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Aktuelle Rezensionen

Jeffrey Ahlman, Ghana. A Political and Social History

Zed Books | London 2023 | 272 Seiten, Paperback | £ 19.79 | ISBN 9780755601561

rezensiert von

Tristan Oestermann, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

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Soll man die Geschichte einer postkolonialen Nation in Afrika schreiben? Hat nicht die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten hinreichend auf die Problematik der Nationalgeschichte hingewiesen? Haben nicht Forscherinnen und Forscher sowie panafrikanische Aktivistinnen und Aktivisten immer wieder die Künstlichkeit kolonialer Grenzen und die Bedeutung anderer, nur teilweise mit der Nation überlappender Zugehörigkeiten betont? Jeffrey S. Ahlman ist sich dieser Probleme bewusst und thematisiert sie in der Einleitung seiner Nationalgeschichte Ghanas. Der Nationalstaat als politisches Gebilde, so argumentiert der Autor, sei heute ein Faktum. Was es aber bedeute, Ghanaer bzw. während der Kolonialherrschaft ein »Gold Coaster« zu sein, habe sich angesichts konkurrierender Visionen und pluraler Zugehörigkeiten – von lokalen, ethnischen, religiösen, verwandtschaftlichen und nationalen bis zu panafrikanischen Identitäten – immer wieder verändert. Die Frage der Zugehörigkeit zur Nation und was dies eigentlich bedeute, so Ahlmans These, sei ein wichtiger Teil der Geschichte Ghanas – und das Thema des vorliegenden Überblickswerks. Einleitung, acht Kapitel und Schluss liefern eine Gesamtschau ghanaischer Geschichte von ca. 1500 bis heute für ein allgemeines, an der Geschichte Ghanas interessiertes Publikum.

Zuerst unterstreicht der Autor, wie bedeutsam die Integration der späteren Gold Coast in die Atlantische Welt war. Seit der Frühen Neuzeit orientierten sich die Menschen an der Küste und immer größerer Teile des Hinterlandes mehr und mehr in Richtung Atlantik. Denn der atlantische Handel mit Sklavinnen und Sklaven, später mit Palmöl, sorgte zwar einerseits für großes Leid, versprach andererseits aber auch großen Reichtum. Im 19. Jahrhundert gelang es den Briten dann zunehmend, die Herrschaft über die gesamte Gold Coast und ihr Hinterland zu übernehmen. Die frühe Kolonialzeit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, so der Autor, brachte große politische, soziale und wirtschaftliche Veränderungen, infolge derer die Menschen, vor allem die westlich gebildeten Schichten, begannen, mit einer neuen Identität als »Gold Coaster« und als Untertanen im britischen Empire zu experimentieren.

Die größte koloniale Veränderung war jedoch der Aufstieg der Kakaoproduktion. Gefördert durch die Kolonialmacht, in erster Linie aber durch die Initiative lokaler Produzentinnen und vor allem männlicher Produzenten stieg Kakao Anfang des 20. Jahrhunderts zum wichtigsten Exportprodukt der Kolonie auf. Einerseits knüpfte der Kakaoanbau an ältere soziale Muster an, etwa Migrations- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Asante und der Bevölkerung der nördlichen Gebiete. Andererseits besaß er aber auch eine gewaltige soziale Triebkraft, die neue Formen von Macht und Zugehörigkeit schuf.

Während der Autor merkwürdigerweise nur wenige Worte zum Ersten Weltkrieg und zur Zwischenkriegszeit verliert, nuanciert er im Anschluss das althergebrachte Narrativ zum Aufstieg der antikolonialen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Ghanaer einen wichtigen militärischen Beitrag auf Seiten der Alliierten geleistet hatten. Er zeigt, dass die Kräfte, die nun die Unabhängigkeit anstrebten, keine Monolithen waren. Sie wurzelten in einer breiten politischen Bewegung gegen soziale, politische und wirtschaftliche Missstände.

1957 wurde Ghana unter Kwame Nkrumah als erstes subsaharisches Land unabhängig. Ghana wurde zu einem panafrikanischen Symbol aber auch zu einem bedeutenden globalen, antikolonialen Akteur. Nkrumah verfolgte die Vision eines sozialistischen, panafrikanisch agierenden Ghana jenseits der Blockbildung des Kalten Krieges. Er wollte Ghana als leuchtendes Beispiel nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch unabhängig machen. Teure Entwicklungsprogramme wurden aufgelegt. Das Bedeutendste, das Volta River Project, sollte mithilfe von Wasserkraft die Energieversorgung Ghanas sicherstellen und eine Industrialisierung ermöglichen. Für diese Projekte verschuldete Ghana sich stark bei westlichen Gläubigern, während sich für große Teile der Bevölkerung die wirtschaftliche Lage ständig verschlechterte. Gleichzeitig wurden die Spielräume für Alternativen zu Nkrumahs Politik und für andere politische Akteure, etwa die Gewerkschaften, immer kleiner. Sie wurden von der Regierungspartei zunehmend unterdrückt. Die Repression sowie die schuldenfinanzierte Entwicklungspolitik Nkrumahs und deren Auswirkungen auf die Bevölkerung führten schließlich 1966 zu seinem Sturz.

Die neue, nach dem Rückzug der Militärs demokratisch gewählte Regierung demontierte Nkrumahs panafrikanischen Sozialismus und verfolgte eine westlich orientierte Politik, hatte aber weiter mit großen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, auch aufgrund sinkender Preise für das immer noch wichtigste Exportgut Kakao. Der Schuldendienst unterminierte, so Ahlman, die Souveränität Ghanas, da Teile seiner Politik nun von Geberländern diktiert wurden. Die politische und ökonomische Souveränität wiederherzustellen, so seine These, war das beherrschende Thema in Ghana während der 1970er-Jahre. Da jedoch keine der zivilen und militärischen Regierungen des Jahrzehnts dieses Ziel erreichen konnte, verloren sie alle schnell an Legitimität. Die 1970er-Jahre waren deshalb geprägt von Militärputschen, populistischer, auch xenophober Politik und von ökonomischen Härten für die Bevölkerung.

Das finale Kapitel beschreibt, wie Ghana in der Ära Jerry John Rawlings, der sich 1979 und 1981 zweimal an die Macht putschte, zwischen populistischer Politik und einem durch Weltbank und Internationalen Währungsfonds auferlegten neoliberalen Kurs schwankte. Das Buch endet mit der Re-Demokratisierung Ghanas durch Rawlings, der nach 1992 als nunmehr gewählter Präsident weiter im Amt blieb. Trotz wachsender Ungleichheit blieb Ghanas Demokratie von nun an stabil. Die Frage, die sich der Autor abschließend stellt, lautet, ob es dem Land gelingen wird, seine Demokratie in den kommenden Jahren gerechter und inklusiver zu gestalten – und ob es seine durch die historische Bedeutung Ghanas als antikoloniale, panafrikanische Avantgarde herausgehobene Position nutzen kann, um noch einmal in den Kontinent hineinzuwirken.

Trotz seines Titels handelt es sich bei dem vorliegenden Buch nicht um eine klassische Sozialgeschichte. Wirtschaft, Klassen und soziale Zusammenhänge stehen nicht im Mittelpunkt der Studie, sondern die Politik und die Frage nach Zugehörigkeit in Zeiten großer Veränderungen. Trotzdem ist Ahlmann ein großer Wurf gelungen, der in vielerlei Hinsicht vorbildlich ist. Obwohl für die interessierte Öffentlichkeit geschrieben, beschränkt sich der Autor nicht darauf, die aktuelle Forschung zusammenzufassen, sondern liefert eine eigene Interpretation der Geschichte Ghanas. Diese stützt er auf umfangreiches Quellenmaterial – etwa die schon im 19. Jahrhundert zahlreichen lokalen Zeitungen, zeitgenössische Publizistik, ghanaische Regierungsakten und archivierte »Oral History«-Interviews. Durchgängig lässt er Ghanaerinnen und Ghanaer ihre Sicht auf die historischen Ereignisse, ihre politischen Visionen und ihre Interpretationen der Geschichte schildern. Auf diese Weise zeichnet er die Debatten nach, die das Land vor und nach der Unabhängigkeit bewegten. Ahlman macht so die Gold Coast und Ghana als sich verändernde Gesellschaften fassbar. Auch auf die Gefahr hin, dass die zahlreichen Personen- und Ortsnamen Leserinnen und Leser zeitweise überfordern dürften, ist das Buch für Menschen, die sich für die Geschichte Afrikas interessieren und sich erstmals mit dem Thema befassen, von enormem Wert. Aber auch Historikerinnen und Historikern, die sich professionell mit Afrika und seiner Vergangenheit beschäftigen, ist es als Vorbild zu empfehlen, wie Geschichte aus afrikanischer Perspektive geschrieben werden kann.

 

Zitierempfehlung

Tristan Oestermann, Rezension zu: Jeffrey Ahlman, Ghana. A Political and Social History, Zed Books, London 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82011.pdf> [27.8.2024].

Ilko-Sascha Kowalczuk, Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893–1945) / Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator (1945–1973)

C.H. Beck | München 2023 | 1006 Seiten, Hardcover | 58,00 € | ISBN 978-3-406-80660-5

C.H. Beck | München 2024 | 956 Seiten, Hardcover | 58,00 € | ISBN 978-3-406-81396-2

rezensiert von

Martin Sabrow, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

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Biografien kommunistischer Politiker sind häufig durch eine auffallend karge Quellenlage geprägt: Die oft genug mit Decknamen operierenden Akteure der kommunistischen Ära lassen sich nur schwer als Charaktere greifen; sie verbergen schon der Mitwelt und erst recht der Nachwelt ihr persönliches Denken und Fühlen hinter ihrer politischen Funktion, und sie verschwinden immer wieder gänzlich hinter der Partei, der sie dienen. Nicht zufällig ist auch derjenige Protagonist bislang von der zeithistorischen Diktaturforschung weitgehend randständig behandelt worden, der die Geschichte des deutschen Kommunismus stärker und länger als jeder andere geprägt hat: Walter Ulbricht. Von einstigen Weggefährten gern als »Genosse Zelle« und »Professor Unrat der Revolution« tituliert, der seine präzis funktionierenden Beamtenintrigen für machiavellistische Staatskunst hielt, sagte man Ulbricht schon in den Weimarer Jahren eine eisige Aura der Unnahbarkeit nach oder gar ein »vor Bosheit steifes Gesicht« (Gustav Regler). Wohl ist die Überlieferung im deutschen wie im russischen Parteiarchiv denkbar breit – doch die zahllosen Redemanuskripte, Zeitungsartikel und Sitzungsprotokolle und ebenso die in der DDR gesammelten und innerparteilich redigierten »Veteranenzeugnisse« einstiger Kampfgefährten bieten wenig Stoff für ein farbiges Persönlichkeitsbild; sie spiegeln vor allem die tote Blässe einer Bewegung, die ihre Lebendigkeit ganz auf die mythisierte Partei übertragen hat.

In seiner zweibändigen Ulbricht-Biografie sucht Ilko-Sascha Kowalczuk der Sprödigkeit seines Sujets und der Kargheit seiner Quellen mit einer langjährigen Recherche beizukommen, die ihresgleichen sucht. Schon im ersten, bis zur Zäsur von 1945 reichenden Band wird für die lebensgeschichtliche Nachzeichnung aufgeboten, was nur gefordert werden kann: empirische Ausdauer, analytische Präzision und Mut zur Neudeutung. Die eintausend Seiten und über viertausend Fußnoten des Bandes künden von dem hartnäckigen und andauernden Ringen mit einem historischen Akteur, dessen persönliche Verschlossenheit und dessen konspiratives Politikverständnis sich solcher Spurenverfolgung mit derselben Hartnäckigkeit verweigert, mit der der Biograf sie betreibt. Das Ergebnis ist beeindruckend. Detailliert und gründlich zeichnet der Autor die politische Karriere des Parteibürokraten nach, und er räumt mit vielen Unschärfen und Irrtümern der bisherigen Ulbricht-Biografik auf. Wie er eingehend belegen kann, folgte Ulbricht anders als bislang angenommen keineswegs sklavisch wechselnden Mehrheiten, sondern entwickelte sich als Parteichef erst in Thüringen und später in Berlin-Brandenburg zu einem eigenständigen Politiker, der in den Konflikten der Weimarer Jahre ebenso mutig Partei nahm wie später in den Fraktionskämpfen der Exilzeit, um schließlich in Moskau die Intrigen und Anschuldigungen während des Großen Terrors unbeschadet zu überstehen und so keineswegs zufällig zum eigentlichen Parteiführer der in Deutschland zerschlagenen KPD aufzusteigen.

Eine solche Urteilskorrektur war überfällig und sie ist Kowalczuks Verdienst. Doch der Autor will mehr – er ficht für eine umfassende Neuzeichnung des Ulbricht-Bildes. Der farblose Unsympath mit dem kalten Blick und der dünnen Fistelstimme, der politische Befreiung in autoritäre Organisation übersetzte, er wird in der Sicht seines Biografen zum wichtigsten deutschen Kommunisten in der Weimarer Republik und im späteren Moskauer Exil. Wie passt dieses Urteil zu den entgegenstehenden Eindrücken und Urteilen so vieler einstiger Weggefährten aus der Zeit vor 1945? Deren fast durchweg kritische, häufig feindselige Bewertung unterwirft Kowalczuk umstandslos den Wertmaßstäben der Gegenwart, um sie unglaubwürdig zu machen: Die herabsetzende Schilderung des unansehnlichen Mannes mit den schwimmenden Augen und der vermanschenden Sprache wird Kowalczuk zum irritierenden Bodyshaming; das Kehlkopfleiden, das Ulbricht so viel bösartige Häme eingetragen habe, deutet der Biograf als schmerzvoll erlittene Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrung. Zuweilen nimmt Kowalczuk in diesem Zusammenhang sogar argumentative Anleihe bei der Hagiografik aus der frühen DDR. So, wenn es etwa heißt, dass Walter Ulbricht »ganz glücklich« sei, einen Flugblattdruck zustande gebracht zu haben, oder der Autor findet, dass sein Held »vielleicht kein Bibliophiler, aber ein großer Bücherfreund« war. Auch die Feststellung, dass tschechoslowakische Fragen zeitlebens ein besonderes Augenmerk für Ulbricht blieben, wirkt angesichts von dessen Bereitschaft zur Beteiligung am sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 doch allzu glättend.

Angesichts der biografischen Unergiebigkeit der parteioffiziellen Überlieferung greift Kowalczuk dankbar auf die wenigen überlieferten Zeugnissen des privaten Lebens Ulbrichts zu. Doch selbst die etwa 60 Briefe, die er mit seiner Geliebten und späteren Ehefrau Lotte Kühn während der Moskauer Exiljahre wechselte, geben wenig Aufschluss. Sie bieten etwa den Einblick, dass Ulbricht nicht gern früh aufstand, und lassen den Biografen ernsthaft darüber rätseln, warum die beiden sich wechselseitig mit »Schufterle« anredeten. Mehr als die Erkenntnis, dass selbst ein Mann wie Ulbricht neben dem amtlichen ein privates Gesicht hatte, gibt auch diese Quellengattung nicht her. Blutlos bleibt in Kowalczuks Buch auch sonst das Personal, das die historische Bühne der KPD in der Weimarer Zeit und dann in der Illegalität bevölkerte. Wie Schemen huschen Ernst Thälmann und Herbert Wehner, Wilhelm Pieck und Franz Dahlem, Dmitri Manuilski und Georgi Dimitroff und eine Fülle weiterer plötzlich auftauchender und wieder verschwindender Namen durch eine unendliche Abfolge von Konflikten und Episoden, die sich nicht leicht zu einer zusammenhängenden Erzählung fügen. Es nimmt daher nicht wunder, dass der Autor vielfach überlang an Einzelthemen der KPD-Geschichte wie der Rolle des Bezirks Thüringen oder der Verhaftung Thälmanns im März 1933 verweilt, in denen Ulbricht selbst nur am Rande erscheint.

So verkörpert der frühe Ulbricht am Ende auch für seinen jüngsten Biografen nur jenen aktenfressenden Apparatschik par excellence mit dem phänomenalen Gedächtnis, als der er schon den Zeitgenossen erschienen war. Zu diesem Ergebnis trägt bei, dass Kowalczuk den einschneidenden Zäsuren der Weimarer KPD-Geschichte wenig Aufmerksamkeit schenkt und auch einer Unterscheidung von Leninismus und Stalinismus nichts abgewinnen kann. So gleicht sein Bild der kommunistischen Bewegung ungewollt dem ihres Parteisoldaten Ulbricht – auch in Kowalczuks Verständnis waren ihr stalinistische Zentralität und Moskauhörigkeit von Beginn an ebenso genetisch eingeschrieben wie die erbitterte Bekämpfung der unentwegt als »sozialfaschistisch« denunzierten Sozialdemokratie. Folgerichtig mischt sich auch in Kowalczuks Ulbricht-Porträt ein Farbton jener lebensgeschichtlichen Unwandelbarkeit, die das Grundmuster kommunistischer Ich-Erzählungen vor und nach 1989 bildet. Ganz in ihrem Duktus verfolgt er die unbeirrbare politische Haltung seines Helden bis in die Revolutionszeit 1918/19 zurück und schließt am Ende des ersten Bandes mit der Feststellung, dass Ulbricht wurde, was er werden wollte: der kommunistische Diktator in Deutschland.

Diesem Vorausblick sucht der im Frühjahr 2024 erschienene zweite Band gerecht zu werden, der nach dem »Genossen Zelle« nun dem ostdeutschen Machthaber gilt – Kowalczuk porträtiert ihn als Staatsmann, der auf Augenhöhe mit seinem Gegenspieler Konrad Adenauer agierte und in seiner historischen Bedeutung in eine Reihe mit Willy Brandt und Helmut Kohl zu stellen sei. Wieder begegnet Kowalczuk seiner Aufgabe mit beeindruckender Akribie. Kein noch so entlegenes Zeitzeugnis, keine noch so undeutliche Spur, der er nicht mit der Ausdauer eines Fährtenlesers nachgeht. Noch jedes der 3500 Bücher aus der nachgelassenen Bibliothek Ulbrichts mustert er in der vergeblichen Hoffnung durch, dass deren Zusammensetzung oder wenigstens die eine oder andere Widmung oder Eintragung Rückschlüsse auf individuelle Vorlieben und eigene Gedanken seines Protagonisten erlaubt. Die Wiedergabe des von Kowalczuk in vieljähriger Arbeit gesammelten Wissens droht den erzählerischen Rahmen zu sprengen. Der in sechs Zeitabschnitte mit jeweils bis zu siebzig Teilkapiteln gegliederte Stoff verwandelt die Biografie passagenweise geradezu in ein Ulbricht-Lexikon, das mit Exkursen über Ulbricht-Briefmarken, Ulbricht-Karikaturen und Ulbricht-Gemälden zu allem erschöpfend Auskunft erteilt, was nur irgend mit der Person und Vita des Porträtierten zu tun hat.

Kowalczuk folgt dem Ende April 1945 aus Moskau nach Berlin zurückgekehrten Parteiorganisator Ulbricht von der Wiederherstellung der Verwaltung in der zerstörten Reichshauptstadt über die unter sowjetischem Druck zustande gekommene Verschmelzung von KPD und SPD bis zur Festigung der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetischen Besatzungszone, die ihn 1952 auf einer Parteikonferenz unter tosendem Beifall der Delegierten den Aufbau des Sozialismus verkünden ließ. Nur ein Jahr später aber stand Ulbricht, der seine politische Vision gegen immer stärkeren Widerstand immer rücksichtsloser durchzusetzen suchte, nach Stalins Tod am Rande des Sturzes, vor dem ihn paradoxerweise eben die im Juniaufstand 1953 gipfelnde Empörung der unterdrückten Bevölkerung bewahrte: Als die Sowjets mit Panzermacht eingriffen, wussten sie in ihrer eigenen Herrschaftskrise niemanden, der die Macht besser zu sichern vermochte als er, und zu demselben Ergebnis kamen auch Ulbrichts Mitspieler und Kontrahenten in der SED-Spitze, die ihm zögernd neues Vertrauen entgegenbrachten und dennoch in der Folgezeit entmachtet wurden, sofern sie sich nicht willig unterordneten. In der Folge beschreibt Kowalczuk einen kommunistischen Herrscher, der unbeirrt sein persönliches Regime festigte und mit dem Mauerbau 1961 den Zenit einer unbeschränkten Machtfülle erreichte, die er erst am Ende jenes Jahrzehnts Stück um Stück einbüßte, bis ihm sein Nachfolger Erich Honecker 1971 schließlich das Szepter aus der Hand nahm.

Nichts an dieser Erzählung ist im eigentlichen Sinne neu, aber es malt das üblicherweise grau gehaltene Bild des Ost-Berliner Machthabers mit frischer Farbe neu aus. Bemerkenswert ist auch im zweiten Band, mit welcher Verve der Autor gegen das Klischee des beschränkten Funktionärs anschreibt, das sich bis heute im öffentlichen Gedächtnis hält. Der buchstäblich an allem interessierte Politiker Ulbricht habe in seiner Vielseitigkeit die Grundvoraussetzung für höchste Staatsämter erfüllt, urteilt der Biograf; sein Machtinstinkt und Herrschaftswille zeugten von einer außergewöhnlichen sozialen wie kognitiven Intelligenz, und der angeblich sture Parteibürokrat habe mehr ideologische Beweglichkeit besessen, als das tradierte biografische Klischee zuzugestehen bereit war.

Dennoch entgeht auch der zweite Teil nicht dem Grundproblem, der schon den ersten zu einer oft trockenen Lektüre macht. Es gelingt Kowalczuk trotz allen Bemühens nicht wirklich, die Persönlichkeit Ulbrichts hinter seiner politischen Rolle anschaulich werden zu lassen, weil das verfügbare Material es einfach nicht hergibt. Auch die Fülle der im SED-Parteiarchiv abgelegten Unterlagen aus der Ära Ulbricht, ergänzt um die von der Staatssicherheit gesammelten Informationen und die in Moskau archivierten Protokolle und Einschätzungen, geben kaum den Blick auf Ulbrichts Persönlichkeit und Innenleben frei. Er habe sich zeitlebens für Kunst und Kultur interessiert und ließ sich gern mit einem Buch in der Hand fotografieren, ging wohl auch in Theater- und Opernaufführungen, erfährt der Leser von Kowalczuk und bleibt doch im Ungewissen: »Über Ulbrichts diesbezügliche Erlebnisse ist wenig zu erfahren.« Folgerichtig fallen Kowalczuks Urteile immer wieder ambivalent aus. Zwar weist er das in der bisherigen Forschung vertretene Urteil zurück, dass Ulbricht nur der opportunistische Vollstreckungsbeamte Moskaus gewesen sei. Ob sein harter Kurs gegenüber der DDR-Bevölkerung aber innerer Überzeugung entsprach oder doch vor allem dem Willen der Sowjets folgte, »muss dahingestellt bleiben«; ob er selbst an seine vielen gesamtdeutschen Vorschläge glaubte, »ist nicht eindeutig zu beantworten«. So bleibt Kowalczuks Ulbricht-Biografie seltsam statuarisch; sie entwirft ein Standbild, das sich aus immer neuen politischen Strategie- und Taktikwechseln zusammensetzt, aber so gut wie nie lebensgeschichtliche Veränderung und Reifung sichtbar macht; ein einziges Mal entschlüpft dem Biografen die Feststellung, dass Ulbricht fünf Jahre vor seinem Tod »sichtlich gealtert« wirkt.

Mehr Erschließungstiefe verspricht ein anderer Zugang, der nicht den Verlockungen des »human interest« folgt, sondern den biografischen Zugang als Schlüssel zum Verständnis des politischen Systems nutzt. Auch ihn erprobt Kowalczuk und lässt nicht den geringsten Zweifel darüber aufkommen, dass es sich bei Ulbricht um einen kommunistischen Alleinherrscher von geradezu absolutistischer Macht gehandelt habe. Diese Macht habe sich allerdings nicht aus den inneren Verhältnissen entwickelt – Ulbricht war vielmehr, so der Autor, ein Diktator »neuen Typs«, der von einer fremden Macht eingesetzt worden war, weil er als Moskau-Emigrant die besten Voraussetzungen mitbrachte, den Willen der sowjetischen Besatzungsmacht zu vollstrecken. War die DDR also eine bloße Satrapie von Stalins Gnaden und ihr absolutistischer Herrscher in Wahrheit ein bloßer Diktaturgehilfe? Dieser inneren Widersprüchlichkeit seiner Typusbildung sucht Kowalczuk zu entkommen, indem er Ulbrichts Regime als allmähliche Emanzipation von der sowjetischen Besatzungsherrschaft auf dem Weg zu einer eigenständigen kommunistischen Diktatur auffasst. Nach der Abrechnung mit seinen innerparteilichen Widersachern von Rudolf Herrnstadt bis Wilhelm Zaisser wurde Ulbricht demnach noch in den 1950er-Jahren zu einem Teil des Moskauer Machtsystems mit eigenen Befugnissen. Die Schließung der Grenze nach West-Berlin 1961 forcierte er als entschiedenster Antreiber im Ostblock, und in den Folgejahren entwickelte der vom Politbürokraten zum technokratischen Reformer gewandelte DDR-Staatschef ein solches Maß an unbequemer Eigeninitiative, dass Moskau 1971 schließlich seiner Ablösung durch den leichter lenkbaren Honecker zustimmte, damit die ständigen Alleingänge der sowjetischen Satrapie fortan unterbunden würden.

Um die Konturen eines solchen Herrschaftstypus schärfer zu zeichnen, hätte sich der Vergleich mit anderen Machthabern im sowjetischen Herrschaftsbereich wie Władysław Gomułka in Polen oder János Kádár in Ungarn angeboten. Auf solche Blickerweiterungen verzichtet Kowalczuk jedoch, so wie er auch die permanente Herausforderung durch Ulbrichts westdeutsche Gegenspieler eher am Rande behandelt, um sich ganz auf dessen Rolle als kommunistischer Diktator zu konzentrieren. Dieser Schreibhaltung fallen freilich die Mitspieler zum Opfer. Undeutlich bleibt die Beziehung zum SED-Vorsitzenden und einzigem DDR-Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, den die Sowjets lange als zentrale Führungsfigur ansahen, und mehr noch zu Ulbrichts Zögling Erich Honecker, der in Kowalczuks Schilderung überhaupt erst im Zuge der Ablösung des sich sträubenden Diktators Profil gewinnt und dabei auf die Schurkenrolle des Königsmörders reduziert wird, der am Ende noch den entmachteten Greis in Pantoffeln zur Schau stellt, um sein eigenes Regime zu festigen.

Aber der Alleinherrscher Ulbricht bleibt in Kowalczuks Buch zugleich ein blasser Diktator. Nie fand in der DDR ein Attentat auf den ersten Mann im Staate statt; der Tyrannenmord spielt auf der kommunistischen Bühne keine Rolle. Hing dies womöglich mit dem Zweifel seiner Feinde zusammen, ob Ulbricht überhaupt ein ›richtiger‹ Diktator war, wie sich Kowalczuk selbst fragt? In der Tat: Sein Buch bezeugt, was der Autor nicht akzeptieren will: Die diktatorische Verfassung der DDR bedurfte nicht der Figur eines allmächtigen Diktators. Die Rolle des Alleinherrschers übernahm im Staatssozialismus die Partei. Sie war es, die mit all den vergötternden Attributen ausgestattet wurde, in denen sich ihre Repräsentanten sonnen konnten, bis sie sie im Namen der Partei wieder verloren. Selbstkritisch musste sich der unmittelbar vor dem Machtverlust stehende Ulbricht nach dem niedergeschlagenen Juniaufstand 1953 von dem um ihn entstandenen Personenkult distanzieren, um so seine Stellung als Erster SED-Sekretär zu behaupten; im Namen eines brüskierten SED-Führungskollektivs stieß Honecker knapp zwanzig Jahre später den Alten, der sich zunehmend für unfehlbar gehalten und sich selbst auf eine Stufe mit Marx gestellt hatte, aus seiner Machtstellung, um das System der kollektiven Führung zu erneuern. Weder in dem einen noch in dem anderen Fall ließ diese Entkleidung das Herrschaftssystem wanken; auch in der DDR blieb der Staatssozialismus noch in der zeitweiligen Machtkonzentration auf ihren Repräsentanten eine Parteidiktatur und nicht eine Tyrannenherrschaft.

Insgesamt erweist sich die überaus gründlich recherchierte Ulbricht-Biografie in ihrem ersten Band weniger als ein Politik und Persönlichkeit verknüpfendes Lebensbild denn als biografisch getönte Institutionsgeschichte und in ihrem zweiten Teil als biografische Suche nach einem Alleinherrscher, der in all seiner Machtfülle doch nur das Werkzeug einer kommunistischen Parteidiktatur blieb. Ungeachtet dieser konzeptionellen Einwände aber bleibt Kowalczuks Zweibänder über Ulbricht eine beeindruckende Leistung, die in ihrer empirischen Sättigung eine fühlbare Lücke der bisherigen DDR-Forschung schließt.

 

Zitierempfehlung

Martin Sabrow, Doppelrezension zu: Ilko-Sascha Kowalczuk, Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893–1945), C.H. Beck, München 2023; ders., Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator (1945–1973), C.H. Beck, München 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82016.pdf> [27.8.2024].

David Bebnowski, Kämpfe mit Marx. Neue Linke und akademischer Marxismus in den Zeitschriften »Das Argument« und »PROKLA« 1959–1976

(Geschichte der Gegenwart, Bd. 25)

Wallstein Verlag | Göttingen 2021 | 534 Seiten, gebunden | 46,00 € | ISBN 978-3-8353-5031-1

rezensiert von

Detlef Siegfried, Universität Kopenhagen

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Wie entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland eine »Neue Linke« und welche Rolle spielte dabei die Theorie? Diese Frage behandelt das Buch von David Bebnowski. Er konzentriert sich dabei auf die 1959 gegründete und bis heute bestehende Zeitschrift »Das Argument«, deren Erscheinen also auch das Jahr 1968 überschreitet und daher nicht nur die Entstehung, sondern auch Umgruppierungen innerhalb der Neuen Linken vor und nach dem annus mirabilis hervortreten lässt. In den 1970er-Jahren gilt dies auch im Kontrast zur Konkurrenz der Zeitschrift »Probleme des Klassenkampfs«(später kurz »PROKLA«), die 1971 aus politischen Dissoziationen entstanden war – und daher, anders als man den Titel des Buches deuten könnte, nicht gleichgewichtig behandelt wird, sondern nur in seinem letzten Drittel im Spannungsverhältnis zum »Argument«. Eines der wichtigsten Verdienste Bebnowskis besteht darin, dass er die politische Praxis der Linken prominent in die Analyse der Intellectual History einbezieht, also theoretische Konjunkturen und organisatorische Präferenzen zueinander in Beziehung setzt. Zu den maßgeblichen Kontexten gehört das räumliche Umfeld beider Zeitschriften, das »Biotop« West-Berlin, dessen politische Kultur zwar antikommunistisch geprägt war, aber gerade sozialistischen Positionen große Spielräume bot und überdies das Zentrum des zum Zweck der »Reeducation« eingerichteten neuen Faches Politikwissenschaft war. Immerhin besaß das Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität 1960 zehn der damals erst 14 in der Bundesrepublik und West-Berlin existierenden Lehrstühle dieses Faches und viele von ihnen waren mit linken Remigranten besetzt.

»Kämpfe mit Marx« ist, wie der auf praxeologische Aspekte abhebende Titel schon andeutet, mehr als die Geschichte einer Zeitschrift. Neben den unter Berufung auf Marx geführten innerlinken Auseinandersetzungen und dem Kampf um die Etablierung des Marxismus als Zugang zur Analyse der Gegenwart in der geistigen Welt der Bundesrepublik rekonstruiert Bebnowski über »Das Argument«die Entwicklung des theoretischen Horizonts der Neuen Linken in allen ihren Verzweigungen. So tritt für die frühen Jahre der kaum zu überschätzende Einfluss des Philosophen Günther Anders hervor, der der Zeitschrift die Ideen der Frankfurter Schule nahebrachte. Über Margherita von Brentano und Peter Fuhrt wurde »Das Argument« zum zentralen Ort der Beschäftigung mit Faschismustheorien, die Zusammenarbeit mit Schülern des Marburger Politikwissenschaftlers Wolfgang Abendroth bestimmte die Analyse des Kolonialismus. Ein wichtiger Katalysator für die weitere Entwicklung war die frühe Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität und Emanzipation, vermittelt durch Herbert Marcuse. Sie trug entscheidend dazu bei, dass der Gründer der Zeitschrift, Wolfgang Fritz Haug, und die »Argument«-Redaktion insgesamt von der Kultur her zu Marx kamen – eine Linie, die zum zentralen Kontinuitätsfaktor des Haugschen Marxismus werden sollte. Dass es sich dabei trotz Haugs herausgehobener Position als »geistige Autorität« (S. 153) um eine kollektive Suchbewegung handelte, wird besonders deutlich in der Tatsache, dass die Zeitschrift von einem Diskussionszirkel begleitet und vorbereitet wurde, dem »Argument«-Klub, der sich besonders mit den kulturellen Entstehungsbedingungen des Faschismus beschäftigte und Parallelen zu diesen in der Gegenwart sah. Demnach hatte autoritäre Erziehung, kombiniert mit Ablenkung durch Konsum und medialer Manipulation dazu geführt, dass die Menschen ihre Lage nicht mehr durchschauen konnten. Nun sollte es darum gehen, diesen Verblendungszusammenhang zu durchstoßen und Aufklärung zu betreiben. Haugs Medienkritik von 1963 antizipierte bereits die Grundthese seines 1971 erschienenen Klassikers »Kritik der Warenästhetik«. Immer wieder erhellen derartige Längsschnitte und Querverbindungen die Zusammenhänge. Exzellent arbeitet Bebnowski etwa heraus, wie Haug die Autoritäten der Kritischen Theorie imitierte. Der Bezug auf Max Horkheimers Aufsatz »Die Juden und Europa« (1939) – Wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch vom Faschismus schweigen, so Horkheimers berühmte These – präformierte die spätere Ausrichtung des »Argument« auf die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus.

Durch die Nähe zum SDS, dem alle Mitglieder der »Argument«-Redaktion angehörten, ließen dessen innerverbandliche Entwicklungen die Zeitschrift nicht unberührt. Als 1966 die aktionistische Subversive Aktion um Rudi Dutschke den West-Berliner SDS aufmischte, spaltete sich auch der »Argument«-Klub, dessen Mehrheit sich fortan im SDS engagierte und dort dem Primat der Praxis frönte. »Das Argument« hingegen wandte sich der Wissenschaft zu, um als Aktualisierung von Horkheimers »Zeitschrift für Sozialforschung« aus den 1930er-Jahren insbesondere jüngere Wissenschaftler anzusprechen. Im Ergebnis der Dissoziation trennte sich Haug von den Mitgliedern der alten Redaktion, die sich eher als SDS-Aktivisten betrachteten (Reimut Reiche war just zum SDS-Vorsitzenden gewählt worden), während der Herausgeber nach eigener Aussage »Theorie machen« wollte – und also, Bernhard Blanke zufolge, »nicht mehr Politik« in einem unvermittelten Sinne (S. 240). In der Folge wurde daraus das Konzept, »Wissenschaft als Politik« zu betreiben. Die Hinwendung zur Wissenschaft und zum Marxismus verstärkte auch die Verbindung zu den von den »Antiautoritären« als »Traditionalisten« geschmähten Abendroth-Schülern. Infolge der Querelen um die Ausrichtung des Blattes wurde 1969 die Zeitschrift »Sozialistische Politik« gegründet, aus der zwei Jahre später die »PROKLA« hervorging.

Seit Ende 1970 war der Einfluss der 1968 gegründeten DKP in der Zeitschrift manifest und sorgte dafür, dass »Wissenschaft als Politik« nun »durchaus als praktischer Dienst an der revolutionären Sache« verstanden wurde, wie Bebnowski formuliert (S. 286). Die Neigung zur Orthodoxie zeigte sich etwa daran, dass sich die Zeitschrift 1974/75 in einer Auseinandersetzung um die Widerspiegelungstheorie auf die Seite Lenins schlug und damit gegen dessen Kritiker, wie etwa Karl Korsch, Stellung bezog. Im Rückblick betrachtete Haug die Einseitigkeit zugunsten der DKP als »vielleicht größten taktischen Fehler in der Geschichte dieser Zeitschrift«, man hätte »für linke Pluralität und Diskussion« sorgen müssen (S. 287). Sehr schön arbeitet Bebnowski die bemerkenswerte Tatsache heraus, dass die zunehmende Ausrichtung auf die DKP-Linie von einer Steigerung der Auflage begleitet wurde, die sich von 1969 bis 1971 auf 15.000 Hefte fast verdreifachte. Dass mit dem Linksboom und dem Aufstieg der marxistischen Wissenschaftskritik nicht nur das Potenzial an Leserinnen und Lesern sprunghaft wuchs, sondern auch die Menge des Materials, zeigt der enorme Ausstoß an Heften von zum Teil mehreren hundert Seiten Umfang. Anhand der Dissoziation von »Argument« und »Sopo«bzw. »PROKLA« leitet Bebnowski die neue und weiterführende These ab, dass nicht der Zerfall des SDS die Diffusion der Neuen Linken entscheidend vorangetrieben habe, sondern die Gründung der DKP. Sie habe in der gesamten Linken eine Positionierung erzwungen, wobei »Das Argument« an seinem ursprünglichen Ansatz festhielt, anders als die meisten wissenschaftlichen Zeitschriften auch Kommunisten eine Publikationsmöglichkeit zu bieten, während die »PROKLA« sich in der Rolle eines dezidiert »antirevisionistischen«, also gegen die DKP gerichteten, »Zentralorgans« sah (S. 305) und sich 1973 auf das Sozialistische Büro als politisch-organisatorischen Bezugspunkt festlegte. In der Rückschau bewertete Haug das Verhältnis von DKP und »Argument« allerdings nicht als Zusammenarbeit, sondern als »Tauziehen um die Kontrolle der Zeitschrift« (S. 318).

Implizit ist Bebnowskis erstklassig recherchiertes und kluges Buch damit auch ein eindringliches Plädoyer für die intensivere historiografische Berücksichtigung der DKP als mit Abstand stärkster organisatorischer Kraft der Linken jenseits der SPD in den 1970er-Jahren. Im Gegensatz zum maoistischen Spektrum, zu Spontis und zum Alternativmilieu, ist der Forschungsstand zum »orthodoxen« Kommunismus ebenso bescheiden wie veraltet. Bebnowski zeigt überzeugend, wie die Gründung der DKP zu tektonischen Verschiebungen innerhalb der Neuen Linken führte, ja, er setzt sie in ihrer Bedeutung als Zäsur sogar mit dem Auftritt der RAF gleich: Beide Ereignisse verschoben die politischen Koordinaten und machten eine Positionierung unumgänglich. Zum Ende des Untersuchungszeitraums hin wird deutlich, wie die »Stamokap«-Debatte und das Aufkommen des Eurokommunismus 1977 Haug zur Adaption der politischen Theorie Antonio Gramscis führten, dessen »Gefängnishefte« er später in deutscher Übersetzung herausgab. Bebnowski datiert Haugs Bruch mit DKP und SEW auf das Jahr 1984, als Haug das Konzept eines »pluralen Marxismus« propagierte und die DKP einen ganzen Sammelband aufwandte, um sich davon zu distanzieren. Zu einer Reorientierung am Ursprungsimpuls der Neuen Linken trug schon ab Mitte der 1970er-Jahre auch der gewachsene äußere Druck durch den »Radikalenerlass« bei, der eine ernsthafte Bedrohung der marxistischen Intelligenz und ihrer Zeitschriften darstellte. Bereits 1976 plädierten »Das Argument« ebenso wie die »PROKLA« für ein sozialistisches Bündnis und eine offene Debatte, die die Schützengräben der frühen 1970er-Jahre wieder verlassen sollte.

»Kämpfe mit Marx« stellt den inzwischen vorliegenden Studien zum »Kursbuch«und zur »alternative«nicht nur eine weitere profunde Analyse einer wichtigen linken Zeitschrift an die Seite[1], es verortet die Geschichte von »Argument« und »PROKLA« auch in der spezifischen inneren Dynamik eines linken Mikrokosmos mit bundesweiter Strahlkraft und bestimmt überzeugend ihre Rolle für die Formierung und Umstrukturierung der Neuen Linken. Selten ist es gelungen, Theoriebildung und politische Praxis derart gekonnt miteinander zu verbinden, dass die Interdependenz theoretischer Schwerpunkte, politischer Positionen, Aktionsfelder und Organisationsformen der Neuen Linken geradezu plastisch hervortritt.

 

Zitierempfehlung

Detlef Siegfried, Rezension zu: David Bebnowski, Kämpfe mit Marx. Neue Linke und akademischer Marxismus in den Zeitschriften »Das Argument« und »PROKLA« 1959–1976, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82015.pdf> [27.8.2024].

 

[1] Vgl. Henning Marmulla, Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68, Berlin 2011; Kristof Niese, »Vademekum« der Protestbewegung? Transnationale Vermittlungen durch das Kursbuch von 1965 bis 1975, Baden-Baden 2017; Moritz Neuffer, Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift »alternative« 1958–1982, Göttingen 2021.

Wilfried Rudloff/Marc von Miquel, Das Bundessozialgericht und die Formierung des westdeutschen Sozialstaats. Akteure – Rechtsprechung – sozialrechtliche Prägungen

C.H. Beck | München 2024 | 584 Seiten, Hardcover | 129,00 € | ISBN 978-3-406-81215-6

rezensiert von

Eberhard Eichenhofer, Friedrich-Schiller-Universität Jena

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Das vorzustellende Buch dient der historischen Selbstvergewisserung der nach 1945 entstandenen Sozialgerichtsbarkeit und ihrer zentralen Institution – dem Bundessozialgericht (BSG). Zwei erfahrene Autoren behandeln seine Gründungsphase und würdigen seine Bedeutung für den westdeutschen Sozialstaat in der Nachkriegszeit. War Rechtsstaatlichkeit ein bestimmender Ausdruck für den politischen Neuanfang nach 1945, diente soziale Sicherheit als Leitbild für den ökonomischen Wiederaufbau. Massenwohlstand auf rechtlich gesicherter Grundlage lautete das zentrale Ziel der westlichen Nachkriegsgesellschaften. In der Bundesrepublik entstand 1954 die Sozialgerichtsbarkeit als selbständiger Gerichtszweig. Das BSG wurde – wie das Bundesarbeitsgericht – in Kassel errichtet. Die Sozialgerichtsbarkeit trat anstelle der vormals mit dieser Aufgabe betrauten staatlichen Aufsichtsbehörden über Sozialversicherung und Versorgungsverwaltung, deren oberste Aufsichtsbehörde das Reichsversicherungsamt (RVA) gewesen war.

Das RVA wurde auch noch in der frühen Bundesrepublik als stilprägend für die Sozialgerichtsbarkeit erachtet. Der ersten Generation von Richtern am BSG gehörten zahlreiche ehemalige RVA-Bedienstete an. Das Buch geht fundiert der Frage der NS-Belastung der BSG-Gründergeneration nach: Die allermeisten waren im NS-Staat nicht nur als Fachleute, sondern sogar als Spitzenleute und maßgebliche Akteure in der NS-Sozialverwaltung tätig gewesen. Näher wird dies für den ersten Präsidenten des BSG Joseph Schneider und den bekannten BSG-Senatspräsidenten Walter Bogs veranschaulicht. Ihr Wirken im NS-Staat in führender Stelle im »Protektorat Böhmen und Mähren« oder im Reichsarbeitsministerium bei der sozialen Entrechtung von NS-Verfolgten wird detailliert nachgezeichnet; in der frühen Bundesrepublik blieb dieses Wirken unbekannt und zeitigte jedenfalls keine Nachwirkungen für die berufliche oder gesellschaftliche Stellung der Akteure. Insgesamt wird überdeutlich, dass die ursprüngliche Zusammensetzung des BSG auf die aus dem NS-Staat überkommenen Netzwerke zurückging. In der Zeit als das BSG entstand, brachten sich ehemalige Spitzenbeamten des RVA wechselseitig im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und in den neu entstehenden Bundesbehörden und -gerichten unter: Die Kontinuität in den Funktionseliten wurde gewahrt.

Weitere biografische Stichproben gelten etwa dem vor 1933 ebenfalls am RVA tätigen August Teutsch. Er wurde 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Staatsdienst entlassen, überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt, wurde nach 1945 beruflich rehabilitiert und wirkte danach in der Sozialverwaltung Badens. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Franz Böhm – einsamer Vorkämpfer in seiner Fraktion für die Wiedergutmachung – setzte sich mit Erfolg für Teutschs Berufung an das BSG ein. Er blieb der einzige NS-Verfolgte am BSG. Ebenfalls portraitiert wird Horst Hunger: Er wirkte ebenfalls am RVA, war im Zweiten Weltkrieg als Wehrmachtsrichter tätig und wurde deswegen nach seiner Rückkehr nach Sachsen von der sowjetischen Besatzungsmacht interniert. In den »Waldheimer Prozessen« wurde er zum Tode verurteilt, anschließend aber zu lebenslanger Haft begnadigt, aus der er 1955 entlassen wurde. Er floh in den Westen, fand als Sowjetverfolgter zunächst eine Anstellung am BSG, aus der er unmittelbar in ein Richteramt ebendort berufen wurde. Das Buch schildert ferner eingehend mehrere Begebenheiten im Umgang des BSG mit den aus der DDR und von einer kritischer werdenden westdeutschen Öffentlichkeit gegen einzelne Richter erhobenen Vorwürfen einer NS-Belastung. Das Gericht stellte sich in jedem Fall schützend vor die Beschuldigten. Diesen drohten deswegen auch keine dienstlichen Sanktionen. Bei der Regelung seiner Nachfolge als BSG-Präsident versuchte Joseph Schneider 1968 den vom Richterwahlausschuss auf Vorschlag der SPD nominierten Kandidaten Georg Wannagat zu verhindern. Schneider scheute sich dafür nicht, seine persönlichen Kontakte zu Bundeskanzler Kiesinger zu nützen und Wannagat Verfehlungen während der NS-Zeit vorzuhalten. Dieser wusste die haltlosen Vorwürfe indes auszuräumen.

Im zweiten Teil des Buchs untersuchen die Autoren die Rechtsprechung des BSG und deren prägende Kraft für den westdeutschen Sozialstaat. Zunächst lag ein Schwerpunkt der Rechtsprechung auf der Grundlegung des sozialgerichtlichen Rechtsschutzes. Hierfür waren Neuansätze nötig und das RVA konnte daher nicht traditionsbegründend wirken. Das BSG entwickelte die Maßstäbe für die gerichtlichen Kontrolle vielmehr im Kontrast zum vordem herrschenden Rechtsschutzsystem der verwaltungsinternen Selbstkontrolle. Hierauf verwandte die Sozialgerichtsbarkeit viel Mühe, um sich in der ihr anfänglich skeptisch gegenüberstehenden Öffentlichkeit – namentlich im Hinblick auf die traditionsreichen Gerichte – die nötige Anerkennung zu verschaffen. Da die Sozialgerichte außerdem kostenfrei waren, wurden sie seit Anbeginn stark in Anspruch genommen. Schon in den ersten Jahren sah sich das BSG durch einen unerwartet hohen Geschäftsanfall in seinem Wirken beeinträchtigt.

Im Mittelpunkt der Spruchpraxis stand die Kriegsopferversorgung. Millionen von Menschen hatten wegen einer Kriegsverwundung oder als Witwen und Waisen Ansprüche auf soziale Entschädigung. Der totale Krieg schuf zahlreiche Lebensumstände außerhalb von Militär und Kriegseinsatz, die zur Versorgung berechtigten, etwa für die Opfer von Bombenangriffen, Belagerungen, Tieffliegergeschossen, marodierender Banden oder von Blindgängern. Darüber hinaus waren NS-Verfolgte und »Displaced Persons« – also KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter, Internierte – ebenso wie Flüchtlinge und Vertriebene durch Sozialleistungen zu bedenken und so gesellschaftlich zu integrieren. Die sozialrechtliche Verantwortlichkeit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft hatte kriegsbedingt ein vordem unbekanntes Ausmaß erreicht. Dementsprechend war es schwierig, den Kreis der Entschädigungsberechtigten nach abstrakt-generellen Maßstäben zu bestimmen. Wenn es in Deutschland eine Zeit gab, in welchem der Sozialstaat sich umfassend zu bewähren hatte, so waren es die unmittelbaren Nachkriegsjahre.

Des Weiteren veranschaulicht das Buch die zentrale Rolle der neu entwickelten Gerichte für ein zunehmend von Recht – und das hieß: Rechtsprechung – geprägtes Sozialleistungssystem. Das BSG stellte von Beginn an seine rechtsfortbildende Rolle heraus. In der Rechtsprechung zeigte sich die Entwicklung der Wohlfahrtsgesellschaft. Die gerichtliche Auslegung des Krankheitsbegriffs in der Krankenversicherung verwies auf den Entwicklungsstand der Medizin; in dem Maße wie deren Möglichkeiten wuchsen, expandierten auch die Behandlungsleistungen. In der auf Vollbeschäftigung beruhenden Wirtschaft, in der auch Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen Erwerbschancen erhielten, war der Begriff der Erwerbs- und Berufsunfähigkeit neu zu bestimmen. In der Rechtsprechung kam die Vorstellung zur Geltung, dass die Rente den Menschen ihren im Erwerbsleben erlangten sozialen Status schützen und ihn bei dauerhafter gesundheitlicher Beeinträchtigung kompensieren müsse. Die Modalitäten, unter denen dies zu geschehen habe, blieben aber bis zum Ende der 1970er-Jahre in der Sozialgerichtsbarkeit und auch im BSG umstritten.

Im dritten Teil des Buchs befassen sich die Autoren mit den Charakteristika der Sozialgerichtsbarkeit. Diese erkannte früh die Bedeutung von Weiterbildung für die Richterschaft. Das Buch illustriert dies anhand der anspruchsvollen Konzeptionen für die vom BSG seit 1972 regelmäßig veranstalteten »Richterwochen«. Ebenso beschreibt das Buch den erheblichen Einfluss, den einzelne Angehörige der Richterschaft in Reformkommissionen sowie als Autoren von Handbüchern, Kommentaren und Aufsätzen auf die Auslegung der Sozialgesetze und den öffentlichen Diskurs über Sozialgesetzgebung und Sozialpolitik nahmen. Das BSG nahm sich auch früher als andere oberste Bundesgerichte der Pressearbeit an. Legendär und eingehend geschildert ist zudem der Beitrag der Sozialgerichtsbarkeit zur elektronischen Erschließung des Rechts. Das in Deutschland entwickelte elektronische Recherchesystem für Recht »Juris« wäre ohne den Vorlauf durch die Verarbeitung sozialrechtlicher Normen und Entscheidungen, wie sie seit Anfang der 1970er-Jahre federführend am und vom BSG betrieben wurde, nicht vorstellbar.

