronald Reagans. Der auf einem dichten Netzwerk basierende Informationsvorsprung verschaffte der FVPPA einen Einfluss, der in keinem Verhältnis zu ihrer Mitgliederzahl und finanziellen Potenz stand und dem auch von der Populärkultur aufgeholfen wurde, als mit dem Film »Rambo II« 1985 die Auseinandersetzung mit dem Vietnamdesaster in eine neue Phase trat. Da eine forsche Menschenrechtspolitik darüber hinaus sowohl bei der Rechten als auch der Linken auf Anklang stieß, floss die Agenda der FVPPA reibungslos in die Verhandlungen zwischen Washington und Hanoi ein, die schließlich 1995 zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen führten.

Michael Brenes legt den Finger in die Wunde der politischen Ökonomie im Kalten Krieg. Die Aufrüstung unter Präsident Reagan habe die Kluft zwischen den Schichten vertieft, da vorwiegend Hochqualifizierte von elaborierten Rüstungsprogrammen profitierten, während die sogenannte Friedensdividende nach 1989 viele Arbeiter in Form von Jobverlust und Statusängsten erreichte. Brenes hebt präzise den Widerspruch zwischen den »mantras of self-reliance« (S. 250) und der Expansion des fiskalisch-militärischen Komplexes hervor: Gerade jene zu den Republikaner neigenden Profiteure der Aufrüstung machten vehement Front gegen eine als zu hoch empfundene Steuerlast, während die Protagonisten der Kampagne für nukleare Abrüstung liberale Argumente effizienten Haushaltens bemühten, um ihren Wirkungskreis über eine linke Kernklientel hinaus zu erweitern.

Die Aufsätze bieten insgesamt – bei Abstrichen im Einzelnen – einen facettenreichen Einblick in die Wechselwirkung innen- und außenpolitischer Systeme. Begrifflich geschärft worden wären die Beiträge durch eine Berücksichtigung der Theorien der internationalen Beziehungen. Auch wenn die Weltgesellschaft noch immer Utopie ist, bieten konstruktivistische Ansätze überzeugende Plädoyers für die Annahme, dass wachsende Interdependenzen Fragmente einer Gesellschaftswelt freilegen. Lerner lenkt am Ende selbst das Augenmerk auf die zwiespältigen Ausprägungen der »social media explosion« (S. 294), deren Folgen wiederum Bernard Harcourt unlängst in einer zwischen Brot und Spielen angesiedelten Strategie der total information awareness kulminieren sah, die auch in der Außenpolitik tagtäglich tiefe Spuren hinterlässt.

Gerhard Altmann,Korb

 

Zitierempfehlung:

Gerhard Altmann: Rezension von: Andrew L. Johns/Mitchell B. Lerner (Hrsg.), The Cold War at Home and Abroad. Domestic Politics and US Foreign Policy since 1945, University Press of Kentucky, Lexington 2018, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 59, 2019, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81903> [9.10.2019].

 

Heinz Weiss, Otto Felix Kanitz. Vom jüdischen Klosterschüler zum Top-Roten der Zwischenkriegszeit

Rezension zu  Heinz Weiss, Otto Felix Kanitz. Vom jüdischen Klosterschüler zum Top-Roten der Zwischenkriegszeit, Echomedia Buchverlag, Wien 2016, 239 S., geb., 24,90 €, ISBN 978-3-903113-14-5

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Otto Felix Kanitz (1894–1940) gehörte zu den bekanntesten Pädagogen der Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg. Zugleich sind biografische oder sich mit seinem Werk befassende Arbeiten bislang rar. Mit dem vorliegenden Band bietet Heinz Weiss einige Elemente einer eher journalistisch-publizistischen Biografie, mit vielen Zitaten, Textauszügen und Bildern. Ohne Not etwas reißerisch wirkt dabei der Untertitel des Bandes »Vom jüdischen Klosterschüler zum Top-Roten der Zwischenkriegszeit«.