Das Buch fördert manche bisher nicht hinreichend bekannte Begebenheit aus der Gründungsphase von BSG und Sozialgerichtsbarkeit zutage. Es gibt einen Einblick in die Lebensläufe von Führungspersönlichkeiten des BSG und zeichnet die westdeutsche Justiz in ihrer Kontinuität zur NS-Zeit nach, wobei es eingehend die diese ermöglichenden politischen, sozialen und professionellen Faktoren beschreibt. Die Untersuchung ist um die historische Einordnung der Epoche bemüht. Dabei werden zwar die Leitperspektiven jener Zeit – Neuaufbau im Zeichen sozialer Sicherheit und unter Garantie von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten – nicht hinreichend plastisch. Gelungen ist indessen die Darstellung der wachsenden Eigenständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit als Teil der allgemeinen Gerichtsbarkeit. Sie wird als technikaffin gekennzeichnet, ebenso als auf öffentliche Profilierung bedacht. Sie vermochte, die Sozialverwaltung aus dem Verständnishorizont der Gerichtsbarkeit neu zu bestimmen. Die Sozialgerichtsbarkeit überführte die Sozialverwaltung damit in eine hochspezialisierte Expertendisziplin. Anschaulich vergegenwärtigt das Buch so am Beispiel des Bundes- sozialgerichts die Geschichte der Nachkriegszeit in Westdeutschland und ihre sozialpolitischen Themen. Es zeichnet die Wiederbegründung von Verwaltung und Justiz auf dem Boden der NS-Vergangenheit nach und lässt in ersten Umrissen das Profil einer Sozialgerichtsbarkeit erkennen, die sich als neuer, eigenständiger und eigensinniger Zweig der Justiz verstand und als Alternative zur herkömmlichen ordentlichen Gerichtsbarkeit darstellte.

 

Zitierempfehlung

Eberhard Eichenhofer, Rezension zu: Wilfried Rudloff/Marc von Miquel, Das Bundessozialgericht und die Formierung des westdeutschen Sozialstaats. Akteure – Rechtsprechung – sozialrechtliche Prägungen, C.H. Beck, München 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82010.pdf> [27.8.2024].

Manuela Rienks, Ausverkauft. Arbeitswelten von Verkäuferinnen in der Bundesrepublik Deutschland

(Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 143)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2024 | 539 Seiten, gebunden | 84,95 € | ISBN 978-3111141350

rezensiert von

Daniela Rüther, Ruhr-Universität Bochum

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In der Corona-Pandemie wurden sie als »Heldinnen des Alltags« bezeichnet und als »systemrelevant« beklatscht: die Verkäuferinnen in der Bundesrepublik Deutschland. Bislang hat sich die historische Forschung indes nur wenig mit ihrer Geschichte befasst. Umso verdienstvoller ist das Anliegen der vorliegenden Dissertation, sie ans Licht zu bringen. Das Vorhaben fügt sich ein in aktuelle Bestrebungen, die Geschichte der Arbeit, die lange Zeit eine Geschichte der vorwiegend industriell geprägten Arbeiterbewegung war, neu zu beleben und dabei auch geschlechtergeschichtliche Themen verstärkt in den Blick zu nehmen.[1]

Ausdrücklich will Manuela Rienks in ihrer Untersuchung die Entwicklung des Einzelhandels nicht aus wirtschafts- und konsumgeschichtlicher Perspektive, sondern aus arbeitsgeschichtlicher Perspektive erzählen. Methodischer Fluchtpunkt der Studie sei, so Rienks, »eine geschlechtergeschichtlich inspirierte Zeitgeschichte der Arbeit, die kultur- und sozialhistorische Fragestellungen und Methoden miteinbezieht«. Die Untersuchung solle einen Beitrag leisten, eine bestehende Forschungslücke zu schließen. Dass Frauen im 20. Jahrhundert besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten als »verschiebbare Manövriermasse auf dem Arbeitsmarkt« genutzt wurden, sei bekannt. Die Studie zeige jedoch darüber hinaus, dass sie durch die Art ihrer Tätigkeiten und Anstellungsformen auch in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität »in einem gläsernen Käfig aus struktureller Ungleichheit und Geringschätzung feststeckten, die sich in einer insgesamt schlechteren sozialen Positionierung manifestierte« (S. 12).

Ausgehend von dem seit dem 19. Jahrhundert verbreiteten Kinderspiel »Kaufladen« sucht die Autorin den »Automatismus« zu erklären, warum der Einzelhandel traditionell mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert würde. Sie konstatiert, dass »Tante Emma« stereotypisch den Einzelhandel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland geprägt habe. Aber auch der durch die Insolvenz der gleichnamigen Drogeriekette im Jahr 2012 geprägte Ausdruck der »Schlecker-Frau« zählt für die Autorin zu den weit verbreiteten »Stereotypien des Verkaufspersonals«. Die Entstehungsgeschichte und Hintergründe solcher Stereotypien zu untersuchen und zu ergründen, wie sich die Arbeitspraktiken der Verkaufenden zwischen »Tante Emma« und »Schleckerfrau« entwickelt haben, ist – »verknüpft mit der Frage, welche Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten sich für die Akteurinnen und Akteure ergeben« haben – das Ziel ihrer Studie. Im Fokus stehen dabei die Umstände und Rahmenbedingungen, unter denen Frauen im Untersuchungszeitraum von den 1950er-Jahren bis in die 1990er-Jahre im bundesdeutschen Einzelhandel arbeiteten, die Veränderung ihrer sozialen Rolle in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und die daraus abzuleitenden Aussagen über die Geschlechterordnung in der westdeutschen Demokratie (S. 4f.). Ausdrücklich soll sich die Untersuchung der Arbeitswelt also nicht auf reine Arbeitsplatz- und Betriebsanalysen beschränken, sondern auch soziale Prozesse und gesellschaftliche Kontexte mit einbeziehen (S. 10).

Theoretisch-methodisch orientiert sich die Arbeit an der historischen Raumanalyse von Susanne Rau und fokussiert den Verkaufsraum und den Kassenarbeitsplatz als wesentliche Räume im Einzelhandel.[2] Gleichzeitig verschreibt sie sich einer praxeologischen Perspektive, indem sie den Betrieb als Ort von Erwerbsarbeit als zentrales »soziales Handlungsfeld« denkt (S. 10). Im Detail behandelt die Autorin die Branchen Lebensmitteleinzelhandel und Textileinzelhandel als im Untersuchungszeitraum größte Branchen des Einzelhandels.

Die Untersuchung ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil befasst sich mit der »Sozialfigur der Verkäuferin«. Die Autorin sieht sie konstituiert durch Selbstbeschreibungen, den Diskurs innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung, der Gewerkschaften, der Sicht der Unternehmen und der Gesellschaft sowie durch die Gehälter als »offensichtlichstem Element sozialer Ungleichheit« (S. 29). Der zweite Teil thematisiert die sozialen Strukturen im Verkauf sowie den Zusammenhang zwischen Arbeitswelt und Sozialleben der Verkäuferinnen. Dabei werden die Ausbildungswege, betriebliche Sozialstrukturen, die Arbeit der Betriebsräte wie auch die Position der Männer in der geschlechtlichen Hierarchie im Einzelhandel betrachtet. Der dritte Teil beleuchtet die Arbeitsräume der Verkäuferinnen. Im Fokus stehen die Auswirkungen der Selbstbedienung auf die Arbeitsweisen. Dabei werden neben Gemeinsamkeiten auch branchenspezifische Unterschiede zwischen Lebensmitteleinzelhandel und Textileinzelhandel aufgezeigt. Besondere Beachtung schenkt die Autorin dem Kassenarbeitsplatz. Der vierte Teil untersucht die Arbeitszeiten der Verkäuferinnen, tarifliche, unternehmerische und individuelle Arbeitszeitregelungen ebenso wie Teilzeitarbeit, aber auch die Debatten um den Ladenschluss.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Geschichte der Arbeitswelten von Verkäuferinnen im Untersuchungszeitraum die einer Marginalisierung sei (S. 478). Sie führt dies darauf zurück, dass die vergeschlechtlichten Strukturen der Arbeit festgefahren gewesen seien und sie durch ihre »Manifestation auf der Mikroebene des Betriebs geschlechtsspezifische Ungleichheit in der Arbeit« immer wieder neu hervorgebracht hätten. Die Autorin konstatiert, dass die praxeologische Perspektive der Untersuchung »die Dichotomie aus Struktur und individuellem Handeln bei der Analyse von Ungleichheit in der Arbeit aufgelöst« habe. Deutlich geworden sei, dass es auch die Arbeitspraktiken selbst gewesen seien, die eine geschlechtsspezifische Segmentierung des Arbeitsraums sowie ein geschlechtsspezifisches Arbeitszeitregime erzeugten (S. 485). Die Arbeitspraktiken entwickelt die Autorin anhand eines abstrahierten Modells der Verkaufspraxis, wobei sie von sieben Teilpraktiken der Verkaufspraxis ausgeht: dem Begrüßen der Kund*innen, dem Bedienen, Kassieren, Verpacken der Ware, Verabschieden der Kundschaft, Verwalten der Waren und dem Instandhalten des Ladens (S. 206). Der Verkaufsraum wird darauf hin analysiert, wie er sich konstituierte, durch wen er verändert wurde und wie die Akteure sich den Raum aneigneten, sich in ihm bewegten und räumliche Praktiken ausbildeten (S. 207). Dieser praxeologische Ansatz überzeugt nicht, zumal die Autorin nur Fotos von Verkaufsräumen verwendet, um ihre Fragen zu beantworten. Unverzichtbar wären an dieser Stelle Zeugnisse von Verkäuferinnen gewesen.

Das grundlegende Problem der Arbeit ist die Quellenlage, da – wie die Autorin konstatiert – bei den  bestehenden großen Lebensmitteleinzelhandelsunternehmen die Archive, sofern sie überhaupt existierten, für Außenstehende nur schwer zugänglich seien (S. 26). Die Entscheidung für die beiden nicht mehr bestehenden Lebensmittelunternehmen Latscha und Gaissmaier fiel denn auch aufgrund der vergleichsweise günstigen Aktenlage in kommunalen Archiven und Wirtschaftsarchiven. Die Quellenlage im Textileinzelhandel sei insgesamt besser. In Wirtschaftsarchiven fand die Autorin Akten der Unternehmen C.F. Braun in Stuttgart und des Kaufhauses Beck in München. Die Firmenarchive von Hirmer und C&A waren der Autorin nicht frei zugänglich. Zugang bestand nur in Rücksprache mit dem Archivar bzw. zu Quellen, die die Archivarin vorausgewählt hatte. Im Falle von C&A konnten Akten aus der Zeit nach 1961 nur in Einzelfällen eingesehen werden. Bedauerlicherweise konnte daher etwa der Vorgang rund um die Aufhebung des Verbots für Verkäuferinnen, Hosen zu tragen, nicht aufgedeckt werden.

Für das ambitionierte Forschungsvorhaben ist die Quellenlage für die gewählten Fragestellungen insgesamt sehr dünn, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Die zentrale Quellengattung sind Fotos, Bilder und Grundrisse der Verkaufsräume, Personalstatistiken sowie in Einzelfällen Korrespondenzen zwischen Geschäftsleitung und Filialleitungen. Quellen aus den Bereichen der Unternehmensführung, etwa zur strategischen Geschäftsausrichtung oder allgemein zum Personalbereich, standen nicht zur Verfügung. Als Ersatz dienten Betriebszeitschriften, die als Medien der internen Kommunikation jedoch nur beschränkt aussagekräftig sind, was von der Autorin nicht immer quellenkritisch reflektiert wird. Zugriff bestand immerhin auf von den Unternehmen beauftragte Umfragen und Studien. Dagegen lagen der Autorin leider nur wenige Selbstzeugnisse von Verkäuferinnen vor, lediglich einzelne, auf Betriebsausflügen entstandene Gedichte aus den frühen 1950er-Jahren, die sich in einem Unternehmensbestand erhalten haben, sowie (ebenfalls in Unternehmensbeständen überliefert) einzelne Interviews (S. 28).

Insofern leidet die Untersuchung daran, dass ihre Protagonistinnen, die Verkäuferinnen, keine Stimme erhalten. Oftmals ist die Autorin auf Mutmaßungen angewiesen, wenn es um die Selbstwahrnehmung der Verkäuferinnen bzw. Kassiererinnen in ihren Arbeitspraktiken geht (vgl. etwa S. 305). Ähnlich verhält es sich mit Quellen aus der Sicht der Unternehmen. Das führt bisweilen zu einer einseitigen Betrachtung. So wird die Rationalisierung im Einzelhandel durch technische Innovationen beim Kassieren allein unter dem Aspekt der Überwachung und Kontrolle der Mitarbeiterinnen dargestellt, obwohl die Autorin selbst eine Quelle zitiert, die eine wichtige Unternehmensperspektive nahelegt: Ein ehemaliger Mitarbeiter des Textilfachgeschäfts Hirmer habe berichtet, dass es mit dem neuen Warenbewirtschaftungssystem den Verkäufer*innen nicht mehr möglich gewesen sei, »ein bisschen zu tricksen«, wenn die Verkaufszahlen dem Abteilungsleiter mitgeteilt werden mussten (S. 387). Aus Sicht des Unternehmens geht es hier um notwendiges »Fraud-Management« im Interesse von Wirtschaftlichkeit und günstigen Preisen für die Konsument*innen. Bedauerlich ist darüber hinaus, dass die Autorin die Studie zum Unternehmen Tengelmann im »Dritten Reich« nicht rezipiert hat.[3]

Auch wenn die Untersuchung ihren Anspruch, »ein Gesamtbild der Arbeitswelt des bundes- deutschen Einzelhandels von den 1950er Jahren bis in die 1990er Jahre« zu liefern, aufgrund der schmalen Quellenbasis nicht einlösen kann, ist sie ein wichtiger erster Aufschlag für Forschungen zu diesem Zeitraum, der durch den Einbezug von Zeitzeug*innen in »Oral History«-Projekten noch weiter erschlossen werden könnte.

 

Zitierempfehlung

Daniela Rüther, Rezension zu: Manuela Rienks, Ausverkauft. Arbeitswelten von Verkäuferinnen in der Bundesrepublik Deutschland, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82013.pdf> [27.8.2024].

 

[1] Vgl. Stefan Berger, »German Labour History is Back« – Announcing the Foundation of the German Labour History Association, in: International Labor and Working-Class History 97, 2020, S. 185-189; Lutz Raphael, Deutsche Arbeitswelten zwischen globalen Problemlagen und nationalen Handlungsbezügen. Zeitgeschichtliche Perspektiven, in: VfZ 69, 2021, S. 1-23.

[2] Vgl. Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, 2. aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main/New York 2017.

[3] Vgl. Lutz Niethammer (Hrsg.), Tengelmann im Dritten Reich. Ein Familienunternehmen des Lebensmittel- handels und der Nationalsozialismus, Essen 2020.

Felix Römer, Inequality Knowledge. The Making of the Numbers about the Gap between Rich and Poor in Contemporary Britain

(Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London/Publications of the German Historical Institute London, Bd. 89)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2024 | 377 Seiten, gebunden | 59,95 € | ISBN 978-3-11-110014-2

reviewed by

Mike Savage, London School of Economics and Political Science

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This book initially appears to be a worthy, rather dry and technical book, reporting a long-term, painstaking project to consider how official statistics regarding inequality, poverty, and distributional outcomes were constructed and mobilised by successive British governments between 1948 and 2000. Drawing on many years of research in the public archives, buttressed by witness interviews and an astonishing command of government papers and official reports, Römer rarely strays from a careful, mostly restrained, narrative, in the tradition inspired by historians of statistics such as Theodore Porter or Alain Desrosières.[1]

However, to treat this book only as a dry historical case study massively understates its significance and importance. In fact, this is the most illuminating and at times startling historical study of post-war Britain that I have read for many years. The historical narrative that Römer presents is utterly compelling. Above all, he demonstrates just how recent the shift towards open and public data has been. Today, we are saturated by inequality data, whether published in academic journals by social scientists, presented in open access websites such as »Our World in Data«or the »World Inequality Database« or routinely publicized by newspapers such as »The Guardian« or »The Financial Times«. But this is all startlingly new. Until the 1960s, even basic competence regarding how to conceptualise or measure inequality was lacking. Politicians disparaged the use of the Gini coefficient by humorously wondering, in racist terms, if it was anything to do with rubbing Aladdin’s lamp. Attempts to develop inequality metrics were at this period largely driven by international efforts such as those of the International Labour Organization (ILO) and the Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD), to which British civil servants were largely unresponsive or indeed resistant, sometimes deliberately seeking to thwart the worthy efforts of these bodies, for instance to develop the kind of »social indicators« which could be used to measure inequality.

The story then shifts to the rapid - though brief – ratcheting up of inequality statistics by Harold Wilson’s Labour Government after the 1974 election. This identified robust measures as utterly necessary to measure how far its social democratic politics were being effective. In Römer’s account the radicalism and creativity of Wilson’s government comes over very clearly. The Royal Commission on the Distribution of Income and Wealth is well known, but this was only the tip of the iceberg. Every proposed government policy had to be scrutinized to consider its distributional effects (i.e. to what extent any policies were likely to be regressive or progressive). It was under Wilson’s government that income shares were broken down by percentile groups in the official statistics, thus providing the basis of the approach that economists such as Tony Atkinson and Thomas Piketty made so effective in the 21st century. Nonetheless, this effort was short-lived and was running out of steam even before the election of Thatcher in 1979. Callaghan, perhaps feeling threatened by Wilson’s more cerebral approach, weakened this remarkable apparatus, though he was not able to completely kill it.

But it is Römer’s discussion of the abrupt change of course which took place under Margaret Thatcher’s Conservative administration between 1979 and 1990 that takes one’s breath away. This government deliberately carefully controlled the presentation of statistics on poverty and inequality to prevent any effective public scrutiny of the Government’s record. In recent years economists have clearly demonstrated that it was during the 1980s that inequality substantially increased in the United Kingdom, driven by the reduction of top rates of income tax. However, during this same period, the Government was pretty much able to keep the lid on any serious public awareness of this striking trend. Indeed, it continued to publicly deny that the gap between rich and poor was increasing – even though they knew well enough that it was.

Römer’s dispassionate tones fail him when discussing the deliberate obfuscation that Thatcher’s Conservative Government oversaw. He reflects on the determined campaign to resist defining a clear poverty line, and their campaign to discredit the idea of relative poverty that Peter Townsend had managed to establish in the 1970s. He exposes the sheer hypocrisy of Thatcher’s Government. If they genuinely believed that they were creating incentives for business which would provide economic prosperity for all, they would surely have been happy to have their record scrutinized. But in fact, the Tory government was clearly class prejudiced, and was far more sympathetic to business interests than to the wellbeing of employees, and went to great lengths to cover up how far their policies benefitted the better off. Sleights of hand included using 1981 rather than 1979 as the benchmark year to assess changes in poverty rates during the 1980s (as civil servants knew very well that this would put the Government’s record in a better light). Survey responses were doctored to eliminate the data of respondents who recorded unusually high incomes, as it was assumed that respondents must have entered these in error. Nothing, it seems, was too small to escape »air-brushing« attention.

Nonetheless, ultimately, the attempt to control inequality knowledge rapidly unravelled during the early 1990s. This was partly due to the development of the »Luxemburg Income Study« which could provide data independent of UK government surveys and became increasingly prominent during the later 1980s. More specifically in 1991, the government lost its monopoly on control of inequality statistics. The Institute of Fiscal Studies, and economists at the LSE, found ways of replicating government estimates, which ultimately allowed them to expose the basis on which these were constructed. The formation of the »British Household Panel Study« in 1989 also allowed a robust and independent source of inequality data to be established. Thus, even though Blair’s 1997 »New Labour« government did not demonstrate the same serious interest in measurement that Wilson’s Labour Government did, this made far less difference because by the 21st century, inequality statistics lay outside government control. It is interesting that Conservative governments since 2010 have been less effective in following Thatcher’s lead in trying to re-establish control over inequality metrics. Indeed, researcher access to government data has been facilitated, notably through HMRC Datalab and the ONS Secure Research Service.

Although Römer rarely elaborates his theoretical perspective, he makes notable contributions to wider scholarship. Above all, he shows the inadequacy of any teleological perspective which assumes that the growing scientism of statistical expertise will by itself necessarily lead to an enhancement of knowledge. Instead, he insists on the contingent political factors which shape the statistical landscape. He conveys how the culture of the civil service was far more embedded in a belief in its governing mission, requiring close collaboration with the government of the day, rather than any paramount belief in the power of science. On the other side, he draws out the decisive impact of a few academics and politicians. The heroes of this book are the economist Tony Atkinson, the social policy academic Peter Townsend, and the Labour MPs Michael Meacher and Frank Field. These all tirelessly waged a campaign over many decades to enhance inequality data and measurement. Römer has written a wonderful book which draws out this vital work and provides the most systematic analysis of the history of UK post-war official statistics on poverty and inequality that currently exists. It will not be easily surpassed.

 

Zitierempfehlung

Mike Savage, Rezension zu: Felix Römer, Inequality Knowledge. The Making of the Numbers about the Gap between Rich and Poor in Contemporary Britain, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82008.pdf> [27.8.2024].

 

[1] Cf. Theodore M. Porter, The Rise of Statistical Thinking, 1820–1900, Princeton, NJ, 2020 (first edition 1986); Alain Desrosières, The Politics of Large Numbers. A History of Statistical Reasoning, Cambridge, Mass., 1998.

Aurélie Dianara Andry, Social Europe, the Road not Taken. The Left and European Integration in the Long 1970s

(Oxford Studies in Modern European History)

Oxford University Press | Oxford 2022 | 336 Seiten, Hardback | £ 81.00 | ISBN 978-0-19-286709-4

reviewed by

Benjamin Thomas, University of Nottingham

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Criticism of the neoliberal character of the European Union and its institutions has been a common refrain on the political left, and has increased in intensity since the 2008 financial crisis. By portraying the Community as designed for the interests of business and capital, workers and social protection are identified as the great losers in a race to the bottom. By contrast, supporters of the European project emphasise that European social legislation is an incomplete but nonetheless progressive project, and that supranational institutions are the best possible bulwark against the power of multinational capital. Aurélie Dianara Andry’s book »Social Europe, the Road not Taken« situates this debate in a historical context by revisiting debates from the long 1970s to examine mobilisations and thinking at the time around an alternative vision of a social Europe centred on workers, economic and industrial democracy, and the upwards harmonisation of social policies. These debates make the reforms of the 1980s, Jacques Delors’ much fêted »Social Europe«, look like a weak and incomplete project, lacking the radicalism of earlier visions and conceding to the neoliberalisation of the European institutions.

Andry outlines a constellation of actors and projects building this vision, from Stuart Holland’s »Alternative Economic Strategy« in the United Kingdom and »Beyond Capitalist Planning« to the Bonn »Theses for a Social Europe«. In doing so, the author challenges the depiction of the 1970s as a dark age of intellectual barrenness among the left or of complacency against neoliberalism, as well as stereotypical portrayals of Britain and West Germany as undifferentiated blockers to the development of a progressive Europe. Here a worker’s Europe, typified by a policy of worker control in companies, a reduction in weekly working hours and the orientation of further integration away from reliance on a productivism paradigm, presents itself as an alternative both to the European post-war order and to the neoliberal market hegemony, that was still emerging at the time. It also represents a very different vision from those associated with Eurocommunism.

Arguing against portrayals of the 1970s as barren for the left/centre-left, we can read »Social Europe« as in keeping with a wave of excellent recent scholarship on transnational left organising, on conceptions of social policy in Europe, and on the alternatives articulated to neoliberalism.[1] The real strength of this book, however, lies in its synthesis, bringing together its archival sources with a wide range of multilingual literature and thus demonstrating the scope of this alternative vision and its by no means marginal character. Moving between different layers - national, supranational and international – as well as different arenas of politics - trade unions, intellectuals, parties, policy committees and high political discussions – Andry demonstrates an impressive command of these interrelated discourses and the dynamics of the underlying power structures. Marshalling these levels and structures makes the claim of a distinctive vision for Europe centred on the worker compelling as it is traced from the grassroots to elite policy debates.

The second line of argument in the book deals with the long 1970s as a transition point in power structures within Europe. With the neoliberal right still emerging, the left sees a period of resurgence before it collapses. A key factor, according to the book, is organised labour, with trade unions actively seeking to influence policy developments. As Andry explains, the 1970s represent a period in which both the political left/centre-left and trade unions grapple with the limitations of national organising in the face of economic rationales, the forces of globalisation, and organised business and begin more active forms of transnational and supranational organising and collaboration. Andry details the formation of new parties, their conferences and organisations, as well as the power struggles between and within new trade union institutions. As such, the worker’s Europe was not just a policy proposal, but a social movement driving forward new forms of organisation and engagement, and thus a genuine form of European integration.

Lingering in the background as Andry presents these developments is the ultimate failure of the project to be adopted or implemented at European level. As the title states, this road was not taken. Andry explains the failure of proposals for a worker’s Europe as multi-faceted and stemming from the failings of political elites, the inability for the European left to organise collectively as well as internal disagreements. While there was strong support for the language and the general idea of a worker-centred social Europe, the specifics of this framework – worker self-management or co-management, management or planning – split the political coalitions. This multiplicity of causes may indicate that failure was overdetermined. It could be argued that the internal fissures within the coalition campaigning for a worker’s Europe suggest that the internal coherence of the project and its viability as an alternative path were never as strong as its proponents thought. In terms of revising the image of Jacques Delors, this could represent the difference between seeing him as a villain betraying earlier commitments to radical change, or a bit player constrained by larger structural and political pressures. Nonetheless, this kind of strategic analysis is useful to understand the variety of challenges facing such a progressive vision in the 1970s, and, as the author suggests, also for analysis of our contemporary moment, with weaker organised labour and with institutional structures concretised through path dependencies.

To be clear: any doubts about the viability of a worker’s Europe do not undermine the general thrust of »Social Europe, the Road not Taken«. The core argument, presenting the existence of an alternative vision among the Left in the 1970s of a socially oriented European community prioritising workers and democracy, is clearly demonstrated. The second argument, the formation of a supranational left, is likewise clearly made, irrespective of the question of its coherence in this period. Andry’s book presents historical precursors to the lively contemporary political debates about the viability of Europe as a progressive project, industrial democracy, working time, degrowth and more. Simultaneously, it highlights the structural, ideational and political obstacles that actors face when attempting to put these ideas and visions into practice.

 

Zitierempfehlung

Benjamin Thomas, Rezension zu: Aurélie Dianara Andry, Social Europe, the Road not Taken. The Left and European Integration in the Long 1970s, Oxford University Press, Oxford 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82014.pdf> [27.8.2024].

 

[1] Cf. Christian Salm, Transnational Socialist Networks in the 1970s. European Community Development Aid and Southern Enlargement, Basingstoke 2016; Michele Di Donato/ Mathieu Fulla (Eds.), Leftist Internationalisms. A Transnational Political History, London 2023; Kiran Klaus Patel, Bridging the Void. Social Justice in the History of the European Union, in: Martin Conway/Camilo Erlichman (Eds.), Social Justice in Twentieth Century Europe, Cambridge 2024; Colm Murphy, Futures of Socialism. »Modernisation«, the Labour Party, and the British Left, 1973–1997, Cambridge 2023.

Doppelrezension: Jonas Kreienbaum, Das Öl und der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung / Henning Türk, Energiesicherheit nach der Ölkrise

Jonas Kreienbaum, Das Öl und der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung. Die Bedeutung der Ölkrisen der 1970er Jahre für die Nord-Süd-Beziehungen (Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 53)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2022 | 354 Seiten, Paperback | $ 40,00 | ISBN 978-3-11-076970-8

 

Henning Türk, Energiesicherheit nach der Ölkrise. Die Internationale Energieagentur 1974–1985 (Geschichte der Gegenwart, Bd. 34)

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 220 Seiten, gebunden | 32,00 € | ISBN 978-3-8353-5484-5

 

rezensiert von

Petra Dolata, University of Calgary

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Rund fünfzig Jahre nach der ersten Ölkrise – und in einer Zeit, in der Klimawandel und Ukrainekonflikt nationale Abhängigkeiten von Energie erneut in den Vordergrund rücken – haben die Historiker Jonas Kreienbaum und Henning Türk zwei wichtige Studien publiziert, die zeigen, wie die Weichenstellungen der 1970er-Jahre bis heute die Rolle des Themas Energiesicherheit und besonders der Beziehung zwischen Ölproduzenten und Ölkonsumenten in der internationalen Politik und politischen Ökonomie prägen. Beide Autoren wollen mit ihren Beiträgen die Energiegeschichte von einer primär nationalen Betrachtungsweise der Energiekrisen der 1970er-Jahre wegbewegen, hin zu einer globalen Bestandsaufnahme. Obwohl ihr Hauptaugenmerk jeweils unterschiedlichen Entwicklungen im Zuge der Energiekrisen gilt, ergänzen sich ihre Studien hervorragend, insbesondere weil beide die Bedeutung internationaler Solidarität in einer Zeit zunehmender globaler Interdependenz hervorheben.

Das sprachlich sehr zugänglich geschriebene Buch von Jonas Kreienbaum, das auf seiner Habilitationsschrift basiert, widmet sich in sechs empirischen Kapiteln zum einen den Verbindungen zwischen den beiden Ölkrisen in den Jahren 1973/74 und 1979/80, zum anderen der zeitgenössischen Forderung nach einer alternativen Weltwirtschaftsordnung. Er geht der Frage nach, welche Auswirkungen die Krisen auf die Nord-Süd-Beziehungen hatten, und argumentiert, dass insbesondere die Ölkrise von 1973/74 ein »window of opportunity« eröffnete, welches es den Staaten des globalen Südens erlaubte, ihren Forderungen nach einer neuen, gerechteren Weltwirtschaftsordnung mehr Gehör zu verschaffen und »den Westen effektiv unter Druck zu setzen« (S. 1). Der Erfolg der koordinierten Aktionen von OPEC (Drosselung der Produktion) und den arabischen OPEC-Mitgliedern (Ölembargo) während der ersten Ölkrise hätte gezeigt, wie solidarisches Handeln westlichen Industrieländern Eingeständnisse abringen konnte und damit eine »qualitativ neue Phase in den Nord-Süd-Beziehungen« (S. 6) eingeleitet. Gleichzeitig führte die Vervierfachung des Ölpreises zu massiv verschlechterten Zahlungsbilanzen für diejenigen Entwicklungsländer, die kein Öl produzierten. Ihre Verschuldung stieg während der Dekade zusehends an, während die Bemühungen um eine neue Weltwirtschaftsordnung letztendlich im Sande verliefen. Mit dem Blick auf die internationalen wirtschaftlichen Dimensionen und speziell der Sicht des globalen Südens und seiner politischen Eliten liefert Kreienbaums Studie neue und wichtige Perspektiven auf die ansonsten relativ gut erforschten Ölkrisen.

Um die jeweiligen Einstellungen von Industrieländern, OPEC-Mitgliedern und weiteren Entwicklungsländern auch in relativer Schärfe und Tiefe darstellen zu können, hat sich Kreienbaum für einige Fallbeispiele entschieden, die er näher untersucht: die USA, Westdeutschland und Großbritannien für die Industriestaaten, Saudi-Arabien und Algerien für die OPEC, und das zentralafrikanische Sambia für die Entwicklungsländer, kontextualisiert durch weitere Beispiele wie etwa Indien. Einem Trend in der Globalgeschichte folgend, untersucht er damit sehr spezifische Orte, Institutionen und Akteure sozusagen als »selektive analytische Sonde[n]« (S. 13). Es ist insbesondere ein Verdienst Kreienbaums, neben Archiven in Deutschland, den USA und Großbritannien auch Primärquellen in Sambia und Bestände supra- und internationaler Institutionen wie der Europäischen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen konsultiert zu haben. Es wäre hier sicherlich interessant gewesen, auch Frankreich über Archivquellen einzubeziehen, da das Land in jener Zeit eine distinkte Rolle im europäischen Einigungsprozess spielte und in der Frage einer Energieverbraucherorganisation von den anderen westlichen Staaten abwich.

Nach einem historischen Abriss zur Entwicklung der Nord-Süd-Beziehungen im Zuge der Dekolonisation und zur Gründung der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) 1964 im ersten Kapitel, erläutert Kreienbaum im zweiten Kapitel äußerst kenntnisreich die Auswirkungen der ersten Ölkrise von 1973/74 und zeigt, dass die Krise zwar half, der kurz zuvor eingeforderten Neuen Weltwirtschaftsordnung (NIEO) zur Stabilisierung von Rohstoffpreisen durch Produzentenkartelle und Nationalisierung politisches Gewicht zu verleihen, gleichzeitig aber auch den wirtschaftlichen Graben zwischen erdölexportierenden und erdölimportierenden Entwicklungsländern vertiefte. Insgesamt wurden die Nord-Süd-Beziehungen konfrontativer, auch gegenüber multinationalen Unternehmen. Im Unterschied zum Westen bezeichneten Vertreter der OPEC-Staaten die Ereignisse nicht als Ölkrise, sondern als Ölrevolution.

Anders gestalteten sich die Auswirkungen des Ölschocks auf Sambia, wo die negativen Konsequenzen erst später eintraten, sich dann aber zu einer existentiellen wirtschaftlichen Krise entwickelten, insbesondere weil die Ölkrise eine Inflation auslöste und eine Rezession in Gang setzte, welche die Rohstoffpreise in den Keller fielen ließ. So musste Sambia mehr für Importe bezahlen, während seine Kupferexporte nur noch wenig Einkommen für die Staatskasse generierten. Diese aufschlussreiche und ausgewogene Diskussion der ökonomischen Auswirkungen der Ölschocks auf erdölimportierende Entwicklungsländer ist eine der herausragenden analytischen Leistungen Kreienbaums. Er zeigt, dass diese Länder nicht nur direkt durch die hohen Ölpreise betroffen waren, sondern dass sich ihre wirtschaftlichen Probleme durch sekundäre Effekte noch potenzierten und so zur Schuldenkrise beitrugen. Politisch führte dies nicht unmittelbar zu einer Kluft zwischen der OPEC und den anderen Entwicklungsländern, wie der Autor in den nachfolgenden Kapiteln skizziert. Trotz US-amerikanischer Versuche, die Entwicklungsländer zu spalten, bestand deren Allianz bis 1975 weiter, auch weil die OPEC die wirtschaftlichen Probleme im globalen Süden erfolgreich als Folge des bestehenden ungerechten Weltwirtschaftssystems darstellen konnte.

Dieses Framing wie auch die verschiedenen Initiativen zur Erneuerung der Weltwirtschaftsordnung im Rahmen der UN-Sondergeneralversammlungen 1974 und 1975, der Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit (CIEC), die Industrie- und Entwicklungsländer von 1975 bis 1977 zusammenbrachte, sowie zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und ehemaligen Kolonialländern werden im dritten und vierten Kapitel untersucht. Kreienbaum verweist dabei auf die Formbarkeit der geforderten neuen Ordnung. Je nach Zeitpunkt und je nach Akteur beinhalte die Neue Weltwirtschaftsordnung ganz unterschiedliche Akzente. Sie diente somit eher als Sammelbegriff – und wenn sich auch die Nord-Süd-Beziehungen ab 1975 insgesamt kooperativer gestalteten und sogar Erfolge wie das Lomé-Abkommen zwischen der EWG und 77 Entwicklungsländern erreicht werden konnten, so zeigte sich doch bereits zu Beginn der CIEC-Verhandlungen, dass die Industrieländer, allen voran die USA, nur dem Anschein nach zu Verhandlungen über eine neue, gerechtere Weltwirtschaftsordnung bereit waren.

Allerdings, so Kreienbaum, sei 1975 noch nicht das Ende der Neuen Weltwirtschaftsordnung gewesen. Er widerspricht damit einer Studie von Christopher Dietrich von 2017.[1] Erst in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre zerbröckelte die Solidarität des globalen Südens. Nun traten nicht nur zwischen OPEC-Staaten und erdölimportierenden Entwicklungsländern, sondern auch innerhalb der OPEC Konflikte offen zutage, die zum Scheitern der OPEC-Konferenz im Dezember 1976 führten. Der Verlust einer einheitlichen Front der Entwicklungsländer sowie die Auswirkungen der globalen Rezession hatten das revolutionäre Moment erstickt. Die Industrieländer waren nicht gewillt, Eingriffe in Marktmechanismen zu billigen. Die Pariser Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit endete somit 1977 ohne nennenswerte Ergebnisse.

Die zweite Ölkrise 1979/80, die auch wieder eine Preiskrise war, läutete eine weitere globale Wirtschaftskrise ein. Wie Kreienbaum im fünften Kapitel überzeugend nachzeichnet, wurden die Ereignisse am Ende der Dekade trotz vieler Parallelen anders wahrgenommen als noch 1973/74 – zum einen, weil man nun die Erfahrungen der ersten Krise heranzog, um die neue Krise zu deuten, zum anderen, weil diesmal für die USA mehr auf dem Spiel stand und schließlich, weil sich nun auch in den Augen der OPEC-Staaten wirklich eine Ölkrise und keine Ölrevolution ereignete. Diese Krise traf vor allem die ohnehin schon verschuldeten Entwicklungsländer wie Sambia, so dass »[an]statt zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung und Selbstständigkeit […] die späten 1970er Jahre zunehmende Abhängigkeit von den internationalen Finanzinstitutionen« (S. 259) brachten.

Im sechsten Kapitel beschreibt Kreienbaum detailliert, wie die fehlgeschlagene Nord-Süd-Kommission und der folgende Nord-Süd-Gipfel zum Verschwinden der Neuen Weltwirtschaftsordnung Anfang der 1980er-Jahre beitrugen. Als Gründe für das Scheitern nennt der Autor vor allem den neuen neoliberalen Zeitgeist wie auch die Zerstrittenheit und die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation der Entwicklungsländer. Somit versteht Kreienbaum nicht die Ölkrisen der 1970er-Jahre, sondern erst die frühen 1980er-Jahre als entscheidenden Einschnitt, erstickten sie doch jegliche Hoffnung auf eine andere, gerechtere Art der Globalisierung. Insgesamt zeigt Kreienbaum, wie wichtig es ist, die 1970er-Jahre als »distinkte Phase« (S. 309) anzusehen, oder eben auch als Zwischenphase des Kalten Krieges, in der die Nord-Süd-Beziehungen teils konfliktreicher waren als die Ost-West-Beziehungen, die im Zuge der Détente in dieser Dekade kurzzeitig auftauten. Wenngleich sich heute nur wenige an die Neue Weltwirtschaftsordnung erinnern, so muss man dem Autor Recht geben, dass ihre Geschichte hilft, »die Genese der heutigen Welt zu verstehen« (S. 27).

Als Vorgeschichte der Gegenwart kann auch Henning Türks Studie zur Geschichte der 1974 gegründeten Internationalen Energieagentur (IEA) gelesen werden. Anders als die Neue Weltwirtschaftsordnung hat diese Institution den Ölpreisverfall und die marktliberale Trendwende der 1980er-Jahre gut überlebt und besteht bis heute. Auch sie ist ein Resultat der Ölkrisen der 1970er-Jahre, wurde aber maßgeblich von den USA geformt. Türk beschreibt detailgenau und kenntnisreich die Entstehungsgeschichte dieser neuen internationalen Organisation, die eine ganz andere Solidarität beschwor als die von Kreienbaum skizzierte. Hier ging es darum, eine Spaltung der westlichen Verbündeten zu vermeiden und ihre Ölabhängigkeit gemeinsam zu bewältigen. Während für Kreienbaum die Ölkrisen die Nord-Süd-Beziehungen ins Zentrum politischer Aufmerksamkeit rückten, konstatiert Türk eine ähnliche Dynamik für die Energiepolitik, die sich als internationales Politikfeld erst in den 1970er-Jahren etablierte. Trotz ihrer bedeutsamen Rolle für die westlichen Industrienationen gab es bislang keine eigenständige historische Studie zur Entstehung der IEA – eine Lücke, die Türk schließen kann, weil er Zugang zum IEA-Archiv hatte, das er zusätzlich zum OECD-Archiv sowie unveröffentlichten deutschen und britischen Primärquellen konsultierte.

Auf dieser breiten Quellenbasis untersucht Türk nicht nur die Entstehung und die ersten zehn Jahre der neuen internationalen Organisation, sondern ihn interessieren vor allem die normativen Grundlagen der institutionellen Energiepolitik sowie die Rolle bürokratischer Akteure, die diese energiepolitischen Normen und Werte aushandelten. Dabei entleiht Türk auch Ansätze aus der Disziplin der Internationalen Beziehungen. Während er die Frage nach den normativen Grundlagen mit Hilfe der konstruktivistischen Theorien von Martha Finnemore empirisch zu beantworten sucht, analysiert er zugleich das Zusammenspiel nationaler und internationaler Akteure der Energiepolitik. Ohne Robert Putnam namentlich zu nennen, referenziert er dessen berühmte Metapher des »Two-Level-Game«[2], wenn er fragt, inwieweit »Regierungen die internationale Ebene [nutzten], um bestimmte unpopuläre Maßnahmen […] in ihren Ländern besser durchsetzen zu können« (S. 19). Ein weiteres Erkenntnisinteresse der Studie gilt den Vorstellungen einer sicheren Energieversorgung, die sich in ganz unterschiedlichen energiepolitischen Entscheidungen niederschlugen.

Auch wenn die Ölkrise von 1973/74 den Ausschlag gab, die Zusammenarbeit der westlichen Industrieländer im Energiebereich durch eine neue internationale Organisation zu fokussieren, gab es auf Seiten der USA bereits ein Jahr zuvor Überlegungen für eine solche Energie- gemeinschaft, wie Türk im zweiten Kapitel seines Buchs darstellt. Zwar habe es mit dem Ölausschuss in der OECD schon seit über einem Jahrzehnt ein Instrument gegeben, um seitens der Industrieländer auf Embargos wie etwa das der arabischen Erdölproduzenten 1967 zu reagieren. Allerdings hatte genau dieses Ölembargo gezeigt, wie schwierig eine zeitnahe und koordinierte Reaktion war. Zudem hatte sich die energetische Lage Anfang der 1970er-Jahre fundamental verändert. Die OECD hatte sich durch den Beitritt Japans und Australiens geografisch nach Asien und Ozeanien erweitert, die heimische Ölproduktion der USA wurde ab 1970 von der rasant gestiegenen Binnennachfrage eingeholt und konnte daher in Krisensituationen nicht mehr als Ausgleichsproduzent einspringen und die Macht der arabischen Erdölnationen hatte sich durch Nationalisierungen und gestiegene Einflussnahme auf Ölpreismechanismen vergrößert.

Wie Türk auf der Basis akribischer Quellenarbeit zeigen kann, war es vor allem Henry Kissinger, zu diesem Zeitpunkt US-Außenminister und Sicherheitsberater, der auf eine neue institutionalisierte Zusammenarbeit im Energiebereich pochte. Er lud zu der Washingtoner Energiekonferenz im Februar 1974 ein und setzte die europäischen Bündnispartner öffentlich unter Druck, um eine Einigung für die Gründung der Internationalen Energieagentur zu erwirken. Oberstes Ziel war es, eine geeinte Front gegen die OPEC und zukünftige Embargos zu etablieren. Wenngleich dieser Teil der Geschichte bekannt war, vermag Türk doch neue wichtige Entwicklungen hervorzuheben So hätte neben Kissinger und den USA auch die Bundesrepublik Deutschland eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der IEA gespielt, etwa bei der Gründung einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe zur Transparenz der Ölmärkte und zur Kontrolle internationaler Ölfirmen – ein Thema, das nicht auf der Agenda der USA stand.

Nach der Gründung und dem organisatorischen Aufbau der IEA, widmet sich Türk in den folgenden Kapiteln der eigentlichen Zusammenarbeit im Rahmen der Organisation. Das dritte Kapitel untersucht insbesondere die (von Kreienbaum ebenfalls analysierten) Nord-Süd-Beziehungen, aber auch die Schwierigkeit Solidarität unter den IEA-Mitgliedern zu organisieren. Dabei hatten vor allem die USA mit »konkurrierende[n] Solidaritätsansprüche[n]« (S. 62) zu kämpfen, etwa seitens Frankreichs, das ja nicht nur die Pariser Nord-Süd-Konferenz initiiert hatte, sondern auch auf eine europäische Ölverbrauchersolidarität pochte. Auch die IEA-Mitglieder Großbritannien und Kanada entwickelten sich zu Erdölproduzenten, die bei der Diskussion um Mindestpreise für Importöl teils andere Interessen als ihre Verbündeten vertraten.

Im vierten Kapitel diskutiert Türk anhand der energiepolitischen Ziele der IEA die Durchsetzung bestimmte Normen und Werte, allen voran der Energiesicherheit. Hätten sich die Bemühungen der IEA zunächst vor allem auf Öleinsparungen konzentriert, so ging es ab 1977 häufig um alternative Energieressourcen, wie etwa Kohle oder, wesentlich kontroverser, Atomenergie. Um die Einhaltung energiepolitischer Ziele überprüfen zu können, wurden 1977 ein IEA-Gruppenziel sowie zwölf energiepolitische Prinzipien formuliert, die auch einen Einblick in die Wertvorstellungen der Organisation erlaubten. Zu diesem Zeitpunkt sah man noch den Staat als wichtigsten Akteur. Die Energiepolitik eines jeden Mitgliedslandes sollte regelmäßig in einer Art Peer-Review-Verfahren evaluiert werden. Allerdings zeigt Türk am Beispiel der Bundesrepublik auch, dass dies lediglich ein Soft-Power-Instrument war, das gegebenenfalls »aus ordnungspolitischen Gründen oder aus Rücksicht auf starke Wirtschaftszweige ignorier[t]« (S. 98) werden konnte.

Besonders interessant für die Bundesrepublik schien auf den ersten Blick die IEA-Kohlepolitik, die seit 1977 Kohle als alternative Energieressource zwecks Ölimportreduzierung zu fördern suchte. Wie im fünften Kapitel beleuchtet wird, standen sich dabei allerdings ganz unterschiedliche Energiesicherheitsargumente gegenüber. Während Bonn auf die Absicherung heimischer Kohle abzielte, die nicht zu Weltmarktpreisen produziert werden konnte, präferierte die IEA den Import wettbewerbsfähiger Kohle, um die erwarteten Ölengpässe in den 1980er-Jahre abfedern zu können. Diese Einschätzung der globalen Energiesituation sollte sich alsbald als Irrtum erweisen, auch wenn sie zunächst durch die Ereignisse im Iran und der resultierenden Ölkrise von 1979/80, die im sechsten Kapitel diskutiert wird, bestätigt schien.

Die zweite Ölkrise war nicht Resultat eines Embargos, sondern eines Produktionsausfalls (Iran). Dies zeigte die Probleme einer Strategie auf, die starr auf ein weiteres Embargo ausgerichtet war. Wie schon Kreienbaum gezeigt hatte, traf diese Krise die USA weit mehr, die deshalb alle IEA-Mitglieder zu Öleinsparungen anmahnten. Laut Türk stellten die höheren Ölpreise jedoch für die Bundesrepublik ein weit geringeres Problem dar, weshalb diese Einsparmaßnahmen eher zurückhaltend gegenüberstand. Waren die Verhandlungen darüber schon nicht reibungslos vonstattengegangen, erwies sich der gemeinsame Krisenmechanismus als äußerst umstritten. Obwohl man sich geeinigt hatte, automatisch ein gemeinsames Ölverteilungssystem in Gang zu setzen, wenn ein Mitgliedsland um mehr als sieben Prozent unter die normale Ölversorgung rutschte, entschied man sich im Fall Schwedens nach hitziger Debatte dagegen. Die USA setzten von nun an auf ein anderes Instrument zur Sicherung der Energieversorgung in Krisenzeiten: strategische Ölvorräte. Die IEA hatte eingesehen, dass die veränderte Art der Krise auch neue Maßnahmen erforderte. Womöglich ist es auch dieser Flexibilität zu verdanken, dass die IEA bis heute als wichtige internationale Organisation im Energiebereich besteht.

Diese Flexibilität zeigte sich ebenso im Umgang mit neuen Herausforderungen Anfang der 1980er-Jahre, wie Türk im siebten Kapitel anhand der Erdgaspolitik der IEA näher beleuchtet. Erdgas wurde als alternative Energiequelle anerkannt, jedoch sollten keine neuen Abhängigkeiten von einzelnen Produzenten entstehen. Dies war natürlich vor allem gegen die Sowjetunion gerichtet. Türk nutzt die IEA-Gasstudie von 1983, um die divergierenden Interessenlagen der verschiedenen Akteure zu veranschaulichen. Hier gab es vor allem Differenzen zwischen dem westdeutschen Wirtschaftsministerium und dem IEA-Direktor Ulf Lantzke, der früher in eben diesem Ministerium für die Energiepolitik zuständig gewesen war. Türk vermutet folgerichtig, dass die konsequente Haltung des IEA-Sekretariats in dieser Frage den USA signalisieren sollte, dass man auf der gleichen Seite stehe, was für den Fortbestand der Behörde zu diesem Zeitpunkt sicherlich dienlich war.

Wie bereits von Kreienbaum dargelegt, relativierten sich die Lehren aus den Energiekrisen der 1970er-Jahre während der 1980er-Jahre – zum einem, weil Mitte der Dekade der Ölpreis auf ein Rekordtief rutschte und zum anderen, weil wirtschaftsliberale westliche Regierungen, allen voran in Großbritannien und den USA, nun fast ausschließlich auf Marktinstrumente setzten. Die 1984 als Nachfolgerin von Lantzke von den USA durchgesetzte IEA-Direktorin Helga Steeg verkörperte die neue »marktliberale Position der IEA« (S. 177). Die IEA habe sich, so Türk, »erfolgreich angepasst« (S. 184). Neben der zentralen Rolle der USA, gehören die politische und strategische Bedeutung des oft als rein technisches Instrument verkannten IEA-Sekretariats und der Wandel der geopolitischen und geo-ökonomischen Position der IEA im gewählten Betrachtungszeitraum zu den Hauptergebnissen der überaus lesenswerten Studie. Türk hebt als weiteres Ergebnis die handlungsweisende Signifikanz der Energiesicherheit hervor, die unter anderem Umweltüberlegungen ins Abseits gedrängt habe. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Studie noch mehr auf die verpasste Chance der Verknüpfung von Energie und Umwelt eingegangen wäre.

Liest man Türks und Kreienbaums Studien zusammen, so zeigt sich methodisch der Mehrwert transnational und international angelegter Analysen der Ölkrisen der 1970er-Jahre. Nicht nur, dass diese Krisen überhaupt erst den politikwissenschaftlichen Begriff der Interdependenz ins Leben riefen[3], auch der rege internationale Handel von Erdöl und seine Auswirkungen auf nationale Zahlungsbilanzen erfordern es, dass die Geschichte der Ölkrisen jenseits nationaler Kontexte geschrieben wird. Weiterhin schaffen es beide Autoren, diese »Dekade der Energiepolitik« (Türk, S. 21) als eine eigenständige historische Periode zu untersuchen, in der energiehistorisch wichtige normative Konzepte geformt wurden und institutionelle Weichenstellungen erfolgten. Historisch genauso wichtig sind allerdings auch die nicht erfolgten Veränderungen und gescheiterte Initiativen wie die Neue Weltwirtschaftsordnung. Sie helfen uns zu verstehen, wo wir uns heute befinden. In diesem Sinne sind die 1970er-Jahre weit mehr als eine Übergangsphase. In dieser Dekade betrat ein neues Politikfeld, die Energiepolitik, die internationale Bühne und während die 1980er-Jahre, wie von beiden Autoren überzeugend dargestellt, fundamentale Veränderungen mit sich brachten, verließen Fragen der Energieversorgung diese Bühne auch nicht mehr. Um also die Genese heutiger energiepolitischer Verflechtungen und Diskurse zu verstehen, sind diese Studien, die sich den 1970er-Jahren widmen unumgänglich. Es bleibt nur zu hoffen, dass beide Studien auch einem nichtdeutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht werden, so wie 2018 das zuerst 2014 erschienene Werk von Rüdiger Graf.[4] Aus kanadischer Sicht wäre es schön, wenn dann auch ein bisschen mehr zu den Positionen Kanadas als Erdölproduzent in der IEA gesagt würde und die Rolle von Allan MacEachen als kanadischer Ko-Präsident der Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit stärker behandelt würde.