Kanitz wurde 1894 als jüngster Sohn eines jüdischen Unternehmers geboren. Die Eltern ließen sich bereits 1899 scheiden. Der Vater trat mit seinen Söhnen zum katholischen Glauben über, die drei Söhne wurden in einem katholischen Waisenhaus in Wien untergebracht. Im Jahr 1907 begann Otto Felix Kanitz zunächst eine Lehre zum Installateur, später zum Kaufmannsgehilfen. Seit 1910 bei den sozialdemokratischen Kinderfreunden, seit 1911 in der Wiener Arbeiterjugend aktiv, überstand er den Krieg in Wien. Ab 1918 studierte er Pädagogik und Philosophie und begann im selben Jahr als pädagogischer Sekretär bei den Kinderfreunden zu arbeiten. Seit 1919 leitete er die neue Schule für Erzieher, die der Verband im alten Kaiserschloss in Schönbrunn hatte einrichten können. Ab 1921 gab er die Zeitschrift »Sozialistische Erziehung« heraus und mischte sich mit einer Reihe von Publikationen im deutschsprachigen Raum in die Debatten um die Art und Weise sozialistischer Erziehung junger Menschen ein. 1922 promovierte er zudem zum Doktor der Philosophie. Von 1925 bis 1930 agierte er als Vorsitzender des Reichsbildungsausschusses der Sozialistischen Arbeiterjugend, von 1930 bis 1933 war er Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterjugend. Im Jahr 1932 wurde er ins österreichische Parlament (Bundesrat) gewählt, das Mandat wurde aber nach der Niederschlagung des Aufstands des sozialdemokratischen »Schutzbundes« im Rahmen der Februarkämpfe 1934 aberkannt. Er floh vorübergehend in die Tschechoslowakei und kehrte 1936 nach Wien zurück. Nach dem gewaltsamen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde er von der Gestapo verhaftet und 1939 in das KZ Buchenwald verschleppt, wo er am 27. März 1940 verstarb.

Das Buch von Heinz Weiss beginnt mit einer kurzen Darstellung des Wegs von Hermine Weinreb zu den Kinderfreunden. Weinreb, aus bürgerlichem Hause kommend und gegen den Willen ihrer Familie Mitglied der Sozialdemokratie geworden, habe als Vorsitzende der Kinderfreunde in Wien-Alsengrund 1915 junge Pädagogen für ihre Arbeit angeworben, darunter auch Kanitz. Ein wichtiges Projekt für Weinreb sei die Einrichtung einer eigenen Ausbildungsstätte von Erziehern gewesen – mit der Auswahl ihres »geistigen Sohnes« Otto Felix Kanitz als Leiter der Schule in Schönbrunn sei ihre pädagogische Saat aufgegangen (13).

Für die weitere Darstellung wählt der Autor einen interessanten Einstieg, indem er die von Kanitz verfasste »Geschichte des Franz Lechner« über den Leidensweg eines jungen Lehrlings und seine Kontaktaufnahme mit der Arbeiterjugendbewegung mit Elementen der Biografie von Kanitz verbindet – und nahelegt, dass Kanitz hier auch eigene Erlebnisse verarbeitet hat. Die Geschichte beschreibt sehr anschaulich die Willkür und Ausnutzung der Lehrlinge durch die Lehrherren und thematisiert zugleich den schwierigen Weg für die jungen Menschen zu einem Engagement in der Arbeiterjugend und zum Kampf für die eigenen Rechte. Damit ist zugleich auch ein sehr eindrückliches Panorama der Lebenslagen gezeichnet, mit denen die Kinderfreunde und die Arbeiterjugend bei der eigenen Arbeit umgehen mussten.

Die Arbeit der Kinderfreunde sollte nicht nur Fürsorge, sondern Erziehung sein, in Kanitz‘ Worten lautete die Aufgabe: »das geistige Leben des Kindes nach einer bestimmten Richtung hin entwickeln, das Denken, Fühlen und Wollen in einer ganz bestimmten Weise beeinflussen.« (S. 64). Eine objektive Erziehung sei undenkbar, eine unparteiische Beeinflussung ein Unding (S. 65). Und später zitiert Weiss einige Grundsätze der sozialistischen Erziehung nach Kanitz: »Die erste Forderung sozialistischer Erziehung ist die Erziehung der Kinder zur Solidarität. Die Weltanschauung unserer Kinder muss vom Gefühl der Solidarität bestimmt sein.« (S. 84). In der Folge zeichnet der Autor einige der pädagogischen Debatten nach, an denen Kanitz beteiligt war. Mit den weiteren Entwicklungen der Republik, insbesondere seit den tödlichen Auseinandersetzungen zwischen reaktionärer Heimwehr und sozialdemokratischem Schutzbund in Schattendorf und dem Brand des Wiener Justizpalasts im Jahr 1927, wurde die Sprache Kanitz’ zunehmend militanter. So heißt es in einem Artikel aus diesem Jahr: »Unsere erste Aufgabe: Wir müssen wehrhaft werden! Wir müssen die Reihen unserer Jungordner stärken, müssen unsere Körper stählen, unsere Muskeln dehnen, unsere Herzen mit Mut erfüllen. Je stärker der Schutzbund, je stärker die Jugendordnerformationen, umso eher werden sich’s Frontkämpfer und Hakenkreuzler überlegen, jemals wieder auf Arbeiter zu schießen. Unsere zweite Aufgabe: Wir müssen lernen! […] Unsere dritte Aufgabe: Wir müssen werben!« (S. 122).

Das Exil in der Tschechoslowakei hielt Kanitz nicht lange aus. Geplagt vom Heimweh nach Wien und nach seiner Familie, bemühte er sich bei den österreichischen Behörden um die Genehmigung der Rückkehr und versprach, sich politischer Aktivitäten zu enthalten. Zurück in Wien wurde er von vielen alten Genossen misstrauisch beäugt. Diese Zeit beschreibt der Autor als nicht mehr sehr glücklich. Ob Kanitz bewusst ignoriert oder schlicht vergessen wurde, will der Autor nicht bewerten. Die Beziehung zu seiner Familie scheint kompliziert gewesen zu sein, die meiste Zeit war er jedenfalls getrennt von seiner Familie gemeldet.

Heinz Weiss ist eher ein Erinnerungsband als eine vollständige Biografie gelungen – eine interessante Collage aus Texten von Kanitz, aus Bildern und Dokumenten. So bieten sich einige schöne Einblicke in seine pädagogischen und politisch-organisatorischen Vorstellungen. Die politischen Kontroversen über die den Ansprüchen der Bewegung angemessene Pädagogik, in die auch Kanitz beispielsweise bei der Aufstellung der SAJ oder im Rahmen der internationalen Debatten der Arbeiterjugend verwickelt war, kommen hingegen nur am Rande vor.

Der Lebensweg von Otto Felix Kanitz steht beinahe exemplarisch für die gesamte Tragik der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit: Aus eigenem Antrieb und teilweise autodidaktisch wurde ein enormes Wissen erarbeitet, mit viel Ausdauer wurden auch erste organisatorische Rahmenbedingungen zu ihrer Umsetzung geschaffen um dann letztlich an der Gewalt und Brutalität der faschistischen Bewegungen buchstäblich zugrunde zu gehen. So ist das Buch ein Beitrag zur Würdigung einer politischen und pädagogischen Aufbruchszeit, die es wert ist erinnert zu werden und bei der es durchaus interessant bleibt, auch nach aktuellen Anschlüssen zu suchen.

Thilo Scholle,Lünen

Zitierempfehlung:

Thilo Scholle: Rezension von: Heinz Weiss, Otto Felix Kanitz. Vom jüdischen Klosterschüler zum Top-Roten der Zwischenkriegszeit, Echomedia Buchverlag, Wien 2016, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 59, 2019, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81900> [10.10.2019].