 

Zitierempfehlung

Petra Dolata, Doppelrezension zu: Jonas Kreienbaum, Das Öl und der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung. Die Bedeutung der Ölkrisen der 1970er Jahre für die Nord-Süd-Beziehungen, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2022; Henning Türk, Energiesicherheit nach der Ölkrise. Die Internationale Energieagentur 1974–1985, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82009.pdf> [27.8.2024].

 

[1]Christopher R. W. Dietrich, Oil Revolution. Anticolonial Elites, Sovereign Rights, and the Economic Culture of Decolonization, Cambridge 2017.

[2]Robert D. Putnam, Diplomacy and Domestic Politics. The Logic of Two-Level Games, in: International Organization 42, 1988, S. 427–460.

[3] Vgl. Robert O. Keohane/ Joseph S. Nye, Power and Interdependence. World Politics in Transition, Boston 1977; vgl. aus der zeithistorischen Forschung Martin Deuerlein, Das Zeitalter der Interdependenz. Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren, Göttingen 2020.

[4]Rüdiger Graf, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin/München etc. 2014; ders., Oil and Sovereignty. Petro-Knowledge and Energy Policy in the United States and Western Europe in the 1970s, New York 2018.

Sophie Lange, Deutsch-deutsche Umweltpolitik 1970–1990. Eine Verflechtungsgeschichte im internationalen und gesellschaftlichen Kontext des Kalten Krieges

(Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 140)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2024 | 489 Seiten, gebunden | 69,95 € | ISBN 9783111086200

rezensiert von

Martin Bemmann, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

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Als die westdeutsche Bundesregierung, die Ministerpräsidenten mehrerer Bundesländer, Industrievertreter*innen und auch der Bundespräsident den ostdeutschen Staatschef Erich Honecker im September 1987 offiziell empfingen und »hofiert[en]« (Petra Weber)[1], war das nicht nur eine persönliche Genugtuung für den aus dem Saarland stammenden Kommunisten sowie der Gipfel jahrzehntelanger diplomatischer Bemühungen seitens der DDR um Anerkennung. Der Besuch des SED-Generalsekretärs markierte auch den Höhepunkt von Verhandlungen zur Ausgestaltung der deutsch-deutschen Umweltbeziehungen, die im engeren Sinne seit den späten 1960er-Jahren geführt worden waren. Denn im Zuge des Besuchs unterzeichneten die Regierungen beider deutschen Staaten eine Vereinbarung über die »weitere Gestaltung der Beziehungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes«.

Sophie Lange will in ihrem Buch nachzeichnen, wie es zu der Vereinbarung von 1987 kam und sie fragt »nach den generellen Beziehungen« beider Länder »im Bereich der Umweltpolitik« (S. 4). Sie führt damit zum einen den seit einigen Jahren anhaltenden Forschungstrend fort, die DDR-Umweltgeschichte von dem einseitig negativen Fokus auf die Umweltverschmutzung zu emanzipieren (ohne diese wegdiskutieren zu wollen!) und die ostdeutsche Entwicklung in breitere europäische Kontexte einzubinden. Zum anderen ist es ihr Anliegen, fokussiert auf umweltpolitische Beziehungen eine Verflechtungsgeschichte beider deutscher Gesellschaften zu verfassen, wie sie immer wieder eingefordert wurde. Beiden Ansprüchen wird sie gerecht.

Neben Arbeiten von Tobias Huff, Christian Möller oder Martin Stief, die sich ganz auf umweltbezogene Aspekte in der DDR konzentrieren[2], knüpft Lange vor allem an Studien wie etwa jene von Julia Ault, Astrid Eckert oder Frank Uekötter an, die die deutsch-deutschen Verflechtungen im Umweltbereich in den Blick nehmen.[3] Viele Debatten und Verhandlungen, die sie in den Fokus rückt, haben die genannten Autor*innen bereits behandelt. Das betrifft etwa die Auseinandersetzungen um die durch den Kalibergbau versalzte Werra, um die Mülldeponie Schönberg in Mecklenburg oder um Luftreinhaltung, es betrifft aber auch die Beziehungen zivilgesellschaftlicher Akteure aus der Bundesrepublik zu Umweltaktivist*innen sowie Umweltbehörden und -verbänden in der DDR.

Langes Arbeit besticht jedoch durch ihre intensive Nutzung einer breiten, vor allem archivalischen Quellenbasis, mit deren Hilfe sie die Komplexität der Verhandlungen zwischen Akteuren aus Ost und West verdeutlichen kann. Sie betrachtet das Interagieren staatlicher, zivilgesellschaftlicher und wirtschaftlicher Akteure und interessiert sich für die Dynamiken, die sich durch die Überschneidung von Auseinandersetzungen auf der lokalen, regionalen, zwischenstaatlichen und internationalen Ebene ergaben. Insbesondere die Wechselverhältnisse zwischen westdeutschen Bundesländern und der Bundesregierung in Bonn in ihren Verhandlungen mit ostdeutschen Akteuren verdeutlichen, dass die Annahme ›bilateraler‹ Aushandlungsprozesse der Realität nicht gerecht wird. Dass sich die Wasserqualität des kleinen grenzüberschreitenden Flüsschens Röthen/Röden Anfang der 1980er-Jahre verbessern konnte, hatte beispielsweise sehr viel mit den Eigeninteressen der bayerischen Landesregierung zu tun, die diese gegenüber Bonn und Ost-Berlin zugleich verfolgte. Im Gegensatz dazu war die westdeutsche Kali + Salz AG nicht ganz unschuldig daran, dass die Verhandlungen über die Werra nie wirklich greifbare Resultate zeitigten. Obendrein offenbart Lange mit dieser mehrdimensionalen Betrachtung, dass die deutsch-deutschen Umweltverhandlungen kaum jemals in den 1970er- und 1980er-Jahren zum Erliegen kamen.

Nachdem beide Regierungen den Grundlagenvertrag unterzeichnet hatten, begannen sie im November 1973 bilaterale Verhandlungen über ein deutsch-deutsches Umweltabkommen. Trotz eines vielversprechenden Starts stoppten sie diese Verhandlungen jedoch abrupt, als Bonn im Juli 1974 das Umweltbundesamt mit Sitz in West-Berlin einrichtete. Im Einverständnis mit der Sowjetunion sah die DDR dadurch das Viermächteabkommen über den Status Berlins verletzt und protestierte bis in die späten 1980er-Jahre vehement dagegen. Ost-Berlin habe von da an, so Lange mit Bezug auf einen 1990 geprägten Begriff, gegenüber der Bundesrepublik eine »Nicht-Umweltpolitik« (S. 71) betrieben. Auf der internationalen Ebene aber, insbesondere im Zuge der KSZE-Verhandlungen und im Rahmen der Economic Commission for Europe der Vereinten Nationen (UN/ECE), habe nie Funkstille geherrscht. Dem 1974 von allen Anrainerstaaten inklusive der Bundesrepublik und der DDR unterzeichneten Ostseeabkommen folgten die umweltbezogenen Aktivitäten im KSZE-Prozess. Beide deutsche Regierungen, so Lange, hätten sich je nach Thema mehr oder weniger engagiert an Debatten über Luftreinhaltung, Wald- und Gewässerschutz oder Müllvermeidung beteiligt und damit auf lange Sicht zur Bildung einer gesamteuropäischen »epistemic community« des Umweltschutzes beigetragen. Im Falle der Luftreinhaltung kam es sogar zur bekannten Genfer Konvention von 1979, die die DDR in den Folgejahren zunehmend internationalem Druck aussetzte, ihre Schwefeldioxyd-Emissionen zu senken und ihren äußerst restriktiven Umgang mit Umweltdaten zu ändern. Aufgrund enger werdender ökonomischer Spielräume und ideologischer Inflexibilität resultierte dieser Druck zwar weniger darin, genau diese Ziele zu erreichen. Doch wie bereits Tobias Huff, arbeitet auch Sophie Lange überzeugend heraus, dass sich dank solcher intensivierten internationalen Austauschprozesse der interne politische Handlungsspielraum des DDR-Umweltministeriums sukzessive erweiterte.

Der Hauptteil des Buches ist den 1980er-Jahren und den vielgestaltigen Beziehungen zwischen Akteuren beider deutscher Staaten gewidmet. Politischer Gegenwind unterbrach zwar immer wieder die direkten Kontakte beider Regierungen. Doch das Schweigen auf oberster Ebene konnte durch die seit Ende der 1970er-Jahre sukzessive entstandenen Verbindungen auf niedrigerem Level und durch solche zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren in der BRD mit Aktivist*innen und mehr oder minder staatlich kontrollierten Umwelteinrichtungen und -verbänden in der DDR aufgefangen werden; der Dialog brach nie völlig ab. Ob Langes Bezeichnung dieses Phänomens als »Ökologisierung« und »ökologischer Verflechtung« (etwa auf S. 22 und 223) passend ist, wird angesichts der vielfältigen Motive, die hinter den Verhandlungen standen und die das Buch auch thematisiert, zu diskutieren sein. An der Tatsache an sich aber ist ebenso wenig vorbeizukommen, wie an dem im letzten Kapitel sehr kurz skizzierten Niederschlag, den die deutsch-deutschen Umweltverhandlungen im Einigungs- und Transformationsprozess hinterlassen haben.

Darüber hinaus verdeutlicht Lange zwei weitere wichtige Aspekte. Zum einen wird klar, dass die deutsch-deutschen Umweltverhandlungen zwar im Kontext des Kalten Kriegs stattfanden, mit dessen Entwicklung aber nicht zu allen Zeiten in gleicher Weise korrespondierten. In den 1970er-Jahren dienten sie überwiegend als Mittel der Entspannungspolitik. Doch die erneute Verschärfung des Ost-West-Konflikts in den frühen 1980er-Jahren ging konträr eher mit einer Verdichtung der deutsch-deutschen Umweltkontakte auf verschiedenen Ebenen einher. Zum anderen deutet Lange an, wie wenig bisher über die Zusammenarbeit der sozialistischen Länder im Umweltbereich bekannt ist, insbesondere jene im Rahmen des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Mit Blick auf eine zumindest in den 1970er-Jahren offenbar beabsichtigte Koordinierung von Umweltpolitik und Umweltschutztechnik innerhalb des RGW unterstreicht sie, welch fruchtbares Forschungsfeld die grenzüberschreitenden Austausch- und Verflechtungsprozesse in Ostmittel- und Osteuropa in Zukunft werden könnten.

Die empirische Dichte der Darstellung stellt zweifelsohne einen Gewinn von Langes Studie dar. Die detaillierten Erläuterungen zur komplexen Problemlage der Versalzung der Werra und zu den bergbaubedingten seismischen Bewegungen an der thüringisch-hessischen Grenze etwa sind im Einzelnen nötig, um die Argumentationen der Beteiligten nachvollziehen zu können. Gleichwohl hätten eine Straffung manch kleinteiliger Passagen und eine Konzentration auf das Argument den Lesefluss gefördert. Das gilt umso mehr, als vor allem die Kapitel III und IV, die mit fast 250 Seiten den empirischen Kern der Arbeit darstellen, konkrete Fallbeispiele – des Gewässerschutzes, der Luftreinhaltung und der Müllexporte in die DDR – mit kontextualisierenden Ausführungen zu anderen umweltrelevanten Kontakten und Verhandlungen vermischen, ohne dass immer deutlich ist, wie diese unterschiedlichen Phänomene und Prozesse miteinander in Beziehung standen.

Gleichwohl: Wer sich auf Langes Darstellung der vielfältigen Umweltverhandlungen einlässt, wird die Details schätzen lernen. Denn vor allem sie verdeutlichen, wie umweltbezogene Debatten über die deutsch-deutsche Grenze hinweg in den 1980er-Jahren Arbeitsroutinen und Vertrauen zwischen Expert*innen erzeugten, die die Regierungen in Bonn und Ost-Berlin zwangen, eigene Standpunkte zu verändern.

 

Zitierempfehlung

Martin Bemmann, Rezension zu: Sophie Lange, Deutsch-deutsche Umweltpolitik 1970–1990. Eine Verflechtungsgeschichte im internationalen und gesellschaftlichen Kontext des Kalten Krieges, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82012.pdf> [27.8.2024].

 

[1]Petra Weber, Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945–1989/90, Berlin 2020, S. 870.

[2] Vgl. Tobias Huff, Natur und Industrie im Sozialismus. Eine Umweltgeschichte der DDR, Göttingen 2015; Christian Möller, Umwelt und Herrschaft in der DDR. Politik, Protest und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur, Göttingen 2020; Martin Stief, »Stellt die Bürger ruhig«. Staatssicherheit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle-Bitterfeld, Göttingen 2019.

[3] Vgl. Julia Ault, Saving Nature under Socialism. Transnational Environmentalism in East Germany, 1968–1990, Cambridge 2021; Astrid Eckert, West Germany and the Iron Curtain. Environment, Economy, and Culture in the Borderlands, New York 2019; Frank Uekötter, Ökologische Verflechtungen. Umrisse einer grünen Zeitgeschichte, in: Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970-2000, Göttingen 2015, S. 117-152.

Christof Dipper/Heinz Duchhardt (Hrsg.), Generation im Aufbruch. Die Geschichtswissenschaft in Deutschland im Spiegel autobiographischer Porträts

Böhlau Verlag | Köln 2024 | 484 Seiten, gebunden | 59,00 € | ISBN 978-3-412-52694-8

rezensiert von

Thomas Etzemüller, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

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»Generation im Aufbruch« enthält autobiografische Berichte von 26 einflussreichen, zumeist westdeutschen Historikern (und zweier Historikerinnen) wie Arnold Esch, Eberhard Kolb, Hartmut Zwahr oder Hartmut Kalble. Sie sind zwischen 1933 und 1942 geboren worden und haben Weltkrieg, deutsche Zweistaatlichkeit sowie die Entwicklungen der Geschichtswissenschaft erlebt. »[U]nbestrittene Dignität in der Zunft« und »die aktive Beteiligung an der Neukonturierung des Fachs nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 1960er und 1970er Jahren« waren entscheidende Auswahlkriterien (S. 17). Der Band ist bemerkenswert. Ich bin verblüfft, wie umstandslos dessen (auto-)biografischer bzw. wissenschaftshistorischer Ansatz in den 1950er-Jahren situiert ist. Er ragt wie geronnene Geschichte in die Gegenwart hinein. Die beiden Herausgeber formulieren als Ziel der Texte, »Aufschluss [zu] geben über die geistige Entwicklung und die wissenschaftlichen und menschlichen Einflüsse auf sie [die Historiker] aus subjektiver Perspektive« (S. 18). Die Beiträger sollten aus derselben Distanz über sich schreiben, die sie zu den historischen Figuren ihrer Forschungen einnehmen, um ihre wissenschaftlichen Laufbahnen in der jüngeren deutschen Geschichte zu verorten. In diesem Sinne identifizieren die Herausgeber zusammenfassend eine Reihe biografischer und sozialer Muster und notieren, was die Verfasser des Bandes für nicht erzählenswert gehalten haben, etwa die Kriegszeit. Die Forschung zur Wissenschaftsgeschichte und zu (auto-)biografischem Schreiben lassen Dipper und Duchhardt vollständig außer Betracht. Sie zitieren im Wesentlichen Autoren ihrer eigenen Alterskohorte. Den Begriff »Aufbruch« im Titel erläutern sie nicht weiter. Vielleicht bezieht er sich auf »die geradezu weltweite Aufbruchstimmung als Folge des (geglaubten) Endes zweier Machtblöcke« nach 1989 (S. 34).

Die Beiträge folgen dann zumeist konventionellen Formen wissenschaftlicher Selbstdarstellung, sie beginnen mit der Kindheit und gehen zu den eigenen Erfolgen über: Was man gemacht hat, was man erreicht hat, in welchen Archiven man war, in welche Ausschüsse und Akademien man gewählt wurde, ob man gar die Titelseite eines »Spiegel«-Heftes schmückte, ob Kanzler und Bundespräsidenten einen in Erinnerungen erwähnten oder zu runden Geburtstagen gratulierten, in welchen Ländern man Aufsätze publiziert hat. »Frankreich fehlt«, musste Alexander Demandt feststellen. »Kann man dort genügend Deutsch?« (S. 196) Lebensstationen werden aberzählt, und es fallen viele Namen bedeutender Historiker – die männliche Form ist beabsichtigt –, bei denen man studiert oder die man selbst ausgebildet hat.

Es handelt sich also – von einer Ausnahme abgesehen – definitiv nicht um das mittlerweile etablierte Genre der Autosoziobiografie, in der die eigene Lebensbeschreibung als Sonde dient, um soziale Verhältnisse auszuloten.[1] Machtstrukturen im Feld der Geschichtswissenschaft werden eher abstrakt angedeutet, wenn nicht gleich ausgeblendet. Manchmal werden individuelle, persönliche Animositäten mit Doktorvätern und Vorgesetzten skizziert. Letztlich lesen wir nur von Karrieren, die, im Rückblick betrachtet, erfolgreich verlaufen sind. Die Beiträge beschwören eine ideale Form der Universität als einer Gemeinschaft der allein der Sache Dienenden, und sie zementieren mit Aplomb das alte Rollenmodell des deutschen Ordinarius.

Frauen glänzen weitgehend durch Abwesenheit (einige angefragte Historikerinnen haben offenbar einen Beitrag abgelehnt oder zurückgezogen). In vielen Beiträgen werden Ehefrauen gar nicht erwähnt; wenn doch, dann öfters ohne Namen. Welche Rolle haben sie für die Karrieren ihrer Männer gespielt, wie viele Manuskripte haben sie getippt, was haben sie intellektuell geleistet? Marlies Gummert hatte 1979 die produktive Verniemandung der Professorengattin aufgespießt, die ihrem Mann den Rücken freihält und nach Außen dessen Seriosität verkörpert, aber als eigenständiges Subjekt ausgelöscht wird.[2] Die meisten Beiträge des Bandes belegen Gummerts Beobachtung, obwohl man hätte denken sollen, dass Texte, die in den frühen 2020er-Jahren verfasst wurden, über alte Geschlechterrollen zumindest ein Wort verlieren. Es ist schon merkwürdig, von lauter Rufen und Auslandsaufenthalten zu lesen, in diesem Zusammenhang aber nichts Relevantes über die Familien zu erfahren. Stattdessen schreibt beispielsweise Hartmut Lehmann nur einen kurzen Satz zu diesem Thema, und es ist faszinierend, mit welcher Selbstverständlichkeit er für sich stehen bleibt: »1970 gab meine Frau ihre Stelle [als wissenschaftliche Assistentin] in Köln auf und folgte mir [nach Kiel]« (S. 131). Alexander Demandt hatte offenbar nur männliche Assistenten, förderte keine Habilitandin, unter seinen 30 Doktoranden waren ganze zwei Frauen; Frauenbeauftragte empfindet er als »Hohn auf GG Art. 3« (S. 189). Bei Peter Herde und Werner Eck erfahren wir immerhin, dass die Wohnorte der Familie nach den Arbeitsplätzen der Frauen, in beiden Fällen Lehrerinnen, gewählt wurden; die Männer mussten pendeln. Jörn Rüsen war Assistent bei einer Professorin und hatte später eine Assistentin; er dankt seiner Frau für ihre intellektuelle Unterstützung (und dafür, dass sie ihm den Rücken freigehalten hat); drei andere Kollegen tun es ihm gleich. Heinrich August Winkler wurde der Weg in die Geschichtswissenschaft durch seine bei Theodor Schieder promovierte Mutter erleichtert. Insgesamt gewinnen Frauen nur in wenigen Beiträgen Konturen als Professorinnen, Lehrerinnen oder Kulturreferentinnen.

Anders ist es im Beitrag von Adelheid von Saldern. Sie legt ihrem Bericht Pierre Bourdieus Analysen des wissenschaftlichen Feldes zugrunde und skizziert, wie eine Wissenschaftlerin in den 1960er-Jahren ihren Familienalltag optimieren musste, um in der Wissenschaft zu reüssieren. In ihrem Fall wurde sie durch den Ehemann und durchaus konservative Professoren unterstützt, durch Franz Schnabel, der sie promovierte, und Wilhelm Treue, der keine Vorbehalte gegen eine Mutter mit Kleinkind habe erkennen lassen. Gisela Bock hebt die Bedeutung der seltenen weiblichen »role models« hervor; für ihre männlichen Kollegen waren Vorbilder offenbar so selbstverständlich, dass sie diese in ihren Beiträgen nicht thematisieren.

Zwischen den Zeilen findet man Andeutungen über das Funktionieren des Wissenschaftsbetriebes, beispielsweise über den Habitus männlicher Wissenschaftler, die sich ganz der Sache hingeben und ihren Geburtstag mit Kollegen im D-Zug auf dem Weg zu einer Tagung feiern oder feststellen, dass sie als über Achtzigjährige nun weniger Gutachten schreiben und Tagungen besuchen als früher. Hans Medick berichtet selbstkritisch, dass die Identifikation mit dem Gegenstand die quellenkritische Reflexionsfähigkeit beeinträchtigen kann (in diesem Fall gegenüber der gefälschten »Laichinger Hungerchronik«). Wolfgang Benz und Reinhard Spree machen deutlich, dass zur Wissenschaft auch gescheiterte Projekte sowie zerbrochene Ehen gehören. Soziale Aufstiegsgeschichten werden kaum erzählt, umgekehrt wird die Herkunft aus einer Professorendynastie, wenn überhaupt, nur nebenbei erwähnt. Allein Heinz Reif hat eine Autosoziobiografie im Duktus von Ulla Hahns »Geschichte der Hilla Palm« verfasst, die eine Suchbewegung erkennen lässt: Distanz zur Bildungsschicht als Jugendlicher, Ausweichen, Schulversagen, Nachholen, Maschinenbauingenieur, erneutes Studium, Befremdung über das Missionarische und Humorlose der »Bielefelder Schule«, die Austreibung seiner ästhetischen Interessen aus seinen wissenschaftlichen Texten, Leitung des Ruhrlandmuseums und schließlich Professur an der TU Berlin.

Das oben erwähnte »name dropping« macht den vielleicht wichtigsten (allerdings nicht reflektierten) Punkt des Bandes deutlich, nämlich die Bedeutung sozialer Beziehungen für die Rezeption und die inhaltliche Ausrichtung wissenschaftlicher Arbeit. Keiner der Beiträger geht näher darauf ein, dass bloßes Gelesenwerden das eine ist, aktiv rezipiert zu werden aber entscheidend von persönlichen Netzwerken abhängt. Als Habilitand war Alexander Demandt kein Rotarier und fand deshalb keinen Zugang zum Arbeitskreis »Poetik und Hermeneutik«, zu dem seine Forschungen eigentlich passten. An der FU Berlin war dann sein gesellschaftlicher »Umgang unter den Kollegen, oft auch fachübergreifend: einmal wöchentlich Fußball, dreimal Tischtennis. Unvergesslich das gemeinsame Musizieren zu meinem Blüthner-Klavier in wechselnder Besetzung: Kurt Raaflaub Querflöte, Hartmut Leppin Tenor, Michael Strocka Cello«, und offenbar keine Frauen in diesen Kreisen (S. 187). Solche Szenen enthüllen, wie über Soziabilität in Rezeptionszirkel ein- und ausgeschlossen wird.

Hin und wieder gibt es Bedenken, in der Ich-Form zu schreiben. Werner Eck führt seinen Lehrer Helmut Berve als Gewährsmann an, dass in wissenschaftlichen Texten Argumente, nicht Meinungen zählten. Dass dieses Ideal eines subjektfreien Textes trotzdem die Quellen nicht schützt, »einer ideologischen Interpretation« (S. 288) anheimzufallen, zum Beispiel bei Berve im »Dritten Reich«, thematisiert Eck nicht weiter. Dabei macht die Ich-Form autobiografische Texte immerhin geschmeidig, das zeigt im umgekehrten Fall die Ego-Laudatio des »Querkopfes« Wolfgang Reinhard, der sein Selbstporträt in der dritten Person verfasst hat. Das ist umständlich zu lesen und lässt die ordinariale Erfolgsbilanz erst recht manieriert klingen, wenn er von den »drei anspruchsvollen Gesamtdarstellungen« und den »innovativen Arbeiten Reinhards« berichtet, die seinem »glatten Aufstieg in der deutschen ›Historikerzunft‹ im Wege« gestanden hätten (S. 169-171). 1973 Habilitation, 1974 Universitätsdozent, 1977 Lehrstuhlinhaber – so muss sich der heutige Nachwuchs eine nicht glatte Karriere vorstellen.

Schließt der Band zufällig mit diesen Worten von Werner Paravicini? »Nachdem die Sternstunden verblichen sind, veraltet unaufhaltsam des Historikers Werk […]. Endet es gut, stirbt der Meister verehrt, aber bereits als ein Museumsstück. Und dann wird er vergessen. Es sei denn, er sei ein Genie oder Dichter gewesen.« (S. 458)

 

Zitierempfehlung

Thomas Etzemüller, Rezension zu: Christof Dipper/Heinz Duchhardt (Hrsg.), Generation im Aufbruch. Die Geschichtswissenschaft in Deutschland im Spiegel autobiographischer Porträts, Böhlau Verlag, Köln 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82007.pdf> [27.8.2024].

 

[1] Vgl. exemplarisch Carlos Spoerhase, Politik der Form. Autosoziobiographie als Gesellschaftsanalyse, in: Merkur 71 (2017), S. 27–37.

[2] Marlies Gummert, Rede einer selbstbewußten Professorenfrau. Ein Dokument, in: Kursbuch Nr. 58 (1979), S. 85–100.

Rezensionsarchiv

Maximilian Buschmann, Die Erfindung des Hungerstreiks. Eine transnationale Geschichte, 1880–1950

(Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 247)

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2023 | 378 Seiten, gebunden | 65,00 € | ISBN 978-3-525-37105-3

rezensiert von

Gisela Diewald-Kerkmann, Universität Bielefeld

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Die Geschichte des Hungerstreiks als politische Protestform in transnationaler Perspektive steht im Zentrum der Studie von Maximilian Buschmann, wobei sich der Fokus auf die Vereinigten Staaten im Zeitraum von 1880 bis 1950 und auf die Praxis der Hungerstreikenden richtet. Beim Hungerstreik verweigern Einzelne oder Gruppen die Nahrungsaufnahme und nehmen dafür bewusst das Risiko bleibender gesundheitlicher Schäden, die nach etwa drei oder vier Wochen eintreten, oder sogar den Tod in Kauf. Eine verschärfte Variante dieser Protestform ist der ›trockene Hungerstreik‹, also die Verweigerung von Flüssigkeitsaufnahme. Die Überlebenszeit beträgt in diesem Fall nur wenige Tage, da der Wasserverlust im Körper (Dehydratation) zu Bewusstlosigkeit und bald darauf zum Tod führt. Buschmann hebt hervor, dass die Verweigerung der Nahrungsaufnahme eine körperliche Praxis darstellt, »um die politische und individuelle Souveränität eines handelnden Subjekts zu demonstrieren – eine Form der Selbstbeherrschung und Selbstverteidigung, die nur um den Preis der Selbstschädigung und der Potentialität der Selbstopferung zu haben schien.« (S. 10).

Es geht beim Hungerstreik nicht nur um eine politische Aktion gegen den Staat, sondern auch um die Aufmerksamkeit des politisch-sozialen Umfelds und der medialen Öffentlichkeit. Insoweit erfordert die kommunikative Dimension von Hungerstreiks, seine Einbettung in ein wirkungsvolles Narrativ, den Zugang zu Medien und Netzwerken. Tatsächlich bedeutet das Mittel des Hungerstreiks eine Ultima Ratio im politischen Kampf respektive einen ›Kampf mit dem eigenen Körper‹ bis zu dessen massiven Schwächung. Aus dieser letzten Konsequenz erklären sich das eigentümliche Pathos und die Radikalität des Hungerstreiks. Der Verfasser hebt zu Recht hervor, dass weder die russischen politischen Gefangenen noch die britischen und amerikanischen Suffragetten, noch die Kriegsdienstverweigerer in den Vereinigten Staaten im 19. und 20. Jahrhundert als erste Hungerstreikende weltweit gelten können. Das sei nur bei zwei großen Verdrängungen möglich: Zum einen hätten Afrikaner:innen auf der erzwungenen Überfahrt über den Atlantik regelmäßig die Nahrungsaufnahme verweigert, um sich ihrer Versklavung zu widersetzen. Zum anderen sei die Nahrungsverweigerung eines der vieldiskutierten Probleme der sich im 19. Jahrhundert etablierenden Psychiatrie gewesen. Aber Hungerstreiks gehören nicht nur der Vergangenheit an, vielmehr treten sie nach wie vor weltweit auf. Vor allem in der Zeit von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre erlebten sie eine Hochkonjunktur: »Nicht nur in den USA, auch in anderen Staaten wie Frankreich, Südafrika, Nordirland, Westdeutschland und Indien kam es wiederholt zu Hungerstreiks.« (S. 317).

Leitende Fragestellungen, die den Aufbau der Arbeit bestimmen, sind beispielsweise: »Welche Bedeutung besaß der Körper als Leib und als Objekt der Reflexion und des Diskurses für die politische Praxis? Welche Selbstverhältnisse formten sich mit und durch Hungerstreiks? Welche Bedeutung hatten spezifische räumliche Konstellationen und bestimmte Routinen innerhalb eines Raums für das Auftreten von Hungerstreiks?« (S. 13).

Die Untersuchung ist in vier Teile mit insgesamt zwölf Kapiteln gegliedert. Während sich der erste Teil auf die transnationale Begriffsgeschichte, die wissenschaftliche Entzauberung des Nicht-Essens im späten 19. Jahrhundert, sowie auf »verschwiegene Traditionen« des Hungerstreiks konzentriert, geht es im zweiten Teil um die Etablierung des Hungerstreiks als mediale Figuration, Körpertechnik und politische Subjektivierung sowie um den Hungerstreik als Protestform von Anarchist:innen und Feministinnen im frühen 20. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang werden Hungerstreiks als ›Propaganda der Tat‹, die Formen politischer Subjektivierung bei Hungerstreiks von Feministinnen, aber als entgegengesetzter Akt auch die Genealogie der Zwangsernährung im medizinisch-psychiatrischen Wissen im 19. Jahrhundert thematisiert. Im dritten und vierten Teil untersucht Buschmann diverse Hungerstreikkampagnen und ihre mediale Rezeption im Zeitalter der Weltkriege, von den Hungerstreiks US-amerikanischer Kriegsdienstverweigerer im Ersten Weltkrieg über anarchistische Kampagnen während des Bürgerkriegs in Russland in den 1920er-Jahren bis hin zur weltweiten Rezeption von Gandhis »politischer Askese« in Indien. Dabei stützt sich der Autor auf ein weit gefächertes Bündel an Quellentypen unterschiedlicher Provenienz, insbesondere aus US-amerikanischen Archiven, von staatlicher Überlieferung über Presseberichterstattung und wissenschaftliche Diskussionen bis hin zu Korrespondenzen, Memoiren und Tagebücher von Hungerstreikenden selbst. In diesem Zusammenhang spricht Buschmann selbst von einer diffusen Quellenlage.

Als wichtige Konstante von Hungerstreiks werden im siebten Kapitel politische Subjektivierungen thematisiert. Hungerstreiks hätten auf unterschiedliche Weise als eine Praxis der Subjektivierung fungiert, »in dem Sinne, dass die Individuen im Hungerstreik mit und durch diesen auf sich selbst Bezug nahmen, über sich und ihre Handlungsmöglichkeiten nachdachten und schließlich sich selbst als politische Subjekte in einem gesellschaftlichen Kampf um Macht positionierten.« (S. 160) So hätten die britischen Suffragetten Hungerstreiks in ihrem Kampf um demokratische Partizipation genutzt, um ihr konstitutionelles Ziel, das Erlangen des Frauenwahlrechts, zu untermauern. Aber den Frauen ging es in den 1910er-Jahren nicht nur um die Erlangung des Wahlrechts, ihr Kampf richtete sich ebenso gegen Prostitution, Alkoholismus, sowie gegen sexuelle und häusliche Gewalt. Insoweit seien die Erfahrungen von Haft, Hungerstreik und Zwangsernährung zu zentralen Ereignissen der feministischen Kämpfe geworden. Nach Ansicht des Autors hätten die individuellen Erlebnisse von Missachtung zu einer Ressource des Subjektes geführt, sich gegen die Unterdrückung zu wehren. In diesem Kontext klammert Buschmann nicht aus, dass Hungerstreiks häufig durch eine Zwangsernährung gebrochen wurden, was mit einer erheblichen Tortur verbunden war. Mittels eines Schlauchs wurde den Streikenden flüssige Nahrung durch Nase oder Mund eingeflößt. Das war ein schmerzhafter Prozess, da die zu ernährende Person hierfür fixiert werden musste. Solche Maßnahmen riefen heftige Kontroversen und Debatten in der britischen Öffentlichkeit hervor. Kritische Stimmen sahen in der Zwangsmaßnahme »einen schweren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und Würde der Gefangenen« (S. 319). Umso wichtiger ist der Hinweis von Buschmann, dass der Weltärztebund im Jahre 1975 ausdrücklich erklärte, dass eine künstliche Ernährung gegen den Willen eines zurechnungsfähigen Gefangenen zu unterlassen sei.

Dass es zahlreiche skeptische Stimmen gegen die Durchführung von Hungerstreiks gab, dokumentiert die politische Kampagne für zwei der bekanntesten Häftlinge in den USA. Es geht um die in den 1920er-Jahren zum Tode verurteilten italienstämmigen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Wegen eines angeblichen Überfalls auf einen Geldtransporter und der Tötung von Wachmännern waren sie am 14. Juli 1921 zum Tode verurteilt worden. Da sie sich während des Prozesses zu ihren anarchistischen Idealen bekannten, lag die Vermutung nahe, dass mit dem Todesurteil ein Exempel gegen die radikale Linke in den Vereinigten Staaten statuiert werden sollte. Trotz der ablehnenden Haltung von Vanzetti und der Verteidigung entschloss sich Sacco zum Hungerstreik. »Während manche meinten, Vanzetti hätte ebenfalls in den Hungerstreik treten sollen, glaubten andere, Saccos Nahrungsverweigerung sei weniger ein politischer Akt als eine individuelle Verzweiflungstat, die nicht politische Agitation, sondern medizinischen Beistand benötige.« (S. 270) Tatsächlich wurde Sacco in der Psychiatrie eine Zwangsernährung angedroht, woraufhin er den Hungerstreik nach 31 Tagen beendete. Ungeachtet dessen entwickelte sich die Kampagne für die Freilassung von Sacco und Vanzetti zur zeitgenössisch wohl weltweit größten linken Mobilisierungskampagne. Inmitten der internationalen Proteste entschieden sich die beiden Anarchisten am 17. Juli 1927 zu einem gemeinsamen Hungerstreik, auch weil sie auf eine Begnadigung durch den gegen sie eingestellten Gouverneur nicht rechnen konnten und ihnen so nichts anderes mehr übrig zu bleiben schien, als auf diese Weise zu protestieren.

Buschmanns Studie endet Mitte des 20. Jahrhunderts, aber nicht, »weil die Geschichte des Hungerstreiks hier ihr Ende gefunden hätte, sondern weil sich die Praxis nun international und in zahlreichen verschiedenen politischen Bewegungen fest im Repertoire der Aktions- und Protestformen etabliert hatte.« (S. 317) Aber nicht nur in der Praxis von politischen Bewegungen hat sich der Hungerstreik etabliert, auch in der Forschung wird das Phänomen des Hungerstreiks zunehmend problematisiert. Insgesamt zeugt die Arbeit von einer intensiven Auseinandersetzung des Autors mit der Geschichte des Hungerstreiks. Zwar wäre partiell eine noch stärkere Fokussierung auf einzelne Aspekte der Thematik, insbesondere auf die »Genealogie der Zwangsernährung«, sinnvoll gewesen, aber diese Kritik ändert kaum etwas am Gesamteindruck.

 

Zitierempfehlung

Gisela Diewald-Kerkmann, Rezension zu: Maximilian Buschmann, Die Erfindung des Hungerstreiks. Eine transnationale Geschichte, 1880–1950, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82004.pdf> [1.7.2024].

Jenny Sprenger-Seyffarth, Kriegsküchen in Wien und Berlin. Öffentliche Massenverpflegung und private Familienmahlzeit im und nach dem Ersten Weltkrieg

(Histoire, Bd. 208)

transcript | Bielefeld 2023 | 576 Seiten, gebunden | 59,00 € | ISBN 978-3-8376-6724-0

rezensiert von

Sebastian Merkel, Stadtarchiv Buxtehude

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Im Zuge der 100. Jährung des Ersten Weltkriegs erschienen zwischen 2014 und 2018 zahlreiche Publikationen zu diversen Aspekten jener weltgeschichtlichen Zäsur. Zwar wurde der Erste Weltkrieg auch zuvor schon vielfach beforscht. Nichtsdestotrotz bestehen nach wie vor in einigen Bereichen größere Forschungslücken, so etwa hinsichtlich der städtisch organisierten Lebensmittelversorgung an der »Heimatfront«. In ihrer umfangreichen Dissertation widmet sich nun Jenny Sprenger-Seyffarth dieser Thematik in vergleichender Perspektive für Wien und Berlin.

Laut Sprenger-Seyffarth bietet sich ein Vergleich zwischen den beiden Hauptstädten an, da beide zugleich kulturelle Zentren darstellten, eine ähnliche Bevölkerungszahl und Bevölkerungsstruktur aufwiesen, wichtige Standorte der Kriegsindustrie waren und auch hinsichtlich der Kriegsfürsorge Parallelen aufwiesen. Zugleich verfolgten die Stadtverwaltungen beider Orte ab Sommer 1916 unterschiedliche Ansätze, um die Lebensmittelversorgung der notleidenden Massen zu organisieren. Neben ergänzender Fachliteratur greift die Autorin in ihrer Studie auf Aktenbestände des Berliner Magistrats und des Wiener Gemeinderats sowie auf Denkschriften und Tätigkeitsberichte verschiedener involvierter Vereine und Organisationen zurück. Für die Donaumonarchie war darüber hinaus die Auswertung von Tageszeitungen besonders relevant, da in diesen sehr viel ausführlicher als in den deutschen Pendants über die Frage der Lebensmittelversorgung berichtet wurde.

Das »Hauptanliegen« ihrer Studie sieht die Autorin entsprechend »darin, die gegensätzliche Entwicklung der Berliner und Wiener Massenverpflegung zu erklären und mit Blick auf einen Wandel der Ernährungsgewohnheiten einzuordnen« (S.12). Dazu richtet sie den Fokus ihrer Untersuchung auf drei Bereiche: Erstens auf Vereine und insbesondere Frauenhilfsorganisationen, die die kommunal organisierten Verpflegungssysteme unterstützen; zweitens auf die Adressat:innen der Hilfe - also Personen aus Proletariat und Mittelstand - sowie drittens auf soziale und politische Entwicklungen der frühen Nachkriegsjahre, die besonders von sozialdemokratischer Seite geprägt wurden.

Hinsichtlich des ersten und des zweiten Schwerpunkts bescheinigt Sprenger-Seyffarth sowohl der Wiener als auch Berliner Stadtverwaltung einen äußerst wichtigen Beitrag zum Überleben vieler Personen geleistet zu haben, wobei hieran auch philanthropische Vereine und Frauenorganisationen einen essentiellen Anteil hatten. Schließlich trugen vor allem Letztere maßgeblich zur praktischen Umsetzung der Massenspeisungen sowie zur Akzeptanz der Kriegsküchen zumindest bei Teilen der notleidenden Bevölkerung bei. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass sich die Kriegsküchen nicht zu einem Erfolgsmodell entwickelten. Denn laut der Autorin war »die Bevölkerung [bestrebt,] ihr Leben so gewohnt wie möglich fortzusetzen und an der den sozialen Status repräsentierenden privaten Tischgemeinschaft festzuhalten«, und dies gerade, »weil die Ernährung zu einem Bereich des täglichen Lebens gehörte, der vielerorts noch relativ lange die Aufrechterhaltung alter Gewohnheiten ermöglichte« (S. 498).

So gelang es weder in Berlin noch in Wien, die jeweiligen Stadtbevölkerungen mehrheitlich für den regelmäßigen Besuch der Gemeinschaftsküchen zu gewinnen. Für die österreichische Hauptstadt ermittelte die Autorin aber eine durchaus größere Akzeptanz der öffentlichen Massenverpflegung. Dies erklärt sie mit einem entschlosseneren Handeln seitens der Stadtverwaltung und einem insgesamt flexibleren Netzwerk an Massenspeiseeinrichtungen, das in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen privaten Speiseanbietern (also Frauenorganisationen und wohltätigen Vereinen) den Bedürfnissen der jeweiligen Adressat:innen besser angepasst werden konnte. Im Unterschied zu Berlin kam es in Wien außerdem nicht im Verlauf des Krieges zu einer Umorganisation der Massenspeisung, sodass die Wiener Stadtbevölkerung sich über die Kriegsjahre hinweg an die öffentlichen Versorgungsangebote gewöhnen konnte. In der deutschen Hauptstadt dagegen betrachtete die Stadtverwaltung die Massenverpflegung ab Sommer 1916 nicht länger als eine Aufgabe, die es gemeinsam mit privaten Speiseanbietern zu bewältigen galt. Kurzfristig wurde ein neues Speisungssystem aufgebaut, ohne dabei Rücksicht auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der proletarischen und mittelständischen Adressat:innen zu nehmen. Die Absicht dahinter war, »eine gerechte und gleichmäßige Versorgung« unabhängig von Klassenunterschieden zu erreichen. Jedoch überlagerten auch in den Kriegsjahren die wahrgenommenen Klassenunterschiede dermaßen die individuelle wirtschaftliche Not, dass für die meisten Berliner:innen der Besuch von Kriegsküchen nur in Frage kam, wenn sie »beim Besuch der Einrichtungen ihre soziale Identität gewahrt sahen« (S. 489). Die starke Frequentierung von Mittelstandsküchen, die von Wohltätigkeitsorganisationen neben den städtischen Kriegsküchen weiter betrieben wurden, durch Bürgerliche zeugte hiervon.

Wie Sprenger-Seyffarth herausarbeitet, blieb die öffentliche Massenverpflegung aufgrund der wirtschaftlich anhaltend schwierigen Verhältnisse sowie aufgrund der neuen, von der Sozialdemokratie dominierten Politik in beiden Metropolen auch in den Nachkriegsjahren bestehen – wobei die Akzeptanz in Wien nach wie vor deutlich größer war. Die sozialdemokratischen Parteien erkannten in der öffentlichen Massenspeisung ein Mittel, die eigene Politik umzusetzen. In dem Konzept der Gemeinschaftsküche sahen sie eine Möglichkeit der Entlastung nicht allein von proletarischen Haushalten, sondern explizit auch von werktätigen Frauen in ihrer Doppelbelastung durch Lohnarbeit und familiäre Reproduktionsarbeit. In Berlin wurden die reformistischen Absichten der Sozialdemokratie jedoch auf Verwaltungsebene durch bürgerlich-konservative Beamte unterlaufen und auch die sich rasch wieder ändernden politischen Machtverhältnisse auf Republikebene führten letztlich dazu, dass die »Volksspeisung [...] ein unbeliebtes Relikt der Kriegszeit [blieb], das ausschließlich von mittellosen Bewohnern der Stadt in Anspruch genommen wurde« (S. 492).

In Wien gelang es hingegen, die Massenspeisung erfolgreicher neu zu organisieren. Mit der Wiener öffentlichen Küchenbetriebsgesellschaft (WÖK) wurde gar eine Institution geschaffen, die mehr als fünf Jahrzehnte lang Bedürftigen als Anlaufstelle diente. Die Gründe für das Gelingen sieht die Autorin unter anderem in der in Wien erheblich länger andauernden politischen Dominanz der Sozialdemokratie sowie in einem Imagewandel der Gemeinschaftsküche, der sowohl durch US-amerikanische Hilfslieferungen als auch durch die finanzielle Absicherung der städtischen Aufwendungen durch den österreichischen Zentralstaat befördert wurde. Nichtsdestotrotz wurde das Konzept der Gemeinschaftsverpflegung auch in Wien nur von einer Minderheit der Gesamtbevölkerung in Anspruch genommen. Die Essensgewohnheiten der Bevölkerung hatten sich demnach auch langfristig nicht grundlegend verändert.

Jenny Sprenger-Seyffarths Studie stellt eine große Bereicherung für die Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs und insbesondere für die Konsumgeschichte- und die kommunale Verwaltungsgeschichte an der Wiener bzw. Berliner »Heimatfront« dar. Stets quellengesättigt weiß die Autorin nachvollziehbar und überzeugend zu argumentieren. Ein ausführlicheres Inhaltsverzeichnis, das auch die Unterkapitel auflistet, sowie ein Orts- und Sachregister wären jedoch dringend ratsam gewesen. Das Fehlen einer detaillierten Übersicht erschwert die Orientierung in dem mehr als 570 Seiten starken Werk erheblich. Dieses Manko wird leider auch nicht durch die Möglichkeit der Stichwortsuche in der kostenlos zugänglichen E-Book-Version auf der Internetpräsenz des Verlages gemindert.

 

Zitierempfehlung

Sebastian Merkel, Rezension zu: Jenny Sprenger-Seyffarth, Kriegsküchen in Wien und Berlin. Öffentliche Massenverpflegung und private Familienmahlzeit im und nach dem Ersten Weltkrieg, transcript, Bielefeld 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82002.pdf> [1.7.2024].

Gottfried Niedhart, Pionier und Außenseiter. Gustav Mayer. Deutsch-jüdischer Historiker des Sozialismus

Dietz | Bonn 2023 | 248 Seiten, Broschur | 24,00 € | ISBN 978-3-8012-4257-2

rezensiert von

Mike Schmeitzner, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

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Häufig genug sind Verlagsankündigungen nichts anderes als mehr oder weniger gelungene Werbemaßnahmen. Auch im konkreten Fall wirbt der Dietz-Verlag damit, dass diese Biografie »längst überfällig« sei. Hat diese Eigenwerbung mit der tatsächlichen Erwartungshaltung im Fach und in interessierten Kreisen zu tun? Die Frage kann eindeutig positiv beantwortet werden: Ja, diese Biografie zu Gustav Mayer ist tatsächlich überfällig!

Und wer sonst sollte sie schreiben als Gottfried Niedhart? Bereits seit vielen Jahren hat der Historiker immer wieder verschiedene Aspekte der Biografie von Mayer in Zeitschriften und Jahrbüchern thematisiert. Mit seiner im Jahre 2009 vorgelegten Edition der Tagebücher, Aufzeichnungen und Briefe Mayers aus den Jahren 1914 bis 1920 hat er der Öffentlichkeit eine aufschlussreiche Quelle zur Verfügung gestellt.[1]

Nur in den späten 1960er- und 1970er-Jahren hatte es schon einmal ein kurzes Interesse an Mayer gegeben – und zwar in beiden deutschen Staaten. Der maßgebliche Protagonist der Bielefelder Schule, Hans-Ulrich Wehler, hatte in seiner Anthologie über »Deutsche Historiker« den deutsch-jüdischen Historiker aufgenommen und gewürdigt. Wehler war es auch, der in der Edition Suhrkamp 1969 zwei bedeutende kleinere Studien Mayers als Band herausgab und so versuchte, Mayers Pioniertätigkeit dem Vergessen zu entreißen.[2] In der DDR hatte der Historiker Hans Schleier 1976 in einem größeren Aufsatz die Bedeutung Mayers für das Fach herausgestellt. Schleier tat dies ohne ideologische Scheuklappen, was nicht verwundert, hatte er doch zur selben Zeit mit seiner Studie über die deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik und vor allem deren linksliberale Vertreter ein profundes Werk veröffentlicht.[3] Als ein ›Wegbereiter‹ der DDR-Geschichtswissenschaft galt Mayer trotzdem nicht.

Dass Mayer nicht so recht in Schubladen passte und zu Lebzeiten nie eine ordentliche Professur erhielt, hatte bestimmte Gründe, die in Niedharts gut gewähltem Titel deutlich werden – er war »Pionier und Außenseiter«. Mayer stammte aus einer jüdischen Familie in Prenzlau, wo er im Reichsgründungsjahr 1871 als Sohn eines Kaufmanns geboren wurde. Zeit seines Lebens trug er ungelöste Identitätsfragen mit sich herum: War er nun Jude, Deutscher oder deutscher Jude? Die nazistische Rassenpolitik nahm ihm die letzten Hoffnungen, dass eine deutsch-jüdische Symbiose möglich sei. Mayer studierte Nationalökonomie und schloss das Studium in Basel mit einer Promotion zu den sozialökonomischen Ansichten Ferdinand Lassalles ab. Damit hatte er ein fachspezifisches Terrain betreten, das er bis zu seinem Lebensende 1948 in London weiter beackern und als Pionier ausbauen sollte. Zunächst aber arbeitete Mayer für die linksliberale „Frankfurter Zeitung“; erst die Hochzeit mit Flora Wolff ermöglichte es ihm ab 1905, als Privatgelehrter seine historischen Studien zu betreiben. Auf einen Lehrstuhl für Geschichte berufen zu werden, sollte ihm nicht gelingen. Obwohl er von anerkannten Vertretern seines Fachs wie den Linksliberalen Hermann Oncken und Friedrich Meinecke gefördert wurde, zu Anfang sogar vom nationalkonservativen Erich Marcks, scheiterte ein Habilitationsversuch an der Berliner Universität 1917. Erst nach der Revolution wurde er 1921 zum Extraordinarius für das Lehrgebiet der Demokratie und des Sozialismus an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin berufen, wo er nun neben dem befreundeten Meinecke lehrte.

Auf dem Forschungsgebiet der Demokratie und des Sozialismus wirkte Mayer nicht erst seit 1921 als ein Pionier seines Fachs. Nach der Promotion zu Lasalle hatte er bereits 1909 als zweites Buch eine Biografie über den ADAV-Präsidenten Johann Baptist von Schweitzer und sein Verhältnis zur deutschen Sozialdemokratie vorgelegt. 1911 folgte seine bedeutende Studie über die »Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland« in der Zeit von 1863 bis 1870.[4] Anfang der 1920er-Jahre gelang ihm dann die als Sensation begriffene Entdeckung des Lassalle-Nachlasses, dessen Inhalt er in sechs Bänden herausgab. 1928 veröffentlichte er als Nachtrag noch den Briefwechsel Bismarck-Lassalle.[5] Den Gipfel seines historiographischen Schaffens erreichte Mayer, der selbst nie SPD-Mitglied (aber Sympathisant) war, jedoch mit der zweibändigen, voluminösen Biografie über Friedrich Engels, deren erster Band 1920 und deren zweiter Band 1934 bereits im Exil erschien.[6] Dass Mayer mit diesem Forschungsschwerpunkt und seiner jüdischen Herkunft im überwiegend konservativ und nationalistisch geprägten Fach vielfach als Außenseiter betrachtet wurde, überrascht kaum.

Niedharts Biografie ist mit 248 Seiten eine gut geschriebene und vor allem handliche Studie, die das Leben Mayers in den Fokus rückt und es nicht durch eine überwölbende Werkanalyse erstickt. Behutsam schildert er Mayers Lebensstationen und verschränkt sie mit einzelnen seiner Werke. Bei manchen dieser Werke – vor allem bei der Engels-Biografie – nimmt sich Niedhart jedoch selbst sehr weit zurück und lässt vor allem die damaligen Rezensenten sprechen, die sich einerseits über die historiografische Leistung beeindruckt zeigten, aber andererseits und sehr zu Recht eine »urteilende Auseinandersetzung« vermissten. Es war tatsächlich Mayers eigener historiografischer Anspruch, nicht als »Autor das Wort zu ergreifen und in den Lauf der Darstellung hineinzusprechen«. Ihm kam es darauf an, die »Geschlossenheit der Erzählung« zu wahren, was auf Kosten kritischer Distanz ging (S. 158).  Hier lag ein Schwachpunkt seiner Engels-Studie, auch wenn dieselbe mit stupender Quellenkenntnis und beeindruckender Spracheleganz zu überzeugen wusste. Mit Blick auf Mayers gescheiterte Habilitation in Berlin kann Niedhart zeigen, dass hier nicht nur Intrigen und antisemitische Vorurteile von konservativ-alldeutschen Kollegen im Spiel waren, sondern auch Schwächen Mayers selbst. Er zögerte das Verfahren hinaus und unterschätzte letztlich das Kolloquium.