Christoph Gusy/Robert Christian van Ooyen/Hendrik Wassermann (Hrsg.), 100 Jahre Weimarer und Wiener Republik – Avantgarde der Pluralismustheorie, (Recht und Politik, Beiheft 3)

Rezension zu Christoph Gusy/Robert Christian van Ooyen/Hendrik Wassermann (Hrsg.), 100 Jahre Weimarer und Wiener Republik – Avantgarde der Pluralismustheorie, (Recht und Politik, Beiheft 3), Duncker & Humblot, Berlin 2018, 143 S., brosch., 49,90 €, ISBN 978-3-428-15613-9

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Die Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik werden nach wie vor kontrovers diskutiert. Dabei wird auch die Struktur der Weimarer Verfassung immer wieder in die Ursachenbetrachtung einbezogen. Zugleich üben insbesondere die sich im Laufe der 1920er-Jahre entwickelnden staatsrechtstheoretischen Diskussionen beispielsweise zwischen Hermann Heller, Rudolf Smend, Carl Schmidt und Hans Kelsen eine bis heute andauernde Faszination aus. Oft vergessen wird dabei, dass es auch in Österreich eine vergleichbare Situation der Republik- und Verfassungsneugründung gab. Hier waren die Protagonisten der Verfassungsdebatten neben Hans Kelsen insbesondere die Sozialdemokraten Otto Bauer, Karl Renner und Max Adler. Dass es bei den Verfassungsdebatten sowohl in Deutschland als auch in Österreich nicht (nur) darum ging, wie eine bürgerliche Demokratie staatsorganisationsrechtlich aufgestellt sein müsse und welche Rolle eventuell auch Grundrechte der Individuen spielen könnten, sondern dass Hintergrund vieler Beiträge auch die Frage der Rolle und Gestaltung einer Verfassung vor dem Hintergrund der realen gesellschaftlichen Verhältnisse war, wird oft nicht beachtet. Dies gilt umso mehr in Bezug auf die fehlende Berücksichtigung der »Austromarxisten« um Otto Bauer, die sehr anregende, aber bis heute nur wenig rezipierte Beiträge zu einer marxistisch informierten Verfassungstheorie geliefert haben.

Vor diesem Hintergrund ist die Zusammenstellung der Beiträge im hier zu besprechenden Heft beachtenswert. Die inhaltliche Interpretationslinie des vorliegenden Beihefts der sozialdemokratisch-orientierten rechtspolitischen Zeitschrift »Recht und Politik« wird bereits im Untertitel deutlich »Avantgarde der Pluralismustheorie«. Das Heft vereinigt acht Beiträge, von denen der überwiegende Teil bereits andernorts publiziert wurde.

In seinem Vorwort hält der Bielefelder Verfassungsrechtler Christoph Gusy fest: »Im Jahr 1918 verging in Deutschland und in Österreich nicht bloß eine Verfassung, sondern auch ein altes Verfassungs- und Verfassungsrechtsdenken.« Dieses war, wie der Autor weiter ausführt, alles andere als unumstritten (S. 6). Gusy eröffnet den Band auch mit dem ersten Beitrag (»Die verdrängte Revolution«, S. 9–32), und unterstreicht eingangs noch einmal, dass das Ende der Weimarer Republik und die NS-Verbrechen keine Folge der Weimarer Reichsverfassung (WRV) gewesen seien, »sondern die Folge von deren planmäßiger Zerstörung und tiefstem Niedergang« (S. 9). Im Folgenden skizziert der Autor den »Weg nach Weimar«. Gusy stellt fest, dass Freiheitsschutz in aktuellen Debatten eher als Handlung mitunter auch gegen die Volksvertretung beispielsweise durch (Verfassungs-) Gerichte gesehen werde (S. 25). Dem hält er entgegen, im Anschluss an Hans Kelsen könne man auch an Lösungen denken, die auf beiden Mechanismen der Freiheitssicherung aufbauten. Dies setze jedoch voraus, dass der Grundgedanke der Freiheitssicherung durch politische Mitwirkung der Grundrechtsträger als sinnvolle und notwendige Idee mitgedacht werde. »Das Nebeneinander von sozialen und politischen Garantien und der gleichen und gerechten Wahl verweisen die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit im Staat auf diejenigen, die dazu am meisten berufen sind. Das sind die Träger der Grundrechte selbst und ihre gewählten Vertreter.« (S. 26).