So sehr Niedhart mit seinem Protagonisten sympathisiert, so sehr spart er doch kritische Aspekte nicht aus. So benennt er Mayers eigenen Anspruch, eine »Synthese von Ranke und Marx« zu bilden, als nicht wirklich eingelöst (S. 157). Mayers wichtiger Hinweis, in der Geschichtsschreibung nicht nur die Sphäre des Politischen gelten zu lassen (wie es in der deutschen Historiographie trotz Karl Lamprechts Interventionen damals immer noch dominant war), sondern auch und gerade die Sphäre der Wirtschaft einzubeziehen und so Wirkungszusammenhänge sichtbar zu machen, vermochte er selbst kaum umzusetzen. Mayers Fokus richtete sich auf herausragende Protagonisten der Arbeiterbewegung, womit er sich trotz der Darstellung komplexer Sachverhalte doch wieder im methodischen Fahrwasser der in Deutschland Ton angebenden Biografik befand. Niedharts Biografie über Mayer zielt über diese »klassische« Biografik hinaus. Sie ist auch eine urteilende Auseinandersetzung, die Schwächen und offene Flanken benennt, die tiefe Tragik des Protagonisten aber eindrücklich und warmherzig beschreibt. Wie stark Mayer der Holocaust erschüttert hatte und wie sehr ihn seither ein Abgrund vom »Volk der Dichter und Denker« trennte, das zeigen seine Briefe an Friedrich Meinecke 1946/47 (S. 224).

Niedharts Biografie ist letztendlich mehr als nur eine spannende Lebensbeschreibung eines innovativen Historikers, sie ist zugleich auch ein Lehrstück über limitierte Aufstiegsmöglichkeiten eines deutsch-jüdischen Historikers und damit über Antisemitismus an den Universitäten wie in der deutschen Gesellschaft insgesamt. Zugleich informiert sie über Kontroversen und Netzwerkbildungen in der deutschen Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es bleibt zu hoffen, dass diese Biografie auch über das Fach hinaus eine gebührende Resonanz erfährt.

 

Zitierempfehlung

Mike Schmeitzner, Rezension zu: Gottfried Niedhart, Pionier und Außenseiter. Gustav Mayer. Deutsch-jüdischer Historiker des Sozialismus, Dietz, Bonn 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82005.pdf> [1.7.2024].

 

[1]Gottfried Niedhart (Hrsg.), Gustav Mayer. Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914-1920. Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe, München 2009; ders., Gustav Mayers Blick auf die Sozialdemokratie 1890-1914, in: Peter Beule/Stefan Müller (Hrsg.), Kohäsionskräfte in der deutschen Sozialdemokratie vor 1914, Bonn 2022, S. 111-122.

[2]Gustav Mayer, Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt am Main 1969; Hans-Ulrich Wehler, Gustav Mayer, in: ders. (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 2, Göttingen 1973, S. 228-239.

[3]Hans Schleier, Zu Gustav Mayers Wirken und Geschichtsauffassung. Klassenkampf – Sozialreform – Revolution, in: Horst Bartel/Heinz Helmert/Wolfgang Küttler u.a. (Hrsg.), Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Bd. 1, Berlin (Ost) 1976, S. 301-326; ders., Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin (Ost) 1975.

[4]Gustav Mayer, Johann Baptist von Schweitzer und die Sozialdemokratie. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jena 1909; ders., Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland (1863-1870), Leipzig 1911.

[5]Gustav Mayer (Hrsg.), Ferdinand Lassalle. Nachgelassene Briefe und Schriften. 6 Bde., Berlin 1921-1925; ders. (Hrsg.), Bismarck und Lassalle. Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche, Berlin 1928.

[6]Gustav Mayer, Friedrich Engels. Eine Biographie. Bd. 1: Friedrich Engels in seiner Frühzeit, 2. Aufl., Den Haag 1934; ders., Friedrich Engels. Eine Biographie. Bd. 2: Engels und der Aufstieg der Arbeiterbewegung in Europa, Den Haag 1934.

Riccardo Altieri, »Antifaschisten, das waren wir…« Rosi Wolfstein und Paul Frölich. Eine Doppelbiografie

Büchner-Verlag | Marburg 2022 | 566 Seiten, gebunden | 39,00 € | ISBN 978-3-96317-282-3

rezensiert von

Thilo Scholle, Berlin

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Rosi Wolfstein und Paul Frölich sind für Interessierte an der Geschichte der Arbeiterbewegung zwar geläufige Namen, die Zahl der biografischen Arbeiten ist insbesondere zu Wolfstein dennoch außerordentlich gering. Zu Frölich ist die Lage auch aufgrund einiger Selbstzeugnisse etwas besser, aber auch hier lag bislang keine umfassende wissenschaftliche Biografie vor. Vor diesem Hintergrund ist es sehr zu begrüßen, dass mit Riccardo Altieris bei Mario Keßler und Frank Jacob an der Universität Potsdam entstandenen geschichtswissenschaftlichen Dissertation nun gleich eine Doppelbiografie beider Persönlichkeiten vorliegt, zumal Wolfstein und Frölich nicht nur langjährige politische Gefährten, sondern ab Anfang der 1920er-Jahre bis zu Paul Frölichs Tod auch privat ein Paar waren.

Einleitend hält der Autor fest, Wolfstein habe bei verschiedenen Gelegenheiten darauf bestanden, hinter Paul Frölich zurückzutreten, da dieser »das politische Agens ihrer Beziehung gewesen sei« (S. 13f.). Dieser Wunsch, im Hintergrund zu bleiben, könne, so Altieri, vermutlich am höflichsten durch eine Doppelbiografie auf Augenhöhe umgangen werden. Eine wichtige Fragestellung für den Band stellen die politischen Entwicklungen respektive die Kontinuitäten beider Biografien dar: Beide wechselten im Laufe ihres Lebens mehrfach die politische Partei, von der SPD über die Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) (Frölich) bzw. die USPD (Wolfstein) gemeinsam in die KPD und später über die KPD-Opposition (KPO) und die SAP zurück zur SPD. Blieben sie durchgehend Sozialdemokraten beziehungsweise Sozialisten oder sahen sie sich selbst als Kommunisten?

Altieri erzählt das Leben seiner Protagonisten weitgehend chronologisch, wobei sich die parallelen Biografien ab dem Eintritt beider in die Arbeiterbewegung zunehmend verknüpfen. Der 1884 in Leipzig geborene Frölich war seit 1902 Mitglied der SPD, gehörte seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 aber zur innerparteilichen Opposition. Sein Weg führte ihn über die IKD zunächst in die KPD, wo er dem Parteivorstand angehörte. Zu Beginn noch auf dem linken Flügel der KPD verortet, bewegte er sich als Befürworter einer Einheitsfront mit der Sozialdemokratie in die Mitte und damit in einen harten Konflikt mit der ultralinken KPD-Führung. Seit 1921 Mitglied des Reichstags geriet er innerparteilich immer mehr ins Abseits und schloss sich 1928 der KPO an, doch endete auch diese Etappe 1932 im Zerwürfnis. Frölich schloss sich der SAP an, zu deren Exil-Leitung er nach 1933 gehörte. Rosi Wolfstein wurde im Jahr 1888 in eine gläubige jüdische Familie in Witten geboren. 1908 trat sie in die SPD ein und wurde unter anderem über die SPD-Parteischule in Berlin mit Rosa Luxemburg bekannt. Während des Ersten Weltkriegs wurde sie als Kriegsgegnerin und Mitglied der Duisburger Spartakusgruppe mehrfach inhaftiert. Sie nahm am Gothaer Gründungsparteitag der USPD teil, ebenso am Gründungsparteitag der KPD in Berlin. Von 1921 bis 1924 war sie für die KPD Mitglied des Preußischen Landtags, geriet aber ebenfalls in Konflikt mit der ultralinken Führung der Partei und wurde 1929 Mitglied der KPO und 1932 der SAP. Im Jahr 1933 ins Exil gezwungen, wandten sich Frölich und Wolfstein zusammen über Belgien und die Tschechoslowakei zunächst nach Frankreich. Zwischen 1939 und 1941 als feindliche Ausländer interniert, gelang ihnen anschließend die Weiterreise in die USA. Nach Deutschland kehrte das Paar erst im Dezember 1950 zurück. Dort gehörten beide bis zu ihrem Tod wieder der SPD an.

Altieri postuliert, Frölich und Wolfstein hätten, wenn sie denn im Jahr 1914 schon Mitglieder des Reichstags gewesen wären, beide zu denjenigen in der SPD-Fraktion gehört, die gegen die Kriegskredite stimmten. Der Autor verweist dazu etwa auf einen von Wolfstein gemeinsam mit Duisburger Genossen im Juni 1915 unterzeichneten Protestbrief an den Parteivorstand. Ob dies wirklich so gewesen wäre, muss Spekulation bleiben. Völlig zwangsläufig erscheint das von Altieri vermutete Verhalten nicht, da es die im August 1914 offensichtlich noch über alle Strömungen der Partei hinweg bestehende Disziplinvorstellung außer Acht lässt. Gegen Altieris Gedankenspiel ist zudem einzuwenden, dass es bei der ersten Abstimmung über die Kriegskredite im Plenum des Reichstags keine abweichend abstimmenden Abgeordneten gab, die als Beispiel für das Verhalten anderer ›Linker‹ in der Partei hätten dienen können.

Etwas unglücklich ist auch die Einführung von Paul Levi in den Text. Hier mag es eine Rolle gespielt haben, dass Frölich Levi außerordentlich kritisch, wenn nicht feindselig gegenüberstand. Für Frölich sei das Verhältnis erledigt gewesen, als er mit Levi bei einem Gang durch Berlin auf einen revolutionären Matrosen getroffen sei, den Levi »wohl recht herablassend behandelte« (S. 174). Als Levi dann im Anschluss angeblich vor einem Schaufenster stehen blieb und sich für ein Stück Seidenstoff begeisterte, sei das Maß voll gewesen. Hier scheint der Autor Frölichs subjektiver Einschätzung zu folgen, ohne zu erwähnen, dass Levi als Wahlkreisabgeordneter bis zu seinem frühen Tod 1930 große Popularität unter seinen proletarischen Wählerinnen und Wählern besaß. Später zitiert Altieri ergänzend aus Frölichs Erinnerungen, in denen dieser schreibt, von Levi habe man sich wie Luft behandelt gefühlt. Rosi Wolfstein scheint hier differenzierter gewesen zu sein. So schrieb sie später in einem Brief, der Ausschluss Levis aus der KPD sei ein großer Fehler gewesen, und ordnet sich selbst dem Lager zu, das sich für Levi eingesetzt habe. Noch härter ist das Urteil des Autors über Herbert Wehner, den er als Zuträger des sowjetischen Geheimdienstes bezeichnet, der sich in einigen Fällen durch Denunziationen des Mordes mitschuldig gemacht habe. Die durchaus komplexe Rolle Wehners im Moskauer und später im schwedischen Exil wird damit einseitig und ohne Hinweis auf andere Einordnungen in der Forschung dargestellt.[1]

Wolfsteins Verhältnis zur Nachkriegs-SPD beschreibt Altieri als vorsichtig und eher distanziert, so habe sie wegen ihrer Gegnerschaft zum Godesberger Programm von 1959 und insgesamt zum politischen Kurs der Partei in den frühen 1960er-Jahren eigentlich mit ihrem Ausschluss gerechnet. Dies ist aus ihrer persönlichen Sicht plausibel. Andererseits wurde Wolfstein von der Frankfurter SPD durchaus gewürdigt, was sich etwa daran zeigt, dass 1987 mit Holger Börner immerhin ein früherer hessischer Ministerpräsident die Trauerrede am Grab Wolfsteins hielt. Und bei einer Trauerfeier Anfang 1988 sprach mit Willy Brandt ein alter politischer Freund Wolfsteins. Brandt schloss seine Rede laut seiner überlieferten Notizen mit den Sätzen »Wenn wir uns an R(osi) W(olfstein) erinnern, sollten wir dieses Luxemb(urgische) Erbe immer wach(zu)halten suchen + (uns) gleichzeitig klarmachen, wieviel ärmer D(eutsch)l(an)d + die deutsche A(rbeiter)B(ewegung) dadurch geworden sind, dass die Nazis uns durch die Vernichtung fast ganz um den Nachwuchs von Soz(ialisten) jüd(ischer) Herkunft brachten. Ich sage dies in großer Hochachtung vor einer verdienten Soz(ialistin), Soz(ial)dem(okratin) sehr eig(ener) Prägung: Rose W(olfstein)-Fr(ölich).« (zit. nach S. 473)

Riccardo Altieri ist ein gut geschriebenes Buch gelungen. Das Modell der Doppelbiografie ist anspruchsvoll, aber ohne große Schnörkel umgesetzt. Anhand der Lebenswege von Wolfstein und Frölich lassen sich die politisch-organisatorischen Suchbewegungen von Linkssozialisten über die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nachvollziehen. Ein inhaltlicher Orientierungspunkt für beide Protagonisten blieb dabei über die ganze Zeit Rosa Luxemburg. So arbeiteten Frölich und Wolfstein in den 1920er-Jahren gemeinsam für die KPD an der Herausgabe von Luxemburgs Gesammelten Werken – eine Arbeit, die durch ihre innerparteiliche Isolation immer schwieriger wurde. Im französischen Exil schrieb Frölich zudem intensiv an einer Biografie Luxemburgs. Am Verhalten beider wird eine politische Linie deutlich, die letztlich nicht bereit war, demokratische Organisationsformen gegen die Chance auf eine Umwälzung der Wirtschaftsordnung auszuspielen. Dies, verbunden mit dem Anspruch, Politik doch auch mit Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse und mögliche Bündnisse zu entwickeln, brachte sie in Konflikt mit der sich bolschewisierenden KPD. Im Vergleich zu manchen anderen Weggefährten erfolgte der Schritt zurück in die Bundesrepublik zwar recht spät, erscheint aber dennoch konsequent. Das Festhalten am Ziel einer sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaftsordnung führte Wolfstein freilich später in der Nachkriegs-SPD erneut an den Rand.

 

Zitierempfehlung

Thilo Scholle, Rezension zu: Riccardo Altieri, »Antifaschisten, das waren wir…«. Rosi Wolfstein und Paul Frölich. Eine Doppelbiografie, Büchner-Verlag, Marburg 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81999.pdf> [1.7.2024].

 

[1] Vgl. Christoph Meyer, Herbert Wehner. Biographie, München 2006.

Benny Morris, 1948. Der erste arabisch-israelische Krieg

Hentrich & Hentrich | Berlin/Leipzig 2023 | 646 Seiten, Klappenbroschur | 32,00 € | ISBN 978-3-95565-609-6

rezensiert von

Alban Sharkey, Universität Leipzig

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Der erste arabisch-israelische Krieg von 1948 ist auch in der Geschichtsschreibung ein äußerst kontroverses Thema. Auf der einen Seite gibt es zwei gegensätzliche nationale Narrative, die beide gelegentlich religiös gefärbt sind. Auf der anderen Seite stehen sich aber auch innerhalb der jeweiligen nationalen Gemeinschaften verschiedene politische und theoretische Parteien gegenüber. Dementsprechend soll das bereits 2008 auf Englisch erschiene Buch[1] von Benny Morris, das jetzt unter dem Titel »1948: Der erste arabisch-israelische Krieg« auch in deutscher Übersetzung vorliegt, als Teil einer andauernden Debatte gesehen werden, in der Fragen des Verhältnisses von Geschichtsschreibung und Politik intensiv debattiert werden. Weil es dabei um Frieden und Krieg, Wahrheit und Mythos, Verantwortung und Rechtfertigung geht, führt jeder spezifische geschichtstheoretische Ansatz große Konsequenzen mit sich.

Das ganze Buch hindurch bemüht sich Morris um eine objektive und faktenbasierte Betrachtung aller Kontroversen rund um den Krieg von 1948. Dabei analysiert er zuerst dessen Vorgeschichte von 1881 bis 1947 einschließlich des arabischen Aufstands (1936–1939) und des United Nations Special Committee on Palestine(UNSCOP), blickt anschließend auf die sich gegenseitig verstärkenden Nationalbewegungen, beschreibt den Weg zum ersten Teilungsplan der UN-Generalversammlung von September 1947, die zweigeteilte Bürgerkriegsphase 1947/48, die panarabische Invasion ab Mitte Mai 1948, das Scheitern der UN-Vermittlung im Sommer 1948, die israelischen Operationen der zweiten Jahreshälfte 1948 und schließlich die bilateralen Waffenstillstandsabkommen Anfang 1949, die bekanntlich die nachfolgenden Kriege nicht verhindern konnten. Das Buch endet mit einer Übersicht jener Probleme, die quer durch die ganze Studie behandelt werden: die Rolle der Ablehnung der UN-Resolution 181 durch die arabischen Entscheidungsträger als unmittelbarer Auslöser des Krieges, die militärischen und organisatorischen Gründe des israelischen Siegs, die Rolle der internationalen Gemeinschaft, die Tötungen und Vergewaltigungen von Zivilisten mehrheitlich durch die Haganah und die Israeli Defence Force (IDF), die kollektiven Vertreibungen der arabischen Bevölkerung, aus der die andauernde palästinensische Flüchtlingskrise resultierte. Abschließend gibt Morris auch einen Überblick über die kollektiven Vertreibungen der jüdischen Einwohner aus der arabischen Welt bis in die 1970er-Jahre und geht auf die sozialen und militärischen Umwälzungen ein, die die arabische Welt seit dem Ende des ersten israelisch-arabischen Krieges geprägt haben.

Das Buch fügt sich in eine andauernde Debatte innerhalb der israelischen akademischen und politischen Szene ein, deren Rahmen die Schule der »New Historians« bildet – ein Begriff, der erstmal 1988 von Benny Morris selbst verwendet wurde. Der akademische Anstoß für die Erneuerung der israelischen Staatsgeschichte war damals die Öffnung der 30 Jahre lang geheimen Regierungsarchive für den Zeitraum von 1947 bis1956, die auch Israels militärische und administrative Aufzeichnungen aus der Zeit des ersten arabisch-israelischen Krieges enthielten. Der Krieg von 1948 stand von Anfang an im Zentrum der Forschungen der New Historians. Denn dieser Krieg war sowohl der Anlass für die Gründung Israels überhaupt als auch die Quelle eines grundlegenden und die kollektive Erinnerung in Israel bis in die 1980er-Jahre prägenden nationalen Mythos von der »Unschuld der [israelischen] Waffen«. Die von den New Historians ans Licht gebrachten Militärdokumente zeigten jedoch ein völlig anderes Bild, bei dem die empirisch belegten Vergewaltigungen, Plünderungen, Vertreibungen und Massaker an palästinensischen Zivilisten für die Schuld der Waffen sprechen. Die Infragestellung des nationalen Mythos durch die New Historians war somit zugleich eine grundlegende Kritik sowohl des israelischen Staates als auch der Basis der kollektiven Erinnerung in der israelischen Gesellschaft.

In dieser Debattenlandschaft ist Benny Morris wiederum eine einzigartige Figur, auch wenn er auf den ersten Blick die Grundannahmen der New Historians zu teilen scheint. Sein Buch »The Birth of the Palestinian Refugee Problem (1947–1949)« war 1987 die erste systematische und archivgestützte Studie der kollektiven Vertreibungen palästinensischer Zivilbevölkerung durch israelische Streitkräfte im Jahr 1948. Nach der Öffnung weitere Archivbestände von IDF und Haganah 1998, die das Ausmaß der kollektiven Vertreibungen und Massaker erneut verdeutlichten, aktualisierte Morris sein Buch 2004 in einer zweiten Auflage.[2] Morris scheut sich also offensichtlich nicht, gegen den nationalen Mythos der »Unschuld der Waffen« anzugehen. Dies zeigt sich auch im vorliegenden Buch, in dem er lakonisch die sowohl von IDF-Einheiten als auch von arabischen Streitkräften begangenen Gräueltaten auflistet.

Der zentrale Unterschied zwischen Morris und anderen New Historians wie Ilan Pappé, Avi Shlaim und Simha Flapan besteht in der Interpretation der präsentierten Fakten. Die Arbeit der anderen New Historians ist im Wesentlichen staatskritisch. Für Pappé war die Entdeckung der Vertreibungen und Massaker durch die IDF ein Grund, den israelischen Staat einer ethnischen Säuberung zu beschuldigen.[3] Morris hingegen weicht einer radikalen Staatskritik aus, sowohl auf rechtshistorischer als auch auf sozial- und kulturgeschichtlicher Ebene. Auf der rechtshistorischen Ebene betont er vor allem das Fehlen einer klaren Verbindung zwischen den offiziellen Befehlen der israelischen Militärführung und den tatsächlichen Kriegsverbrechen der IDF-Einheiten. Gäbe es eine solche Verbindung, würden die Gräueltaten als Umsetzung eines Masterplans erscheinen, was ein wesentlicher Bestandteil der Definition eines Kriegsverbrechens in Artikel 8, Absatz 1, des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs von 2002 ist. Auf sozial- und kulturgeschichtlicher Ebene streicht Morris die fragmentierte Verantwortung für die Zunahme der Gewalt heraus, in der die Kriegsbereitschaft der arabischen Akteure und die gewaltsame Antwort Israels sich gegenseitig bedingten und verstärkten. Während die anderen New Historians in erster Linie auf eine innere Kritik des israelischen abzielen, scheint Morris' Ziel woanders zu liegen, nämlich in einer desillusionierten Kritik am Menschen selbst, als dessen letzter Retter sich der Staat entpuppt. Laut Morris war der Grund, warum die IDF-Einheiten »weitaus mehr Gräueltaten als die Araber« begingen, dass der Kriegsverlauf den arabischen Streitkräften einfach weniger Gelegenheiten dazu bot. Nachweis dafür sei die deutlich blutigere und oft antisemitische Rhetorik in jordanischen, syrischen, irakischen und ägyptischen Regierungskreisen und Medien, welche ihre Absichten im Fall eines arabischen Siegs ahnen lassen. Es ist also kein Zufall, dass das Buch mit dem Gedicht »David« von Marie Syrkin beginnt, das den Leser auffordert, sich Davids Niederlage vorzustellen. Die implizite Frage lautet: Was wäre geschehen, wenn der Jischuv den Krieg verloren hätte? Die Antwort ist ebenso implizit: Massaker, Massenvertreibungen und das endgültige Verschwinden der jüdischen Bevölkerung in Palästina. Zerstören oder zerstört werden, so lautet die Schlussfolgerung des Buches – ein Gefangenendilemma.

Zweifelsohne besteht der Hauptanspruch dieses Buchs darin, ein realistisches und unparteiisches Bild des ersten arabisch-israelischen Kriegs zu vermitteln. Dieser Anspruch auf Objektivität lässt das Buch aber mitunter wie eine reine Sammlung historischer Fakten erscheinen. Das ist sowohl die größte Stärke als auch die größte Schwäche des Buches. Eine Stärke insofern, als es das Bedürfnis nach sachlicher Information über einen weltweit umstrittenen Konflikt befriedigt. Eine Schwäche, weil es Aufgabe des Historikers zur Sinnstiftung durch Interpretation vernachlässigt und verschleiert. Bei allem Objektivitätsanspruch lässt sich Geschichtsschreibung aus mindestens zwei Gründen niemals auf eine einfache Sammlung von Fakten reduzieren. Erstens werden die Fakten und ihre Quellen zwangsläufig nach sprachlichen und kategorialen Gesichtspunkten ausgewählt. Morris ist dafür bekannt, dass er nur hebräische und englischsprachige Schriftquellen verwendet. Die palästinensischen Zivilisten bleiben in diesem Buch daher weitgehend stumm. Ihre Stimme kann allerhöchstens in den Erzählungen anderer, oft israelischer Soldaten, erahnt werden. Es wird daher empfohlen, das Buch »Nakba« von Ahmad H. Sa'di und Lila Abu Lughod als Ergänzung zu lesen.[4] Zweitens beinhaltet die Geschichtsschreibung unvermeidlich immer auch die Interpretation der präsentierten Fakten, aber in diesem Buch bleibt sie zweideutig. Es scheint, als ob Morris' Hauptanspruch darin besteht, die jeweiligen nationalen Mythen negativ zu konterkarieren. Die Studie sagt: dies und jenes ist falsch, dies und jenes ist ein Mythos. Welche positive historische Interpretation daraus folgt, bleibt unklar. Die über mehrere Seiten gehende Aufzählung der Waffen auf beiden Seiten ist zwar Ausdruck der enzyklopädischen Absicht des Autors. Ebenso ist die stichpunktartige Abhandlung der Massaker, Plünderungen, Vertreibungen und Vergewaltigungen durch die IDF-Streitkräfte sicherlich Ausdruck einer mehr oder weniger unvoreingenommenen Sichtweise auf die einfachsten Fakten des Krieges. Dies scheint jedoch zu einer impliziten Rechtfertigung staatlicher Gewalt zu führen, die die Gräueltaten des Krieges als unerwünschte Begleiterscheinungen der Selbstverteidigung erscheinen lässt. »Der Krieg setzt Moralität aus«, schrieb Emmanuel Lévinas 1961.[5] Morris' Buch scheint diesen Eindruck an vielen Stellen zu bestätigen. Doch wer immer noch glauben will, dass der Krieg überhaupt überwunden werden kann, findet in diesem Buch weder Hoffnung noch Erkenntnis. Und wie so oft nach der Lektüre eines wissenschaftlichen Werks, das sich durch eine Fülle von Fakten auszeichnet, lässt das Buch die Leser am Ende mit vielen offenen Fragen zurück.

Wie ehrlich es Morris mit seinem Objektivitätsanspruch auch sein mag, er verschleiert letztlich nur die Position des Historikers, kann ihn aber nicht von der Last der Erzählerposition befreien. Solange Geschichte von Menschen geschrieben wird und nicht von einer künstlichen Intelligenz, wird sie die Schwächen des Menschseins enthalten: Hoffnung, Faszination und Angst. Und solange Geschichte von Menschen und nicht von Maschinen gelesen wird, wird sie nach ihrer Menschlichkeit beurteilt und bewertet werden. Morris' Studie zeichnet sich durch ihre Fülle an Fakten aus. Dass diese Fakten nützlich und wichtig sind, wird hier nicht bestritten. Doch sind sie für sich genommen ausreichend? Wohl kaum.

 

Zitierempfehlung

Alban Sharkey, Rezension zu: Benny Morris, 1948. Der erste arabisch-israelische Krieg, Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82001.pdf> [1.7.2024].

 

[1]Benny Morris, 1948. A History of the First Arab-Israeli War, New Haven/London 2008.

[2]Ders., The birth of the Palestinian refugee problem, 1947-1949, Cambridge1987; ders., The birth of the Palestinian refugee problem revisited, Cambridge 2004.

[3]Ilan Pappé, The ethnic cleansing of Palestine, Oxford 2006.

[4]Ahmad H. Sa’di/Lila Abu-Lughod, Nakba. Palestine, 1948, and the claims of memory, New York 2007.

[5] Zit. nach Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 2014 (zuerst frz. 1961).

Norbert Frei, Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit

C.H.Beck | München 2023 | 377 Seiten, Hardcover | 28,00 € | ISBN 978-3-406-80848-7

rezensiert von

Ernst Wolfgang Becker, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

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Die Geschichte der Bundesrepublik als »Erlösungs-, Erfüllungs- und Ankunftsgeschichte«[1] einer geglückten Demokratisierung und Liberalisierung zu erzählen, dieses Erfolgsnarrativ prägt ungeachtet aller kritischen Urteile im Einzelnen die großen Synthesedarstellungen seit den 1990er-Jahren.[2] Auch die Entwicklung der Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur steht unter diesem Narrativ einer fortschreitenden Lernerfahrung. Dieser Erzählung widersteht die jüngste, von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Auftrag gegebene Studie des Jenaer Historikers Norbert Frei ein Stück weit. Die Auseinandersetzung der ersten sechs Bundespräsidenten, die als Erwachsene Nationalsozialismus und Krieg erlebt hatten, mit der NS-Vergangenheit blieb von Kontinuitäten geprägt. Den normativen Setzungen und aufklärerischen Ambitionen von Theodor Heuss folgten seine Nachfolger bis Richard von Weizsäcker ebenso wie seinen Tendenzen einer Relativierung von NS-Belastungen. Dieses Thema à la longue zu untersuchen ist das Verdienst dieser Darstellung, die auf ein breiteres Publikum abzielt, der Geschichtswissenschaft aber auch viel Bekanntes aus der reichhaltigen Forschung präsentiert.

Am Anfang war Theodor Heuss, dem Frei allein ein Drittel des Buches widmet. In seinen vergangenheitspolitischen Reden wandte er sich gegen das Vergessen der NS-Verbrechen und zeigte Empathie mit den Verfolgten und Überlebenden. Anstelle einer Kollektivschuld forderte er von den Deutschen eine ›Kollektivscham‹ ein, eine moralische Kategorie, mit der er den Erwartungen des Auslands entgegenkam und eine Aussöhnung mit den Juden anstrebte. Er vergegenwärtigte öffentlich und früh den Zivilisationsbruch des Holocaust und machte deutlich, dass die Judenverfolgung keinem Deutschen entgangen sein konnte. Diese erinnerungspolitischen Interventionen zogen scharfe Kritik aus der Bevölkerung auf sich. Doch selbst Heuss pflegte eine »frührepublikanische Schuldabwehr-Erzählung« (S. 37), indem er Hitler und seine Machtclique dämonisierte und die sonstigen deutschen Täter verschwieg.

In diesem Rahmen bewegte sich auch Heinrich Lübke. In seinen Reden blieb das Leid der Juden weitgehend täterlos, die Verbrechen seien unter »Missbrauch des deutschen Namens« begangen worden. Der wachsenden kritischen Sicht der jüngeren Generation auf die Vergangenheitspolitik stand Lübke hilflos gegenüber, doch in seiner Ablehnung eines Schlussstrichs bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen war er wiederum auf der »Höhe der Zeit« (S. 136). Gustav Heinemann blieb nach Freis Einschätzung eher blass bei seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Er nahm vor allem die demokratische Tradition Deutschlands in den Blick und verband sie mit einem »emanzipatorischen Fortschrittsglauben« (S. 183). Walter Scheel führte für das Kriegsende den Begriff der ›Befreiung‹ ein, doch gleichzeitig orientierte sich sein Erinnern an dem Gebrauchswert für die Gegenwart, um eine polarisierte Gesellschaft zu versöhnen. Karl Carstens setzte sich für die Anerkennung der Sinti und Roma als Opfergruppe ein, hielt aber sonst die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit für weitgehend abgeschlossen und wollte lieber an die hellen Momente deutscher Geschichte erinnern. »Wirkliche Lernerfahrungen« (S. 261) blieben ihm laut Frei versagt. Und auch ›die Rede‹ von Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestages des Kriegsendes weiß der Autor in ihrer Ambivalenz einzuordnen, war sie doch 1985 eigentlich kein Tabubruch mehr, überzeugte aber durch ihre persönliche Note und ihren erhabenen, religiös grundierten Ton. Anachronistische Formeln wie die vom Einzeltäter Hitler oder der ›Verstrickung‹ der Deutschen standen neben der Erwähnung neu in den Fokus gerückter Opfergruppen wie jener der Zwangsarbeiter.

Die vergangenheitspolitische Großzügigkeit bei Verleihung des Bundesverdienstordens ging bereits auf Heuss zurück und ließ sich in Einzelfällen als Anerkennung von Integrationsleistungen ehemaliger Nationalsozialisten nach 1945 verstehen. Wurden die Ordensvergaben des ersten Bundespräsidenten noch kaum öffentlich kritisiert, so zeigten unter Lübke mehrere Skandale, dass die Ordenspolitik zunehmend unter dem aufmerksamen Blick einer sich wandelnden Gesellschaft stand. In manchen Fällen war Lübke aber bei Ordensverleihungen auch kritisch gegenüber politisch Belasteten. Heinemann begann, auch Menschen zu ehren, die sich durch »Courage und kritischen Eigensinn« (S. 207) in der NS-Zeit Verdienste erworben hatten. Über Heinemann hinaus verfolgt Frei diese vergangenheitspolitisch sensible Symbolpolitik leider nicht. Auch ist es schwer nachvollziehbar, warum der Autor den gescheiterten, aber symbol- und vergangenheitspolitisch höchst aufschlussreichen Versuch von Heuss übergeht, nach der Diskreditierung des »Liedes der Deutschen« durch die Nationalsozialisten eine neue Nationalhymne einzuführen.

Seit Heuss engagierten sich die Bundespräsidenten für verurteilte Kriegsverbrecher und vermeintliche ›Opfer einer Siegerjustiz‹. Von eigenen Präferenzen geleitet, setzten sie sich selektiv für die Begnadigung von ›geläuterten‹ Massenmördern mit bürgerlichem Hintergrund (so Heuss beim Einsatzgruppenleiter Martin Sandberger) oder von NS-Größen wie Rudolf Heß (so noch Mitte der 1980er-Jahre durch von Weizsäcker) ein. Hingegen ihre eigene Rolle in Nationalsozialismus und Krieg reflektierten sie kaum, verschleierten, relativierten und leugneten sie oder stellten sich als Opfer oder Widerständler dar. Dies betraf bereits Heuss‘ Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz 1933, setzte sich bei den Funktionsträgern in der Rüstungswirtschaft Lübke und Heinemann sowie bei NSDAP-Mitgliedern wie Scheel und Carstens fort und machte auch nicht bei von Weizsäcker halt, der seine eigenen Erfahrungen als Wehrmachtssoldat im Osten verschwieg und vorbehaltlos seinen verurteilten Vater verteidigte. Blieb bereits Heuss nicht gänzlich von kritischen Nachfragen verschont, so standen vor allem seine Nachfolger Lübke und partiell Carstens im Fokus einer polarisierten Öffentlichkeit und – im Falle Lübkes – einer Skandalisierung durch die DDR.

Deutlich wird aber auch, wie es seit dem ersten Bundespräsidenten gelang, auf Staatsbesuchen allen Fallstricken zum Trotz durch expressive Versöhnungsgesten und Ehrung der Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft ein anderes, ziviles und geläutertes Deutschland zu repräsentieren. Die von Heuss beabsichtigte »Entkrampfung« (S. 312) im Verhältnis zu den einstmals besetzten Ländern wirkte sich auch auf den Binnendiskurs in der Bundesrepublik aus. Dies verfolgt Frei leider nur anhand von Heuss, Heinemann und von Weizsäcker und spart vergangenheitspolitisch relevante Auslandsreisen anderer Staatsoberhäupter im europäischen und außereuropäischen Raum aus.

Hinter den Bundespräsidenten stand ein zunächst kleines Amt, das Frei im Hinblick auf die vergangenheitspolitische Dimension genauer in den Blick nimmt. Wenig überraschend ist der Befund, dass der Anteil ehemaliger Mitglieder von NS-Organisationen vergleichbar ist mit anderen Bundesministerien und sich Ex-Parteigenossen vor allem in den höheren Diensträngen fanden. Heuss stellte sich von Beginn an schützend vor seinen Amtschef Manfred Klaiber, dem seine Vergangenheit als NSDAP-Mitglied und Diplomat im ›Dritten Reich‹ vorgeworfen wurde. Aufschlussreich ist, dass sich bereits unter Heuss vier von sieben Referaten im Bundespräsidialamt mit Themen der NS-Vergangenheit beschäftigten. Ihren Einfluss auf die Präsidentenreden, bei der Vergabe von Orden an belastete Personen wie auch auf die Begnadigungskampagnen für verurteilte Kriegsverbrecher zeichnet Frei punktuell nach. Hier müssten künftige Forschungen weitergehen, um das Zusammenspiel des Bundespräsidialamts mit anderen Bundesministerien und mit der Kriegsverbrecherlobby genauer zu analysieren.

Frei ist es mit seiner flüssig geschriebenen und sich mitunter schmissiger Werturteile bedienenden Studie gelungen, die Kontinuitätslinien einer ambivalenten Vergangenheitspolitik der ersten sechs Bundespräsidenten aufzuzeigen. Als »Avantgarde« (S. 309) setzten sie politische und gesellschaftliche Standards und wagten sich bis an die Grenzen des Sagbaren vor. Zugleich machten sie sich exkulpatorische Positionen einer ›Schlussstrich‹-Politik und einer schweigenden Mehrheit in der Bevölkerung zu eigen. Auch als seit den 1960er-Jahren der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit kritischer wurde, folgten die Bundespräsidenten weiterhin einem zweideutigen »Skript« (S. 308), an dem viele Deutsche seit 1949 mitgeschrieben hatten. Diese vergangenheitspolitische Persistenz, die hinter den gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen zurückblieb, arbeitet Frei klar heraus, doch sie bleibt erklärungsbedürftig: Folgten die Staatsoberhäupter damit ihrer Idee von Staatsräson? War das Festhalten an diesen Ambivalenzen Teil einer Integrationsaufgabe, die seit Heuss als entscheidende Funktion des Bundespräsidenten angesehen wird?

Nicht überzeugend ist es, wenn Frei die Bedeutung des ersten Bundespräsidenten stark relativiert und sie vor allem Pfadabhängigkeiten unterwirft. Sicherlich: Die Rede vom ›Glücksfall‹ Heuss ist angesichts der nun schon länger bekannten Kehrseiten seiner Erinnerungspolitik nicht mehr uneingeschränkt zu vertreten. Und natürlich war auch er den politischen Rahmenbedingungen der frühen Bundesrepublik unterworfen und einem Zeitgeist des Verschleierns und Beschweigens verhaftet. Aber es waren eben nicht nur »der Auftrag des Grundgesetzes und die Logik der Institution« (S. 309), die das Amt prägten, denn die wenigen Verfassungsartikel zum Amt des Bundespräsidenten boten große Gestaltungsspielräume für das Selbstverständnis und die Amtspraxis des Staatsoberhauptes. So versuchte Heuss zunächst, in machtpolitische Leerstellen vorzustoßen, scheiterte aber am Widerstand Adenauers. Es bildete sich somit eine Verfassungswirklichkeit heraus, in der er sich vor allem auf symbol- und geschichtspolitischem Felde eine große moralische Autorität sicherte. Diese Entwicklung war eng mit seiner Person verbunden: Seine intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten, sein ausgeprägtes Denken in historischen und nationalen Kategorien, sein tiefsitzender Anspruch eines Erziehers zur Demokratie, sein fast unübersehbares Geflecht von Beziehungen zu Menschen unterschiedlicher politischer Couleur, gerade auch zu Juden und Emigranten, eine sich volkstümlich gebende Bürgerlichkeit und schließlich eine nicht ganz lupenreine Vergangenheit im ›Dritten Reich‹ – all dies waren individuelle Voraussetzungen, die den Pfad für einen ambivalenten Umgang mit der NS-Vergangenheit ebneten. Hinter die Standards der Erinnerungspolitik von Heuss fielen seine Nachfolger nicht mehr zurück, gingen aber auch kaum über ihre Grenzen hinaus.

Der Titel des Buches »Im Namen der Deutschen« ist offensichtlich zweideutig: als zeitgenössischer Topos des Verschleierns der Täterschaft von NS-Verbrechen, die eben nicht von Deutschen, sondern ›im deutschen Namen‹ verübt worden seien; dann wiederum als Anspruch der Bundespräsidenten, für das gesamte deutsche Volk zu sprechen. Dies hätte freilich auch die Deutschen in der DDR einbeziehen und auf eine deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte der Erinnerungspolitik der Staatsoberhäupter in beiden deutschen Staaten zulaufen müssen. Das wäre dann Gegenstand weiterer Forschungen, die auf der Studie von Frei aufbauen können.

 

Zitierempfehlung

Ernst Wolfgang Becker, Rezension zu: Norbert Frei, Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit, C.H.Beck, München 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81998.pdf> [1.7.2024].

 

[1]Paul Nolte, Von Glück und Streit, Lernen und Stabilität. Historiografische Meistererzählungen deutscher Demokratie, in: Thomas Hertfelder/Ulrich Lappenküper/Jürgen Lillteicher (Hg.), Erinnern an Demokratie in Deutschland. Demokratiegeschichte in Museen und Erinnerungsstätten der Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 121–137, hier S. 131.

[2] Vgl. Thomas Hertfelder, Erfolgsgeschichte Bundesrepublik. Aufstieg und Krise einer Meistererzählung, Stuttgart 2020.

Angela Schwarz/Heiner Stahl, Kontaktzone Bonn. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und die staatliche Öffentlichkeitsarbeit 1949–1969

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 498 Seiten, gebunden | 39,00 € | ISBN 978-3-8353-5373-2

rezensiert von

Stefanie Palm, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Berlin

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»Hörer fragen – Bundesbehörden antworten«, »Sorgen des Alltags« oder »Postfach 100 – Die Bundesregierung antwortet« waren vorproduzierte Sendungen des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, die im Süddeutschen Rundfunk, im NWDR oder im Hessischen Rundfunk ausgestrahlt wurden, ohne auf die Regierungsproduktion hinzuweisen. Selbst die Fragen der vermeintlichen Hörerinnen und Hörer waren fingiert und dienten dem Zweck, regierungsamtliche Verlautbarungen im Rundfunkprogramm zu platzieren, ohne dass dies für die Zuhörenden erkennbar war. Das Amt beschränkte sich nicht darauf, potentielle Themen vorzugeben und Gesprächspartnerinnen und -partner an die Medien zu vermitteln, sondern gestaltete auch selbst aktiv Hörfunk- und Fernsehprogramme.

Die vielfältigen Bemühungen des Bundespresseamts (BPA) in der frühen Bundesrepublik, durch ein komplexes System aus Vorabinformationen, finanziellen Zuwendungen und Kontrolle von Medienschaffenden Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen, sind bereits bekannt. Angela Schwarz und Heiner Stahl füllen nun jedoch Leerstellen in der bisherigen Erzählung mit einer dichten und geistreichen Analyse der Praktiken und Wissensbestände des Amts. Der biografische und vergangenheitspolitische Fokus ihrer Untersuchung ermöglicht ein vertieftes Verständnis der staatlichen Informationspraktiken.

Das knapp 600 Seiten starke Werk des Siegener Historikerteams ist in fünf Kapitel gegliedert (zuzüglich Einleitung und Schluss). Es zeichnet nach, vor welchen Herausforderungen, die sich aus der diktatorischen Vergangenheit Deutschlands und dem Kalten Krieg ergaben, die Regierungskommunikation in der frühen Bundesrepublik stand. Der Band fügt sich damit in eine Reihe von Studien der neuen Behördenforschung ein, die sich mit der NS-Vergangenheit der obersten Bundesbehörden und dem Umgang ihrer Akteure damit beschäftigen.[1] Das Projekt entstand im Rahmen des Forschungsprogramms zur NS-Vergangenheit zentraler deutscher Behörden der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Der Fokus der Untersuchung zur »Kontaktzone Bonn« liegt auf den 1950er-Jahren (Kapitel zwei bis vier), wobei auch die Zeit der Großen Koalition und des Regierungswechsels zur sozialliberalen Koalition personell und strukturell betrachtet wird (Kapitel fünf und sechs). Wie die meisten der jüngeren Behördenstudien endet die Untersuchung im Jahr 1969.

Die quellengesättigte Analyse stützt sich unter anderem auf Sach- und Personalakten aus den Bundesarchiven sowie dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts. Da die Personalakten im Bestand des Bundespresseamts vernichtet wurden, fehlt allerdings ein wichtiger Baustein für die Analyse der Personalpolitik. Schwarz und Stahl nutzen stattdessen Parallelüberlieferungen. Insbesondere die Nachlässe aus den Parteiarchiven (ACDP, AdsD, ADL) erweisen sich dafür als ergiebig. Allerdings führt dies nicht immer zum Erfolg, sodass einige biografische Analysen dünn und Handlungszusammenhänge unklar bleiben.

Nach einer knappen Einleitung und einem kurzen Abriss über die Gründung der Behörde tauchen die Autorin und der Autor direkt in die Realpolitik des Amts ein (Kapitel zwei). Anhand der »Wege […], die das Geld nahm« (S. 47) untersucht das Historikerteam die Haushaltsposten des Amts, darunter den sogenannten Reptilienfonds Titel 300, um darüber thematische Schwerpunkte zu identifizieren. Anhand prägnanter Beispiele legen sie dar, wie das BPA die Verwendung von Haushaltsmitteln zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung gegenüber den Rechnungsprüfern im Bundesfinanzministerium verschleierte. So erhielt der Journalist Hanns Küffner monatlich 1.850,- DM für zustimmende Artikel zur Wiederbewaffnung. Die Zeitschrift »Die Wildente«, in der ehemalige Kriegsberichterstatter der Wehrmacht sowie der Waffen-SS ihre Perspektiven dar- legten, wurde jährlich mit 2.400,- DM unterstützt. Es wäre aufschlussreich gewesen, wenn die verdeckten Subventionen des Bundespresseamts stärker im Kontext der generellen Förderpraxis der Adenauerregierung betrachtet worden wären. Ähnliche Methoden wurden auch in anderen Behörden angewendet und basierten auf einer Grundsatzentscheidung Adenauers von 1950.

Im folgenden Kapitel werden die Lebensläufe der ersten drei Chefs des Bundespresseamts beleuchtet. Anschließend untersucht das Buch Memoranden, insbesondere der FDP und von Journalisten, die alle ähnlich lautend eine Zentralisierung und Intensivierung der staatlichen Informationspolitik forderten. Der Band vertieft sodann die bereits gut erforschten Pläne von Otto Lenz zum Aufbau eines Informationsministeriums. Die Berücksichtigung widerstreitender Positionen aus den Oppositionsparteien sowie konkurrierender Bundes- und Länderinstitutionen hätte hier geholfen, Lenz‘ letztlich gescheiterte Pläne breiter zu kontextualisieren, insbesondere mit Blick auf den Konflikt zwischen dem Bundesinnenministerium (BMI) und dem Bundeskanzleramt. Denn es war anfangs das Innenressort, das den umfassenden Aufbau der Kanzlerdemokratie kritisch hinterfragte und gegensätzliche Auffassungen zur Ausrichtung der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit vertrat: Sollte diese die Bevölkerung von der Regierungspolitik überzeugen (Lenz) und somit Adenauers Aufbau der Kanzlerdemokratie unterstützen, oder sollte sie überparteilich ausgerichtet demokratische Meinungsbildung fördern (BMI)? Die Autorin und der Autor legen gar fälschlich nahe, dass keine Institution existierte, die »den Herrschaftsanspruch des Kanzleramtes herausforder[te]« (S. 276). Eine genauere Betrachtung dieses Konflikts hätte auch erklären können, warum das BPA in dieser Zeit versuchte, seine Aktivitäten auf andere gesetzgeberische Zuständigkeiten auszuweiten.[2]

Das vierte Kapitel widmet sich der Arbeit der verschiedenen Abteilungen des BPA und zeigt auf, wie die Behörde ihre Zuständigkeiten erweiterte, etwa durch die Einführung einer wöchentlichen interministeriellen Koordinierungskonferenz mit den Pressereferenten aller Bundesministerien. Die Auswertung der überlieferten Protokolle offenbart, wie die Teilnehmenden beabsichtigten, Journalistinnen und Journalisten zu disziplinieren, die sich nicht an die vorgegebenen Sprachregeln hielten. Die Staatsdiener sahen die Presseschaffenden lediglich als ausführendes Organ und betrachteten deren Kontrolle als legitimes Mittel der staatlichen Informationspolitik.

Gelungen sind die biografischen Studien zu verschiedenen Akteurinnen und Akteuren inner- und außerhalb des BPA im fünften Kapitel. Der Fokus auf Frauenbiografien ist besonders hervorzuheben. In diesem Abschnitt wird deutlich, wie Wissensbestände aus der NS-Vergangenheit im demokratischen Staat aktualisiert wurden. Der Fall von Inge Deutschkron ist in Bezug auf den Umgang mit ehemals NS-Verfolgten besonders aufschlussreich. Als sie 1956 um ein Interview mit Adenauer bat, riet der zuständige Referent seinem Kollegen, dem früheren SS-Untersturmbannführer Eberhard Ritter, zur Vorsicht: die Journalistin sei Jüdin (S. 359). Ein Kanzlerinterview wurde Deutschkron bis Ende der 1960er-Jahre verwehrt. Zudem dauerte es zwanzig Jahre, bis in der Auslandsabteilung ein Referat für Israel eingerichtet wurde. Während des Eichmann-Prozesses 1961 beschränkte sich die Kommunikationsstrategie des BPA entsprechend auf die Abwehr von Kritik an der Bundesregierung und die Vermeidung einer öffentlichen Diskussion zu Personalkontinuitäten in der Ministerialbürokratie. Obwohl sich das BPA in den 1960er-Jahren zu einem zentralen Regierungsakteur in medienpolitischen Debatten entwickelte, konstatieren Schwarz und Stahl, dass es kaum öffentlicher Kritik ausgesetzt war. Sie führen dies auf die Strategie finanzieller und immaterieller Zuwendungen an Medienschaffende zurück, wie den privilegierten Zugang zu Regierungsinformationen für ›zuverlässige‹ Journalistinnen und Journalisten.

Ein knappes sechstes Kapitel beleuchtet den versäumten Umbau des BPA in den späten 1960er-Jahren. Das Amt schottete sich von Veränderungen ab, was ihm nur durch die fehlende parlamentarische Kontrolle und sein Agieren im »rechtsfreien Raum« möglich war – so das abschließende Urteil des Historikerteams (S. 442).

Insgesamt hätte dem Buch ein etwas nüchternerer Stil gutgetan, vor allem bei der Bewertung von NS-Belastungen. So wird ein Journalist von Schwarz und Stahl bereits deshalb als NS-belastet eingestuft, weil er nach der Einführung des Schriftleitergesetzes einen »Ariernachweis« vorlegte (S. 59). Die angelegte Definition des Begriffs »Belastetheit«[3] differenziert nicht ausreichend die verschiedenen zeitlichen und relationalen Dimensionen des Terminus. Eine Historisierung des Belastungsbegriffs müsste stärker die unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten des Begriffs ausloten und fragen, welche Tätigkeiten für wen, wann und unter welchen Bedingungen als (zu) belastend galten.[4] Schwarz und Stahl fokussieren überwiegend auf die Perspektive des NS-belasteten Personals, für das »Belastetheit« mitunter als »Ressource, die Verbindung und Vertrauen« schafft, diente (S. 307). Diese Sichtweise vernachlässigt negative Konsequenzen, die sich aus der NS-Belastung ergeben konnten – wie Nicht-Beförderung, Nicht-Einstellung oder juristische Strafverfolgung. Nach Einschätzung der Autorin und des Autors »begünstigte« eine NSDAP-Mitgliedschaft gar eine Einstellung in den bundesdeutschen Staatsdienst (S. 452). Damit überbewerten sie den Einfluss von Seilschaften auf die Personalpolitik des Amtes. Die Bezeichnung »Ingenieure und Ingenieurinnen der Verlautbarung« ist ebenfalls nicht ausgereift, da sie unbeabsichtigt die Selbstwahrnehmung des NS-belasteten Personals als unpolitische Experten reproduziert. Hier wäre eine kritische Reflexion des Expertenbegriffs vonnöten gewesen.

Der Fokus der Studie auf das Amt lässt mitunter den Blick für außerbehördliche Diskurse zu den behandelten Themen vermissen. Eine stärkere Einbettung in die bisherigen Ergebnisse der Behördenforschung und eine klarere Verortung des BPA als einer von vielen Akteuren in der Medienlandschaft der frühen Bundesrepublik hätten die Studie abgerundet. Die gegensätzlichen Positionen der Oppositionsparteien, die Ansichten anderer Bundes- und Länderinstitutionen sowie internationale Perspektiven (etwa der Alliierten und der DDR) werden nicht oder nur am Rande behandelt. Auch über die Gründe für Adenauers Unzufriedenheit und mangelndes Vertrauen in das BPA hätte man gern mehr erfahren.

Schwarz und Stahl nehmen an, dass die staatliche Informationspolitik erfolgreich war und der Bundesregierung damit direkter Einfluss auf die öffentliche Meinung zugeschrieben werden kann. Dies wird vor allem mit der vermeintlichen Abwesenheit von Kritik am Amt selbst und an der Bundesregierung im Allgemeinen begründet. Allerdings setzte bereits in den 1950er-Jahren eine kritische öffentliche Berichterstattung ein, die explizit Kritik am Regierungshandeln übte. Der Einfluss der staatlichen Informationspolitik sollte daher nicht überschätzt werden.

Diese Mängel sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schwarz und Stahl eine beeindruckende Studie zur staatlichen Informationspolitik in der Nachkriegszeit vorgelegt haben. Sie zeigen überzeugend, wie das Bundespresseamt aus einer »ad-hoc-Konstruktion« (S. 247) durch ein System aus Anbindung, Kontrolle und Disziplinierung der Medienschaffenden mithilfe von NS-belastetem Personal zu einem wichtigen medienpolitischen Akteur wurde. Der Band erweitert unser Verständnis der Medienpolitik der Adenauerregierung und zeichnet durch den Fokus auf autoritäre Praktiken und belastete Kontinuitäten ein bedrückendes Bild der Regierungskommunikation in der frühen Bundesrepublik.

 

Zitierempfehlung

Stefanie Palm, Rezension zu: Angela Schwarz/Heiner Stahl, Kontaktzone Bonn. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und die staatliche Öffentlichkeitsarbeit 1949–1969, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82006.pdf> [1.7.2024].

 

[1] Vgl. Stefan Creuzberger/Dominik Geppert (Hrsg.), Die Ämter und ihre Vergangenheit. Ministerien und Behörden im geteilten Deutschland 1949–1972, Paderborn 2018; Magnus Brechtken (Hrsg.), Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Göttingen 2021.

[2] Vgl. Stefanie Palm, Fördern und Zensieren. Die Medienpolitik des Bundesinnenministeriums nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2023, S. 137–155.

[3] Zit. nach S. 15: »Kenntnisse, Tätigkeiten und Erfahrungen [...], die in der Zeit des NS-Regimes [...] erworben bzw. ausgeführt wurden und in die eigenen Nachkriegskarrieren überführt werden konnten[.]«

[4] Vgl. zur Begriffsverwendung in anderen Studien Frank Bösch/Andreas Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin, Göttingen 2018, S. 20 f.; Thorsten Holzhauser, Demokratie, Nation, Belastung. Kollaboration und NS-Belastung als Nachkriegsdiskurs in Frankreich, Österreich und Westdeutschland, Berlin/Boston 2022, S. 11.

Sebastian Edwards, The Chile Project. The Story of the Chicago Boys and the Downfall of Neoliberalism

Princeton University Press | Princeton, NJ, 2023 | 376 Seiten, Hardcover | $ 32,00 | ISBN 978-0-691-20862-6

rezensiert von

Stefan Rinke, Freie Universität Berlin

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Der Autor des vorliegenden Buches, Sebastian Edwards, lehrt Betriebswirtschaft an der University of California in Los Angeles (UCLA). Er war zuvor Chefökonom der Weltbank für die Region Lateinamerika und stammt ursprünglich aus Chile. Diesen Hintergrund muss man kennen, wenn man das zu besprechende Buch einordnen will. Der Untertitel ist durchaus überraschend, geht es doch nicht wie sonst üblich um den Aufstieg des Neoliberalismus unter dem Einfluss der Chicago Boys – jener Gruppe von Ökonomen, die an der University of Chicago von Professoren wie Milton Friedman und Arnold Harberger (seit 1984 ebenfalls an der UCLA – ihm ist nebst anderen das Buch gewidmet) ausgebildet wurde und die in den 1970er- und 1980er-Jahren maßgeblichen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der chilenischen Militärdiktatur hatten –  sondern um dessen Untergang.

Schon die ersten Seiten des Buches machen klar, wo Edwards steht. In wenigen Absätzen präsentiert er die Wirtschaftspolitik der Chicago Boys als Erfolgsgeschichte: »In less than two decades the Chicago Boys had created a modern capitalist economy […]« (S. 2), auch wenn er einräumt, dass diese Politik durch eine brutale Diktatur umgesetzt wurde. Wie er dazu kommt, den Boys eine Stärkung des Rechtsstaats zuzuschreiben, bleibt sein Geheimnis. Allerdings, so betont Edwards, setzten nach Ende der Militärherrschaft die demokratischen Regierungen in Chile die Wirtschaftspolitik der Chicago Boys fort. Seiner Meinung nach waren die Chicago Boys daher kein Diktaturphänomen. Laut Edwards wurde Chile aufgrund dieser Politik zum mit Abstand wohlhabendsten Staat in Lateinamerika und im Jahr 2010 auch OECD-Mitglied. Die Kehrseite dieses Erfolgs ist jedoch – das muss Edwards zugeben – eine zunehmend ungleiche Verteilung des Wohlstands.

2019 explodierte die Unzufriedenheit über diesen Zustand in einem sozialen Aufstand, der die Grundfesten des Landes erschütterte und in einen Verfassungskonvent mündete, dessen neuer Verfassungsentwurf allerdings bei einem anschließenden Referendum keine Mehrheit fand. Die zentrale Forderung des Aufstands war das Ende des Neoliberalismus und einer Wirtschaftspolitik nach dem Muster der Chicago Boys. Edwards hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Santiago auf, mischte sich unter die Protestierenden und – oh Graus – ruinierte sich seine »fancy clothes« (S. 9). Der Schock jener Erlebnisse motivierte ihn zu diesem Buch, denn er machte ihm klar, dass mit dem neoliberalen Modell trotz der offensichtlichen makroökonomischen Erfolge etwas nicht stimmte, obwohl es Chile im Durchschnitt doch viel besser ging als dem Rest Lateinamerikas. Die Ungleichheit und das Gefühl von fehlender Anerkennung und Demütigung in weiten Teilen der Bevölkerung hatten die sozialen Proteste befeuert.

Das Thema der Chicago Boys ist in der Forschung bereits ausgiebig bearbeitet. Es liegt eine Fülle von Studien vor, die Edwards zum Teil auch kennt.[1] Was also soll sein Beitrag sein? Er will die Unterschiede zwischen neoliberalen Hardlinern wie Friedman und pragmatischen Neoliberalen wie Harberger herausarbeiten und den Einfluss ihrer jeweiligen Schulen auf Chile vermessen. Interessant ist, dass die Chicago Boys, die er dafür interviewt, den Begriff ›neoliberal‹ weit von sich weisen und stattdessen das Ziel einer sozialen Marktwirtschaft für sich reklamieren. Außerdem will er herausfinden, wie es dazu kommen konnte, dass sich eine große Mehrheit der chilenischen Bevölkerung zuletzt für eine Abkehr vom neoliberalen Modell aussprach.

Edwards gliedert sein Buch chronologisch in drei Teile, wobei er keine Überraschungen bietet. Die Frühphase setzt er von den Anfängen des Chile-Projekts in den 1950er-Jahren bis zum Sturz der Allende-Regierung 1973 an. Hier erzählt der Autor die bekannte Geschichte vom Plan des Aufbaus einer Wirtschaftsfakultät nach US-Vorbild an der Universidad Católica de Chile. Das liest sich bei ihm im Wesentlichen wie eine Heldengeschichte, in der die jungen Chilenen von ihren US-amerikanischen Lehrern praktisch alles lernten, was eine moderne Wirtschaftsfakultät ausmachte, und dieses Wissen dann erfolgreich in Chile institutionalisierten. Laut Edwards waren sie in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre so etwas wie die jungen Wilden in einer ansonsten unterentwickelten Wissenslandschaft, die von planwirtschaftlichen Ideen bestimmt war. Nach Meinung des Autors betrieben die Chicago Boys in dieser Phase einen »Krieg der Ideen« im Sinne ihrer neuen ökonomischen Lehre aus den Vereinigten Staaten, der aber unter der Präsidentschaft des Sozialisten Allende aussichtslos war.

Nach dem Militärputsch wendete sich das Blatt. Die Chicago Boys kamen – schrittweise, nicht sofort – an die Schaltstellen der Macht. Im Gegensatz zu einigen anderen Stimmen in der Forschungsliteratur betont Edwards, dass der Besuch von Milton Friedman in Chile 1975 wegweisend für den Aufstieg der Chicago Boys gewesen sei. Folgt man Edwards, dann ging den chilenischen Generälen erst durch Friedman ein Licht auf, wie sie ihre Wirtschaftspolitik zu gestalten hatten, wenngleich Edwards auch behauptet, dass sich der Kopf der Gruppe, Sergio de Castro, dem Befehl der Militärs bereits vor dem Putsch nicht hatte entziehen können. Weiter im Heldenepos: »Fast jeder wäre angesichts der anstehenden Aufgabe eingeschüchtert gewesen aber nicht de Castro.« (S. 74) Und natürlich war der berüchtigte Chef des chilenischen Sicherheitsdiensts DINA, Manuel Contreras, einer der »mächtigsten Feinde« (S. 107) der Chicago Boys.

Im dritten Teil geht es um die Fortdauer der neoliberalen Wirtschaftspolitik im demokratischen Chile vom Ende der Militärdiktatur 1988 bis zur Wahl des linksgerichteten Gabriel Boric zum Präsidenten im Jahr 2022. Edwards benutzt für diesen Zeitraum den Begriff des »inklusiven Neoliberalismus« und meint damit die flankierenden Maßnahmen der Regierungen zur Armutsbekämpfung und zum sozialen Ausgleich. Dass diese Maßnahmen zu kurz griffen, weil sie das Grundübel der chilenischen Gesellschaft, nämlich die fehlenden Möglichkeiten zu sozialer Mobilität, nicht beseitigt haben, räumt er ein. Doch ist es, wie sollte es anders sein, wiederum der Pate der Chicago Boys, sein enger Freund »Al« Harberger, der auf dieses Problem hinweist, als es darum geht, die sozialen Proteste von 2019 einzuordnen. Nun könnte man meinen, es brauche keinen US-amerikanischen Ökonomen, um das zu erkennen, doch das würde Edwards‘ Heldenepos Abbruch tun, denn mit Harberger ist er überzeugt, dass die neoliberale Politik dennoch richtig war und ist. Den Chicago Boys und ihren Nachfolgern, die die von ihnen konzipierte Politik fortsetzten, ging es nämlich nicht um eine ausgewogenere Verteilung der Einkommen, sondern lediglich um die Bekämpfung der größten Armut. Der Aufstieg in die untere Mittelschicht war jedoch, wo er erfolgte, in den meisten Fällen prekär, wie Edwards richtig erkennt. Die Angst vor dem Wiederabstieg aus der Mittelschicht war eine zentrale Triebfeder für die Proteste von 2019.

Zweifellos hat Edwards seine Hausaufgaben gemacht. Er kennt die meisten Personen, über die er schreibt persönlich und hat die Möglichkeit mit ihnen zu sprechen weidlich genutzt. Auch Kritiker der Chicago Boys wie etwa Aníbal Pinto hat er interviewt, doch bleibt die Wiedergabe von deren Meinung blass und lässt die Gesprächspartner in einem schlechten Licht erscheinen. Die Boys sind die jugendlichen Draufgänger mit dem typischen US-amerikanischen Optimismus und haben immer ein Lächeln auf den Lippen. Die Kritiker sind die verstaubten Dogmatiker. Besonders ausgewogen ist das alles nicht. In der umfassenden Literatur zur Geschichte der Chicago Boys ist dies nur ein weiterer Beitrag, der wenig Neues zu bieten hat. Da gibt es, wie gesagt, gehaltvollere Beiträge zum Thema. Interessant wird es dennoch, je mehr der Autor sich der Gegenwart nähert. Seine abgewogene Diskussion der Faktoren, die zum Ausbruch der sozialen Proteste von 2019 geführt haben, ist durchaus lesenswert.

 

Zitierempfehlung

Stefan Rinke, Rezension zu: Sebastian Edwards, The Chile Project. The Story of the Chicago Boys and the Downfall of Neoliberalism, Princeton University Press, Princeton, NJ, 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82000.pdf> [1.7.2024].

 

[1] Vgl. etwa Juan Gabriel Valdés, Pinochet’s Economists. The Chicago Boys in Chile, Cambridge 1995; nicht rezipiert werden dagegen: Patricio Silva, In the Name of Reason. Technocrats and Politics in Chile, University Park, Pa., 2008; sowie Manuel Gárate, La revolución capitalista de Chile, 1973-2003, Santiago 2012.

Christian Rau, Die verhandelte »Wende«. Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik

(Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt, Bd.3)

Ch. Links Verlag | Berlin 2022 | 592 Seiten, Hardcover | 38,00 € | ISBN 978-3-96289-168-8

rezensiert von

Jary Koch, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

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Wer den andauernden Aufstieg der AfD in Ostdeutschland verstehen möchte, müsse auch einen Blick in die Arbeitswelt werfen, resümierte zuletzt eine soziologische Forschungsgruppe des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts an der Universität Leipzig ihre Studienergebnisse. Die Soziolog:innen hatten den Zusammenhang von betrieblichen Mitbestimmungsmöglichkeiten einerseits und der Offenheit von Beschäftigten gegenüber rechten Ideologien und Ressentiments andererseits untersucht. Ihre Schlussfolgerung: Die »Demokratisierung der Wirtschaft« sei »unabdingbarer Baustein«, um der »Verbreitung rechtsextremer Einstellungen vorzubeugen.« Gleichzeitig mangele es insbesondere in vielen ostdeutschen Betrieben an derlei Erfahrungen der Handlungsfähigkeit.[1]

Mit Christian Raus Studie über »Die verhandelte ›Wende‹. Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik« liegt seit 2022 eine zeithistorische Arbeit vor, auf deren Grundlage diese Problematik auch historisch erfasst werden kann. Raus Monografie entstammt den »Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt«, dem bis dato größten Forschungsprojekt zur historischen Aufarbeitung dieser Behörde, das am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin angesiedelt ist.[2] Es wird mit Recht in den kommenden Jahren als Standardwerk zur Thematik gelten. Gleichwohl lädt der pointierte Titel zu Missverständnissen ein, wie ich im Anschluss an die Rekapitulation von Raus Erkenntnissen und Thesen argumentieren möchte.

Angelegt als Politik- und Kulturgeschichte, fragt Raus fast 600 Seiten starkes Werk nach der Rolle der Gewerkschaften in der Geschichte der Treuhandanstalt und andersherum. Dazu nimmt der Autor die »Handlungsstrategien« der Gewerkschaften »gegenüber und in der Treuhand« sowie die »parallelen innerverbandlichen Aushandlungsprozesse« in den Blick, um anschließend die Bedeutung der kurzen Beziehungsgeschichte von Treuhand und Gewerkschaften für die »politische Kultur der Berliner Republik insgesamt« zu diskutieren (S. 30). Mit der Wiedervereinigung, so Raus zentrale These, habe der »Tripartismus« von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Staat als »eingeübtes Muster der Kontingenzbewältigung« eine »unwahrscheinliche Renaissance« erlebt (S. 529). Die verbreitete Vorstellung einer Krise gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit in den 1990er-Jahren müsse daher differenziert werden, da die Gewerkschaften die Umbruchsjahre über ihre Minderheitenrolle im Verwaltungsrat der Treuhand hinaus mehr mitgestaltet hätten als bislang angenommen. Folglich spricht Rau von einer »verhandelten ›Wende‹«.

Diese Leitthese erläutert der Berliner Historiker in fünf Kapiteln, die von einer umfangreichen Einleitung und einer lesenswerten Bilanz gerahmt werden. Im ersten Kapitel widmet Rau sich der (Vor-)Geschichte des »Modells Deutschland«, was im Hinblick auf seine zentrale These nachvollziehbar erscheint, da die Revolution von 1989/90 auch »das feinjustierte Verhältnis von Arbeit und Kapital im Westen zur Disposition [stellte]« (S. 75). Entsprechend skizziert Rau überblicksartig die gewerkschaftlichen Diskussionen über Strukturpolitik und den Wandel der Industriegesellschaft in Westdeutschland in den 1970er- und 1980er-Jahren und stellt dazu fest, dass die Gewerkschaften zwar nicht geschwächt in die Jahre von Revolution und Transformation gingen, von jenen Umbrüchen aber kalt erwischt wurden und folglich »zunächst sprachlos« reagierten (S. 74).

Abseits des Höhenkamms der Gewerkschaftsvorstände wendet sich Rau im zweiten Kapitel dann den oftmals vernachlässigten betrieblichen Demokratisierungsprozessen von 1989/90 zu und ordnet sie, anknüpfend an eine Begriffsbildung von Annette Schuhmann, anschaulich in die Geschichte der »verbetrieblichten« Gesellschaft der DDR ein (S. 79).[3] Im dritten und vierten Kapitel stellt Rau die Gewerkschaften als Partnerinnen der Treuhand vor, die mitbestimmten und mitgestalten. Beleuchtet werden die Strategien der vier Gewerkschaftsrepräsentanten im Verwaltungsrat sowie gewerkschaftliche Einflüsse auf die Sozialpolitik der Treuhand. So stellt Rau etwa dar, wie sich die IG Metall durch die Arbeit im Verwaltungsrat der pragmatischen Herangehensweise des Vorsitzenden der IG Chemie-Papier-Keramik Hermann Rappe annäherte. Auch am Beispiel der Sozialplandebatten der Jahre 1990 bis 1993 kann er die bislang wenig beachteten, aber gleichwohl intensiven, Kooperationen von Treuhand und Gewerkschaften illustrieren.

Im fünften Kapitel analysiert Rau die Aushandlung einer neuen Ordnung der Sozialpartnerschaft im Konflikt zwischen Treuhand, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Betriebsräten. Neben den ersten Tarifrunden beleuchtet er als besonderes Fallbeispiel den Aufstieg und Niedergang der ostdeutschen Betriebsräteinitiative und diskutiert entlang dieser Entwicklung das Verhältnis der westdeutschen Gewerkschaften zu den ostdeutschen Belegschaftsprotesten Anfang der 1990er-Jahre. In seiner Bilanz wagt sich Rau schließlich an die »langen Linien einer kurzen Beziehungsgeschichte« (S. 527), die bei ihm von den Spezifika der ostdeutschen Arbeits- und Gewerkschaftsgeschichte über die Agenda 2010 bis zum Erfolg der AfD führen. Wer eine pointierte und anregende Zusammenfassung der Studienergebnisse sucht, wird hier fündig.

Rau gelingt es, ein differenziertes und aufschlussreiches Bild der kurzen Beziehungsgeschichte von Treuhand und Gewerkschaften zu zeichnen, das in seiner Betonung historischer Kontingenz gängige Narrative herausfordert. Eine besondere Stärke der Studie stellt ihre breite Quellenbasis dar, die neben dem Treuhandbestand auch zahlreiche Akten der Landesregierungen und -verwaltungen Thüringens und Brandenburgs enthält. Der gewerkschaftlichen Repräsentation im Verwaltungsrat der Treuhand folgt Rau mithilfe von Quellenmaterial des DGB, der IG Metall, der IG Chemie-Papier-Keramik sowie der DAG. Einem bisher wenig verwendeten Archivbestand der Robert-Havemann-Gesellschaft entnimmt er eindrückliche Erkenntnisse über die bereits erwähnte ostdeutsche Betriebsräteinitaitve. Der Soziologe Martin Jander hatte diese seinerzeit wissenschaftlich begleitet und auch an ihren Sitzungen teilgenommen. Rau nutzt diese Aufzeichnungen, um die Dynamik der behandelten Ereignisse nicht nur aus der Perspektive von Gewerkschaftsvorständen, sondern auch ›von unten‹ zu beleuchten.

Gerade diese Perspektive ›von unten‹ gerät allerdings im Begriff der »verhandelten ›Wende‹« als titelgebender Kennzeichnung der Beziehungsgeschichte von Treuhand und Gewerkschaften etwas in den Hintergrund. So nachvollziehbar die Betonung der bislang selten diskutierten Verhandlungserfolge der Gewerkschaften ist, spricht der Begriff eben nur eine von mehreren gewerkschaftlichen Erfahrungsebenen an – nämlich die der Führungsverantwortlichen. Das lädt zu Missverständnissen ein, denn mit Blick auf die gewerkschaftliche Basis in den Betrieben erscheint das Bild der »verhandelten ›Wende‹« weniger angemessen. Zwar erlebten zahlreiche Beschäftigte tatsächlich einen demokratischen Aufbruch und organisierten umfangreiche Proteste, wie Rau selbst an anderer Stelle griffig analysiert hat.[4] Vielerorts aber endeten dies auch deshalb in Enttäuschung und Resignation, weil alternative und stärker auf Mitbestimmung orientierte Konzepte zum wirtschaftlichen Umbau seitens der Bundesregierung und der Treuhand auf Ablehnung stießen. Inwieweit diese vor allem auf lokaler Ebene als Demokratiedefizit gedeutete Anlage der wirtschaftlichen Transformationsprozesse auch langfristig defizitär auf die demokratische Verfasstheit der ostdeutschen Arbeitswelt wirkte, müsste im Hinblick auf die eingangs zitierten soziologischen Befunde weiter untersucht werden. Im Begriff der »verhandelten ›Wende‹« jedenfalls gehen die vielfältigen gewerkschaftlichen Erfahrungen der Umbruchsjahre nicht vollends auf.

Dennoch sei das Buch nicht nur allen, die sich mit der Geschichte der ostdeutschen Transformation auseinandersetzen, nahegelegt. Indem Rau detailliert herausarbeitet, wann, worüber und auf welche Art und Weise die »Wende« auch ein Ergebnis von Verhandlungen zwischen Treuhand, Gewerkschaften und Politik war, gelingt es ihm auch das zeithistorische Verständnis der politischen Kultur in der Berliner Republik insgesamt zu schärfen.

 

Zitierempfehlung

Jary Koch, Rezension zu: Christian Rau, Die verhandelte »Wende«. Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik, Ch. Links Verlag, Berlin 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82003.pdf> [1.7.2024].

 

[1]Johannes Kiess/Alina Wesser-Saalfrank/Sophie Bose u.a., Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland. Erlebte Handlungsfähigkeit im Betrieb und (anti)demokratische Einstellungen, OBS-Arbeitspapier 64 (hrsg. Von der Otto-Brenner-Stiftung), Dezember 2023, hier S. 49, URL: <https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AP64_IC_Ostdeutschland_WEB.pdf> [18.6.2024].

[2] Siehe URL: <https://www.ifz-muenchen.de/publikationen/reihen/studien-zur-geschichte-der-treuhandanstalt> [18.6.2024].

[3] Vgl. Annette Schuhmann, Die Zukunft der Arbeit in der Übergangsgesellschaft. Überlegungen zur Produktion von (Zukunfts-)Erwartungen in der DDR, in: Franziska Rehlinghaus/Ulf Teichmann (Hrsg.): Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert, Bonn 2019, S. 157-178

[4]Christian Rau, Transformation von unten. Zur Gesellschaftsgeschichte der ostdeutschen Belegschaftsproteste 1989–1994, in: Dierk Hoffmann (Hrsg.): Die umkämpfte Einheit. Die Treuhandanstalt und die deutsche Gesellschaft, Berlin 2022, S. 117-182; vgl. allgemein Detlev Brunner/Michaela Kuhnhenne (Hrsg.), Proteste, Betriebe, Gewerkschaften. Beiträge zur ostdeutschen Transformation seit 1990, Berlin 2023.

Wiebke Wiede/Johanna Wolf/Rainer Fattmann (Hrsg.), Gender Pay Gap. Vom Wert und Unwert von Arbeit in Geschichte und Gegenwart

(Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 113)

Dietz | Bonn 2023 | 288 Seiten, Broschur | 32,00 € | ISBN 978-3-8012-4258-9

rezensiert von

Wibke Rhein, Universität Konstanz

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Fast schon so zuverlässig wie der kalendarische Frühlingsanfang fällt auch der Equal Pay Day in Deutschland in jedem Jahr in den März. Er soll seit 2008 symbolisch den Tag markieren, bis zu dem Frauen ›unbezahlt‹ arbeiten und basiert auf den seit 1995 vom Statistischen Bundesamt nach EU-Richtlinien erhobenen Daten zum Gender Pay Gap, den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Entlohnung von Männern und Frauen. Die Zahl liegt für Deutschland relativ stabil bei 18 Prozent und gilt der EU als wichtiger Indikator für den Stand der Gleichstellung der Geschlechter.

In seinem Plädoyer für eine Neubefassung der Zeitgeschichte mit der Arbeitsgeschichte hat unlängst Lutz Raphael an die zentrale Rolle von Erwerbsarbeit für gesellschaftliche Ungleichheiten und speziell an die vielfältigen Verbindungen zwischen der Geschichte der Geschlechter und der Geschichte der Arbeitswelten erinnert.[1] Umso erfreulicher ist es, dass sich nun das vorliegende Werk den Ursachen und Ausprägungen des Gender Pay Gap historisch annähert. Der von Wiebke Wiede, Johanna Wolf und Rainer Fattmann herausgegebene Sammelband folgt dabei der sogenannten Devaluationsthese, die die Beständigkeit der Lohndifferenz auf die schlechtere Bewertung ›frauentypischer‹ Arbeit zurückführt. Zeitlich reichen die Beiträge vom späten 19. Jahrhundert bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den 1970er-Jahren. Geographisch liegt der Fokus des Bandes auf dem Gebiet der ›alten‹ Bundesrepublik.

Thematisch gliedert sich der Sammelband in drei Abschnitte. Der erste und zugleich umfangreichste Abschnitt fragt unter dem Titel »Bedingungen und Anerkennung bezahlter und unbezahlter Arbeit« danach, wie Betroffene Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen zu erkämpfen suchten und mit welchen Hindernissen und Erwartungshaltungen sie dabei konfrontiert waren. Mit Fallstudien zur Krankenpflege (Susanne Kreutzer), Tagesmüttern (Laura Moser), städtischen Hausgehilfinnen (Mareike Witkowski) und ehrenamtlichen Pastorenfrauen (Michaele Bräuninger) konzentriert sich dieser erste thematische Block auf den Care-Bereich. Ergänzt werden diese Studien zu einzelnen Arbeitsbereichen durch den Beitrag von Michaele Kuhnhenne, die am Beispiel Bremens in der ersten Nachkriegsdekade darlegt, wie Kindern verschiedenen Geschlechts aufgrund vermeintlich geschlechtsspezifischer Wesenseigenschaften verschiedene Bildungswege zugewiesen wurden und wie diese Ausbildungswege wiederum geschlechtsspezifische Berufsfelder und Entlohnungen rechtfertigten. In der Geschichtswissenschaft ist dieser Zusammenhang bekannt, spätestens seit Karin Hausen 1976 die zentrale Funktion der »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« für die moderne Erwerbsgesellschaft herausgearbeitet hat.[2] Insofern sind die Befunde dieses ersten Abschnitts des Bandes als solche nicht neu. Die Stärke der Fallstudien liegt vielmehr in der Sichtbarmachung komplexer Zusammenhänge, die sich hinter einer statistischen Größe verbergen.

Besonders erhellend ist in dieser Hinsicht der Beitrag von Laura Moser. Am Beispiel des Modellprojekts »Tagesmütter«, das von 1974 bis 1978 unter der Federführung des Bundes- ministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit elf Standorte mit je 15 bis 20 Tagesmüttern umfasste, fragt Moser nach dem Einfluss von Geschlechternormen auf die Ausgestaltung und die Finanzierungssystematik des Projekts. Sehr deutlich wird dabei, dass weiblicher Erwerbstätigkeit auch nach der Ehe- und Familienrechtsreform von 1977 durch das vorherrschende Ernährer-Modell sowohl diskursiv als auch strukturell deutliche Grenzen gesetzt waren. So sollten die im Projekt beschäftigten Tagesmütter zunächst zwar sozialversicherungspflichtig tätig sein, keinesfalls aber sollte ein neuer Ausbildungsberuf begründet werden. Die arbeits- und steuerrechtliche Unvereinbarkeit dieser Positionen wurde schlussendlich dadurch gelöst, dass die Frauen als Selbstständige besteuert wurden, was in Verbindung mit dem Ehegattensplitting zu einer erheblichen steuerlichen Mehrbelastung der Betroffenen führte. Diese Lösung stieß in den meisten Modellorten auf Protest, doch bestand Uneinigkeit über die Alternativen. Während etwa die Reutlinger Tagesmutter-Gruppe sich unter Verweis auf die Sozialabgaben für die Anerkennung ihrer Tätigkeit als Lohnarbeitsverhältnis einsetzte, sah ein Großteil der organisierten Frauen die beste Lösung in einer steuerfreien Entschädigungszahlung, da diese ihnen eine höhere Entlohnung ermöglichte, ohne das Ehegattensplitting selbst in Frage zu stellen. Ein solcher Kompromiss ergab für verheiratete Frauen aus der Mittelschicht, die den Großteil der Tagesmütter in dem Projekt ausmachten, ökonomisch durchaus Sinn. Er führte aber die Kindertagespflege letztlich in die prekäre Selbstständigkeit. Die Geschichte des Modellprojekts lässt sich so auch als Plädoyer dafür lesen, mehr nach den Zusammenhängen zwischen Geschlecht und prekären Beschäftigungsformen zu fragen.[3]

Die vier Beiträge des zweiten Abschnitts ergründen, wie durch gesetzliche und tarifliche Regelungen ungleiche Arbeitsbewertungen festgeschrieben wurden. Während die ersten zwei Beiträge einen Blick zurück auf die Entwicklung rechtlicher Vorschriften für preußische Volksschullehrerinnen (Leonie Kemper) und der Rechtsprechung zur Entgeltgleichheit in der Bundesrepublik (Anna Quadflieg) werfen, nehmen die zwei anderen Beiträge eine aktuellere Perspektive ein. Andrea Jochmann-Döll, Christina Klenner und Alexandra Scheele untersuchen die Chancen und Risiken der Digitalisierung für eine geschlechtsneutrale Bewertung der Erwerbsarbeit. Mit Karin Schönpflugs Beitrag wiederum erhält der Band eine begrüßenswerte Erweiterung um queere und intersektionale Perspektiven. Basierend auf Erkenntnissen einer in Wien durchgeführten Erhebung, gibt die Ökonomin einen Überblick über die Forschung der letzten Jahre zu Lohnungleichheiten abseits eines binär und cis-normativ gedachten Gender Pay Gap. So haben Studien etwa signifikante Lohnunterschiede zwischen trans- und cis-Personen festgestellt, und auch Lohnunterschiede entlang der sexuellen Orientierung werden vermehrt unter dem Begriff des Gay Pay Gap untersucht.

Insbesondere Schönpflugs Ausführungen zu Erhebungsproblematiken rufen ins Gedächtnis, dass der Gender Pay Gap als statistischer Indikator ebenso Ergebnis historisch geformter Vorstellungen über Geschlecht ist, wie er selbst an der Ordnung von Gesellschaften entlang der Kategorie Geschlecht beteiligt ist. Er macht(e) die Lohndifferenz zwischen abhängig beschäftigten Männern und Frauen sichtbar, ebenso wie er andere Lohnungleichheiten in der Unsichtbarkeit beließ. So erlaubt der Gender Pay Gap, wie er vom statistischen Bundesamt seit 1995 erhoben wird, etwa keine Aussagen über Selbstständige, Beschäftigte im öffentlichen Dienst oder abhängig Beschäftigte in Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten. Die Tagesmütter aus Laura Mosers Beitrag würden hier also ebenso wenig repräsentiert werden wie die städtischen Haushaltshilfen in bürgerlichen Haushalten, die Mareike Wittkowski in ihrem Beitrag behandelt.[4]

In allen Beiträgen wird deutlich, dass gesetzliche oder tarifliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Lohnungleichheit nur bedingt von Wirksamkeit waren. So führte die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts von 1955, wonach Frauen für gleiche Arbeit auch gleichen Lohn erhalten sollten, zwar zu einer Abschaffung von Lohnabschlagsklauseln für Arbeitnehmerinnen. De facto wurden diese aber durch neu geschaffene Niedriglohnkategorien fortgeführt. Noch deutlicher aber verweist das Kapitel auf den zugrundeliegenden Zankapfel: Was bedeutet Lohngleichheit und wie ist sie zu messen und sicherzustellen?

Wie nationale und internationale Gewerkschaftsorganisationen diese Fragen diskutierten, ist schließlich Thema des letzten Abschnitts, der damit zugleich den geographischen Rahmen des Bandes über die Bundesrepublik hinaus ausdehnt. Johanna Wolf beschäftigt sich mit den Diskussionen im Weltgewerkschaftsbund über Entgeltgleichheit und liest diese als »Kondensat weltweit geführter Diskussionen« um die Berufstätigkeit von Frauen (S. 221). Judith Holland fragt am Beispiel gewerkschaftlicher Diskussionen in Frankreich nach der Länderspezifik von Gleichheitsvorstellungen und zeigt, wie diese auch die Datenerhebung zum Gender Pay Gap beeinflussten. Damit zeigt sie einmal mehr die Wichtigkeit nationaler Besonderheiten von Statistiken auf. Indem sie die Auswirkungen des 1975 von den Vereinten Nationen ausgerufenen »Internationale Jahrs der Frau« auf Debatten um Entlohnungsgleichheit in Island, Indien und Südafrika untersuchen, nehmen Silke Neunsinger und Ragnheiður Kristjánsdóttir im letzten Beitrag des Bandes die Dreiecksbeziehung zwischen transnationalen Aktivist:innen, dem Staat und internationalen Organisationen in den Blick. Dabei argumentieren sie, dass die UN-Kampagne von 1975 als »Globalisierungskatalysator« für die Forderung nach Lohngleichheit fungierte, indem sie wichtige Gelegenheitsstrukturen für Aktivist:innen in den jeweiligen Ländern schuf.

Insgesamt legen die Herausgeber:innen einen thematisch und auch methodisch breit gefächerten Sammelband vor, der die Vielschichtigkeit von genderspezifischen Ungleichheitsstrukturen auf dem Arbeitsmarkt verdeutlicht. Indem der Band der Komplexität des Gegenstandes gerecht wird, bietet er viele Anknüpfungspunkte für weitere Beschäftigungen mit dem Gender Pay Gap. Zu hoffen bleibt schließlich, dass die Erforschung des Gender Pay Gap nicht selbst geschlechterspezifisch bleibt, so erfreulich die überdurchschnittlich hohe Präsenz von Forscherinnen in diesem Sammelband auch ist.

 

Zitierempfehlung

Wibke Rhein, Rezension zu: Wiebke Wiede/Johanna Wolf/Rainer Fattmann (Hrsg.), Gender Pay Gap. Vom Wert und Unwert von Arbeit in Geschichte und Gegenwart, Dietz, Bonn 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81989.pdf> [27.5.2024].

 

[1]Lutz Raphael, Deutsche Arbeitswelten zwischen globalen Problemlagen und nationalen Handlungs- bezügen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 69, 2021, S. 1-23, hier S. 11-14.

[2]Karin Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363-393.

[3] Dafür plädiert am Beispiel Italiens auch: Eloisa Betti, Gender and Precarious Labor in a Historical Perspective. Italian Women and Precarious Work between Fordism and Post-Fordism, in: International Labor and Working-Class History 89, 2016, S. 64-83.

[4] Vgl. Christina Klenner/Susanne Schulz/Sarah Lillemeier, Gender Pay Gap – die geschlechtsspezifische Lohnlücke und ihre Ursachen, in: Policy Brief WSI Nr. 07/2016, (07/2016), S.5. Ökonomische Studien lassen vermuten, dass der Gender Pay Gap bei Selbstständigen noch größer ist als bei abhängig Beschäftigten. Vgl. Moritz Drechsel-Grau/Andreas Peichl/Kai D. Schmid u.a., Inequality and Income Dynamics in Germany, in: Quantitative Economics 13, 2022, S. 1593-1635.

Jenny Baumann, Ideologie und Pragmatik. Die DDR und Spanien 1973–1990

(Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 142)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2023 | 405 Seiten, gebunden | 64,95 € | ISBN 978-3-11-114121-3

reviewed by

Xavier María Ramos Diez-Astrain, Universidad Complutense de Madrid

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Until recently, the history of relations between Spain and the German Democratic Republic (GDR) was a little-studied topic in historiography. The secondary position of both players in the Cold War meant that neither Spanish nor German historians paid much attention to bilateral relations between the two countries. In recent years, however, several studies have shed new light on the role of subordinate actors in the bloc dynamics of the Cold War. In this context, several studies on relations between Spain and the GDR have been published, most of them in Spain.[1] Jenny Baumann’s study »Ideologie und Pragmatik. Die DDR und Spanien 1973–1990« from 2023 is the first major contribution on this topic from German historiography (although there had already been some previous studies on partial aspects).[2] Her work reflects a broad knowledge of both areas, supported by a solid analysis of the sources.

The book’s subtitle seems modest in relation to the book’s content, as »Ideologie und Pragmatik« deals quite extensively also with the period between 1949 and 1973. In those years, Spain and the GDR had no direct relations and did not officially recognise each other. However, their mutual existences were very relevant for both. The GDR based part of its self-portrayal as anti-fascist state on the struggle of several German interbrigadists in the Spanish Civil War, which was seen as a vital episode of the anti-Hitler struggle in Germany itself. In addition, there was constant East-German support for the anti-Franco struggle of the Communist Party of Spain (PCE). Franco's anti-communist regime, for its part, found an important ally in the Federal Republic of Germany (FRG) in its rapprochement with the European communities and NATO. It was therefore particularly zealous in its support for the West-German Hallstein Doctrine. Against this difficult background, only lukewarm economic and cultural relations developed.

The establishing of diplomatic relations between Spain and the GDR in 1973 was then, as Baumann reconstructs, the result of a combination of internal and external factors, such as the relaxation of the West German position and the loss of influence of the most ideological actors on both sides. The GDR was the first socialist country to establish diplomatic relations at the highest level with Franco's Spain. But the relationship remained difficult. The GDR suspended relations again as early as 1975 in a gesture of protest against the last five executions in Spain; a gesture which, in the author's opinion, was essentially propagandistic and whose consequences were not properly assessed. Diplomatic relations were not re-established until April 1977, when Spain (in the midst of transition to democracy) had already normalized its relations with the other Warsaw Pact states.

From 1977 onwards, Baumann distinguishes two phases in relations between Spain and the GDR. The first phase corresponds to the period of government of the Union of the Democratic Centre (UCD) from 1977 to 1982, a coalition that included the reform-oriented factions of the former Franco regime. The author describes how the SED regime built up a network of contacts in Spain with a large number of dialogue partners during this period, while the Spanish government showed only little interest in the relationship. Among these dialogue partners was also the Spanish Socialist Workers' Party (PSOE), which won the 1982 elections under the leadership of the young Sevillian lawyer Felipe González. Under the González government, relations between Spain and the GDR underwent a phase of expansion. The GDR paid close attention to relations with Spain, despite its entry into NATO in 1982 and its ratification in a referendum on 12 March 1986. For its part, Spain maintained a friendly attitude towards the GDR and other socialist states despite its increasing integration into the Western sphere (including joining the European Communities in 1986), but without giving it priority. When the East German regime went into terminal crisis in 1989, Spain concentrated its efforts on supporting unification.

Reconstructing effectively the general features of the history of relationships, the book reveals many strengths but also some weaknesses. The main challenge for a study that deals with a topic that has already been investigated is to bring novelty to it. This is not always achieved by Baumann. Nevertheless, »Ideologie und Pragmatik« does provide some relevant new perspectives. One of the aims Baumann sets herself in the introduction is to analyze the relationship between Spain and the GDR, including the triangular relationship with the Federal Republic - and in doing so to take into account above all the East German endeavour to take an independent, not secondary, position as a state representative of German culture in Madrid. Meticulous work on the sources makes this aspect (which has been dealt with in lesser depth in other studies) perhaps the most striking aspect of this book. In contrast, »Ideologie und Pragmatik« does not shine as brightly in its analysis of GDR-Spain relations as part of the socialist countries' relations with Spain. Multilateral issues are somewhat blurred compared to the weight of bilateral aspects. The role of the GDR as an integral part of the Warsaw Pact is present in the book, but does not form its actual backbone. Greater attention to the efforts of the GDR and the Soviet bloc to prevent Spain's entry into NATO or to qualify its membership of the alliance would contribute, however, to a better understanding of some issues. These include, for example, the efforts made by the GDR to win the recognition of the Spanish public through cultural and propaganda activities (in competition with West Germany), or the willingness of the SED to reorganize relations with the PCE when the latter had lost its former significance.

Another strength of »Ideologie und Pragmatik« is its detailed analysis of the many different factors in the relationship between the GDR and Spain. Baumann has done a great job in weighing up the weight of the various political and social actors, both internal and external: the respective governments, political parties, cultural actors, social organizations, economic actors, and, in particular, the FRG. The book thus quite convincingly combines a very comprehensive overview with the transnational approaches of recent historiography of international relations. However, the result has also some weaknesses. Occasionally there is an excess of zeal in the individualization of each actor in the play. This is the case, for example, with the PSOE leaders involved, whose differences (which were sometimes simply based on different functions in the apparatus) lead the author to differentiate between »friends« and »sympathisers« of the GDR and the rest. Alfonso Guerra can hardly be considered a friend or sympathiser of the GDR or of communism in general. Moreover, the separate consideration of the individual actors and factors leads to numerous leaps in time, which often make it difficult to follow the narrative thread (especially for reader unfamiliar with the subject).

As already noted, the work on sources is very extensive and meticulous. With references from thirteen archives and fifty-two periodicals from Spain and Germany, Baumann has accomplished an overwhelming feat in analyzing primary sources. In addition, there is an abundant bibliography. However, the bibliographical apparatus could have been strengthened, which in turn would have made the work more robust. What is missing is a stronger dialogue with the existing literature on the subject, which is scarcely considered, and especially with the literature that deals with other issues of relations (political or economic) between Spain and Eastern Europe. This would also have helped to avoid some minor errors, such as the assertion that the bilateral trade agreement was denounced by Spain in 1986 as a consequence of the declining attractiveness of the East German market (in reality, it was a consequence of Spain's entry into the EEC, which monopolized this type of agreement, and had been anticipated by the GDR). It would also have been useful to pay more attention to the abundant literature on Spanish communism.

Finally, it is worth mentioning a problem that affects this book as well as other research on this subject. Access to Spanish sources is considerably more difficult than to German sources. As a result, all studies tend to overemphasize the East German perspective over the Spanish one, whose actors cannot be examined with the same meticulousness. It is to be expected, however, that the gradual opening of Spanish sources will resolve this problem sooner rather than later. As for »Ideologie und Pragmatik«, Baumann's efforts to circumvent this limitation as far as possible should be emphasized.

Despite some weaknesses, »Ideologie und Pragmatik« is a solid, coherent work that makes valuable contributions to knowledge about relations between Spain and the GDR. Its differentiated approach sets it apart from other works on this and similar topics. As such, the book is highly recommended reading.

 

Zitierempfehlung

Xavier María Ramos Diez-Astrain, Rezension zu: Jenny Baumann, Ideologie und Pragmatik. Die DDR und Spanien 1973–1990, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81996.pdf> [27.5.2024].

 

[1] Cf. José M. Faraldo/Carlos Sanz Díaz (Eds.), La otra Alemania. España y la República Democrática Alemana (1949-1990), Granada 2022; Xavier Maria Ramos Diez-Astrain, A través del Telón de Acero. Historia de las relaciones políticas entre España y la RDA (1973-1990), Madrid 2021; cf. id., Las relaciones entre España y la República Democrática Alemana: un campo de estudio en auge, in: Blog del CEPC, 22.11.2022, URL: <https://www.cepc.gob.es/blog/las-relaciones-entre-espana-y-la-republica-democratica-alemana-un-campo-de-estudio-en-auge> [24.05.2024].

[2] Cf. Andreas Jüngling, Alternative Außenpolitik. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund der DDR und Franco-Spanien (1947-1975), Berlin 2017; Tim Haberstroh, Die DDR und das Franco-Regime. Außenpolitik zwischen Ideologie und Pragmatismus, Schkeuditz 2011; Michael Uhl, Mythos Spanien. Das Erbe der Internationalen Brigaden in der DDR, Bonn 2004.

Jan Kellershohn (Hrsg.), Der Braunkohlenbergbau im 20. und 21. Jahrhundert. Geschichte – Kultur – Erinnerung

(Landesgeschichtliche Beiträge, Nr. 1)

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt | Halle (Saale) 2023 | 298 Seiten, gebunden | 45,00 € | ISBN 978-3-948618-52-0

rezensiert von

Charlotte Kalenberg, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

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So wie das Ende des Steinkohlenbergbaus in Deutschland 2018 zum Rückblick einlud, so gibt nun auch das für das Jahr 2038 geplante Ende der Kohleverstromung Anlass, den Braunkohlenbergbau historisch zu untersuchen. Die Verteilung der Braunkohlereviere in Deutschland über verschiedene Regionen und Bundesländer hinweg ermöglicht dabei vielseitige regional- und kulturgeschichtliche Perspektiven auf den Bergbau, ob in Mitteldeutschland, der Lausitz, der Oberpfalz oder im Rheinischen Revier.

Der hier besprochene Band basiert auf einer Tagung zum Braunkohlenbergbau, die im Dezember 2021 im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle stattfand, und ist als erster Band der neuen Reihe »Landesgeschichtliche Beiträge« des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt erschienen. Der Band hat das Ziel, eine transregionale Perspektive auf den Braunkohlenbergbau zu fördern und interdisziplinäre Ansätze zu entwerfen, mit denen die Geschichte des Braunkohlenbergbaus und der mit ihm verbundenen Industriekultur geschrieben werden kann. Jan Kellershohn, der Herausgeber des Bandes, skizziert einleitend den Begriff der Industriekultur und betont dabei die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Quellensprache und Analysebegriff. Zugleich gibt er einen Überblick über die bisherige Geschichtsschreibung zum Braunkohlenbergbau und identifiziert lohnende noch unbearbeitete Untersuchungsfelder.

Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert, wobei die Beiträge im ersten Abschnitt den Braunkohlenbergbau nur indirekt betreffen. Stattdessen stehen hier Vergleichsperspektiven im Mittelpunkt. Der zweite Abschnitt untersucht den Braunkohlenbergbau aus landesgeschichtlicher Perspektive, während der dritte einen aktuelleren Blickwinkel einnimmt und ethnologische und kulturanthropologische Untersuchungen umfasst. Im letzten Abschnitt geben Beiträge einen Ausblick auf die Herausforderungen, die künftig auf die museale Arbeit in Bergbauregionen zukommen werden.

Zu Beginn des ersten Teils führt Felicitas Weiss in die Konzepte Raum und Region als Untersuchungsperspektiven ein und gibt Anregungen, wie diese mit Erkenntnisgewinn für die Untersuchung von Montanregionen eingesetzt werden können. Sie veranschaulicht dies für das Bergbaurevier im Fichtelgebirge, in dem vornehmlich Eisenerz abgebaut wurde und das man sowohl als Wirtschaftsraum wie auch als kulturellen Raum beschreiben und analysieren kann. Auch Sabine Breer beschäftigt sich indirekt mit dem Bergbau, indem sie die sogenannte Mansfeld-Galerie vorstellt, eine zu DDR-Zeiten im VEB Mansfeld-Kombinat »Wilhelm Pieck« entstandene Gemäldesammlung, die derzeit weitgehend ungenutzt im Kreisarchiv Mansfeld-Südharz liegt. Ihre Beschreibung veranschaulicht das sozial-, kultur- und politikgeschichtliche Potential dieser Sammlung für die Bergbaugeschichte, handelt es sich bei den Auftragsarbeiten doch in großer Zahl um Darstellungen von Angestellten und Arbeitern, welche die Arbeitsatmosphäre im Bergbau und dessen Industrielandschaften widerspiegeln. Helen Wagner diskutiert am Beispiel des vom Steinkohlebergbau geprägten Ruhrgebiets die Neuausrichtung von Industriekultur, die sich in der Hochphase auf den Denkmalschutz von ungenutzten Bauwerken und die Umnutzung von Industriestätten konzentrierte. Sie erklärt den Geschichtsboom, diskutiert die Ausrichtung der Geschichtskultur im Ruhrgebiet auf Industriekultur und gibt schließlich Denkanstöße, wie Braunkohleregionen nach dem Ausstiegmit ihrer industriellen Vergangenheit umgehen könnten.

Im ersten Beitrag des zweiten Teils macht Jan Kellershohn auf die komplexe Beziehung zwischen dem Braunkohlenbergbau und der Erzeugung von geologischem Wissen aufmerksam. Zum einen habe die Zerstörung von Landschaften durch den Braunkohlenbergbau die Schaffung eines als ›Heimat‹ bezeichneten Raums erst etabliert und die wissenschaftliche Beschäftigung mit demselben begünstigt. Zum anderen sei auch der Kolonialismus ein Auslöser für die Erforschung des heimischen Bodens gewesen, da in den Kolonien neue Erfahrungen gesammelt und Praktiken (beispielsweise zur Auffindung von Wasserquellen) entwickelt wurden, die dann auch in der ›Heimat‹ eingesetzt wurden. Davon etwas losgelöst, identifiziert er zuletzt einen Zusammenhang zwischen dem Wandel der geologischen Wissensproduktion und einem sich ebenfalls veränderten Körperverständnis, vom individuellen und talentierten Forscher hin zu einer ›Wissen‹ schaffenden Gemeinschaft.

Martin Baumert erzählt die Geschichte der Rekultivierung von Flächen, die für den Braunkohlenbergbau genutzt wurden. Er konzentriert sich vor allem auf Forschungsaktivitäten zur Wiedernutzbarmachung in der DDR und attestiert dem ostdeutschen Staat eine führende Rolle in der Entwicklung und Testung neuer Methoden. Die Bedeutung regionaler Verflechtungen für den Braunkohlenbergbau verdeutlicht Benedikt Martin Ertl anhand der strukturpolitischen Rolle des Wackersdorfer Tagebaus und des Wärmekraftwerks bei Schwandorf für die bayerische Energiepolitik. Zwar konnte Wackersdorf nicht mit den großen europäischen Braunkohlerevieren mithalten, war in Krisenzeiten wie nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg jedoch durchaus relevant. Die Bedeutung der Braunkohle für die Energieversorgung in Bayern und für die Reduzierung von Importabhängigkeiten veranschaulicht etwa der Umstand, dass der Ort Wackersdorf 1948 bis 1952 komplett umgesiedelt wurde, um die darunterliegende Braunkohle abbauen zu können. Erst Ende der 1950er-Jahre verlor der Wackersdorfer Tagebau durch die verstärkte Nutzung konkurrierender Energieträger wieder an Bedeutung.