Die frühere Bundesjustizministerium Sabine Leutheusser-Schnarrenberger würdigt in ihrem kurzen Beitrag Hugo Preuß (S. 33–38). Demselben Verfassungsdenker widmet sich auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, in einem längeren Beitrag (S. 39–56). Preuß habe für einen »dritten Weg zwischen Status quo und Radikalumsturz« plädiert. »Die Weimarer Reichsverfassung sollte nach seiner Vorstellung einer pluralistischen Ordnung jenseits des Bürgerkrieges oder der Konfliktunterdrückung den Boden bereiten«. (S. 43). Wichtig seien für Preuß vor diesem Hintergrund die politischen Parteien gewesen: »Die Gesellschaft ist durch Heterogenität und Interessenvielfalt gekennzeichnet, die sich in politischen Parteien und anderen Verbänden ausdrückt. Mit Hilfe des demokratischen Verfassungsstaates formt sich diese Gesellschaft zu einer politischen Gemeinschaft, die genossenschaftlich strukturiert ist und deren Entscheidungsprozesse mehrstufig-föderal und durchlässig angelegt sind. Politische Einheit soll also gerade durch die umfassende Einbindung bürgerlicher Vielfalt hergestellt werden«. (S. 50f.) Letztlich bleibe die pluralistische Verfassungskultur mit ihrem Vertrauen in die Selbstorganisation der Gesellschaft trotz aller damit verbundenen Probleme auf Dauer wohl die einzige Alternative zu einem totalitären Staat – eine Perspektive, die sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wiederfinde (S. 56).

In einem weiteren Beitrag widmet sich Christoph Gusy dem Thema »Die Weimarer Verfassung zwischen Überforderung und Herausforderung« (S. 57–83). Das Ende der demokratische Weimarer Verfassungsinterpretation sei nicht gekommen, »weil ihre Lehren falsch oder widerlegt waren; es kam, als die Gegenauffassung in den Vorhof der Macht gelangte und die dort maßgeblichen Positionen und Begriffe prägte« (S. 63). Die Frühzeit der Bundesrepublik habe die Weimarer Verfassung denn auch überwiegend aus der Perspektive ihrer (in Funktionen in Wissenschaft und Verwaltung zurückgekehrten) Gegner kennen gelernt (S. 64). Demgegenüber sei vieles, was in aktuellen EU-Verfassungsdiskussionen und deutschen Verfassungsreformdiskussionen thematisiert werde, etwa der Ausbau direktdemokratischer Elemente, die Stärkung von Kontrollrechten, politische Partizipations- und soziale Grundrechte bereits in der Nationalversammlung diskutiert und in der WRV »teils mehr, teils weniger explizit angelegt« (S. 67). Die meisten Verfassungsnormen seien im Jahr 1919 nicht einfach »fertig« gewesen: »Was also aus einer Verfassungsnorm ›gemacht‹ werden, wie sie auf Stabilisierung oder Destabilisierung der Republik wirken konnte oder würde, ließ sich aus der Perspektive der Verfassungsgeber ebenso wenig absehen wie aus dem Text der meisten Regelungen der WRV.« (S. 76) Verfassung gerate in Abhängigkeit nicht nur von rechtlichen, sondern auch von rechts- und verfassungskulturellen Erwartungen und Einflüssen, geistigen Zeitströmungen und politischen Voreinstellungen.« (S. 80). Diese an sich richtige Aufzählung müsste nach Meinung des Rezensenten unbedingt noch um ökonomische gesellschaftliche Grundbedingungen ergänzt werden.