Christian Möller betrachtet den Umgang mit Konflikten um den Braunkohlenbergbau und insbesondere die Umweltfolgen des Tagebaus aus demokratiehistorischer Perspektive. Am Beispiel des Braunkohlenausschuss (BKA), in dem seit 1950 Akteure aus Politik und Unternehmen sowie Betroffene zusammenkamen, untersucht er die Entwicklung korporatistischer Konfliktlösung, aber auch die Grenzen dieses politischen Instruments. War der BKA als Vermittlungsinstanz zwischen Verursachern und Betroffenen zunächst in gewisser Weise erfolgreich, veränderte sich dies im Laufe der Zeit durch veränderte Ansprüche an demokratische Beteiligung etwa infolge der Entstehung von Bürgerinitiativen. Interessant ist in Bezug auf heutige Proteste im Rheinischen Revier, dass die generelle Notwendigkeit des Braunkohleabbaus in den 1950er-Jahren auch von Kritikern noch nicht angezweifelt wurde.

Der dritte Teil des Bandes hat einen ethnologischen Schwerpunkt. Felix Schiedlowski gibt mit zahlreichen Interviewzitaten einen lebendigen Einblick in die Situation der Menschen, die heute im Mitteldeutschen Revier von Strukturwandel und Braunkohleausstieg betroffen sind. Material für seine ethnologische Forschung sammelte er 2020/21 und untersuchte anhand dessen, welche Rolle die Braunkohle in der Orientierung der Menschen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spielt. Er betont, dass man die Erfahrungen von 1989/90 zum Verständnis des Mitteldeutschen Reviers nicht außer Acht lassen könne. Ähnlich ist der Ansatz von Katharina Schuchardt, die im deutsch-polnischen Braunkohlerevier Lausitz ebenfalls ethnologische Feldforschung betrieb. Auch sie bezieht den Faktor Zeit stark in ihre Untersuchung ein. Am Beispiel der Bemühungen im ehemaligen Kurort Opolno Zdrój (Bad Oppelsdorf), die eigene Geschichte im Ort sichtbar zu machen, veranschaulicht sie den Umgang der Menschen in der Region mit dem ungewissen Transformationsprozess. Valeska Flor blickt aus kulturanthropologischer Perspektive auf die Umsiedlungen im Rheinischen Revier und erkennt dabei drei Bewältigungsstrategien zur Verarbeitung der Erlebnisse. Dazu gehören das bewusste Erzählen, was immer auch Selbstreflexion und Identitätsschaffung bedeute, Partizipation, im Speziellen die Beteiligung an der Planung des neuen Ortes, und zuletzt Erinnerungsobjekte wie beispielsweise Straßenschilder der umgesiedelten Ortschaft.

Im vierten und letzten Teil des Bandes kommen Autorinnen und Autoren aus dem musealen Bereich zu Wort. Ein kollektiv von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt verfasster Artikel gibt einen kurzen Einblick in die Geschichte des Geiseltals sowie in eine Auswahl von Funden aus dem dortigen Bergbau, die derzeit in einem großen Projekt mit weiteren materiellen Zeugnissen des Braunkohlenbergbaus erfasst und dokumentiert werden. Danny Könnicke schreibt ein Plädoyer für die Rolle des Museums, das sich aktiv in die Gestaltung der Zukunft einbringen könne, indem es anschaulich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Region miteinander verknüpft. Gerade für die Braunkohleregionen im Strukturwandel erfüllten Museen eine wichtige gesellschaftliche Funktion, weil sie Raum für Diskurse schafften. Jenny Hagemann diskutiert die Historisierung des Braunkohlentagebaus in der Lausitz, die sowohl durch ihre industrielle Geschichte geprägt als auch das Siedlungsgebiet der Sorbinnen und Sorben war und ist. Dass beides untrennbar miteinander verbunden ist und die Lausitz dadurch auch nach Ende des Braunkohlenbergbaus ein »hybrider Raum« sein wird, betont sie als Prämisse für die historische Forschung, aber auch für die aktuelle Welterbeinitiative »Lausitzer Tagebaufolgelandschaft«. Zuletzt gibt Alrun Berger Einblick in ein Projekt des Landschaftsverbands Rheinland »geSCHICHTEN Rheinisches Revier«, bei dem das kulturelle Erbe des Reviers nicht nur mit Blick auf die Braunkohle vermittelt werden soll, sondern andere Transformationen in der Region, beginnend mit der Durchsetzung von Ackerbau und Viehhaltung und endend mit der aktuellen Dekarbonisierung, mit einbezogen werden.

Somit liefert der Band in der Tat zahlreiche Perspektiven auf den Braunkohlenbergbau, von denen allerdings nur die kleinere Zahl einen im engeren Sinne landesgeschichtlichen Ansatz verfolgen. Jeder Beitrag ist für sich lesenswert, einige tragen aber weniger zur wissenschaftlichen Debatte bei, sondern sind vielmehr Aufrufe zum Nachdenken oder informieren über die aktuellen Herausforderungen im Umgang mit dem Braunkohlenbergbau. Die sprachgewandten Kapitelüberschriften (z.B. »Vergangene Gegenwart« und »Gegenwärtige Vergangenheit«) hätten aussagekräftiger sein und präziser den Inhalt des Bandes beschreiben können. Zwar ergibt sich in der Gesamtschau eine gewisse chronologische Einteilung, da zunächst historische Aspekte des Braunkohlebergbaus und anschließend seine historischen Spuren in der Gegenwart und die Frage ihrer künftigen Musealisierung erörtert werden. Doch hätten das inhaltliche Konzept des Bandes und sein Gliederungsprinzip einleitend klarer erläutert werden können. Dennoch erfüllen der Band und die einzelnen Beiträge ihr Ziel und geben Inspiration und viele Antworten auf die komplexe Frage, wie die Geschichte des Braunkohlenbergbaus geschrieben werden kann.

 

Zitierempfehlung

Charlotte Kalenberg, Rezension zu: Jan Kellershohn (Hrsg.), Der Braunkohlenbergbau im 20. und 21. Jahrhundert. Geschichte – Kultur – Erinnerung, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81997.pdf> [27.5.2024].

Olaf Kistenmacher, »Gegen den Geist des Sozialismus«. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik

ça ira | Freiburg/Wien 2023 | 156 Seiten, Französisch Broschur | 23,00 € | ISBN 978-3-86259-146-6

rezensiert von

Mario Keßler, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

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Vor acht Jahren erschien Olaf Kistenmachers Bremer Dissertation »Arbeit und ›jüdisches Kapital‹. Antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung ›Die Rote Fahne‹ während der Weimarer Republik«.[1] Das Buch wurde in der Fachwelt und der Öffentlichkeit insgesamt positiv rezipiert, obwohl der weitgehende Verzicht auf Archivquellen auffiel. Im nun vorliegenden Buch knüpft der Autor an sein damaliges Forschungsthema an, wechselt jedoch die Perspektive: Nunmehr stehen im Zentrum der Analyse die Kritiker der KPD, insbesondere Anarchisten, aber auch die innerparteiliche Kritik an der, laut Kistenmacher, »Judenfeindschaft« in der KPD.

Das Buch setzt nach einer kurzen Erwähnung der Kommunistischen Arbeiterpartei (KAPD) und ihrer Protagonisten Fritz Wolffheim und Heinrich Laufenberg intensiver erst in der zweiten Phase der KPD-Geschichte ein, im Jahr 1923. Die ersten innerparteilichen Kritiker wie Paul Levi, dem einige antisemitisch gefärbte Schmähungen hinterhergerufen wurden, hatten die Partei da bereits verlassen. Diese hatte sich mit der unvermeidbaren Annahme der 21 Bedingungen der Komintern einem rigiden, mehr noch als von Lenin durch den Komintern-Vorsitzenden Sinowjew geprägten Verständnis von Politik unterworfen. Noch aber war die innerparteiliche Diskussion keineswegs ganz abgetötet, und auch spätere bizarre Politik-Rituale, so der Huldigung der jeweiligen Parteiführer, lagen noch in der Zukunft.

Das Jahr 1923 war ein Schlüsseljahr in der deutschen Geschichte, in der das Schicksal der Weimarer Republik auf der Kippe stand. Die permanente Krisenstimmung führte zur Verstärkung des latenten Antisemitismus, galten doch die Juden nun nicht mehr nur – fälschlicherweise – als Profiteure der Krise und als Kriegsgewinnler, galt die deutsche Republik bei ihren rechten Feinden nicht nur als Judenrepublik, sondern das janusköpfige Zerrbild des jüdischen Kapitalisten und jüdischen Bolschewiken wurde von der rechtsradikalen Propaganda überdimensional aufgeblasen. Die Arbeiterklasse erwies sich noch am ehesten immun gegenüber diesem Propaganda-Monster. Die machtvollen Demonstrationen aller Arbeiterparteien im Jahr zuvor, mit denen sie gegen den Mord am jüdischen Reichsaußenminister Walther Rathenau protestierten, legten davon Zeugnis ab.

Dennoch zeigte sich auch die Linke, insbesondere die von Kistenmacher untersuchte KPD, gegenüber dem Antisemitismus nicht immun. Sie nahm ihn zudem als eigenständige Größe innerhalb der deutschen Gesellschaft nur unzureichend wahr. Hingegen suchte sich die KPD als nationale Kraft im Widerstand gegen Frankreich zu präsentieren und keinen Nihilismus in der nationalen Frage zuzulassen. In diesem Sinne pries Karl Radek den von französischen Truppen im Ruhrgebiet hingerichteten rechtsradikalen Untergrundkämpfer Leo Schlageter als mutigen Soldaten der Konterrevolution, der von den Soldaten der Revolution zu würdigen sei. Radek gab sich überzeugt, dass die große Mehrheit der national empfindenden Massen nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehöre. Daran anschließend öffnete »Die Rote Fahne« ihre Spalten für zwei Beiträge des völkischen Nationalisten Ernst Graf Reventlow, die auch als Broschüre erschienen, gemeinsam mit Radeks Rede sowie Aufsätzen des Kommunisten Paul Frölich (und, wie ergänzt sei, des neokonservativen Nationalisten Arthur Moeller van den Bruck). Dies leitete eine Reihe von Versammlungen ein, auf denen kommunistische und völkische Redner gemeinsam auftraten. Besonders tat sich der KPD-Reichstagsabgeordnete Hermann Remmele hervor, der sich nicht scheute, Anfang August 1923 auf einer Versammlung der NSDAP zu sprechen. »Wie dieser Antisemitismus entsteht«, rief er laut einem Bericht der »Roten Fahne« aus, »kann ich ja sehr leicht begreifen. Man braucht nur einmal auf den Stuttgarter Viehmarkt, nach dem Schlachthof zu gehen, um dort zu sehen, wie Viehhändler, die größtenteils zum Judentum gehören, zu jedem Preise das Vieh aufkaufen, während die Stuttgarter Metzger wieder leer abziehen müssen, weil sie einfach nicht so viel Geld haben, [um] Vieh kaufen zu können. (Sehr richtig! bei den Faschisten.).« (zit. nach S. 33) Wie Kistenmacher detailliert zeigt, verwendete die KPD-Presse den Begriff des »Volkes« als Schlüsselkategorie, um die Zustände in Deutschland anzuprangern. Doch damit desorientierte die KPD die eigenen Genossen, während die nationalistische Rechte nur höhnisch Beifall spendete oder ablehnend reagierte.

Dabei verurteilte die Partei weiterhin den Antisemitismus. Dessen Stoßtrupps bestünden aus deklassierten Offizieren, Studenten, Sekundanern, Lockspitzeln und sonstigem Gesindel, schrieb die KPD-Presse ein um das andere Mal. Die Finanzierung der antisemitischen Hetze würde größtenteils das industrielle und agrarische Großkapital besorgen, das im antisemitischen Lumpenproletariat einen Schutz gegen die soziale Revolution sehe. Doch fanden sich, wie aussagekräftige Illustrationen zeigen, immer wieder auch antijüdische Karikaturen, auf denen etwa zufrieden lächelnde, stereotyp gezeichnete jüdische Kapitalisten einer Nazidemonstration Beifall spendeten (S. 36).

Einigen Raum widmet Kistenmacher Ruth Fischer. Sie machte auf ihrem Weg an die Spitze der KPD vor populistischer Stimmungsmache nicht Halt, wobei sie auch antisemitische Klischees einsetzte. In einer Rede, der kommunistische wie völkische Studenten zuhörten, stellte sie am 25. Juli 1923 fest, wer »gegen das Judenkapital« aufrufe, sei »bereits Klassenkämpfer.« (zit. nach S. 31) Nachdem der Rätekommunist Franz Pfemfert auf diese Rede aufmerksam gemacht hatte, zitierte auch die SPD-Zeitung »Vorwärts« sie und vergaß nicht den Hinweis, dass Ruth Fischers bürgerlicher Name Elfriede Friedländer lautete (S. 40). Der Anarchist Rudolf Rocker warnte davor, solche »Vorgänge in ihrer Tragweite unterschätzen zu wollen. Hier waren furchtbare Kräfte an der Arbeit, die durchaus nicht harmlos sind, sondern eine furchtbare Gefahr für die allernächste Zukunft dieses Landes bedeuten.« (zit. nach ebd.) Der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler, von seinen innerparteilichen Gegnern als Rechter bezeichnet, suchte ebenso wie August Thalheimer und Clara Zetkin dieser bedrohlichen Entwicklung entgegenzuwirken. So schrieb Clara Zetkin Ende März 1924 aus Moskau an den bevorstehenden IX. Parteitag der KPD: »Die radikalisierten Parteimassen werden zum größten Teil von revolutionären Gefühlen und Stimmungen beherrscht, sie sind grundsätzlich nicht geschult, nicht klar und fest. Die ›linke‹ Parteimehrheit vereinigt brüderlich reichlichst KAPisten, Syndikalisten, Antiparlamentarier, bei Lichte besehen – horrible dictu – sogar Reformisten und neuerdings – faschistische Antisemiten.« (zit. nach S. 51)

All dies bewies die völlige Unterschätzung des Antisemitismus, auch des akademischen Rechtsradikalismus, durch Teile der KPD. Beide Arbeiterparteien, auch die SPD, reagierten recht spät auf das Pogrom gegen jüdische Kleinhändler und Subproletarier Anfang November 1923 im Berliner Scheunenviertel. Die Erfahrung der jüngsten Geschichte hätten indes gerade die KPD mahnen sollen: Die Revolution von 1918/19 war zur Geburtsstunde der mörderischen Losung vom »jüdischen Bolschewismus« geworden. Antikommunismus und Antisemitismus gingen seitdem Hand in Hand. Doch die Mystifizierung der angeblich nur irregeleiteten, doch potentiell revolutionären Massen vernebelte nicht nur Ruth Fischer und ihrem damaligen Bündnispartner Hermann Remmele den Blick. Mit dem Parteiausschluss der von Ruth Fischer angeführten Richtung traten ab 1925 die antisemitischen Stimmen innerhalb der KPD zurück, ohne ganz zu verstummen. Clara Zetkins Befürchtungen bewahrheiteten sich jedoch nicht. Denn anders als in der Sowjetunion, deren innere Entwicklung Kistenmacher in gebotener Kürze behandelt, wurde der Antisemitismus innerhalb der KPD kein Mittel in Fraktionskämpfen.

In der existentiellen Krise der Weimarer Republik ab 1929/30 verhielt sich die KPD zunächst auffallend defensiv gegenüber der von den Nationalsozialisten verbreiteten Behauptung, sie sei jüdisch durchsetzt und ihr Marxismus ein von Hebräern ausgeklügeltes Instrument zur Zersetzung der germanischen Rasse. Die KPD sah im Judenhass nur ein nazistisches Ablenkungsmanöver. Hitlers Antisemitismus sei nicht genuin, sondern lediglich ein Schwindel. Jüdische Bankiers seien ebenso wie »arische« Unternehmer Nutznießer des Hitlerfaschismus, denn Kapital bleibe Kapital. All dies zeigte erneut die Ignoranz der Partei gegenüber den vielschichtigen Dimensionen des Judenhasses.

Am weitesten entfernt schien jedoch die Auseinandersetzung zwischen Juden und Arabern in Palästina. Der erste arabisch-jüdische Bürgerkrieg in Palästina, der im August 1929 Hunderte von Menschenleben auf beiden Seiten kostete, war für die KPD-Führung der einzige Anlass, zum politischen Zionismus Stellung zu nehmen. Am 24. und 25. Oktober 1929 behandelte das Zentralkomitee der KPD die Ereignisse. Im Referat zum Tagesordnungspunkt gab Hermann Remmele zu, »innerhalb der Partei« sei wenig Kenntnis darüber vorhanden, welche Rolle in Palästina die Komintern spiele. »Unsere Partei« habe »in Palästina 160 Mitglieder, davon 30 Araber, die anderen 130 Zionisten.« Deswegen sei es ganz klar, dass die KP Palästinas »nicht eine solche Einstellung haben kann, wie sie dem Gesetz der Revolution entspricht. Gerade das unterdrückte Volk, jene Schicht des Volkes, die das revolutionäre Element, den Verhältnissen entsprechend, überhaupt ausmachen kann, sind nur die Araber.« (zit. nach S. 103) Ganz abgesehen von der pauschalen Kategorisierung von »Juden« und »Arabern« ohne Verweis auf die Klassenlage bestürzt in Remmeles Referat vor allem die Unterstellung, die jüdischen Parteimitglieder seien Zionisten. Auch ohne Kenntnis der inneren Lage der illegal arbeitenden KP Palästinas hätte ein Blick in die »Inprekorr«, die internationale Zeitung der Komintern, genügt, um zu sehen, dass gerade die jüdischen Kommunisten inner- wie außerhalb Palästinas die schärfsten Gegner des Zionismus waren. Die Uninformiertheit, aber wohl auch Desinteresse und mangelnde Sensibilität der ZK-Mitglieder an dieser für die internationale Politik wahrlich nicht peripheren Problematik zeigte sich darin, dass niemand diesen falschen Aussagen widersprach. »Aus Zeitgründen« fand keine Diskussion darüber statt. Die Palästina-Berichte der»Roten Fahne« waren entsprechend einseitig. Da es im Buch um die Kritik der KPD-Politik geht, wäre hier ein Blick auf sozialdemokratische und oppositionell-kommunistische Publikationen geboten gewesen, in denen diese Probleme oftmals weit klarer wahrgenommen wurden.

Das Buch vermittelt ein plastisches Bild der widersprüchlichen Haltung der KPD zum Antisemitismus. Dennoch erscheint dem Rezensenten der Terminus »Judenfeindschaft« hier übertrieben. Die KPD wies, wie auch die SPD, alle rassistischen Deutungen der sogenannten jüdischen Frage zurück, die die zeitgleich im bürgerlichen politischen Spektrum immer mehr an Boden gewannen. Die jüdische Frage war für die Arbeiterparteien die Frage nach gleichberechtigter Teilhabe der Juden am Leben Deutschlands. Es war deshalb logisch, dass Hitler und die Seinen zuerst die Arbeiterbewegung zerschlagen mussten, bevor sie an das grauenvolle ›Werk‹ der Judenvernichtung gingen.

 

Zitierempfehlung

Mario Keßler, Rezension zu: Olaf Kistenmacher, »Gegen den Geist des Sozialismus«. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik, ça ira, Freiburg/Wien 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81990.pdf> [27.5.2024].

 

[1]Olaf Kistenmacher, Arbeit und »jüdisches Kapital«. Antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung »Die Rote Fahne« während der Weimarer Republik, Bremen 2016.

Sylvia Köchl, Delikt Abtreibung. Frauenarmut, ungewollte Schwangerschaften und illegale Abbrüche

Mandelbaum | Wien 2024 |  254 Seiten, Broschur | 22,00 € | ISBN 978399136-043-8

rezensiert von

Susanne Krejsa MacManus, Wien

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Zum besseren Verständnis zuerst die rechtlichen Voraussetzungen: Der Schwangerschafts- abbruch unterliegt in Österreich auch im Jahr 2024 noch dem Strafgesetzbuch und kann laut Paragraph 96 mit Gefängnis bestraft werden. Jedoch gilt seit 1. Januar 1975 die so genannte Fristenlösung. Nach Paragraph 97 des Österreichischen Strafgesetzbuchs ist demnach die Tat nicht strafbar, »wenn der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft nach vorhergehender ärztlicher Beratung von einem Arzt vorgenommen wird; oder […] wenn der Schwangerschaftsabbruch zur Abwendung einer nicht anders abwendbaren ernsten Gefahr für das Leben oder eines schweren Schadens für die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren erforderlich ist oder eine ernste Gefahr besteht, daß das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde, oder die Schwangere zur Zeit der Schwängerung unmündig gewesen ist […].«[1] Zur Klarstellung: Als Beginn der Schwangerschaft versteht das Strafgesetzbuch den Tag der abgeschlossenen Einnistung des befruchteten Eies.

Ob man es hören mag oder nicht: Die Natur will sich fortpflanzen, durchschnittlich 15 Schwangerschaften pro Frauenleben sind ›natürlich‹ bzw. ›naturgewollt‹. Mangels sicherer und zugänglicher Verhütungsmittel fanden Abtreibungen entsprechend häufig statt. Der Nationalratsabgeordnete Gustav Zeilinger bemerkte beispielsweise 1955 im Budgetausschuss des Österreichischen Parlaments: »Da an jeder Abtreibung etwa drei Personen beteiligt sind, begehen in Österreich rund 600.000 Personen im Jahr ein Verbrechen. Das bedeutet, dass in neun Jahren das ganze Bundesvolk - mit Ausnahme der Kinder - dieses Verbrechen begeht.«[2]

Nun legt Sylvia Köchl, Politikwissenschafterin und Journalistin in Wien, eine gründliche Aufarbeitung des Themas »Verbotene Abtreibung« vor. Aus biografischen Gründen, aus schierer Neugier und als linke Feministin gilt ihr spezielles Interesse der Situation derjenigen Frauen, die sich keine ärztliche Abtreibung leisten konnten und deren Lebenssituationen aufgrund sozialer Herkunft, fehlender (Aus)Bildung und anderer Umstände (etwa häuslicher Gewalt) prekär waren. »Arme Frauen […] konnten Schwangerschaften und Abtreibungen schon allein aufgrund ihrer Lebens- und Wohnsituationen ›schlechter verbergen‹ und mussten aus finanziellen Gründen zu Abtreiber*innen in der Nähe gehen […]. So gerieten die ungewollt Schwangeren wie auch die Abtreiber*innen schnell in den Fokus der Polizei.« (S. 11)

Wie viele Strafverfahren es zu verbotenen Schwangerschaftsabbrüchen bzw. zu Neugeborenen- tötungen (im Sinne verschleppter Abtreibungen) gab, ist nicht erfasst. Im Verhältnis zur riesigen Anzahl der durchgeführten Abtreibungen waren es aber wenige. Für das Jahr 1955 finden sich im Wiener Stadt- und Landesarchiv 582 Akten unter den Stichworten »Abtreibung« bzw. »Kindsmord«, für das Jahr 1965 22 Akten zu den Stichworten »Abtreibung«, »Kinderleiche« bzw. »Säugling«. Für diese niedrigen Zahlen gibt es mehrere Gründe: einerseits die erfolgreichen Selbstabtreibungen, andererseits die auch von medizinischen Gutachtern anerkannte Geschicklichkeit und Fürsorglichkeit der Abtreiber*innen.[3] Und schließlich: Gerüchten oder Verdachtsfällen wurde in vielen Fällen gar nicht nachgegangen, denn auch die Gendarmen und die ganz überwiegend männlichen Mitglieder der Polizei sind Väter, Ehemänner, Liebhaber, haben Freundinnen, Töchter, Frauen, Mütter, Tanten und andere weibliche Familienmitglieder oder Bekannte, die im Fall einer ungewollten Schwangerschaft auf Tipps angewiesen waren.

Köchl stellt aus dem Zeitraum von 1923 bis 1974 anhand von Gerichtsakten 49 Gerichtsfälle aus unterschiedlichen Siedlungsbereichen Wiens sowie aus den benachbarten Bundesländern Niederösterreich und Burgenland vor. Sie breitet die Fakten aus, legt die Begleitumstände dar, schildert den zeitlichen Kontext und ergänzt um ausführliche Lesetipps, Erläuterungen und Erklärungen. Das Buch ist trotz aller Dramatik des Dargestellten gut lesbar, sogar spannend – wenngleich das in diesem Zusammenhang herablassend klingen mag, schließlich handelt es sich ja nicht um einen Unterhaltungskrimi. Tatsächlich gehen die ›unterhaltsamen‹ Details in meinen Augen zu weit: Mit personenbezogenen Informationen sollte man sensibler umgehen und es den Familien bzw. Nachkommen überlassen, ob sie die Identifizierbarkeit ihres Familienmitgliedes/ ihrer Familienmitglieder gestatten. Erfahrungsgemäß ist es für Familien mitunter schmerzhaft, über Abtreibungen oder Neugeborenentötungen zu sprechen, auch wenn das Geschehen schon länger zurückliegt.

Vor der Darstellung der individuellen Gerichtsakten beschreibt die Autorin ausführlich ihren Weg der Materialsammlung aus dem Wiener Stadt- und Landesarchiv sowie dem Straflandesgericht, ferner den Aufbau der gefundenen Unterlagen, den daraus gelernten Ablauf der Gerichtsverfahren und die Hierarchie der beteiligten Personen. Sie schildert die Argumentationen vor Gericht, die Urteilsfindung und die Gefängnissituationen. Die genaue Angabe der Aktensignaturen macht das Material für weitere Forschung auffindbar. Allerdings kann Köchls Verzicht auf eine Unterteilung ihres langen Untersuchungszeitraums leicht zu Verwirrung führen. Zumindest die NS-Zeit stellte eine so wesentliche Unterbrechung und eine Veränderung aller Werte dar, dass eine Unterteilung ratsam gewesen wäre.

Präzise beschreibt Köchl die Methoden und Begleitumstände der Abtreibungen, was ihr Buch auch für thematisch Versierte wertvoll macht. Heimliche Selbstabtreibungen führten seltener zu Aufdeckungen, nur dann, wenn jemand sie ausplauderte (mitunter aus Rache), oder wenn es zu Selbstverletzungen kam, die eine Spitalsbehandlung nötig machten. Die Autorin hat auch die Suche nach Abtreiber*innen, den Umgang mit ihnen und die Art der Geschäftsbeziehungen untersucht: »Wer nicht selbst eine Abtreiberin kannte, kannte andere, die etwas wussten. Es kursierten praktisch überall Informationen darüber: innerhalb von Familien, unter Freund*innen, Nachbar*innen, Schüler*innen und Arbeitskolleg*innen – und an diesem Austausch waren sowohl Frauen als auch Männer rege beteiligt. Frauen, die bereits Kinder hatten, wandten sich in der Regel als Erstes ratsuchend an ihre Hebammen.« (S. 66)

Die Autorin deklariert, wie gesagt, ihre politische Position, die sowohl ihre Wortwahl als auch ihre Auswahl der Quellen erklärt. Anderes ist unverständlich: Warum erwähnt sie lediglich ein einziges Mal und nur in einer Fußnote das Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch (MUVS) in Wien, das seit rund 20 Jahren Unmengen von Objekten, Büchern und Dokumenten zusammengetragen hat? Schwer vorstellbar, dass die Autorin niemals einen Blick riskiert hat, um ihr Wissen zu erweitern oder ihre Vermutungen zu überprüfen, beispielsweise zu den erwähnten »Schautafeln«, auf denen die gängigen Abtreibungsinstrumente dargestellt waren, damit die Beamten bei den Ermittlungen wussten, worauf sie achten sollten (S. 122). Unsachlich und unnötig ist die Anprangerung und Ausgrenzung des Wiener Gynäkologen Christian Fiala wegen seines kritischen Hinterfragens der Maßnahmen während der Corona-Pandemie (S. 7), weil sich daraus kein Zusammenhang mit seinem Engagement für die Freigabe der Abtreibung, für die Kostenübernahme von Verhütung und Abtreibung sowie zu seinen Forschungen für die laufende Verbesserung von Abtreibungsmethoden erkennen lässt. Und mit dem Terminus »Abtreibungsarzt« übernimmt sie die abwertende Diktion der religiösen Fundamentalisten, gegen deren Aktivitäten sie sich ja eigentlich wendet. Hier scheint Köchl persönliche Antipathien über die Tatsache gestellt zu haben, dass die beiden eigentlich in so vielen Punkten am selben Strang ziehen.

Sylvia Köchl hat ihre Untersuchungen mit Akribie und Sachverstand durchgeführt. Da passieren auch manchmal kleine Fehler, etwa ihre Wortschöpfung »Skartierungslisten« (S. 14), mit der sie die Arbeitsprotokolle des Wiener Stadt- und Landesarchivs meint. Der Embryo gilt medizinisch erst ab der elften Schwangerschaftswoche als »Fötus« – und nicht bereits ab der neunten Schwangerschaftswoche (S. 94). Diese Kritik soll Köchls verdienstvolle Arbeit in keiner Weise kleinreden, aber Leserinnen und Leser bei eigenen Forschungsvorhaben vor vermeidbaren Irrtümern und Sackgassen bewahren.

Viele Menschen versuchen, so viel wie möglich über ihre Vorfahren herauszufinden. Nicht selten klaffen aber Lücken, die Rätsel aufgeben. Warum ›verschwand‹ eine Tochter oder Frau? Warum war die Reihenfolge der Geburten offenbar ›gestört‹? Warum gab es unerklärliche Selbstmorde in frühem Alter etc.? Doch Abtreibungen und Neugeborenentötungen wurden in den meisten Familien totgeschwiegen, sodass Familienforscher*innen diese Möglichkeit gar nicht bewusst ist. Sie werden bei der Lektüre von Köchls Buch ein großes Aha-Erlebnis haben, weil sich plötzlich eine mögliche Erklärung für das Fehlende eröffnet. Dies ist nur eine der Zielgruppen, die großen Gewinn aus Köchls Buch ziehen werden. Die einfühlsame Beschreibung der Lebensumstände armer Frauen in Notlagen eröffnet Einblicke, die ansonsten nur schwer zugänglich sind: Wie haben ›Arme‹ gelebt – und vor allem arme Frauen? Köchls Buch gibt wertvolle Antworten.

 

Zitierempfehlung

Susanne Krejsa MacManus, Rezension zu: Sylvia Köchl, Delikt Abtreibung. Frauenarmut, ungewollte Schwangerschaften und illegale Abbrüche, Mandelbaum, Wien 2024, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81991.pdf> [27.5.2024].

 

[1] Zit. nach URL: <https://www.jusline.at/gesetz/stgb/paragraf/97> [15.5.2024].

[2] Zit. nach Austria Presse Agentur, Meldung 1.182 vom 25.11.1955.

[3] Vgl. Katharina Riese, In wessen Garten wächst die Leibesfrucht. Das Abtreibungsverbot und andere Bevormundungen, Wien 1983, S. 113 (dort Zitat: »Keine von den Frauen ist ernsthaft erkrankt, die Vorsicht ging so weit, daß bei den auswärtigen Fällen eigene Blutstillungsmittel mitgegeben wurden […].«).

Gerhard Paul, Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte

wbg Theiss | Darmstadt 2023 | 600 Seiten, gebunden | 60,00 € | ISBN 978-3-8062-4615-5

rezensiert von

Miriam Zlobinski, Berlin

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Rechtzeitig zum 75. Geburtstag der Bundesrepublik nähert sich mit Gerhard Paul ein renommierter Vertreter der Visual History ihrer Bilderwelt an. Seine zahlreichen Publikationen, darunter das Opus Magnum »Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel« mit 760 Seiten und über 900 Abbildungen, belegen eindrucksvoll sein weit reichendes Verständnis von Visualität.[1] Paul definiert die Visual History als ein Forschungsfeld, dass »Bilder in einem weiten Sinne sowohl als Quellen als auch als eigenständige Gegenstände der historiografischen Forschung betrachtet und sich gleichermaßen mit der Visualität von Geschichte wie mit der Historizität des Visuellen befasst.«[2] Der nun vorliegende Band umfasst 75 Jahre Geschichte und bietet auf 600 Seiten mit über 500 Abbildungen abermals eine umfangreiche Materialsammlung. Herausgekommen ist eine vielschichtige Zwischenbilanz der bundesrepublikanischen Bilderwelt.

Die visuelle Geschichte der Bundesrepublik zwischen zwei Buchdeckeln manifestieren zu wollen, legt den Versuch einer Kanonbildung nahe. Paul beginnt jedoch die Geschichte im Sprachbild des Familienalbums und vermittelt dadurch eine besondere Nähe zum Untersuchungsgegenstand: »Die Geschichte unserer alten Dame ist in einem Album mit vielen schwarz-weißen und noch mehr farbigen Bildern festgehalten.« (S.15) Der Autor, Jahrgang 1951, kann und will sich seiner visuellen Zeitzeugenschaft nicht entziehen. So stellt Paul gleich zu Anfang fest, dieses Buch sei »keine Widerspiegelung der Bildgeschichte der Republik und schon gar keine repräsentative.« (S.18) Zugleich verweist der Einstieg indirekt auf die kritische Sichtweise des Historikers Habbo Knoch, der 2009 seine Thesen zum »kollektiven Bildhaushalt« der Bundesrepublik als »Album mit Unschärfen« betitelte.[3]

Paul greift für die Gliederung seines Bandes auf politische Intervalle zurück und teilt die betrachteten 75 Jahre in »Bonner Republik« (bis 1989), »Berliner Republik« (ab 1990) und »Ampelrepublik« (ab 2021) ein. Die ersten beiden Intervalle entsprechen gängigen Zäsursetzungen in der Zeitgeschichte. Die »Ampelrepublik« erscheint noch ohne historischen Abstand als weitere Zäsur im Buch. Laut Autor verkörpert die »Ampelrepublik« neue »Identitätspunkte« wie »die ökologische Transformation der Wirtschaft, eine neue feministische Außenpolitik, eine antikoloniale Identität sowie Diversität und geschlechtliche Gleichstellung.« (S.17) Thematisch verfolgt der Autor die Geschichte der Bundesrepublik auf drei Ebenen: der »ästhetischen Selbstdarstellung der jeweiligen Republik«, »der Geschichte der bildenden Kunst, der Kunstfotografie und der technischen und elektronischen Bildmedien« sowie der »Bildpraxen«. Dieser Ansatz verweist laut Autor auf den Zusammenhang zwischen den betrachteten Medien und der »kollektiven Identitätsfindung und -bildung« (S.16). Paul versteht die visuelle Geschichte als eine umfassende Bilderwelt, die sich aus Kunstwerken, Bauwerken und verschiedenen Medien wie Fotografien, Plakaten, Film-Stills, Printmedien, Fernsehbildern und Plattformbildern zusammensetzt. So zeigt das Buch zugleich, wie sich die medialen Techniken im Laufe der Jahrzehnte verändert haben und in welchem Neben- und Miteinander verschiedene mediale Einflüsse stehen: vom Plakat und der Zeitung über das Fernsehen bis zum digitalen Zeitalter in einer Welt omnipräsenter Medien. Paul stützt sich hierfür auf Ausstellungskataloge und einschlägige Bildarchive, auf tagesaktuelle Berichterstattung in Print und Fernsehen sowie auf seine eigene stattliche Bildersammlung.

Besonders interessante Zusammenhänge zwischen Bild und Symbolik, technischen Entwicklungen und Publikationsformen ergeben sich für den Zeitraum der Bonner Republik. Hier greift Paul auf die von der Visual History katalysierten Forschungsansätze zur Film-, Fernseh- und Fotogeschichte zurück. Dabei werden unterschiedliche Ebenen der Bildanalyse aufgezeigt. Das Bildmaterial dient zum einen als Quelle für die Verortung gesellschaftlicher Normen und Vorstellungen. Zum anderen schreibt Paul auch eine Beziehungsgeschichte der zeitgenössischen Visualitäten, indem er u.a. auf Funktionen und Bedingungen der jeweiligen Medien eingeht. Ein gutes Beispiel dafür ist das Kapitel »Vom Zuschauer zum Teleflaneur« (S. 124-160). Entsprechend haben die verwendeten Abbildungen im Buch teils eher illustrativen, teils einen belegenden und teils einen eigenständigen Objektcharakter mit kontextualisierenden Qualitäten. Dabei lässt sich fragen wie »jugendlich, braungebrannt« Willy Brandt nun wirklich war, wenn die Rezensentin im Buch auf vier Schwarz-Weiß-Fotografien und ein dezent koloriertes Wahlplakat eines gestandenen Herren schaut, dessen Gesicht hier eher den Farbton »Eierschale« hat (S.49). Eine Petitesse der Bildredaktion oder treffen hier bereits unterschiedliche Bildgedächtnisse aufeinander?

Eine besondere Stärke des Buches besteht darin, zeitgenössische Sichtweisen und übergeordnete Betrachtung mithilfe von lokalen und persönlichen Beispielen zu verknüpfen. Die visuelle Geschichte der Bundesrepublik lebt von symbolhafter Visualität einzelner Motive wie ganzen Konzepten der Darstellung. Dies fließt bei Paul in das Buch ein, indem er in 21 Einzelanalysen nah am Objekt den symbolischen Gehalt der Bilder und dessen Verschiebungen unter verschiedenen Aspekten erörtert. So wird etwa das HB-Männchen zwischen den rauchenden heroischen Darstellungen von Camel und Marlboro eingeordnet (S.196). Das Atom-Ei von Garching wiederum diente in der Modefotografie und auf Wahlplakaten als »Fortschrittsikone« und architektonischer Hinweis auf eine bessere Zukunft, bevor der Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 zu einer Umdeutung führte (S.189-191). Auch ein Bild aus Pauls eigenem Familienalbum findet sich unter den Beispielen. Das unverfängliche Familienbild zeigt eindrucksvoll, wie selbst aus Familienfotos die Spuren des Nationalsozialismus verschwanden. Das unbeschnittene Original zeigte ein Hitler-Porträt an der Küchenwand, im überlieferten Familienalbum verschwand dieser Teil des Fotos (S.107). Bereits in den Publikationen »Bilder einer Diktatur« und (gemeinsam mit Michael Wildt) im Band »Nationalsozialismus« der bpb-Reihe »Zeitbilder« hatte Paul vor der Schablone der weiterlebenden propagandistischen Bilderwelt eindrucksvoll gezeigt, dass und wie Bilder eine eigene Realität generieren.[4]

Während Paul seinen Untersuchungsgegenstand inhaltlich mit der »Ampelrepublik« bis an die unmittelbare Gegenwart heranführt, bleiben jüngere methodische und bildethische Debatten im Buch unerwähnt, obwohl sich etwa künstlerische Interventionen an kolonialen Bildbeständen mittlerweile etabliert haben. Gerade bei den neueren Beispielen zieht das Erzähltempo an, zu Lasten der konkreten Kontextualisierung am Bild. Verkürzt wirkt etwa Pauls Argumentation im Fall der Politikerin Aminata Touré, die laut ihm zum »personalisierten Ausdruck« eines »neuen Diversity-Diskurses« wurde (S.524f.). Gezeigt wird das Vogue-Cover mit ihrem Porträt; doch eine Thematisierung von Selbstermächtigung im Bild, der Tradition der Politikerinnen-Darstellung, der Fotografin oder der Symbolkraft dieses Aktes, wie sie durch die Besprechungen zum Vogue-Cover von Kamala Harris vielen Leser*innen noch präsent sein mag, findet nicht statt. Eine Betrachtung oder ein Kommentar zur visuellen Darstellung von schwarzen Bundesbürger*innen fehlt.

Das Buch »Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte« ist weitaus vielschichtiger, als es ein Jubiläumsrückblick gemeinhin verspricht, und bietet eine beeindruckende Materialfülle. Die kontextualisierenden Darstellungen im Sinne einer Visual History überzeugen vor allem für Medien wie Fotografie und Fernsehen, insbesondere im Bereich der politischen Darstellungskonventionen. Pauls Wissens und Leistung sind beeindruckend. Aus der Perspektive der jüngeren Forschung lässt die gewählte Betrachtung aber auch Bedürfnisse offen. So benennt Paul etwa selbst die Unterrepräsentation von Arbeitsmigrant:innen in der Bundesrepublik (S. 103), präsentiert jedoch selbst auch keine Fotograf:innen aus eben dieser Gruppe, obwohl private Fotopraktiken ebenso wie künstlerische Ausdrücke existieren. Spätestens wenn über die Zeit der »Ampelrepublik« gesprochen wird, sind auch Diskurse über Plattform-Algorithmen, »For you-Pages« (FYP) und Meme-Kultur unumgänglich. Hier scheinen die traditionellen Methoden der Bildanalyse kaum noch aussagekräftige Rückschlüsse für ein einzelnes Land zuzulassen. Inwiefern eröffnet die Visual History auch Perspektiven für eine nicht mehr rein national zu fassende Mediengesellschaft? Und in Anbetracht der zu Beginn vom Autor eingeräumten Subjektivität wäre schließlich ein selbstreflexives Fazit nützlich gewesen zur Beantwortung der Frage, wie die eigene Zeitzeugenschaft die Arbeit von Historiker:innen an der visuellen Geschichte beeinflusst.

 

Zitierempfehlung

Miriam Zlobinski, Rezension zu: Gerhard Paul, Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte, wbg Theiss, Darmstadt 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81992.pdf> [27.5.2024].

 

[1]Gerhard Paul, Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen 2016.

[2]Ders., Visual History. Version 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.3.2014, URL: <http://docupedia.de/zg/paul_visual_history_v3_de, 2014> [15.5.2024].

[3]Habbo Knoch, Album mit Unschärfen, 18.5.2009, URL: <https://www.boell.de/de/demokratie/zeitgeschichte-6780.html> [15.5.2024].

[4]Gerhard Paul, Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des »Dritten Reiches«, Göttingen 2020; ders./Michael Wildt, Nationalsozialismus. Aufstieg – Macht – Niedergang – Nachgeschichte, Bonn 2022.

Olga Sparschuh, Fremde Heimat, fremde Ferne. Italienische Arbeitsmigration in Turin und München 1950–1975

Wallstein Verlag | Göttingen 2021 | 718 Seiten, gebunden | 74,00 € | ISBN 978-3-8353-5012-0

rezensiert von

Christoph Lorke, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

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Das Buch beginnt mit einer Gegenüberstellung: Die Ankunftserfahrungen an den Bahnhöfen Turin und München, an denen Menschen aus dem Süden Italiens eintrafen, dem sogenannten Mezzogiorno oder Meridione – jenem Teil des Landes also, der Regionen wie Apulien, Kampanien, Basilikata, Kalabrien oder die Inseln Sizilien und Sardinien umfasst. In Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs in den Zielregionen kamen zahlreiche Menschen aus Süditalien in die Industriezentren Europas nördlich der Alpen (Frankreich, Schweiz, Bundesrepublik) oder in das industriell geprägte Dreieck aus den norditalienischen Städten Genua, Mailand und Turin. Schätzungsweise neun Millionen Italiener migrierten zwischen Mitte der 1950er- und den frühen 1970er-Jahren innerhalb Italiens; noch einmal etwa zwei Millionen wanderten in dieser Zeit in die Bundesrepublik aus. Diesen Befund nimmt Olga Sparschuh in ihrer Dissertation zum Anlass, die Bedingungen und Ausformungen dieser Migrationsbewegungen analytisch miteinander zu vergleichen. Eine solche Annäherung an das Thema erscheint zunächst ungewöhnlich, erweist sich jedoch als ein innovativer und weiterführender Zugriff – denn beide migrantischen Gruppen wurden an ihrer neuen Wirkungsstätte als »Fremde« begriffen. Auch bei einer Binnenwanderung innerhalb Italiens mussten nicht allein geographische, sondern immer auch teils erhebliche soziale und kulturelle Grenzen überschritten werden. Obwohl die Menschen hier inländische Arbeiter, dort ausländische »Gastarbeiter« waren, erscheinen folglich ihre Lebenswirklichkeiten und ihre Verständnisschwierigkeiten in der »Fremde« als durchaus vergleichbar.

Mit Turin und München nimmt Sparschuh zwei europäische Großstädte in den Blick, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges große Bevölkerungszunahmen erlebten: Turin, wichtigstes Ziel der inneritalienischen Binnenmigration, wuchs zwischen 1951 und 1961 von 719.000 auf über eine Million Einwohner, München im selben Zeitraum von 855.000 auf ebenfalls knapp über eine Million. Waren unter den Bewohnern von Turin schon 1971 mehr als ein Viertel im Mezzogiorno oder auf den Inseln geboren worden, betrug die Zahl der italienischen Arbeitnehmer in München im Jahr 1974 knapp 30.000 Menschen. In beiden Städten herrschte ein großer Bedarf an industriellen Arbeitskräften, allen voran in der Automobilindustrie (FIAT, BMW, MAN) und anderen Zweigen der Schwerindustrie.

Sparschuh nähert sich ihrem Untersuchungsgegenstand auf einer breiten Quellgrundlage. Knapp 20 Archive in München, Turin und Rom wurden konsultiert, um die kommunale, die staatliche, die betriebliche, die kirchliche und die gewerkschaftsnahe Überlieferung zu rekonstruieren. Auf dieser Grundlage entwirft das Buch in zwei Abschnitten mit insgesamt fünf Kapiteln, deren Befunde jeweils in einer Zwischenbilanz resümiert werden, ein facettenreiches Bild unterschiedlicher Lebensbereiche der Migranten, wie Arbeit, Freizeit, Konsum und Wohnen.

Zunächst werden im Abschnitt »Ankunft« die jeweiligen Migrationsregime auf das Funktionieren ihrer Steuerungs- und Kontrollversuche hin analysiert, wozu rechtliche Regelungen ebenso wie städtische Handlungspraktiken gezählt werden. Besonders auffällig sind dabei die Unterschiede bei der Arbeitsvermittlung: Waren die Wege in die Bundesrepublik nicht zuletzt durch das Anwerbeabkommen von 1955 »geregelter« (wobei Arbeitsmigranten bestehende Lücken durchaus für ihre Interessen nutzen konnten), spielten bei der Binnenmigration personelle Netzwerke und die Kettenmigration eine bedeutsame Rolle. Das Ergebnis war, dass sich Arbeitsmigranten in der Binnenmigration oftmals in einer »semilegalen Randposition der Gesellschaft« (S. 97) befanden. Parallelen zwischen Turin und München gab es dagegen beispielsweise beim grundsätzlichen Umgang der amtlichen Akteure mit der Migration: Dominierte zunächst das Streben nach Regulierung, setzte ab den 1960er-Jahren ein Wechselspiel aus Liberalisierung (EWG-Freizügigkeit) und Kontrollwünschen ein. Zugleich wurde Migration hier wie dort seit den ausgehenden 1960er-Jahren zunehmend in gesellschaftlichen Debatten problematisiert. Auffällig ist ein ähnliches Reagieren der Kommunen auf die Herausforderung der Migration, wobei es sich an beiden Orten immer an den lokalen Erfordernissen orientierte. Je nach Bedarf wurden liberalere oder restriktivere Maßnahmen ergriffen, die nicht immer im Einklang mit nationalen oder europäischen Vorkehrungen stehen mussten. Einengender als in München war in Turin sicherlich, dass sich die Migranten dort aufgrund eines Gesetzes aus faschistischer Zeit nicht ohne Weiteres niederlassen durften, es sei denn, sie besaßen ein Arbeitsangebot.

Ein weiteres Kapitel im Abschnitt »Ankunft« behandelt die zeitgenössischen Vorstellungswelten. Hier widmet sich die Autorin den Wissensbeständen und Alltagsrealitäten, aber auch den Identitäten sowie den Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Migranten. Die Ankunftsbedingungen waren in beiden europäischen Metropolen von überkommenen Klischeevorstellungen über »Nord« und »Süd« bzw. »Stadt« und »Land« geprägt. Diese schlugen sich auch in der Presseberichterstattung und in Teilen der Bevölkerung nieder, wobei laut Sparschuh in Turin eine Regionalisierung bzw. (Sub-)Nationalisierung von Zuschreibungen vorgeherrscht habe. Sparschuh beschreibt die Problemwahrnehmung in der italienischen Presse als tendenziell größer als in der bundesrepublikanischen Presse, wo zunächst eine Willkommenshaltung dominierte, die (ungeachtet von topischen Verweisen auf Kriminalität und andere, ähnlich abwertende Deutungsmuster) grundsätzlich im Vergleich positivere, von Tourismus und Gastronomie geformte Interpretationen bereithielt und in eine »Art Neuerfindung« (S. 257) der Migranten mündete. Interessant ist dann auch der Vergleich für die weiteren Jahre: Während Italiener in München im Laufe der Jahre in ihrer quantitativen Bedeutung allmählich von Türken und Jugoslawien abgelöst wurden und sich ihr Image dabei retrospektiv verbesserte, blieb die negative Wahrnehmung der Migranten in Turin im Großen und Ganzen konstant.

Der zweite Teil (»Lebensbereiche«) gliedert sich in drei Kapitel: Zunächst werden Beschäftigungsmodi und Arbeitswelten der Migranten vorgestellt. Darunter werden unter anderem der Fabrikalltag und Konflikte am Arbeitsplatz, aber auch politische Partizipationsmöglichkeiten im Betrieb, konkret durch die Mitarbeit in Gewerkschaften, sowie Protestverhalten und Streiks gefasst. Letztere waren in Zeiten von Vollbeschäftigung noch weniger problematisch, was sich aber im Zuge der in Turin wie München spürbaren Rezession von 1966/67 und späterer Krisen in den frühen 1970er-Jahren änderte. Dabei zeigten sich die Gewerkschaften im Umgang mit migrantischen Streikaktionen hin- und hergerissen zwischen Solidarität mit den ausländischen Kollegen und der Berücksichtigung der Stimmung unter ihren ›eigenen‹ Arbeitern. Relevant waren für die Migranten auch Aufstiegsversprechen durch betriebliche oder kommunale Angebote der Aus- und Weiterbildung. Die Ungleichbehandlung zwischen migrantischen und »heimischen« Arbeitnehmern aufgrund vorhandener Qualifikationsunterschiede arbeitet Sparschuh durchaus markant heraus, regelrecht zweigeteilte Arbeitsmärkte seien dadurch entstanden. Hier wie dort verknüpften sich dabei Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt nicht nur mit der regionalen, sondern auch der sozialen Herkunft. Erwähnenswert ist, dass Migranten in Turin offenbar noch häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen angestellt wurden als in München, weil die deutschen Arbeitgeber eher langfristige Arbeitsverträge bevorzugten.

Für den Freizeitbereich hebt die Autorin die schon früh wichtige Rolle der Kirchen und Wohlfahrtsverbände hervor. Erst später wurden auch die Kommunen und Betriebe verstärkt aktiv, deren Maßnahmenspektrum Sparschuh entlang der Begriffe Assimilation, Integration, Exklusion und Segregation ordnet. Mit Blick auf die Konsummuster der Migranten zeichnet sie ein Bild beschränkter Möglichkeiten. Die Kontaktmöglichkeiten mit Einheimischen etwa blieben begrenzt, weil sich viele Migranten in Bars und Gaststätten nicht willkommen fühlten. Diese wichtigen Hinweise auf alltagsgeschichtlich relevante Belange finden ihre Fortführung in der Betrachtung politischer Partizipationsstrukturen, die sich durch Vereinsgründungen in Stadt und Umland sowie migrantische Interessensvertretungen ergaben. Dieses Kapitel bleibt in gewisser Hinsicht disparat, wobei sich sowohl in Turin als auch in München Tendenzen der Segregation und ein eher zögerliches Aneignen der Stadtgesellschaft durch die Migranten zeigen.

Prozesse der Segregation finden sich auch im Kapitel über die Unterkünfte der Arbeitsmigranten, die anfangs in Turin wie München einen eher provisorisch-kurzfristigen Charakter trugen. Erst mit der Zeit entwickelten die Städte und die Unternehmen Lösungen für dieses Problem, die dann aber teils eher halbherzig umgesetzt wurden. Den Arbeitsverträgen zum Dank, waren die Unterkünfte in München in der Regel besser, bei aller Einfachheit. Eindrücklich beschreibt Sparschuh die Diskriminierungserfahrungen, die Arbeitsmigrantinnen in beiden Städten auf dem Wohnungsmarkt machten, als sie im Laufe der 1960er-Jahre verstärkt begannen, sich eigenständig auf Wohnungssuche zu begeben. Das erzwungene Ausweichen auf Wohnlagen am Rande der Stadt – wie Hasenbergl in München – aber auch das Wohnen in maroden Altstadtvierteln führten schnell zu Ghetto-Diskussionen, die mit allerlei überkommenen Stereotypen angereichert waren.