In weiteren Beiträgen mustert Robert Christian van Ooyen die »Verfassungspolitologie pluralistischer Demokratie« u.a. bei Hugo Preuß, Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Hans Kelsen und Hermann Heller durch (S. 84–94), und widmet sich später der normativen »Staatstheorie von Hans Kelsen als Verfassungstheorie pluralistischer Demokratie« (S. 115–130). Christoph Schmetterer steuert einen instruktiven Beitrag zur Entstehung der Ersten Republik in Österreich bei (S. 95–114), während Detlef Lehnert den Wiener Rechtswissenschaftler Leo Wittmayer vorstellt (S. 131–143).

Insgesamt bieten die Beiträge so eine interessante Zusammenstellung von Einordnungen der damaligen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Entwicklungen. Sehr zu begrüßen ist, dass auch österreichische Entwicklungen in die Betrachtung einbezogen werden.

Thilo Scholle,Lünen

Zitierempfehlung:

Thilo Scholle: Rezension von: Christoph Gusy/Robert Christian van Ooyen/Hendrik Wassermann (Hrsg.), 100 Jahre Weimarer und Wiener Republik – Avantgarde der Pluralismustheorie, (Recht und Politik, Beiheft 3), Duncker & Humblot, Berlin 2018, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 59, 2019, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81901> [10.10.2019].

Wolfgang Jäger, Soziale Sicherheit statt Chaos. Beiträge zur Geschichte der Bergarbeiterbewegung an der Ruhr

Rezension zu Wolfgang Jäger, Soziale Sicherheit statt Chaos. Beiträge zur Geschichte der Bergarbeiterbewegung an der Ruhr, Klartext Verlag, Essen 2018, 211 S., brosch., 22,95 €, ISBN: 978-3-83-75-1988-4

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Nachdem sich insbesondere die Sozialgeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre intensiv mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften auseinandergesetzt hat, sind diese Themen etwas aus dem Blick geraten. Wolfgang Jäger hat nun das Ende des Steinkohlebergbaus in Deutschland 2018 zum Anlass genommen, an die Errungenschaften der (deutschen) Bergarbeiterbewegung zu erinnern, auch um neues Interesse für ihre Geschichte zu wecken. Das Buch beruht auf einer Vielzahl größtenteils bereits erschienener wissenschaftlicher Texte, journalistischer Beiträge und ausformulierter Vorträge des Autors. Inhaltlich deckt Jägers Schriftensammlung den Zeitraum vom Deutschen Kaiserreich bis in die jüngste Zeitgeschichte ab.

Der erste Themenblock des Buches »Gewerkschaftsgeschichte« konzentriert sich auf die IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) und deren Vorläuferorganisationen. Das Buch beginnt mit einem historischen Überblick über die Bergarbeiterbewegung, ihre Gewerkschaften und deren Führer. Anschließend geht Jäger auf die Wiedergründung der Gewerkschaften nach 1945 ein. Anschließend beschäftigt er sich mit der 1948 intensiv diskutierten und schließlich nicht umgesetzten Sozialisierung des Kohlenbergbaus, das heißt dessen Umwandlung in öffentliches Eigentum. Es folgt ein Text zu den Ortsgruppen als maßgebliche Organisationsform der verschiedenen, nicht nur dem Bergbau zuzuordnenden Gewerkschaften zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren, die sich schließlich 1997 in der IG BCE vereinigten. Der erste Themenblock schließt mit einem Abschnitt zu den »dramatischen Märztagen von 1997«, in denen eine sozial verträgliche Form des Rückbaus der staatlichen Subventionen für den Steinkohlebergbau erreicht wurde. Dieser »Aufstand zur Erhaltung der Arbeitsplätze« (Zit. nach S. 78) zeichnete sich durch das ungewöhnliche Bündnis zwischen Gewerkschaftern und Unternehmern gegenüber der schwarz-gelben Bundesregierung aus und spielte, nach Jäger, eine nicht unwesentliche Rolle für den rot-grünen Wahlsieg 1998.

In einem politik- und sozialhistorischen Themenblock analysiert Jäger anschließend das Wahlverhalten und die politischen Bindungen der Ruhrbergarbeiter zwischen Kaiserreich und Nachkriegszeit. Das Bergarbeitermilieu war politisch keineswegs einheitlich und in verschiedene politische, konfessionelle und ethnische Untermilieus gegliedert. Jäger betont, dass für die Parteizugehörigkeit, »[…] Kultur wichtiger als Klasse war« (S. 89). Auch weist er auf die überdurchschnittliche NS-Resistenz des katholischen Milieus hin und identifiziert gleichzeitig Wahlbezirke, in denen sich im Kaiserreich kein festes Milieu gebildete, als Hochburgen der KPD. Der nächste Abschnitt des Buches basiert auf einer Rede und thematisiert die Bedeutung der polnischen Zuwanderer für das Bergbaurevier. Jäger revidiert in diesem Kontext die Idee des Ruhrgebiets als Schmelztiegel und zeigt das konfliktbehaftete Fortbestehen eines eigenen polnischen Bergarbeitermilieus auf, das erst von den Nationalsozialisten zwangsweise assimiliert worden sei. Dabei geht der Autor auch auf die deutlichen antipolnischen Ressentiments ein: »Das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen war, vorsichtig formuliert, schlecht […].« (S. 116) Der Themenblock schließt mit einem (erneuten) Beitrag zum Wahlverhalten der Bergarbeiter, welches überblicksartig die Geschichte des Ruhrbergbaus darstellt.

Das letzte Drittel des Buches besteht aus mehreren kürzeren Texteinheiten, die sich zunächst unter dem Oberbegriff »Mitbestimmung« dem Stinnes-Legien-Abkommen 1918, der Abschaffung der Betriebsratswahlen 1933 und der Entstehung der 1951 verabschiedeten Montanmitbestimmung widmen. Es folgen zwei kurze Texte zum Schicksal der Gewerkschaften im Nationalsozialismus. Zunächst werden eindringlich die Einzelschicksale der Gewerkschaftsführer Fritz Husemann und Heinrich Imbusch und der für den Bergarbeiterverband tätigen Volkswirtin Luise Breuer dargestellt. Durch den Rückgriff auf Interviews mit Verwandten bzw. der Zeitzeugin selbst gewinnt der Abschnitt besondere Intensität. Anschließend wird die Zerschlagung des »Alten Verbands« 1933 skizziert, mit einem Verweis auf die mitunter kritisch als »kampflose Kapitulation« interpretierte Auflösung der nichtsozialdemokratischen Gewerkschaften. Der letzte ausformulierte Abschnitt umfasst biografische Porträts dreier Gewerkschaftsführer (Otto Hue, Fritz Husemann und Heinrich Imbusch). Das Buch schließt mit einem chronologischen Überblick über Stationen der deutschen Bergarbeitergeschichte von 1865 bis 2018.

Jägers Textsammlung bietet einen breiten, gut lesbaren Überblick über die Bergarbeiterbewegung. Die an vielen Stellen sinnvoll eingefügten Bilder und Illustrationen lassen den Band lebendig wirken und unterstützen den Inhalt sehr anschaulich. Eine große Stärke des Buches ist Jägers Gespür für die internen Differenzen der Bergarbeiterbewegung, welche bis in die Nachkriegszeit anhielten und schließlich erfolgreich in der Nachkriegszeit in einer Einheitsgewerkschaft zusammengeführt werden konnten.