Die Studie, die indirekt auch viel über das Entstehen und Fortwirken sozialer Ungleichheiten im Stadtraum erzählt, berührt viele wichtige Themen, die für die Migrationsgeschichte von weiterführender Bedeutung sind. Dazu gehört etwa die Aushandlung von Zugehörigkeiten und den damit verbundenen Vorstellungen von »Eigen« und »Fremd«. Wo der europäische Kontext der Arbeitnehmerfreizügigkeit berührt wird, ergibt sich ein wichtiger Aktualitätsbezug zu fortlaufenden Debatten, zu deren historisierender Perspektivierung das Buch beitragen kann. Die Darstellung hat in Teilen ihre Längen, ist aber nicht zuletzt deswegen reizvoll, weil sie nationalstaatliche Rahmungen analytisch gewinnbringend herausfordert. Sie kann als Plädoyer verstanden werden, komparative Stadtgeschichte für die historische Erforschung moderner Migrationsbewegungen zu nutzen. Denn gerade der lokalgeschichtliche Fokus und der Vergleich örtlicher Migrationsregime vermag es, wie hier eindrücklich aufgezeigt, nicht nur städtische Eigendynamiken nachzuvollziehen, sondern davon ausgehend interpretatorische Angebote für die Historisierung der Europäischen Migrationsgeschichte zu formulieren.

 

Zitierempfehlung

Christoph Lorke, Rezension zu: Olga Sparschuh, Fremde Heimat, fremde Ferne. Italienische Arbeitsmigration in Turin und München 1950–1975, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81993.pdf> [27.5.2024].

Anna Strommenger, Zwischen Herkunft und Zukunft. »Heimat« in der Sozialdemokratie vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik

(Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 250)

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2023 | 381 Seiten, gebunden | 65,00 € | ISBN 978-3-525-37106-0

rezensiert von

Vincent Dold/Imogen Wilkins, Humboldt-Universität zu Berlin

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Anna Strommenger untersucht im vorliegenden Buch, hervorgegangen aus ihrer Dissertation, die politischen Implikationen sozialdemokratischer Heimat-Bezüge im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Mit reformorientierten Akteuren der Weimarer SPD und des sozialistischen »Natur«-Milieus wie der deutschen Sparte des »Touristenvereins ›Die Naturfreunde‹« fokussiert ihre Studie auf die national integrierte und mit kulturpolitischer Gestaltungsmacht ausgestattete Sozialdemokratie primär der 1920er-Jahre. Vor dem Hintergrund der geläufigen Topoi bürgerlich-konservativer Vergangenheitsbezüge zielt Strommenger auf neue Erkenntnisse »für die geschichtswissenschaftliche Einschätzung der Sozialdemokratie einerseits, der gesellschaftlichen Heimat-Konjunkturen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert andererseits« (S. 10). In Anknüpfung an den aus der englischsprachigen Forschung stammenden methodischen Ansatz, Heimat als »modern imagining« zu konzeptualisieren, unternimmt Strommenger eine um die Sozialdemokratie erweiterte Pluralisierung der historischen Heimat-Bezüge.[1] Damit trägt sie zugleich zu einem differenzierten Verständnis sozialdemokratischer Zugehörigkeitsvorstellungen und Zugehörigkeitspraktiken zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik bei.

Die Arbeit ist entlang der analytischen Kategorien »Räume der Heimat«, »Zeiten der Heimat« und »Zugehörigkeit und Heimat« in drei Hauptkapitel gegliedert, wobei jeweils auf eine problemorientierte geschichtswissenschaftliche Einbettung eine Untersuchung von Semantiken und Praktiken folgt. Eingerahmt werden diese drei Kapitel von einem Prolog zur Genese der Heimatdiskurse bis zur Novemberrevolution und einem Epilog zur Zuspitzung der Debatten um Heimat im Übergang zum Nationalsozialismus. Der gelungene räumliche Zuschnitt der Untersuchung auf die zwei Regionen Pfalz (mit einem Fokus auf den Raum Ludwigshafen) und Sachsen (mit einem Fokus auf den Großraum Dresden, insbesondere Freital) erlaubt es, »zentrale Kernpunkte und typische Verwendungsweisen« sozialistischer Heimat-Konzepte anhand eines breiten Samples von Quellen unterschiedlichster Gattungen aufzuzeigen (S. 19). Neben lokalen Archivalien finden sich überregionale politische und literarische Schriften, Zeitschriften und regionale Tageszeitungen, Arbeiterkalender, Maipostkarten, Fotografien und Arbeiterlieder- bücher. Zentriert werden diese Quellen durch einen Fokus auf regionale SPD-Bezirke und sozialdemokratische Kommunalpolitiker sowie auf die lokale und regionale Arbeiter- kulturbewegung.

Beginnend mit Heimat-Räumen, untersucht Strommenger, wie lokale, regionale und nationale Räume als materielle Realitäten diskursiv gedeutet und praktisch verändert wurden. Sie betont, dass die durch die Novemberrevolution angeeigneten Heimat-Räume nicht statisch, sondern als veränderbare Orte konzipiert waren. Die Republik sollte in der Region verankert und damit zur Heimat werden. Dass in den Unterkapiteln Diskurse und Praxen getrennt untersucht werden, ist ein nachvollziehbarer Ordnungsversuch. Vor allem im ersten Unterkapitel führt dies aber dazu, dass Praktiken primär als Umsetzungen, Spiegelungen und Abbildungen von Diskursen untersucht werden. Das anvisierte »Wechselverhältnis« (S. 113) zwischen Semantiken und Praktiken bleibt hier mehr Behauptung als Befund, obschon Strommenger ihrem Quellenmaterial, etwa zu den Naturfreunde-Ausstellungen in der Pfalz, durchaus geeignete Befunde für diese Frage abgewinnt. Die Analyse dieses Materials hätte stellenweise genauer ausfallen und auch von einer tieferen Einbettung in bestehende Forschungsdiskussionen profitieren können, zum Beispiel in der dennoch bemerkenswerten Wiederentdeckung früher sozialdemokratischer Heimat-Ausstellungen in Freital. Vorrangige Referenzpunkte der Untersuchung bleiben an dieser Stelle diskursive Großnarrative wie der »Gegensatz zwischen Natur und Geschichte« (S. 142). Tatsächlich konnten aber Natur, Heimat und Modernisierung gerade durch die Praxis naturgeschichtlicher Heimatforschung in ein äußerst produktives Verhältnis gebracht werden, wie jüngst Nils Güttler am Beispiel des im Kaiserreich sozialpolitisch engagierten Heimatforschers Wilhelm Kobelt und seiner Arbeit am »Heimat-Raum« Rhein-Main gezeigt hat.[2]

Heimatbezüge zeichneten sich nach 1918 durch eine zunehmende Gegenwartsorientierung aus, wie Strommenger im zweiten Hauptkapitel argumentiert. Im Kaiserreich galten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch als Abfolge, bei welcher die Arbeiterschaft zunächst durch das vormoderne Heimatrecht exkludiert wurde, dann in der Arbeiterbewegung eine temporäre Übergangsheimat findet, aber erst in der Zukunft in einer sozialistischen Heimat endgültig aufgehoben sein würde. Dieses Verständnis von Heimat differenzierte sich je nach (kultur-)politischen Handlungsmöglichkeiten und entlang eines vervielfältigten Zeitbezugs der Akteure aus. In der »Hochphase des gegenwartsbezogenen Heimat-Verständnisses« (S. 227) orientierten sich Zeitschriftenbeilagen wie die von Hans Loschky konzipierten pfälzischen Blätter »Bei uns Daheim« und »Die Welt der Kleinen« an den Prinzipien bürgerlicher Heimatkunde. Durch die »Adaption etablierter kultureller Formen« (S. 230) näherte sich die sozialdemokratische Praxis trotz diskursiver Abgrenzung dem bürgerlichen Heimatbezug an.

Das dritte Hauptkapitel untersucht heimatbezogene Zugehörigkeitsvorstellungen der Sozialdemokratie unter der Frage, wie der spezifisch sozialistische Heimatbegriff – »die Hoffnung auf eine versöhnte und sichere, noch in der Zukunft liegende internationalistische Heimat« (S. 277) – im Verhältnis zu einem auf die Demokratisierung von Regional- und Nationalräumen ausgerichteten Heimatbegriff einerseits und politisch rechtslastigen, völkischen Auslegungen des Begriffs andererseits zu gewichten ist (eine Frage, die im Epilog gelungen weiterentwickelt wird). Strommenger konstatiert, dass um 1930 herum anstelle der ehemals dominierenden »Zukunftsorientierung« des sozialdemokratischen Heimatbegriffs auch in der Arbeiterbewegung Vorstellungen dominant wurden, die diskursiv »Elemente des Nationalsozialismus vorwegnahmen« (S. 278). Damit war die 1918 noch integrativ wirkende »Bedeutungsoffenheit und begriffliche Ambivalenz« (S. 333) des Heimatbegriffs gegen Ende der Weimarer Republik einem politischen Konfliktfeld gewichen, gerade weil sich mit ihm so unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe verbinden ließen. Die Untersuchung der »Heimat-Praktiken« (S. 326) des Wanderns, der Heimat-Fotografie sowie einzelner Facetten sozialdemokratischer Volks- und Geschichtskultur hätte noch die Frage nach den sozialdemokratisch hergestellten Gemeinschafts- und Exklusionserfahrungen bereichern können – nicht zuletzt in Hinblick darauf, welche sozialen Hierarchien durch die sozialdemokratische Heimat-Praxis produziert bzw. reproduziert wurden.

Resümierend hält Strommenger fest, dass die »Schnittstellen zwischen Sozialdemokratie und bürgerlicher Heimatbewegung« überraschend ausgeprägt waren und die Heimatbewegung somit als politisch vielfältiger verstanden werden muss, als bisher angenommen wurde (S. 343). Zugleich kann sie die Sozialdemokratie als einen Akteur der »Politisierung von Heimat in der deutschen Gesellschaft« identifizieren, weshalb die sozialdemokratischen Heimat-Bezüge nicht als ein »separates Additivum« sondern als zusätzliche Dynamisierungen der Heimat- bewegung(en) zu verstehen seien (S. 343f.).

Es sei kritisch angemerkt, dass die politischen Konflikte um das Heimat-Konzept innerhalb der Sozialdemokratie eine ausführlichere Besprechung verdient gehabt hätten. Durch die Begrenzung auf den reformorientierten Teil der Arbeiterbewegung und den zeitlichen Fokus auf die 1920er-Jahre werden diese teilweise ausgeklammert. Die marxistische Vorstellung, dass die globale Dimension des Kapitalismus eine heimatlose und damit weltrevolutionäre internationale Arbeiterklasse herstelle, wird vorrangig in der nur knapp betrachteten Zeitphase des Kaiserreichs verortet. Gegenläufige nationalistische Tendenzen und Praxen der Heimatverbundenheit in der Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg finden ebenso nur beiläufig Erwähnung wie kommunistische Strömungen, die auch nach Ende des Ersten Weltkriegs an weltrevolutionären Ambitionen festhielten. Strommenger hätte ihre Befunde durchaus noch stärker in Beziehung zur Forschung über Nationalismus und Internationalismus in der langen Geschichte der Arbeiterbewegung setzen können.[3]

Mit Blick auf die Zuspitzung der Konflikte um das Heimat-Konzept gegen Ende des Untersuchungszeitraums weist Strommenger zwar darauf hin, dass zentrale Akteure wie Hans Loschky (der unter dem NS-Regime an der Kinderbeilage »Wir sprechen deutsch« beteiligt war) sowie Karl und Robert Söhnel »auch in den eigenen Reihen in die Kritik« gerieten (S. 325). Welche Rolle aber sozialdemokratische Heimatverständnisse für eine mögliche Anpassung an das NS-Regime spielten, oder ob sie umgekehrt auch eine Ressource für widerständige Haltungen und Praxen sein konnten, wird nicht erörtert.

Trotz dieser Kritik ist Strommenger mit ihrer Untersuchung über sozialdemokratische Heimatverständnisse und Heimatpraktiken »zwischen Herkunft und Zukunft«, so der treffende Titel, ein aufschlussreicher, weil die zeitgenössischen Ambivalenzen sorgfältig auslotender Beitrag gelungen, an den sich vielfach anknüpfen lässt. Die Frage danach, wie sich »Heimat« verstehen, machen und damit erfahren lässt, ohne in allzu bekannte Abgründe zu stürzen, bleibt angesichts einer ungebrochenen kapitalistischen Modernisierungserfahrung aktuell.

 

Zitierempfehlung

Vincent Dold/Imogen Wilkins, Rezension zu: Anna Strommenger, Zwischen Herkunft und Zukunft. »Heimat« in der Sozialdemokratie vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81995.pdf> [27.5.2024].

 

[1] Vgl. Celia Applegate, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990.

[2]Nils Güttler, Nach der Natur. Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen, Göttingen 2023, S. 66-79.

[3] Vgl. Talbot Imlay, The Practice of Socialist Internationalism. European Socialists and International Politics, 1914-1960, Oxford 2017; Gleb J. Albert, Das Charisma der Weltrevolution, Revolutionärer Internationalis- mus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917–1927, Köln 2017.

Larissa Wegner, Occupatio Bellica. Die deutsche Armee in Nordfrankreich 1914–1918

(Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 36)

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 522 Seiten, gebunden | 48,00 € | ISBN 978-3-8353-5370-1

rezensiert von

Jakob Müller, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin

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Die vorliegende Arbeit widmet sich der deutschen Besatzung Nordfrankreichs während des Ersten Weltkriegs, ein Thema, das bisher vor allem aus der Perspektive der Besetzten erzählt wurde. Wegner macht es sich nun zur Aufgabe, es aus Sicht der Besatzer zu beleuchten. Sie hat hierfür in großem Umfang deutsche militärische Quellen ausgewertet. Die Autorin ordnet ihre Forschung in die Debatte um die Totalisierung der Kriegsführung während des Ersten Weltkriegs ein. Nicht nur Armeen, sondern ganze Gesellschaften wurden mobilisiert und die Zivilbevölkerung in die Kriegsführung einbezogen. Hierbei drängt sich die Frage nach den Kontinuitäten auf. Welche Entwicklungen nahmen 1914 ihren Anfang und mündeten in den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs?

Nordfrankreich bietet sich für eine solche Untersuchung an, stand es doch in beiden Kriegen zu weiten Teilen unter deutscher militärischer Besatzung. Beim Einmarsch 1914 kam es zu Massakern an Zivilisten, die verdächtigt wurden als »Franktireure« in die Kampfhandlungen eingegriffen zu haben. Unter der Kontrolle des Militärs wurden nicht nur Landwirtschaft und Industrie von der Besatzungsmacht für ihre Zwecke eingesetzt, sondern auch die Arbeitskraft der Nordfranzosen. Arbeiter wurden nach Deutschland deportiert und in den berüchtigten Zivil-Arbeiter-Bataillonen mussten Zivilisten auch unmittelbar hinter der Front Zwangsarbeit leisten. Bei ihren Rückzügen 1917 und 1918 verwüsteten die Deutschen zudem ganze Landstriche. Letzteres klammert Wegner als vorwiegend militärtaktische Maßnahme allerdings aus der Untersuchung aus.

Mögliche Kontinuitäten zum Zweiten Weltkrieg spielen in der Untersuchung eher eine untergeordnete Rolle, stattdessen behandelt sie die Besatzung Nordfrankreichs als Untersuchungsgegenstand eigenen Rechts. Insgesamt ist die Autorin gegenüber der These einer Radikalisierung der Kriegsführung eher skeptisch. So fanden Massaker an Zivilisten zwar zu Beginn des Kriegs statt, aber später nicht mehr. Von einer Radikalisierung könne hier also keine Rede sein, so Wegner. Im Gegenteil könne gefragt werden, ob es nicht auch Faktoren gebe, um Radikalisierungsprozesse während eines Kriegs zu stoppen. Und in der Tat, auch die Deportationen von Zwangsarbeitern wurden schließlich beendet, wofür internationaler Protest verantwortlich war, aber eben auch deutsche Verantwortliche, die für dessen Argumente zugänglich waren.

Inwieweit war also eine spezifische »military culture« für das deutsche Vorgehen verantwortlich? Diese von Isabel V. Hull formulierte These wird vor allem von konservativen Militärhistorikern als Herausforderung betrachtet.[1] Wegner widmet sich dieser Frage differenziert, akribisch und ohne Polemik. Ihr Ausgangspunkt ist dabei die Debatte um eine Kodifizierung des Kriegsrechts vor dem Ersten Weltkrieg, welcher der umfangreiche erste Teil des Buches gewidmet ist.

Während die Genfer Konvention von 1864 vor allem den Schutz verwundeter Soldaten behandelte, sollten die Brüsseler Konferenz von 1874 und die Haager Konferenzen von 1899 und 1907 die Rechte und Pflichten der kriegführenden Parteien regeln. Insbesondere die Zivil- bevölkerung sollte so vor der Kriegsgewalt geschützt werden. Ob und wie sich Zivilsten an der Verteidigung gegen einen Angreifer beteiligen durften, war hierbei besonders umstritten. Die Niederlande, Belgien und die Schweiz (die Wegner etwas anachronistisch als »Kleinstaaten« tituliert) sahen als potentielle Angriffsopfer Widerstand als eine patriotische Bürgerpflicht an. Deutschland argumentierte hingegen für eine klare Trennung zwischen Zivilisten und Kombattanten, womit es keineswegs alleinstand. Auch Russland und Österreich-Ungarn vertraten diese Position. Dennoch akzeptierte auch Deutschland grundsätzlich das Recht der Bevölkerung sich gegen eine Invasion zu verteidigen, setzte ihm allerdings enge Grenzen. Eine Beteiligung an Kämpfen war nach der Haager Landkriegsordnung nur gegen einen »herannahenden« Feind zulässig, also nicht nach dem Ende der Kampfhandlungen im bereits besetzten Gebiet. Zudem wurden Zivilisten verpflichtet, sich durch Abzeichen und »offenes Tragen« der Waffen als Kombattanten kenntlich zu machen.

Wegner weist zurecht darauf hin, dass die deutsche Ablehnung des »Volkskriegs« ausschließlich opportunistischen Gründen entsprang. Zu widersprechen ist ihr allerdings, wenn sie resümiert, dass während »der Invasion Belgiens und Nordfrankreichs […] die nicht nur von den [deutschen] Militärdelegierten prophezeiten schrecklichen Konsequenzen eines Volkskrieges grausame Realität« wurden (S. 69). Erstens fand kein »Volkskrieg« statt, auch wenn sich an einzelnen Orten Zivilisten an Kämpfen beteiligten. Zweitens hatte am Entstehen der »grausamen Realität« der Massaker im August und September 1914 eine deutsche Militärdoktrin großen Anteil, welche – wie die Autorin an anderer Stelle herausarbeitet – stark von den Erfahrungen des deutsch-französischen Kriegs von 1870/71 geprägt war. Sie bestätigt damit eine These von John Horne und Alan Kramer, die in den letzten Jahren bezweifelt worden war.[2] Zudem waren die deutschen Soldaten bereits vor dem Einmarsch überzeugt auf Zivilwiderstand zu stoßen. Hierfür sorgten die Berichterstattung in der Presse, aber auch das Militär selbst. So wurden in einigen Einheiten noch im Oktober 1914 »Stricke zum Aufhängen der Franktireurs« verteilt (S. 133). Die Gewalt war also nicht die Konsequenz eines Volkskriegs, sondern vor allem Resultat einer self-fulfilling prophecy (S. 491).

Problematisch ist die Aussage, »nach heutigem Forschungsstand« lasse sich nicht abschließend klären, ob es einen »Franctireurkrieg« gab (S. 145). Die einzigen Belege für einen solchen Untergrundkrieg sind deutsche Soldatenaussagen, von denen die Autorin an anderer Stelle schreibt, dass ihnen in dieser Frage kein Beweiswert zukomme (S. 128). Was sich aus den Zeugnissen deutscher Soldaten und Dienststellen hingegen herausarbeiten lässt, ist das deutsche Rechtsverständnis, und das leistet das vorliegende Buch in erfreulicher Gründlichkeit. Es kommt zu dem Ergebnis, dass in dieser Rechtsauffassung Erschießungen ohne Gerichtsverfahren, Geiselnahmen und -hinrichtungen sowie Kollektivstrafen gegen die Bevölkerung legitimer Teil der Kriegsführung waren. Auch wenn diese Maßnahmen nicht »eindeutig völkerrechtswidrig« gewesen seien, so bliebe doch festzuhalten, dass »die deutsche Armee grundsätzlich die für die Zivilbevölkerung härteste Rechtsauslegung wählte.« (S. 218)

Diese Praxis lässt sich auch in der Verwaltung der besetzten Gebiete Nordfrankreichs erkennen. Beim Einsatz von Zwangsarbeitern, die laut Haager Landkriegsordnung nicht zu »Kriegsunternehmungen gegen ihr Vaterland« herangezogen werden durften, bewerteten die Deutschen etwa lediglich die unmittelbare Teilnahme an Kampfhandlungen als unter diese Definition fallend. Französische Arbeiter wurden daher auch zum Stellungsbau in unmittelbarer Frontnähe verwendet. Die Zustände in den Zivil-Arbeiter-Bataillonen führten zu einer hohen Sterblichkeit unter den Zwangsarbeitern, zudem kam es vielfach zu Misshandlungen durch Bewacher. An dieser Stelle hätte die Schilderung von den Zeugnissen Betroffener profitieren können, zumal andererseits viel Einfühlungsvermögen für die beteiligten Militärs gezeigt wird. Wenn es etwa heißt, die Zwangsarbeiter seien »nicht gezielt in der Feuerzone eingesetzt worden« (S. 484), oder die Zustände in den Arbeitslagern seien strukturell bedingt gewesen, ihnen habe aber »kein ›inhumaner Wille‹« zugrunde gelegen, »die Arbeiter absichtlich oder willentlich zugrunde« zu richten (S. 486), so scheint doch sehr die Perspektive der militärischen Quellen durch.

Das gilt auch für Wegners Feststellung, weder »Nahrungsentzug, ›strenger Arrest‹, noch das stunden- oder tagelange ›Stehenlassen‹ wurde[n] in der deutschen Armee als Misshandlung eingestuft, sondern waren eine übliche und als erlaubt betrachtete Disziplinierungsmaßnahme.« (S. 477) Gänzlich fehl geht die die Autorin, wenn das Setzen von Anreizen in den Lagern als Hinweis interpretiert wird, dass das System der Zwangsarbeit »weder im Großen noch im Kleinen die letzte, vollständig entgrenzende Schwelle überschritt« (S. 482). Anreize und Privilegien waren sogar im NS-Lagersystem bewährte Mittel.

Trotz dieser Kritikpunkte ist »Occupatio Bellica« eine gelungene Studie zur deutschen Besatzung Nordfrankreichs während des Ersten Weltkriegs. Künftige Studien etwa zu Kontinuitäten zur Besatzungspraxis von 1940 bis 1944 können auf ihr aufbauen. Die Autorin arbeitet überzeugend heraus, dass trotz einer grundlegenden Skepsis das Kriegsvölkerrecht eine wichtige Richtlinie für das Handeln der deutschen Truppen und der Besatzungsverwaltung darstellte. Die Analyse des deutschen Vorgehens gegen vermeintliche »Franktireure« ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte über die »German Atrocities« von 1914.

 

Zitierempfehlung

Jakob Müller, Rezension zu: Larissa Wegner, Occupatio Bellica. Die deutsche Armee in Nordfrankreich 1914–1918, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81994.pdf> [27.5.2024].

 

[1]Isabel V. Hull,Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005; vgl. dagegen Peter Lieb, Der deutsche Krieg im Osten von 1914 bis 1919. Ein Vorläufer des Vernichtungskriegs?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65, 2017, S. 465-506.

[2] Vgl. John Horne/Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2018.

Doppelrezension: Antisemitism and the Politics of History / Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft

Scott Ury/Guy Miron (Hrsg.), Antisemitism and the Politics of History (The Tauber Institute Series for the Study of European Jewry)

Brandeis University Press | Waltham, Mass. 2023 | 384 Seiten, Paperback | $ 40,00 | ISBN 9781684581801

 

Peter Ullrich/Sina Arnold/Anna Danilina u.a. (Hrsg.), Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft (Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart, Bd. 8)

Wallstein Verlag | Göttingen 2024 | 315 Seiten, Klappenbroschur | 24,00 € | ISBN 978-3-8353-5070-0

 

rezensiert von

Andreas Rentz, Zentrum für Holocaust-Studien, München

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Um den Jahreswechsel 2023/24 erschienen mit dem Band »Antisemitism and the Politics of History« des Tauber Institute for the Study of European Jewry und dem Band »Was ist Antisemitismus« des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA) gleich zwei neue Sammelbände, die sich mit Definitionen und Konzeptionen von Antisemitismus auseinandersetzen. Nach dem Pogrom der Hamas am 7. Oktober 2023 könnte der Zeitpunkt kaum geeigneter zu sein, um aus geschichts- und sozialwissenschaftlicher Perspektive den Antisemitismusbegriff erneut zu beleuchten. Dabei ist dieser Zeitpunkt tatsächlich Zufall: Beim Band des Tauber Institute handelt es sich um eine englische Übersetzung eines 2020 zunächst auf Hebräisch erschienenen Sammelbandes, die den Pogrom entsprechend mit keinem Wort erwähnt. Und auch die Veröffentlichung des ZfA wurde bereits vor dem 7. Oktober konzipiert. An der Relevanz beider Publikationen ändert das jedoch nichts.

Dreh- und Angelpunkt des Bandes des Tauber Institute, der von Scott Ury (Tel Aviv University) und Guy Miron (Open University of Israel) herausgegeben wurde und hauptsächlich Beiträge israelischer Historiker*innen beinhaltet, bildet die Auseinandersetzung mit einem 2009 erschienen Artikel des Holocaustforschers David Engel. Unter dem Titel »Away from a Definition of Antisemitism« stellte Engel darin die Nützlichkeit des Antisemitismusbegriffs grundsätzlich infrage, da zu viele unterschiedliche historische Phänomene ohne erkennbaren Zusammenhang darunter subsumiert würden: Ideologeme genauso wie soziale Bewegungen oder Handlungen, die Jüdinnen*Juden schadeten.[1] Der Titel des Artikels war eine Anspielung auf die 1990 von Gavin I. Langmuir veröffentlichte und breit rezipierte Studie »Toward a Definition of Antisemitism«, deren Versuch einer begrifflichen Fassung der Essenz von Antisemitismus Engel ebenso zurückwies wie jeden anderen auch.[2] Er begründete das damit, dass die verschiedenen Definitionsversuche einander widersprechen würden, ohne sich jedoch mit ihnen im Einzelnen auseinanderzusetzen. Unterschiedliche Verwendungen des Antisemitismusbegriffs reichen Engel aus, um für einen vollständigen Verzicht auf ihn zu plädieren. Auch wenn Engels Argumentation nicht völlig überzeugt, sind seine Bedenken nicht ohne weiteres abzutun: Sie verweisen auf das tieferliegende Problem unklarer und disparater Begriffsverwendungen im Bereich der Antisemitismusforschung. Eine gekürzte Version seines Artikels findet sich im Sammelband des Tauber Institute direkt im Anschluss an die Einleitung. Diese wurde von Ury und Miron verfasst und nimmt Engels Kritik zum Ausgangspunkt für die Leitfrage des Bandes, ob »Antisemitismus« der richtige Terminus zur Beschreibung und Erklärung der verschiedenen ihm zugeordneten historischen und sozialen Phänomene sei und welche alternative Terminologie für die Verwendung in akademischen und öffentlichen Diskursen sinnvoll sein könnte. Davon ausgehend plädieren sie dafür, Vorstellungen einer bruchlosen Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis heute, von der Shoa als logischer Konsequenz des Antisemitismus, seines fundamentalen Unterschieds zu anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und eines »new antisemitism«, der sich gegen die Existenz oder die Politik Israels richtet, kritisch zu hinterfragen.

Die meisten der folgenden Beiträge beziehen sich explizit auf die Kritik Engels, aber nur die wenigsten ziehen denselben radikalen Schluss, den Antisemitismusbegriff ersatzlos zu streichen. So bemüht sich etwa Amos Morris-Reich um ein dynamisches und dialektisches Verständnis von Antisemitismus, der wie seine historischen Kontexte stetigen Wandlungen unterworfen ist und dessen Begriff in seiner Abstraktion notwendig ist, um zwischen verschiedenen historischen und sozialen Phänomenen Verbindungen zu erkennen. In eine ähnliche Richtung geht der Aufsatz von Susannah Heschel: Auch sie spricht sich für die Verwendung des Begriffs aus, weil er den Zusammenhang verschiedener disparater Phänomene veranschaulicht. Statt Antisemitismus als eine geradlinige, kontinuierliche und zielgerichtete Geschichte zu verstehen, sollte er als unbewusste oder verschwiegene Sammlung von Mythen und Ideen verstanden werden, die in verschiedenen Kontexten aktiviert werden können. Einer der wenigen Artikel, die Engel beipflichten und sich ebenfalls gegen die Verwendung des Antisemitismusbegriffs aussprechen, stammt von Arie M. Dubnov. Er begründet das mit der angeblich inflationären Verwendung des Begriffs, um Kritik an Israel und am Zionismus zu verunmöglichen, und plädiert am Beispiel der britischen Jüdinnen*Juden dafür, jeden begrifflichen Unterschied zwischen Antisemitismus, Rassismus und Xenophobie zu eliminieren (»eliminate«, S. 247). Da sich insbesondere der Antizionismus nicht gegen britische Jüdinnen*Juden, sondern gegen Israel richte, sei der Antisemitismusbegriff für Großbritannien ungeeignet. Vor dem Hintergrund, dass es bereits 2016 zu Angriffen auf jüdische Studierende durch Anhänger*innen der antizionistischen BDS-Bewegung in Großbritannien kam und sich die Zahl antisemitischer Vorfälle an britischen Hochschulen seit dem 7. Oktober 2023 um 400 Prozent erhöht hat, erscheinen Aussagen dieser Art sachlich falsch und fahrlässig zugleich.[3]

Das letzte Wort wird David Engel überlassen, der auf einige der besprochenen Beiträge eingeht, aber an seiner grundsätzlichen Forderung, auf den Antisemitismusbegriff zu verzichten, festhält. Er begründet das damit, dass es keine Definition von Antisemitismus gäbe, die ein »intrinsic attribute« (S. 340, 343f.) nennen könnte, das auf alle als antisemitisch bezeichneten Phänomene zutreffen würde. Dabei geht er auch konkret auf jene Autor*innen des Bandes ein, die sich für eine eingeschränkte Begriffsverwendung aussprechen, und auf die unterschiedlichen und einander teils ausschließenden Verwendungsweisen in den einzelnen Beiträgen. Er plädiert schließlich dafür, eine differenzierte Terminologie zu entwickeln, die jüdische Sicherheits- und Gefährdungswahrnehmungen zum Ausgangspunkt nimmt. Nun sind selbstverständlich jüdische Wahrnehmungen bei der Bestimmung dessen, was antisemitisch oder judenfeindlich ist, ernst zu nehmen und zu berücksichtigen. Dennoch ist Engels Schlussfolgerung problematisch, da er letztlich dafür plädiert, auf eine Untersuchung jener Ideologien zu verzichten, die den Ursprung judenfeindlicher Aktivitäten bilden und die dadurch unerklärt bleiben müssen. Solange Jüdinnen*Juden nichts davon mitbekommen, dass beispielsweise irgendwo von angeblichen jüdischen Ritualmorden die Rede ist, und sich daher auch nicht in ihrer Sicherheit gefährdet fühlen, würde es sich nach Engel nicht um antisemitische Vorfälle handeln. Es ist auch bezeichnend, dass Engel ausgerechnet die Skizze von Morris-Reich, der sich um ein komplexes Verständnis des Antisemitismusbegriffs bemüht, unberücksichtigt lässt.

Der Sammelband des Tauber Institute verdeutlicht ein grundsätzliches Problem, nämlich den mangelnden Austausch zwischen Antisemitismusforscher*innen aus den Sozialwissenschaften einerseits und den Geschichtswissenschaften andererseits. Die meisten Beiträge stammen von Historiker*innen. Die sozialwissenschaftlichen Antisemitismustheorien international bekannter Gelehrter wie Jean-Paul Sartre, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Moishe Postone werden im ganzen Band mit keinem Wort erwähnt. Hier bietet sich als Ergänzung die Lektüre des vom ZfA vorgelegten Bandes an, in dem zahlreiche Soziolog*innen zu Wort kommen. Im Unterschied zur Veröffentlichung des Tauber Institute handelt es sich hier nicht um einen klassischen Sammelband, sondern um ein »genuin kollektives Produkt« (S. 12), das die Ergebnisse eines gemeinsamen Forschungsprojekts des ZfA und der Rosa-Luxemburg-Stiftung zusammenfasst. Der ZfA-Band stellt sich die Aufgabe, die »Vielfältigkeit von Antisemitismusverständnissen« und die »Schwierigkeit, Antisemitismus zu definieren« (S. 10), die von den unterschiedlichen Zugängen von Psycholog*innen, Soziolog*innen und Historiker*innen herrührten, aufzuzeigen. Er spricht auch Konflikte um gängige Definitionen in Hinblick auf den Nahostkonflikt an. Der Einleitung ist ein »Nachtrag« hintangestellt, in dem betont wird, dass das Buch vor dem 7. Oktober 2023 fertiggestellt worden sei und dass »vor diesem Hintergrund […] der Zungenschlag einiger Darstellungen in diesem Buch etwas anders ausgefallen« wäre (S. 14), ohne dies jedoch näher zu erläutern.

Der Band liefert konzise Erläuterungen verschiedener Begriffe wie »Antijudaismus«, »Israelbezogener Antisemitismus« oder »Sekundärer Antisemitismus« und spricht dabei verschiedene Probleme und Kontroversen an, wie etwa die Schwierigkeit, Antijudaismus und Antisemitismus klar abzugrenzen, oder die Entstehung eines »Antisemitismus ohne Antisemiten« nach Auschwitz infolge einer sich bildenden Kommunikationslatenz (gemeint ist damit, dass sich aufgrund einer wahrgenommenen oder tatsächlichen Tabuisierung und formellen Diskreditierung des Antisemitismus infolge der Shoa die offene Artikulation entsprechender Ideologeme vom öffentlichen in den privaten Bereich verschob).[4] Ein weiterer Abschnitt widmet sich verschiedenen »Positionen« der Antisemitismusforschung. Vorgestellt werden hier diverse Autor*innen, die sich in den vergangenen hundert Jahren zum Antisemitismus geäußert und sich in unterschiedlichem Ausmaß um eine begriffliche wie theoretische Annäherung bemüht haben. Über weite Strecken handelt es sich bei diesen Abschnitten um eine gelungene Überblicksdarstellung zentraler Begriffe und Thesen der Antisemitismusforschung, die leicht zugänglich vermittelt werden, ohne ihnen ihre Komplexität zu nehmen.

Der letzte Abschnitt des Bandes stammt ausschließlich vom Mitherausgeber Peter Ullrich und bemüht sich aus erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Perspektive um ein Verständnis für die Vielfältigkeit unterschiedlicher, bisweilen einander ausschließender Begriffe und Definitionen von Antisemitismus. Nachdem er quasi auf einer Metaebene die Ausdrücke »Begriff« und »Definition« geklärt hat, formuliert Ullrich »acht Probleme der Begriffsbildung von Antisemitismus« (S. 217), u. a. die historische Wandlungsfähigkeit des Begriffs und des durch ihn bezeichneten Gegenstands, die Frage nach der Spezifizität des Antisemitismus, die ihn von anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unterscheidet, oder die Frage danach, inwieweit Handlungen als antisemitisch zu klassifizieren sind, die zwar in ihrer Wirkung Jüdinnen*Juden schaden, ohne das aber intendiert zu haben. Dabei wird auch knapp auf Engels Kritik eingegangen, der jedoch keine »Chance auf Durchsetzung« bescheinigt wird (S. 222). Insgesamt sind die Überlegungen Ullrichs durchaus anregend und scheinen auch notwendig, um sowohl das geläufige Verständnis von Antisemitismus kritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln, als auch sich im Rahmen der wissenschaftlichen Debatte einem komplexen Antisemitismusbegriff anzunähern.

Getrübt wird der vielfach positive Eindruck des Bandes jedoch vor allem an jenen Stellen, wo Antizionismus bzw. israelbezogener Antisemitismus thematisiert werden. Wie ein roter Faden zieht sich das Narrativ durch das Buch, dass hier ein Begriff inflationär auf legitime Formen des Antizionismus angewendet werde, die einem »nicht-nationale[n] jüdische[n] Selbstverständnis und/oder universalistische[n] Perspektiven« (S. 49) entspringen würden. Beanstandet wird eine »Politisierung der wissenschaftlichen Debatte« (ebd.), wobei mir fraglich erscheint, ob eine scharfe Trennung von Wissenschaft und Politik bei einem Thema mit so eindeutig politischen Implikationen überhaupt möglich ist und ob eine derartige Politisierung nicht gerade auch von einigen Autor*innen des Bandes vorgenommen wird.

Ein Kapitel widmet sich dem Nahostkonflikt und kommt zu dem Schluss, dass »Antizionismus oder Israelfeindschaft […] nicht immer und nicht zwingend antisemitisch sein« (S. 87) müssten, weil diese Auseinandersetzung »im Kern […] ein Konflikt zweier Nationalismen, die einen Anspruch auf das gleiche Territorium erheben«, sei (S. 86). Gewarnt wird vor einer Unterschätzung des israelisch-palästinensischen »Realkonflikts«, die entstünde, wenn Vorfälle aller Art »primär aus antisemitismustheoretischer Sicht« bzw. »primär aus Perspektive der Antisemitismuskritik« gedeutet würden, laut der jedwede »Gegnerschaft zum Zionismus und zu Israel […] eine Form von Antisemitismus ist.« (S. 87; Hervorhebung i. O.) Als entgegengesetzte Pole der Antisemitismusforschung werden eine »Identitätsposition« (Antizionismus ist gleich Antisemitismus) und eine »Differenzposition« (Antizionismus und Antisemitismus sind zwei völlig verschiedene Phänomene) konturiert (S. 87). Plädiert wird sodann für eine in der Mitte liegende »Affinitätsposition«, die zwischen Antizionismus und Antisemitismus differenziert, ohne Überschneidungen auszuschließen. Des Weiteren werden die Argumentationsmuster der Konfliktparteien als »spiegelbildlich« bezeichnet (S. 88) und eine »erinnerungspolitische Formung der Nahostdebatten in Deutschland« beanstandet (S. 91-92). Die Arbeitsdefinition für Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und Natan Sharanskys 3D-Test (welcher die Grenze zwischen legitimer Israel-Kritik und Antisemitismus daran misst, ob eine Kritik Israel dämonisiert, delegitimiert und im Vergleich zu anderen Staaten einen doppelten Standard anlegt)[5] werden zurückgewiesen. Die von Antisemitismusforscher*innen wie Samuel Salzborn oder dem Aachener Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) ausgehend von der Kritischen Theorie entwickelten Antisemitismusmodelle, die sowohl die IHRA-Definition als auch den 3D-Text integrieren und auf dieser Basis zwar nicht jede Form von Antizionismus, wohl aber jede Form von Israelfeindschaft, als Antisemitismus einstufen, werden im ZfA-Band nur knapp gestreift und als der »Identitätsposition« zugehörig zurückgewiesen. Ich halte diese Konzepte für überzeugender, weil sie einerseits der Vielschichtigkeit und Dynamik des Antisemitismus gerechter werden als die Versuche des ZfA, den Terminus einzuengen, und andererseits die empirischen Befunde des Nahostkonflikts besser erklären.[6]

Dagegen erhält die Philosophin Judith Butler im Abschnitt »Positionen« ein eigenes Kapitel an der Seite Sartres und Adornos. Sie wird als eine der »Ersten, die nicht nur die fatale politische Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs reflektieren und kritisieren, sondern damit die Ambivalenzen des ›Antisemitismus gegen Israel‹ in den Blick nehmen«, gewürdigt (S. 182). Zu ihren Verdiensten wird die Warnung vor der »Gefahr einer Entleerung des Begriffs« und »der repressiven Verwendung des Vorwurfs« des Antisemitismus (S. 185) gezählt, durch den »dem legitimen Protest enge Grenzen gesetzt« würden (S. 182). Zwar ist eine Auseinandersetzung mit den Thesen Butlers allein schon aufgrund ihrer Prominenz sicherlich notwendig, doch scheint es mehr als fragwürdig, diese Thesen, die die reaktionäre Vorstellung einer wirkmächtigen Antisemitismuskeule implizieren, dergestalt zu affirmieren, wie es im ZfA-Band geschieht.

Im direkten Vergleich beider Bände zeigen sich so nicht allein ihre jeweiligen Stärken und Schwächen, sondern auch verschiedene Schwierigkeiten der Antisemitismusforschung, auf die sie verweisen. Der Sammelband des Tauber Institute enthält viele lesenswerte Beiträge, demonstriert aber auch die mangelnde Beschäftigung von Historiker*innen mit der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung, die im Band des ZfA geleistet wird. Dieser wiederum zeigt nicht nur die Vielgestaltigkeit der Forschung auf, sondern auch den hohen Grad ihrer Politisierung, die hier zwar vor allem der dezidiert prozionistischen Forschungsrichtung vorgehalten wird, aber auch auf Teile des Bandes selbst zutrifft. Trotz vieler nützlicher und anregender Abschnitte ist er daher nur eingeschränkt zu empfehlen, weil er den erhobenen Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität überall dort nicht einhalten kann, wo er in der Auseinandersetzung mit Antizionismus selbst politisch argumentiert, ohne dies hinreichend zu reflektieren.

 

Zitierempfehlung

Andreas Rentz, Doppelrezension zu: Scott Ury/Guy Miron (Hrsg.), Antisemitism and the Politics of History, Brandeis University Press, Waltham 2023; Peter Ullrich/Sina Arnold/Anna Danilina u.a. (Hrsg.), Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81988.pdf> [17.4.2024].

 

[1]David Engel, Away from a Definition of Antisemitism. An Essay in the Semantics of Historical Description, in: Jeremy Cohen/Moshe Rosman (Hrsg.), Rethinking European Jewish History, Oxford 2009, S. 30–53.

[2]Gavin I. Langmuir, Toward a Definition of Antisemitism, Berkeley, Calif. 1990.

[3] Vgl. https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/328693/antisemitismus-in-der-bds-kampagne/; https://www.juedische-allgemeine.de/juedische-welt/400-prozent-anstieg-antisemitischer-vorfaelle-an-hochschulen/ [9.4.2024].

[4] Vgl. Werner Bergmann/Rainer Erb, Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38, 1986, S. 223–246.

[5]Natan Sharansky, Emerging Anti-Semitic Themes (Foreword), in Jewish Political Studies Review 16, 2004, Nr. 3-4, S. 5-8.

[6] Vgl. exemplarisch Samuel Salzborn, Antisemitismus. Geschichte, Theorie. Empirie, Baden-Baden 2014.

Knud Andresen/Sebastian Justke/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Vom Ich zum Wir und wieder zurück? Subjektverständnisse zwischen Politisierung und Entradikalisierung seit den 1960er Jahren

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 267 Seiten, gebunden | 34,00 € | ISBN 978-3-8353-5489-0

rezensiert von

Uwe Sonnenberg, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

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»Vom Ich zum Wir und wieder zurück« – mit einem Fragezeichen versehen – ist der Titel einer akademischen Festschrift. Mit ihr wird dem Kopenhagener Zeithistoriker Detlef Siegfried zu seinem 65. Geburtstag gratuliert. In einer beigegebenen Würdigung zeichnet Jürgen Reulecke die Karriereschritte Siegfrieds nach und bespricht dessen wichtigste Werke. Der Band leistet aber zugleich einen Beitrag zur »Vorgeschichte« einer Gegenwart, die von Soziolog*innen heute unter anderem als »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz) beschrieben wird.[1] Nachgegangen wird der Frage, »wie und ob sich in politischen und gesellschaftlichen Debatten [seit den 1960er-Jahren] Verschiebungen in den Subjektverständnissen – also der Verortung des Individuums im gesellschaftlichen Kontext – zeigten.« (S. 14) Dabei werden diverse Forschungsansätze, zum Teil auch -inhalte, aus den Werken des Jubilars aufgegriffen, etwa Siegfrieds Arbeiten über Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 1960er-Jahre sowie seine Untersuchungen zum alternativen Milieu der 1970er-Jahre.[2] Mit Abstand am häufigsten aber rekurrieren die Autor*innen auf Siegfrieds Aufsatz »Die Rückkehr des Subjekts«. 2008 ebenfalls in einer akademischen Festschrift publiziert, erkennt Siegfried darin neue »postindustrielle« Subjektivitätskonzepte im Verlauf von Politisierungs- und auch Entradikalisierungsprozessen verschiedener Akteur*innen.[3]

Die insgesamt neun Beiträge sind in vier Rubriken untergliedert. Es geht als erstes um neue Perspektiven, die sich mit der »Rückkehr des Subjekts« in die Forschung ergaben. Dagmar Herzog beschreibt den Erfolg, den Ernst Klee mit beharrlichem Engagement hatte, die westdeutsche Öffentlichkeit wie auch die geschichtswissenschaftliche Zunft nach Jahrzehnten »der Ablehnung und des Desinteresses dazu zu bringen, die Ermordung von Menschen mit Behinderung als Verbrechen ernst zu nehmen« (S. 24). Klees Pionierarbeit über »›Euthanasie‹ im NS-Staat« sei Auslöser eines »moralpolitischen Durchbruchs« in der alten Bundesrepublik gewesen (S. 38). Gabriele Kandzora berichtet über ihre Erfahrungen als Lehrerin mit Projektpädagogik an einer Hamburger Reformschule. Dabei macht sie sehr bedenkenswert auf die unterschiedlichen Subjektverständnisse aufmerksam, mit denen Pädagog*innen und Zeithistoriker*innen jeweils operieren.

Es folgen in der zweiten Rubrik Fallbeispiele aus den Alternativszenen Westeuropas. Tobias De Fønss Wung-Sung verfolgt den Wandel der Schwulen- und Lesbenbewegung in Dänemark. Im Zentrum seiner Betrachtung steht mit der F-48 eine Interessenvertretung, die Ende der 1970er-Jahre noch für »clear left-leaning political ambitions« stand und bis Mitte der 1980er-Jahre zu einer »vibrant and multifaceted but also de-radicalized« Organisation geworden war (S. 79). Nikolaos Papadogiannis wertet für den gleichen Zeitraum die ersten »alternativen« Reiseführer und -berichte westdeutscher Globetrotter aus und »demonstrates how the globetrotters‘ approaches to sex tourism as an ›authentic‹ experience and a key to empathy for their hosts diverged« (S. 84). Er erkennt sowohl antikoloniale und neue feministische Argumentationen, als jedoch auch das Fortbestehen alter Stereotype. Kristoff Kerl untersucht den Umgang mit drogenbasiertem Rausch um 1970 »zwischen Revolution und Reklame« (S. 100) sowie als Teil neuer »Formen der Subjekt- und Lebensführung« (S. 118) bis in die Mitte der Gesellschaft, was wiederum (wert)konservative Angst vor einem Verfall von Moral und ergo heftigen Widerstand von rechter Seite auslöste.

In der dritten Rubrik wird der Blick in den zweiten realexistierenden Staat auf deutschem Boden hinein gelenkt: die DDR, an deren Beginn die Parole »Vom Ich zum Wir« ein zentrales Motto der Kollektivierungskampagne auf dem Lande gewesen war.[4] Entsprechend diskutiert Dorothee Wierling in ihrem Beitrag Individualisierung und Subjektivierung in entgegengesetzter Entwicklungsrichtung. Ja, auch in der DDR habe es einen Wertewandel gegeben, was Wierling den wenigen belastbaren Datensätzen soziologischer Forschung, vor allem aber sozialen Praktiken in der Konsum- und Nischengesellschaft entnehmen kann. Letztere diskutiert sie insbesondere als kulturelle Aneignungen, die sie jedoch als kreative Prozesse versteht, weswegen es in der DDR »wie im Westen – nur anders« (S. 161-164) gewesen ist. Den Weg, auf dem Silly ihr Ich vom Wir emanzipierte, schildert Michael Rauhut. Die für viele wichtigste Rockcombo der DDR (mit ihrer schillernd-charismatischen Frontfrau Tamara Danz) habe sich in den 1980er-Jahren vom Egalitätsdruck befreit, den »Grenzgang« perfektioniert (S. 125), sich mit der Macht arrangieren können und dennoch nicht vereinnahmen lassen.

Insgesamt fünf Beiträge beinhaltet die Rubrik »Politische Linke«. Für die Bundesrepublik ganz naheliegend widmet sich Knud Andresen dabei Selbstverständigungsprozessen innerhalb der maoistischen Parteien, der sogenannten K-Gruppen. »Gestaltungswille« wie auch »die Bereitschaft zum Einsatz in und für die Gesellschaft« haben darin nicht nur mehr geprägt als »das private Vergnügen«, so ist bei Andresen in einem selten so gegebenen Ausblick zu lesen, sie seien für die dort »subjektivierten Individuen« auch ein »über die politischen Wandlungen hinaus […] prägendes Moment ihrer Lebensführung« geblieben (S. 215). Hanno Plass erkundet, wie der algerische Unabhängigkeitskampf zwischen 1950 und 1970 in den südafrikanischen Befreiungsbewegungen (vor allem in der South African Communist Party) rezipiert und welche Rückschlüsse aus den in Algerien gemachten Erfahrungen dort für die eigene Politik gezogen wurden. In Stefanie Schüler-Springorums Beitrag über den »Mauergucker« Franz Josef Degenhardt geht es nicht etwa um das Verhältnis des Schriftstellers, Juristen und Liedermachers zur Berliner Mauer. Vielmehr betrachtet sie seine frühen, eher sozialkritisch und moralisch als marxistisch ausgerichteten Werke und erkennt in deren wirkmächtigen Texten und Bildern radikal-subjektive Reflektionen über das Leben in der BRD als einem postfaschistischen Land.[5]

Der Beitrag von Markus Mohr wiederum führt in das Jahr 1999 und nach Zittau, das heißt ganz an die östliche Grenze des vereinigten Deutschlands, wo innerhalb eines antirassistischen Grenzcamps plötzlich noch einmal ganz neue Grenzen gezogen wurden. Identitätspolitisch aufgeladene Debatten außerinstitutioneller Linker hatten sich seit den 1970er-Jahren fortgesetzt und sich – ohne, dass den Protagonist*innen die historische Spur als solche bewusst gewesen sein mag – in ihrem Gehalt noch einmal gewandelt. Schließlich macht sich David Templin auf die Spur von früheren Anhängerinnen und Anhängern der Gruppe Devrimci Yol (Revolutionärer Weg), die in den 1980er-Jahren in Hamburg gelandet waren. Wie erzählen diese bislang in der Forschung wenig beachteten Akteure heute über ihr Leben und ihr (letztlich gescheitertes) politisches Engagement?