Zugleich finden sich aber auch Leerstellen. Während Jäger ausgiebig das Schicksal der sogenannten Ruhrpolen im Kaiserreich und der Weimarer Republik schildert, fehlt eine Auseinandersetzung mit den sogenannten Gastarbeitern in der BRD fast völlig. Auch Frauen kommen im Buch fast ausschließlich als Ehegattinnen, Wählerinnen oder Sympathisantinnen vor. Den beiden genauer vorgestellten Akteurinnen Tisa von der Schulenburg und Luise Breuer werden zusammengenommen gerade einmal fünf Seiten gewidmet. Gewerkschafterinnen werden nur implizit erwähnt. Wenn auch Frauen die Arbeit unter Tage verboten war, waren sie doch in zahlreichen anderen Betriebsfeldern, die Jäger in seiner Vorgeschichte der IG BCE erwähnt, tätig. Die IG BCE selbst hatte im Jahr 2018 einen Frauenanteil von immerhin rund 20%. Das Ignorieren gewerkschaftlichen Engagements von Frauen ist auch deswegen problematisch, weil dies, wie u.a. Brigitte Kassel aufgezeigt hat, durchaus zum geschlechtspolitischen Konzept der Gewerkschaften gehörte, und von Jäger somit (unbewusst) fortgeschrieben wird.

Die schwierige Aufgabe eine Textsammlung inhaltlich kohärent zu gestalten, gelingt Jäger grundsätzlich sehr gut, wenn auch gewisse Brüche, insbesondere zwischen den inhaltlichen Blöcken, nicht ausbleiben. Auch weist das Buch gewisse wohl kaum zu vermeidende Redundanzen auf, etwa in den Textabschnitten zum Wahlverhalten oder den biografischen Passagen. Zudem unterscheiden sich die einzelnen Beiträge auch sprachlich. So ist das aus der Dissertation Jägers hervorgegangene Kapitel zum Wahlverhalten deutlich anspruchsvoller zu lesen als etwa der leicht zugängliche Überblick über die Gewerkschaftsgeschichte, welches nur teilweise mit Belegen versehen ist. Ein genauer Hinweis auf die Provenienz der jeweiligen Unterkapitel, der eine Orientierung erleichtert hätte, fehlt dabei jedoch größtenteils.

Die inhaltliche Klammer, die das Buch zusammenhält, ist das Andenken an die Errungenschaften der Bergarbeiterbewegung. Aus diesem Aspekt ergibt sich ein letzter Einwand: Jägers Blick ist zwar nicht einseitig positiv, mitunter, gerade im ersten Drittel des Buches, erzählt er jedoch eine regelrechte Heldengeschichte. So wird etwa wortwörtlich »die Schuld« für die rassistischen Vorurteile der deutschen Kumpel gegenüber ihren polnischen Kollegen bei den Unternehmern, der Regierung und der katholischen Kirche verortet, ohne aber die Akteure rassistischer Praktiken selbst in die Verantwortung zu nehmen. Dass xenophobe Vorurteile (nicht nur, aber auch gegen Polen) unter Arbeitern und Arbeiterinnen weit verbreitet waren, zeigen beispielsweise die von Richard Evans in Auszügen herausgegebenen polizeilichen Aufzeichnungen Hamburger Kneipengespräche für das Kaiserreich auf. Auch Jägers ungetrübt positive Beurteilung des zur Vermeidung sozialer Härten verzögerten (Stein-) Kohleausstiegs ließe sich angesichts der aktuell vermehrt zu Tage tretenden ökologischen Folgen einer Energiepolitik, die auf Kohlestrom angewiesen ist, in Frage stellen und in Relation zu den sozialen Folgen setzen.

Zusammengefasst hat Wolfgang Jäger einen gut geschriebenen, detailreichen und weitestgehend kohärenten Überblick über die Geschichte der Bergarbeiterbewegung vorgelegt, der sich jedoch nicht völlig von den methodischen und theoretischen Fallstricken der »neueren« Sozialgeschichte lösen kann. Das Ziel des Autors, an die Leistungen der Ruhrbergarbeiter würdigend zu erinnern, erfüllt er dessen ungeachtet mit Bravour.

Tobias Bruns,Marburg

Zitierempfehlung:

Tobias Bruns: Rezension von: Wolfgang Jäger, Soziale Sicherheit statt Chaos. Beiträge zur Geschichte der Bergarbeiterbewegung an der Ruhr, Klartext Verlag, Essen 2018, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 59, 2019, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81904> [10.10.2019].

 

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