Gerade in den zwei letztgenannten Beiträgen wird mit der Untersuchung migrantischer (Selbst-)Organisation in der Einwanderungsgesellschaft oder dem Agieren (post-)autonomer Linker in den 1990er-Jahren bereits der Boden für künftige Forschungsarbeiten erkennbar. Wünschenswert wäre auch ein Beitrag dazu gewesen, wie aus Konsument*innen im Zuge der Pluralisierung von Lebensstilen die Figur des Verbrauchers mit eigenem Selbstbewusstsein im wirtschaftlichen Gefüge wurde – und was daraus wurde. Viel zu selten wird zudem der Blick auf das Themenfeld Wirtschaft oder in die Welt der Arbeit gewagt. Freilich, so sehr die einzelnen Beiträge des Buches mit großem Erkenntnisgewinn zu lesen sind, lassen sie sich in ihrer Gesamtheit schon jetzt nur schwer gemeinsam diskutieren.

Zumal die Beiträge methodisch auf kaum vergleichbaren Ebenen angelegt sind. Mal werden Praktiken, mal Diskurse analysiert. Mal wird die Interpretation von Liedtexten vorgenommen, mal die langfristige Wirkungsgeschichte von Büchern beschrieben, mal geht es um persönliche Erfahrungsberichte und mal werden statistische Auswertungen mit dem Habitus-Konzept konfrontiert, um soziale Milieus zu erkennen. Auch Interviews werden geführt und selbstverständlich die zeitgenössische Presse, ›graue Literatur‹ und Archivakten studiert. Diese methodische Vielfalt ist fraglos reizvoll und sie macht auch den Charme aus, wenn erforscht wird, »wie und ob sich neue Subjektivitätsmerkmale seit den 1960er Jahren entwickelten« (S. 14).

Allerdings werden in den Fallbeispielen immer wieder ganz verschiedene »Wir« angerufen oder sie haben sich – was die Sache erneut nicht einfacher macht – vor verschiedenen Hintergründen in differenzierte Interessen, Belange, Positionen und darin in ganz unterschiedliche Subjektivitäten übersetzt. Entspricht das nun dem »und wieder zurück« im Titel? Das diesbezügliche Fragezeichen bleibt in vielen Beiträgen unaufgelöst. So landen wir beim Nachdenken über das vorgelegte Buch tatsächlich in einer Gegenwart, in der es schwerfällt, zu einem tieferen gesellschaftsdiagnostischen und gesellschaftskritischen Verständnis zu gelangen, und bei einer Gesellschaft, in der angesichts neuer Problemlagen (von ›Corona‹ über Krieg bis hin zur menschengemachten ökologischen Krise) bereits um notwendige neue »Wir« gerungen wird – und doch viel zu oft nur die alten hervorgeholt werden. Detlef Siegfried auch von mir die besten Wünsche zu seinem 65. Geburtstag!

 

Zitierempfehlung

Uwe Sonnenberg, Rezension zu: Knud Andresen/Sebastian Justke/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Vom Ich zum Wir und wieder zurück? Subjektverständnisse zwischen Politisierung und Entradikalisierung seit den 1960er Jahren, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81983> [17.4.2024].

 

[1]Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.

[2]Detlef Siegfried, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, um ein Nachwort erw. Auflage, Göttingen 2017 (zuerst 2006); ders./Sven Reichardt (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010.

[3]Detlef Siegfried, Die Rückkehr des Subjekts, in: Olaf Hartung/Katja Köhr (Hrsg.): Geschichte und Geschichtsvermittlung, Festschrift für Karl Heinrich Pohl, Bielefeld 2008, S. 125-146.

[4] Überraschenderweise wird im besprochenen Buch auf diese oder eine andere mögliche Herkunft des Titelzitats nicht eingegangen. Das Motto zierte auch die Beitrittsurkunde der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), vgl. Uta Bretschneider, »Vom Ich zum Wir«? Flüchtlinge und Vertriebene als Neubauern in der LPG, Leipzig 2016.

[5] Die vorgestellten Lieder können mit Hilfe von QR-Codes einzeln aufgerufen und nachgehört werden – ein sehr zu begrüßendes crossmediales Angebot in einer wissenschaftlichen Publikation!

Detlev Brunner/Michaela Kuhnhenne (Hrsg.), Proteste, Betriebe und Gewerkschaften. Beiträge zur ostdeutschen Transformation seit 1990

(Schriftenreihe der Johannes-Sassenbach-Gesellschaft, Nr. 7)

BeBra Wissenschaft | Berlin 2023 | 120 Seiten, Paperback | 24,00 € | ISBN 978-3-95410-317-1

rezensiert von

Christian Rau, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Berlin

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Die post-sozialistische Transformation in Ostdeutschland, die viele Jahre lang das Sujet der Sozialwissenschaften war, erfährt seit einigen Jahren eine intensive Historisierung. Dominierte dabei anfangs noch die Perspektive auf nationale Akteure wie die Treuhandanstalt, geraten zunehmend auch lokale Sichtweisen in den Fokus. Der von zwei ausgewiesenen Gewerkschaftsforscher:innen herausgegebene Sammelband »Protest, Betriebe und Gewerkschaften« trägt zu dieser Perspektivverschiebung bei und schließt zugleich an jüngere Arbeiten an, die sich mit betrieblichen oder gewerkschaftlichen Akteuren in dieser tiefgreifenden Umbruchphase beschäftigt haben.[1] Ziel der Herausgeber:innen ist es aber nicht nur, einen historiographisch-methodischen Beitrag zu jener auch politisch heiß umkämpften Phase zu leisten, indem sie konkret nach Einflussmöglichkeiten von Belegschaften und Gewerkschaften auf die Politik der Treuhand fragen. Ihr Anspruch erstreckt sich auch auf das Feld der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. So verstehen sie ihren Band gleichermaßen als Beitrag zur Zukunftsdebatte in (Ost-)Deutschland, für die sie die Transformationserfahrungen der Ostdeutschen fruchtbar machen möchten.

Die fünf Beiträge zum Kampf um das Stahlwerk Hennigsdorf (Jakob Warnecke), zum Konflikt um die Thüringer Faser AG (Jary Koch), zum Automobilwerk Eisenach (Jessica Lindner-Elsner), zur ADDINOL Mineralöl GmbH (Konrad Bunk) und zur Berichterstattung über die Proteste gegen die Politik der Treuhand (Justin Andrae) bieten jeweils für sich genommen spannende Tiefenbohrungen, aus denen die Dynamik der historischen Ereignisse, Prozesse und Akteurskonstellationen hervorgeht. Gleichwohl ist die Qualität der Beiträge recht unterschiedlich. Dies hat zum Teil damit zu tun, dass sie aus unterschiedlichen Qualifikationsstadien stammen. Sie beruhen auf Masterarbeiten, Doktorarbeiten und Post-Doc-Projekten. Insofern ist die unterschiedliche Qualität kein Manko, sondern es ist vielmehr begrüßenswert, dass auch Abschlussarbeiten, die ansonsten in Universitätsschränken verschwinden, veröffentlicht wurden. Etwas enttäuschend ist jedoch der auf einer Doktorarbeit beruhende Aufsatz von Lindner-Elsner. Hier bleibt die betriebliche Ebene zu blass. Stattdessen dient ihr das Automobilwerk als Beispiel, um die mit der wirtschaftlichen Transformation einhergehenden sozialen Ungleichheiten zu exemplifizieren, ohne jedoch zum bekannten Problem der Benachteiligung und der Armutsrisiken von Alleinerziehenden und älteren Frauen wesentlich Neues beizutragen. Das ist umso bedauerlicher, als die anderen Beiträge die Geschlechterdimension bestenfalls anreißen. Nur an einer Stelle weist Lindner-Elsner darauf hin, dass die Interessen dieser marginalisierten Gruppen in betrieblichen Sozialplanverhandlungen durchaus vertreten wurden. Darüber hätte man gern mehr erfahren.

Demgegenüber verdeutlichen die Beiträge von Warnecke, Koch und Bunk, welches Potential in einem konsequenten mikrohistorischen Zugriff liegt. Vor allem Warnecke zeigt, wie betriebsinterne Konflikte in den späten 1980er Jahren in bürgerschaftliches und gewerkschaftliches Engagement nach 1989/90 münden konnten. Es greift also zu kurz, ostdeutsche Belegschaftsproteste einzig aus Konfliktkonstellationen mit der Treuhand heraus zu erklären, auch wenn diese im Falle der Thüringer Faser AG tatsächlich die Initialzündung für eine landesweite Protestbewegung darstellten. Westdeutsche Gewerkschaftsstrukturen wurden dabei, so ein weiterer Befund, nicht zwangsläufig als übergestülpt erfahren, sondern vermochten es besonders auf örtlicher Ebene, ostdeutsche Interessen zu bündeln und in den politischen Diskurs einzubringen. So beteiligten sich Belegschaftsvertreter:innen und Gewerkschaften vor Ort auch an Standortdebatten, die über die Ebene des Betriebs hinauswiesen. Wie unterschiedlich und mitunter unentschieden sich dabei auch die Landesregierungen verhielten, die ja Sitz und Stimme im Verwaltungsrat der Treuhand hatten, zeigen besonders die Beiträge von Koch und Bunk. Solche lokalen und regionalen Dynamiken geraten in der Vogelperspektive ebenso aus dem Blick wie das auf dieser Ebene wirksame Ineinandergreifen von westdeutscher Gewerkschaftspolitik und ostdeutschen Interessen. Die lediglich bei Bunk kurz angerissene Rolle der Europäischen Union verdient künftig aber ebenso eine stärkere Beachtung. Ein kleines Manko ist es auch, dass die Beiträge zu sehr darum bemüht sind, die relativen Erfolge der Belegschaften und Gewerkschaften in den Fokus zu stellen, sodass Bruchlinien innerhalb der Belegschaften eher wenig Aufmerksamkeit erfahren.

Thematisch etwas außerhalb der betrieblichen und regionalen Fallstudien steht der mediengeschichtliche Beitrag von Andrae, der dennoch eine wichtige Perspektive in die Debatte einbringt. Er zeigt nicht nur Konjunkturen in der nationalen Berichterstattung über die Treuhand auf und gibt Einblicke in den Alltag der Pressestelle der Behörde, sondern kontrastiert diese Ergebnisse auch mit der regionalen Berichterstattung, in der die Treuhand viel intensiver und emotionaler verhandelt wurde. Auch wenn das alles nicht ganz neu ist, erweist sich doch vor allem der vergleichende, wenngleich zu kurz kommende Rekurs auf audio-visuelle Medien als anregend für weitere Fragestellungen, etwa, wie deren Eigenlogiken und -narrative auf Identitätskonstruktionen ostdeutscher Belegschaften einwirkten. Der Beitrag lässt sich somit auch als Aufforderung verstehen, die Medien als aktiv Handelnde in die historische Analyse zu integrieren.

Während sich die Beiträge trotz kleiner Monita nicht nur für die Gewerkschaftsgeschichte, sondern auch für die Transformationsgeschichte als weiterführend erweisen, indem sie zeigen, dass das oft für den Osten bemühte Opfernarrativ zu einseitig ist, bleiben die Bezüge zur Gegenwart (und Zukunft) am Ende doch recht vage und assoziativ. Nur an wenigen Stellen berühren die Beiträge überhaupt diese in der Einleitung so stark gemachte Dimension und auch die Herausgeber:innen bleiben ein entsprechendes Resümee schuldig. Dazu hätten die Beiträge über ihre kurzen Betrachtungszeiträume – in der Regel die Treuhand-Jahre von 1990 bis 1994 – hinausgehen und nach längerfristigen Dynamiken fragen müssen. So bleibt etwa Kochs Behauptung, dass die ostdeutsche betriebliche Protestbewegung ein »wichtiges Kapitel bundesdeutscher Demokratie- und Protestgeschichte« (S. 36f.) sei, ohne weitere Ausführungen stehen. Dabei ist es fraglich, ob es sich bei den Protesten tatsächlich um eine »Bewegung« handelte, denn die meisten betrieblichen Proteste blieben auf ihre örtlichen Wirkungsräume begrenzt. Das Protestbündnis, das Koch selbst untersucht, ist hier eher eine Ausnahme. Auch drängt sich der Eindruck auf, dass Koch den Demokratiebegriff eher normativ verwendet. In der Tat steht die historische Transformationsforschung, die noch immer sehr stark auf die wirtschaftliche Dimension fokussiert, vor der großen und dringlichen Herausforderung, umfassendere historische Perspektiven auf die (ost-)deutsche Demokratiegeschichte nach 1990 zu entwickeln. Das leistet der vorliegende Sammelband jedoch nicht, so sehr er mit seiner mikrogeschichtlichen Perspektivierung überzeugt.

 

Zitierempfehlung

Christian Rau, Rezension zu: Detlev Brunner/Michaela Kuhnhenne, Protest, Betriebe und Gewerkschaften. Beiträge zur ostdeutschen Transformation seit 1990, BeBra Wissenschaft, Berlin 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81984> [17.4.2024].

 

[1] Vgl. Detlev Brunner/Michaela Kuhnhenne/Hartmut Simon (Hrsg.), Gewerkschaften im deutschen Einheitsprozess. Möglichkeiten und Grenzen in Zeiten der Transformation, Bielefeld 2018; Eric Weiß, Gewerkschaftsarbeit im Vereinigungsprozess. Die Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik in der Transformationszeit 1990–1994, Berlin 2018; Christian Rau, Die verhandelte »Wende«. Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik, Berlin 2022; Eva Lütkemeyer, Wendemanöver. Die Transformation der ostdeutschen Werftindustrie 1989/90–1994, Berlin 2023.

Thomas Großbölting, Alfred Müller-Armack – die politische Biografie eines Ökonomen

(Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Nr.17)

Aschendorff Verlag | Münster 2023 | 95 Seiten, gebunden | 29,00 € | ISBN 978-3-402-15903-3

rezensiert von

Ralf Ptak, Universität Köln

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Der Historiker und Leiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Thomas Großbölting, hat eine politische Biographie zu Alfred Müller-Armack vorgelegt – der neben Ludwig Erhard wohl wichtigsten Ikone der Sozialen Marktwirtschaft. Die Publikation ist in der Reihe »Veröffentlichungen des Universitätsarchiv Münster« erschienen, was deshalb erwähnenswert ist, weil Müller-Armack in Münster wesentliche Stationen seines akademischen Werdegangs verbracht hat. Auch wenn der Titel einen umfassenden Zugang zu Person und Werk erwarten lässt, steht die Auseinandersetzung mit der Rolle Müller-Armacks in der Zeit des Nationalsozialismus im Zentrum der nur knapp über 90 Seiten starken Schrift. Alle übrigen Abschnitte zur Kindheit, zur Rolle als Ökonom und als führender Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft sowie maßgeblicher Wirtschaftspolitiker der Nachkriegszeit zeigen sich eher als Umrahmung der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Müller-Armacks. Obwohl der Text durch diesen Zuschnitt der gesamten Komplexität von Person und Werk Müller-Armacks kaum gerecht wird, nimmt sich Großbölting einer wichtigen, bis heute unterbelichteten und zudem kontrovers diskutierten Fragestellung an. Für ihn geht es in erster Linie um die Klärung der Frage, ob das NSDAP-Mitglied Müller-Armack tatsächlich lediglich ein Mitläufer, ggf. ein Opportunist der NS-Zeit war, der wie viele andere Intellektuelle nach anfänglicher Sympathie in die »innere Emigration«, ja sogar in eine Art passiven Widerstand gegangen sei. So behaupten es vor allen Dingen ehemalige Schüler Müller-Armacks und ordoliberale Sympathisanten, die retrospektiv diese Legende verbreitet haben, da der Protagonist selbst einer Aufklärung dieser Frage lebenslang ausgewichen war.

Es ist Großbölting zuzustimmen, dass diese Auseinandersetzung deshalb von Bedeutung ist, weil Müller-Armack eine herausragende Bedeutung für die bundesdeutsche Legendenbildung um die Soziale Marktwirtschaft hat. Man könnte etwas präziser sagen: Die Narrative um die Soziale Marktwirtschaft sind konstituierend für die westdeutsche Identitätsbildung, weshalb die führenden Köpfe der wirtschaftlichen Neuordnung nach 1945 von jeglicher NS-Belastung oder auch nur indirekter Verwicklung reingewaschen werden mussten. Das gilt im Übrigen nicht nur für den besonderen Fall Müller-Armacks, sondern letztlich für die gesamte ordoliberale Gründergeneration, die mit Ausnahme der Exilanten Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke in Deutschland geblieben war und in dieser Zeit die theoretischen Grundlagen des Ordoliberalismus erarbeitet und veröffentlicht hatte. Besonders Leonhard Miksch und Ludwig Erhard waren in die kriegswirtschaftliche Beratung einbezogen, andere Vertreter der Freiburger Schule suchten mit ihren Forschungsarbeiten nach Anschlussmöglichkeiten für das Modell einer autoritären Marktwirtschaft.[1]

Großbölting nimmt sich die einzelnen Argumentationsstränge der biographischen Reinwaschung von Müller-Armack differenziert vor, mal scharf und deutlich formulierend, dann aber auch changierend und etwas unsicher. Das mag daran liegen, dass Großbölting als Historiker sonst zu ganz anderen Themenfeldern forscht bzw. publiziert und ob der narrativen Mächtigkeit des tradierten Bildes Müller-Armacks Vorsicht walten lässt. Gut gelungen ist die Auseinandersetzung mit Müller-Armacks Schrift »Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich« von 1933, in der seine Sympathien für das Völkische und den italienischen Faschismus ebenso deutlich werden wie seine grundsätzliche Begeisterung für die »neue« Zeit. Schließlich wird diese Schrift in den meisten biographischen Beiträgen ignoriert oder als Ausrutscher deklariert. Erhellend, wenn auch nicht gänzlich neu, ist die Aufarbeitung der Münsteraner Zeit von Müller-Armack, denn hier wurde er 1940 zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie und Kultursoziologie berufen und hier begann auch die Legendenbildung zu seiner Person. Großbölting stellt gut belegt dar, wie Müller-Armack die unter seiner Leitung stehenden Forschungsinstitute zur Wohnungswirtschaft und insbesondere zur Textilwirtschaft im kriegswirtschaftlichen Kontext positionierte und dabei mit diversen regionalen und Wirtschaftsgrößen der NSDAP eng kooperierte.

Das tat Müller-Armack weitgehend ohne Verwendung rassistischer und antisemitischer Ideologeme, aber mit klarem Bekenntnis zum deutschen Nationalismus und zur völkischen Großraumwirtschaft. Etwas undeutlich bleibt Großbölting in der Diskussion um die Behauptung, dass die Verwendung des Begriffs Marktwirtschaft im Münsteraner Wirken Müller-Armacks als widerständige Handlung zu werten sei, wie es dessen Verteidiger häufig anführen. Dieses Argument wird auch gern in der Auseinandersetzung um die Freiburger Schule und ihre ab 1937 erschienene »Schriftenreihe zur Ordnung der Wirtschaft« angeführt. Es beruht jedoch auf einem verkürzten Verständnis nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik. Zumeist wird dabei auf den von Eucken selbst produzierten Dualismus von Marktwirtschaft einerseits und Zentralverwaltungswirtschaft anderseits abgehoben, wobei dem Nationalsozialismus letztere zugeschrieben wird. Das ist allerdings bestenfalls halb richtig, denn jenseits der kriegswirtschaftlichen Organisation der Volkswirtschaft, in der immer Produktion zentralisiert und marktwirtschaftlicher Wettbewerb ausgesetzt wird, waren weder Hitler noch die wirtschaftspolitisch Verantwortlichen der NSDAP gegen Marktwirtschaft an sich, wie sich an vielen NS-Quellen nachweisen lässt. Sie schwadronierten zwar propagandistisch gegen liberalistisches Versagen, verteidigten aber durchaus die »natürlichen« Selektionsmechanismen einer (autoritären) Marktwirtschaft. Gerade weil die NSDAP in der Wirtschaftspolitik über kein festes Konzept verfügte und ihre Positionen diesbezüglich voller Ambivalenz waren, witterten die Vertreter eines autoritären Liberalismus zumindest bis Anfang der 1940er-Jahre durchaus eine Chance, mit dem starken Staat eine marktgerechte Ordnungspolitik wenigstens in Teilen umzusetzen.

Großbölting erwähnt auch Müller-Armacks Schrift »Entwicklungsgesetze des Kapitalismus« von 1932, die er allerdings als weniger bedeutend betrachtet. Das ist mit Blick auf Großböltings primäres Erkenntnisziel durchaus nachvollziehbar, aber im Hinblick auf die Gesamtperson Müller-Armacks und sein Werk nicht angemessen. Tatsächlich stehen die beiden genannten Schriften von 1932 und 1933 in unmittelbarer Kontinuität zueinander, auch wenn der Wechsel zu einer völkischen Sprache in »Staatsidee und Wirtschaftsordnung« von 1933 diesen Blick zunächst verstellt. Gerade in den »Entwicklungsgesetzen« von 1932 werden die Grundelemente seines Denkens deutlich, die er dann 1933 mit völkischem Geschwurbel auflädt. Ihm geht es um Kapitalismus als ein offenes System, das unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen existieren kann: »Die vom Kapitalismus zum Systemgedanken gemachte Fortschrittsförderung hat eine Richtung, aber kein festes Ziel. Der vom Kapitalismus realisierte Fortschritt darf nicht als schrittweise Annäherung an ein Ideal verstanden werden.«[2] In scharfer Abgrenzung zum Marxismus und in Anlehnung an seine konjunkturpolitischen Studien der 1920er-Jahre prägte er den Begriff der »Selbstrealisierung«, der als evolutionäres Prinzip die Offenheit des kapitalistischen Prozesses gewährleisten soll und zugleich den Kapitalismus als »geschichtliches Monopol« begründet. Zur Stabilisierung dieses Systems hielt es Müller-Armack für unabdingbar, dass »ein objektives Ordnungsgefüge, mit dem der erwünschte Erfolg zu erreichen ist, ›erfunden‹ wird.«[3]

Die Erfindung eines solchen Ordnungsgefüges ist der Kern des Denkens und Wirkens von Müller-Armack. Zurecht verweist Großbölting auf den Begriff »Geschichtsaktivismus« in der Schrift von 1933, den Müller-Armack einsetzt, um die Notwendigkeit ideologischer Anpassungen an veränderte Gesellschaftsformationen zu beschreiben. Müller-Armacks Analysen der gesellschaftspolitischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen haben den Zweck, für die jeweils spezifische historische Phase des Kapitalismus das erforderliche Framing, das »objektive Ordnungsgefüge«, immer wieder neu zu ›erfinden‹. Deshalb ist Müller-Armacks Weg vom Nationalismus hin zur Religion als neuer ideologische Klammer in der Nachkriegszeit kein Bruch, sondern eine Kontinuitätslinie. So erklären sich auch die inhaltlich stark divergierenden Texte im Werk von Müller-Armack, die es praktisch allen politischen Kräften in Deutschland bis heute möglich machen, sich auf ihn und die Soziale Marktwirtschaft zu beziehen. Und so ist die theoretische Leere der Sozialen Marktwirtschaft als Konzeption, die Großbölting benennt, kein Fauxpas. Sie ist vielmehr Ausdruck dessen, dass die Soziale Marktwirtschaft von Müller-Armack als eine flexible Implementierungsstrategie und als methodisches Prinzip angelegt wurde, um die Grundsätze der sperrigen ordoliberalen Programmatik in die reale Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik zu überführen.[4] Vor diesem Hintergrund ist es auch wenig zielführend, einzelne theoretische Widersprüche zwischen Müller-Armack und anderen Ordoliberalen übermäßig zu betonen, handelt es sich doch eher um eine komplementäre Beziehung mit unterschiedlichen Handlungsfeldern auf der Grundlage eines gemeinsamen ordoliberalen Weltbildes. Ob Müller-Armack dabei der Erfinder des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft war, wie er selbst und seine Apologeten stets suggerieren, ist umstritten, aber letztlich ohne Belang. Hier lohnt sich vielmehr ein Blick auf die konkrete Popularisierung des Begriffs in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Uwe Fuhrmann sehr deutlich herausgearbeitet hat.[5]

Trotz ihrer Engführung ist die Biographie von Großbölting ein anregender und lesenswerter Text zur Auseinandersetzung um Müller-Armack und die Soziale Marktwirtschaft. Die im Zentrum stehende Debatte um dessen nationalsozialistische Vergangenheit ist ein wichtiger Beitrag in einer bis heute weitgehend verdrängten deutschen Diskussion. Vielleicht wäre ein anderer, dem Inhalt angemessener Titel sinnvoll gewesen. Auch hätte dem Text ein ordentliches Lektorat gutgetan, da einige Quellen ungeklärt oder missverständlich bleiben.

 

Zitierempfehlung

Ralf Ptak, Rezension zu: Thomas Großbölting, Alfred Müller-Armack – die politische Biografie eines Ökonomen, Aschendorff Verlag, Münster 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81985.pdf> [17.4.2024].

 

[1] Vgl. Ralf Ptak, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004, S.62-109.

[2]Alfred Müller-Armack, Entwicklungsgesetze des Kapitalismus. Ökonomische, geschichtstheoretische und soziologische Studien zur modernen Wirtschaftsverfassung, Berlin 1932, S. 38.

[3] Ebd., S. 18 u. 42.

[4] Vgl. Thomas Biebricher/Ralf Ptak, Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2020, S.77-148.

[5]Uwe Fuhrmann, Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, Konstanz 2017.

Benedikt Josef Neuroth, Das Private in der Sicherheitsgesellschaft. Umstrittene Freiheitsrechte in den USA 1963–1977

(Bürgertum. Neue Folge, Bd. 23)

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2023 | 422 Seiten, gebunden | 70,00 € | ISBN 978-3-525-30222-4

rezensiert von

Antonia Wegner, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

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Wer die gegenwärtigen politischen Verwerfungen der US-Gesellschaft aus historischer Perspektive verstehen will, setzt oft bei den tiefgreifenden Verschiebungen in den 1960er- und 1970er-Jahren an. Auch Benedikt Josef Neuroth untersucht in seiner Dissertation mit den Auseinandersetzungen um »privacy« und »security« zwischen 1963 und 1977 einen Diskurs aus diesem Zeitraum, dessen intellektuelle und politische Folgen ihm zufolge bis heute reichen. Der Autor zeigt anhand von drei Schlüsselkonflikten – um Datenschutz, um die Arbeit der Geheimdienste und um Reproduktionsrechte –, wie unterschiedliche Akteur*innen in verschiedenen Politikfeldern mehr bürgerliche Mitbestimmung bei der Gestaltung der Übergänge zwischen der individuellen und der gesellschaftlichen Sphäre einforderten. »Privacy« und »security« wurden – ähnlich anderen politischen Grundbegriffen des 20. Jahrhundert – zu populären und flexibel einsetzbaren politischen Leitideen, die oft in Spannung zueinander standen.[1] Einen frischen und in vielerlei Hinsicht anregenden Blick auf zentrale Entwicklungslinien der US-Gesellschaft seit den 1960er-Jahren bietet Neuroth vor allem dank der Kombination von auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Diskursen – Datenschutz und Verhütung. Auch wenn er den zeitgenössischen Bezügen zwischen diesen Konfliktfeldern nicht eigens nachgeht, überzeugt sein Vorschlag, die neuen Ansprüche auf »privacy« als Reaktion auf die »gewandelte Staatstätigkeit« (S. 378) zu verstehen. Dazu rechnet der Historiker die wachsende Bürokratie wohlfahrtsstaatlicher Programme wie Lyndon Johnsons »Great Society«, insbesondere aber die »entstehende Sicherheitsgesellschaft« in den USA im 20. Jahrhundert.

Mit dem Konzept der »Sicherheitsgesellschaft« schließt die Studie konzeptionell an die Arbeiten von Michel Foucault an, dessen Theorien zu Gouvernementalität und Überwachung ihr Analyseinstrumentarium bilden. Mit dem Neologismus »Privarität« erfasst Neuroth darüber hinaus Maßnahmen zur Begrenzung von Staatlichkeit (S. 24). Sinnvollerweise schlägt der Autor vor, »privacy« und »security« als Quellenbegriffe zu betrachten, die zeitgenössischen Verwendungsweisen aber auch auf ihre handlungspraktischen Folgen hin zu befragen. Wer sich für regierungsinterne oder juristische Abläufe interessiert, wird die ausführliche Darstellung auf breiter empirischer Basis schätzen. Wichtige analytische Befunde werden leider oft nur nebenbei geäußert. Primär wertet Neuroth Archivdokumente staatlicher Institutionen aus der Exekutive, Legislative und Judikative sowie Unterlagen der zivilgesellschaftlichen Organisationen American Civil Liberties Union (ACLU), Planned Parenthood (PP) und National Organization for Women (NOW) aus. Punktuell hinzugezogen werden wissenschaftliche und publizistische Schriften. Es handelt sich jedoch nicht um eine konsequente ideenhistorische Auswertung, die zeitgenössische Denk- und Wahrnehmungsmuster ermitteln und systematisieren würde. Tatsächlich hätte man gerne mehr über die tieferliegenden Motive und die intellektuellen sowie moralischen Prämissen der unterschiedlichen Akteur*innen gewusst, um die Gründe für wegweisende Gerichtsentscheidungen, Gesetzesreformen oder auch ihr Scheitern besser zu verstehen.

Ein einführendes erstes Kapitel stellt überzeugend die Ausgangspunkte des »privacy«-Diskurses im »New Deal« der 1930er Jahre und im aufziehenden Kalten Krieg mit seinem wachsenden Antikommunismus in den späten 1940er- und 1950er-Jahren dar. Neue Datentechnologien fanden sowohl beim Ausbau des Sozialstaates als auch bei der nach innen und außen gerichteten Sicherheitspolitik der USA Nutzen. Zugleich erschienen sie bedrohlich. Die Wissenschaft widmete sich ab Ende der 1950er-Jahre verstärkt dem Konzept »privacy« und es kam zu ersten juristischen Klagen auf verletzte Privatsphäre, meist vergeblich. Auch die Liberalisierung des Verhütungsrechts forderten Sozialreformer bis in die frühen 1960er-Jahre eher noch aus bevölkerungspolitischen, nicht aus privatrechtlichen oder gar feministischen Gründen (S. 78).

Ab 1963 folgt die Studie der Karriere des Konzepts »privacy« nach US-Präsidentschaften gegliedert. Die entscheidende Veränderung, die Politisierung von »privacy« unter Johnson (1963–1969), ist Gegenstand des zweiten und umfangreichsten Kapitels. Neuroth führt sie auf das nachdrückliche Engagement von ACLU, PP und Datenschutzaktivist*innen zurück. 1965 begründete der Supreme Court die Legalisierung von Verhütungsmitteln in der Ehe mit dem »right to privacy« (S. 122) und besiegelte so, dass Reproduktion von einem demografischen Problem zu einer »privaten« Frage geworden war. Derweil scheiterte die Einrichtung eines nationalen Datenzentrums auch deshalb, weil das Ideal von »privacy« stärker ins Gewicht fiel als Bestrebungen zur administrativen Vereinheitlichung oder wissenschaftliche Interessen an der Verknüpfung von »micro data« (S. 179). Auch der Freedom of Information Act von 1966 stärkte die Rechte der Bürger*innen gegenüber staatlicher Informationspolitik, während sich die Privatwirtschaft vielen gesetzlichen Vorgaben entzog, indem sie auf die »privacy« ihrer Kunden verwies (S. 153). Mit weniger Erfolg forderten dagegen Aktivist*innen der Neuen Sozialen Bewegungen das Ende ihrer Überwachung durch die Geheimdienste. FBI und CIA hielten auch dann noch an dem Paradigma der Gewaltprävention fest, als dessen Zielverfehlung immer stärker zutage trat (S. 213).

Neuroth illustriert, wie die Suche nach der Balance zwischen »privacy« und »security« von gegensätzlichen Interessen verschiedener Staatsinstanzen (beispielsweise Kongress und Militär), Kompetenzstreitigkeiten zwischen Behörden und parteipolitischen Profilierungsbemühungen geprägt war. Er rechnet die Konflikte den übergeordneten Veränderungen im Planungsdenken und zugleich der Durchsetzung pluralistischerer Gesellschaftsvorstellungen zu. Einmal argumentativ verfügbar, zeigten sich außerdem direkt die Vielfalt und Ambivalenz der Aneignung von »privacy«. So hielt zum Beispiel die Katholische Kirche die sozialpolitisch begründete Verhütungspolitik der Johnson-Regierung für eine Bevormundung ärmerer Bevölkerungskreise, womit sie freilich vor allem ihre eigenen Ansichten über Sexualität zu stärken suchte (S. 126). Neuroth widersteht damit dem Reiz allzu einfacher Liberalisierungsnarrative in Bezug auf die »sexuelle Revolution«. Ebenso treffend stellt er heraus, dass die Geheimdienste unter Johnson ihre Überwachungsmaßnahmen ausweiteten und sich in den Maßnahmen der »Great Society« rassistische ebenso wie klassistische Stereotype einschrieben.

Mit der Diagnose einer sich seit den 1960er-Jahren verschärfenden »Krise des Liberalismus« reiht Neuroth sich in eine prinzipiell begrüßenswerte kritische Neubewertung der großen US-amerikanischen Sozialreformen ein (S. 97–99).[2] Seine Deutung neigt jedoch dazu, im Gegenzug die emanzipativen Effekte der sozialstaatlichen Programme zu unterschätzen, da er den Vorkämpfer*innen von »privacy« tendenziell mehr Glauben schenkt als ihren jeweiligen Gegenkräften, damit Teile des zeitgenössischen Krisendiskurses reproduziert und doch die verschiedenen Positionen implizit an seinen eigenen, staatskritischen Idealen misst (mit Ausnahme der Forderung nach mehr staatlicher Regulation der Privatwirtschaft, S. 365f.).[3] Es bleibt offen, ob und wie Akteur*innen unter Verweis auf »privacy« Reformen zu delegitimieren versuchten, die der Gleichstellung bislang diskriminierter Menschen – Schwarze, Frauen, Homosexuelle – dienen sollten.

Das dritte Kapitel argumentiert, dass Verfechter*innen von »privacy« zwischen 1969 und 1974 von dem allgemein wachsenden Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen profitierten und dieses gleichzeitig schürten. Neuroth stellt anhand mehrerer Gerichtsprozesse gegen publik gewordene Geheimdienstoperationen dar, wie die Planungseuphorie an ihr Ende kam, ohne dass eine Alternative zu präventiver, massenhafter Datensammlung gefunden war. Eine neue Wendung des »privacy«-Diskurses, aber auch der Praktiken zur Überwachung politischer Gegner*innen sieht Neuroth im Abklingen linker Proteste und im Watergate-Skandal, da Nixon zunächst sein Amt missbrauchte und sich dann mithilfe des »right to privacy« zu schützen suchte (S. 318). Insbesondere die Aufarbeitung des Watergate-Skandals ermöglichten unter Gerald Ford die Herausbildung eines »Konsens zu privacy« (S. 323), auch wenn sich die Konflikte um »privacy« und »security« weiterhin um die gleichen Fragen drehten (Kapitel 4). Reformen wie der Privacy Act von 1974 unterstellten die Geheimdienste und den politischen Betrieb neuen Transparenzregeln. An der so etablierten Ordnung der Sicherheits- und Freiheitsrechte rüttelten grundlegend weder die zahlreichen Gesetzesreformen und Justizentscheidungen von 1977 bis heute, über die das vorletzte Kapitel einen knappen Abriss bietet, noch das Ende des Kalten Krieges oder die Anschläge vom 11. September 2001. Auch das Fazit betont, dass Gesetzgeber und Supreme Court trotz der wiederholten Forderung nach Vereinheitlichung keine übergeordnete Leitlinie für »privacy« ausarbeiteten, sondern in bestimmten Bereichen die Privatrechte ausbauten, in anderen dagegen die Befugnisse der Geheimdienste (S. 376).

Bedauerlich ist, dass der Autor seine Untersuchung nicht in den florierenden Forschungsdebatten der US-Zeitgeschichte verortet und daher das Innovationspotential seiner Thematik nicht voll ausschöpft. Dabei würde sich das Begriffspaar »privacy« und »security« wunderbar eignen, um den beispielsweise unter Schlagwörtern wie Individualisierung, Polarisierung und Neoliberalismus intensiv beforschten Fragen nach dem Verhältnis struktureller Veränderungen und neuer gesellschaftlicher Konflikte nachzugehen.[4] Wünschenswert wäre auch eine genauere Begründung bestimmter konzeptioneller Entscheidungen gewesen, beispielsweise die Gliederung nach Präsidentschaften oder die Definition und empirische Erfassung zentraler Analysebegriffe wie Gesellschaft, Staat und Sicherheit. Obwohl Neuroth selbst die begrenzte Erklärungskraft von Foucaults Theorien für seinen Untersuchungsgegenstand feststellt (S. 228), erwägt er keine anderen auf die Befunde passenden Analysedimensionen. So übernimmt die Studie spezifische Werturteile und bedenkt nicht, dass Foucaults Ideen selbst im Untersuchungszeitraum entstanden und zum größeren zeitgenössischen Diskurs um Sicherheit, Grundrechte und Staatlichkeit gehörten. Dennoch ist es erkenntnisfördernd, dass sich der Autor für die Historisierung dieses Diskurses auf die USA konzentriert. Indem Neuroth den Aufstieg der Konzepte »privacy« und »security« nicht über die Höhenkammliteratur erschließt, sondern über eine Vielfalt wichtiger Protagonist*innen, Diskursstränge und konkreter politisch-juristischer Prozesse, zeigt er auf, wie vielfältig und uneinheitlich sich der US-amerikanische Staat im Konkreten ausformte.[5] Mit diesem Weg erschließt die Studie einen wichtigen Aspekt der US-amerikanischen Zeitgeschichte als Vorgeschichte der Gegenwart für ein deutsches Publikum und regt auf vielerlei Art zur weiteren Beschäftigung an.

 

Zitierempfehlung

Antonia Wegner, Rezension zu: Benedikt Josef Neuroth, Das Private in der Sicherheitsgesellschaft. Umstrittene Freiheitsrechte in den USA 1963–1977, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81986.pdf> [17.4.2024].

 

[1] Vgl. Christian Geulen, Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen 7, 2010, S. 79–97.

[2] Vgl. Elizabeth Hinton, From the War on Poverty to the War on Crime. The Making of Mass Incarceration in America, Cambridge 2016.

[3] Vgl. dagegen Julian E. Zelizer, The Fierce Urgency of Now. Lyndon Johnson, Congress, and the Battle for the Great Society, New York 2015; Joshua Zeitz, Building the Great Society. Inside Lyndon Johnson's White House, New York 2018.

[4] Vgl. Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge, Mass. 2012; Bruce J. Schulman, Post-1968 U.S. History. Neo-Consensus History for the Age of Polarization, in: Reviews in American History 47, 2019, S. 479–499.

[5] Vgl. auch William J. Novak, The Myth of the »Weak« American State, in: The American Historical Review 113, 2008, S. 752–772.

Stefanie Palm, Fördern und Zensieren. Die Medienpolitik des Bundesinnenministeriums nach dem Nationalsozialismus

(Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen Innenministerien nach 1945, Bd. 7)

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 592 Seiten, gebunden | 46,00 € | ISBN 978-3-8353-3480-9

rezensiert von

Jürgen Wilke, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

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Die vorliegende Studie gehört in die Serie von Untersuchungen, die dem Aufbau der Ministerien in der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit gewidmet sind. In ihr steht zum wiederholten Male das Bundesinnenministerium im Zentrum, mit dem Schwerpunkt diesmal allerdings auf der dort betriebenen Medienpolitik.[1] Sie greift damit gezielt nur einen Teil der Zuständigkeit dieses Ministeriums auf, und zwar denjenigen, für den zumindest damals der hier dafür verwendete Begriff noch gar nicht in Gebrauch war. Erst seit den 1970er-Jahren wurde es hierzulande üblich, mit dem Begriff »Medien« die Gesamtheit der Techniken zur Massenkommunikation zu bezeichnen (Presse, Film, Rundfunk). Das gilt auch für den davon abgeleiteten Begriff »Medienpolitik«. Dessen ungeachtet waren die politischen Instanzen in der Bundesrepublik freilich schon vorher damit befasst, regulierend auf die gesellschaftliche Kommunikation einzuwirken.

Der Spielraum dafür, der im Titel kurz mit den operativen Modi des Förderns und Zensierens umrissen wird, war allerdings von Beginn an begrenzt. Das hatte vor allem mit der Abkehr vom Nationalsozialismus und der Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen zu tun, insbesondere der in Art. 5 GG garantierten Presse- und Informationsfreiheit. Daraus folgerte man eine Zeit lang sogar, dass die beste Medienpolitik gar keine sei.[2] Das war freilich illusorisch. Hinzu kam überdies die von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes geschaffene Kompetenzverteilung, wonach die Zuständigkeit für die Kultur den Bundesländern zufiel, was den Zentralstaat diesbezüglich einengte. Umso mehr mag es vielleicht überraschen, dass Stefanie Palm ihre Untersuchung zur Medienpolitik des Innenministeriums auf mehr als 500 Seiten ausbreitet. Von einer quantité négligeable kann also keine Rede sein.

Die Studie ist quellenmäßig breit fundiert. Sie schöpft nicht nur aus den Akten des Ministeriums im Bundearchiv, sondern für Teilaspekte auch aus zahlreichen anderen Archiven. Ergänzende Interviews konnten nur wenige durchgeführt werden, da die meisten der damaligen Akteure längst verstorben sind. Das ist bedauerlich, weil die Darstellung damit so gut wie ausschließlich auf dem papierenen Niederschlag der untersuchten Vorgänge basiert und nicht oder nur am Rande die nicht in diese Quellen eingegangene subjektive Wahrnehmung von zeitgenössischen Akteuren in Betracht gezogen werden kann. Über 40 Seiten umfasst zudem das Literaturverzeichnis.

Methodisch verschreibt sich die Studie dem »politikwissenschaftlichen Ansatz des akteurszentrierten Institutionalismus« (S. 11), demzufolge das Ministerium als »kooperativer Akteur« (ebd.) erscheint, das von den in ihm tätigen Personen geprägt wird. Das bedeutet, dass große Teile der Studie aus der Rekonstruktion der Lebensläufe der relevanten Akteure entstanden sind. Mehrfach spricht die Verfasserin von dem »biographischen Gepäck« (z.B. S. 532), das diese mit sich führten, womit vor allem gemeint ist, wie sie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich agiert hatten und ob und wie sie sich dem Nationalsozialismus angedient hatten. Denn in der Tat bestätigt sich in diesem Fall – wie in den anderen gleichartigen Untersuchungen –, dass das ministerielle Personal mehr oder weniger stark durch eine NS-Vergangenheit belastet war. Die Mitgliedschaft in NSDAP und SA, vereinzelt auch in der SS, wurde bei der beruflichen Neurekrutierung nach 1945 zumeist verschwiegen oder heruntergespielt. Indem die Verfasserin das Verwaltungshandeln der Akteure ziemlich umstandslos mit ihrer NS-Vergangenheit in Zusammenhang bringt, verzichtet sie jedoch darauf, den unterstellten kausalen Nexus zwischen »biographischem Gepäck« und politischem Handeln in der Nachkriegszeit theoretisch näher auszuleuchten.

Nach der Einleitung ist die Studie in vier große Kapitel gegliedert. Im ersten wird gewissermaßen der ministerielle Apparat geschildert, in dem der Untersuchungsgegenstand seinen Platz hatte. Kernzelle war die Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums, deren Stellung wegen der limitierten Bundeszuständigkeit prekär war. Das schloss Revierkämpfe mit anderen Regierungsstellen bis hin zu Bundeskanzler Adenauer nicht aus, im Gegenteil. Denn man suchte selbstverständlich, den eigenen Spielraum extensiv auszulegen. Außer auf das ministerielle Arrangement geht Palm auf die Personalpolitik im Innenministerium ein und porträtiert die aufeinander folgenden Leiter der Kulturabteilung und die maßgeblichen Referenten. Eine Sonderstellung räumt sie von Beginn an dem Referat für Presse, Rundfunk und Film ein.

Im zweiten Kapitel werden vier thematische Teilkomplexe abgehandelt. Zunächst geht sie auf institutionelle Bestrebungen ein. Während die Gründung eines Informationsministeriums wegen der unvermeidlichen Erinnerung an Goebbels scheitern musste, gelang im Bildungsbereich die Wiedererrichtung der aus der Weimarer Republik stammenden Bundeszentrale für Heimatdienst (später: für politische Bildung). Danach geht es um Kontroversen mit den Besatzungsmächten, und zwar bei der Gewährung von Krediten an neu- oder wiedergegründete Zeitungen, aber auch bei der Genehmigung amerikanischer Rundfunksender auf deutschem Boden. Das dritte Unterkapitel ist dem »guten« Film gewidmet, also pädagogisch motivierten Vorkehrungen gegenüber schädlichen Einflüssen des Kinos auf Jugendliche. Hier erreichte man immerhin eine Bundesbeteiligung an der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) und an der Filmprämiierung. Viel Aufsehen erregte 1952 der letztlich ebenfalls fehlgeschlagene Versuch der Schaffung eines Bundespressegesetzes, das beträchtliche staatliche Kontrollmechanismen vorsah. Der Fall ist bereits mehrfach behandelt worden, wenn auch nirgendwo so eingehend wie hier.

Da das Bundesinnenministerium mit der Mehrzahl seiner medienpolitischen Initiativen gescheitert war oder lediglich begrenzte Möglichkeiten der Einflussnahme erzielt hatte, sieht Stefanie Palm in der Folgezeit eine Abkehr des Ministeriums von medialen Großthemen. Freilich verblieben Optionen in verschiedenen Feldern und insbesondere in Medienkonflikten. Das gilt z.B. für die Studentenbewegung Ende der 1960er-Jahre. Die Aktivitäten des Referats für Schul-, Erziehungs- und Bildungswesen liegen allerdings eher am Rande der in dieser Studie fokussierten Thematik. Im Presserecht setzte man sich weiterhin für die Berücksichtigung staatlicher Belange ein, materiell etwa gegen ein zu weit reichendes Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten. Der Aktualisierung geschuldet ist es, wenn Palm die Auseinandersetzung um die Veröffentlichung geheimer Unterlagen durch Journalisten unter dem Begriff »Whistleblower« abhandelt. Sie zeigt das vor allem an der 1959 von einem Reporter des Stern ausgelösten »Nayhauß-Affäre«. In weiteren Teilkapiteln geht es um den Ehrenschutz sowie um die Pläne für ein Notstandspressegesetz. Hier drängte das Ministerium in der Regel auf strengere Vorschriften als man im Journalismus und in der medialen Öffentlichkeit zu akzeptieren bereit war. Im vierten, relativ kurzen Hauptkapitel konstatiert Palm dann eine Krise der Kulturabteilung in den späten 1960er-Jahren. Ein Fazit mit generellen Schlussfolgerungen schließt die Untersuchung ab. Palm resümiert ihr insgesamt kritisches Urteil über die vom Innenministerium betriebene, aber weithin fehlgeschlagene staatliche Medienpolitik, konzediert aber in mehrfacher Hinsicht »Lernprozesse«.

Stefanie Palm hat eine kenntnisreiche, ja erschöpfende Studie zur Medienpolitik des Bundesinnenministeriums vorgelegt. Vieles davon war zwar bisher schon bekannt, wurde aber noch nicht in einem so breiten Kontext systematisch dargestellt. Das ist ein großer Gewinn, verlangt aber auch geduldige Lektüre. Vor allem wird deutlich, dass die Durchsetzung einer freien Medienlandschaft in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg nicht selbstverständlich war, sondern auf erhebliche Beharrungskräfte stieß. Die Widerstände führt Palm vor allem auf eine aus der deutschen Tradition stammende »antiliberal etatistische« (S. 23) Grundhaltung in der Ministerialbürokratie zurück. Woran es der Studie vielleicht fehlt, ist ein Gefühl für das Meinungsklima, aus dem heraus bestimmte Handlungen in den 1950er- und 1960er-Jahren gerechtfertigt erscheinen mochten. Das betrifft beispielsweise die damals wahrgenommene Bedrohung durch den Sowjetkommunismus. Nach meinem Eindruck scheint die Verfasserin diese zu unterschätzen bzw. die Reaktionen darauf für hypertroph zu halten, wie es nach dem Zusammenbruch von 1989 manchen vielleicht naheliegen mag. Mehrfach werden Wertungen ausdrücklich »aus heutiger Sicht« (z.B. S. 281) vorgenommen, ohne dass deren Begründung immer einsichtig wäre. Das gilt auch für gelegentliche Attribuierungen, so wenn Verhaltensweisen als »freimütig« (S. 217), »willig« (S. 223) oder »reflexartig« (S. 233 u. 368) eingestuft werden.

Stefanie Palm meint aber auch bestimmte Annahmen der bisherigen Mediengeschichtsschreibung korrigieren zu können, so die von Hodenberg aufgestellte und häufig wiederholte These vom »Konsensjournalismus« in der frühen Bundesrepublik.[3] Doch wird man auch gegen Palms Untersuchung etwas kritisch einwenden können, nämlich dass sie gegenüber den Medien durchweg sehr wohlwollend ausfällt. Ist es gänzlich verfehlt, wenn politik- und kommunikationswissenschaftliche Diagnosen zu dem Schluss kommen, die Gewichte zwischen Staat und Medien hätten sich in der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit zunehmend zugunsten der letzteren verschoben?

 

Zitierempfehlung

Jürgen Wilke, Rezension zu: Stefanie Palm, Fördern und Zensieren. Die Medienpolitik des Bundesinnenministeriums nach dem Nationalsozialismus, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81987.pdf> [17.4.2024].

 

[1] Vgl. auch (mit Beteiligung der Autorin) Frank Bösch/Andreas Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018.

[2] Vgl. Jürgen Wilke, Bedeutung und Gegenstand der Medienpolitik. Skizze eines Feldes praktischer Politik und wissenschaftlicher Analyse, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 9/1985, S. 3-16, hier S. 6.

[3]Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006.

Stefan Zeppenfeld, Vom Gast zum Gastwirt. Türkische Arbeitswelten in West-Berlin

(Geschichte der Gegenwart, Bd. 26)

Wallstein Verlag | Göttingen 2021 | 430 Seiten, gebunden | 39,00 € | ISBN 978-3-8353-5022-9

rezensiert von

Jana Matthies, Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg

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Wo arbeiteten West-Berliner:innen, die als »Gastarbeiter:innen« aus der Türkei in die Stadt gekommen waren? Mit welchen rechtlichen und beruflichen Rahmenbedingungen waren sie konfrontiert? Welche Aufstiegsmöglichkeiten boten sich ihnen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Stefan Zeppenfeld in seiner am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam entstandenen und 2021 als Buch erschienenen Dissertation. Er untersucht darin türkische Arbeitswelten in West-Berlin zwischen dem Anwerbeabkommen mit der Türkei 1961 und dem Mauerfall 1989 und zeigt: Wesentlich waren nicht Gesetzestexte oder Dienstanweisungen, sondern vielmehr die Migrierten selbst. Sie schufen sich ihre eigenen Arbeitswelten, Erwerbsleben und Einkommensquellen in unterschiedlichsten Bereichen, indem sie ihre Handlungsspielräume erkannten und sie je nach Situation und Interesse nutzten. Vor allem Rückkehrüberlegungen und die Branche, in der sie tätig waren, bedingten, welche Perspektiven sich für sie im Westteil Berlins ergeben konnten (S. 29f., 377-381). Zeppenfeld hat ein grundsätzlich erkenntnisreiches, klar aufgebautes und gut lesbares Buch geschrieben, das die Unterschiedlichkeit von Arbeitswelten aufzeigt und damit zur Widerlegung einseitiger Bilder über den oder die (türkische) »Gastarbeiter(in)« beiträgt.

Einleitend verzichtet der Autor erfreulicherweise auf die sonst übliche Aufzählung migrationspolitischer Rahmenbedingungen und beginnt seine Erzählung stattdessen mit einem Überblick über die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen und die Entwicklung Berlins als Wirtschaftsstandort seit der vorletzten Jahrhundertwende (Kapitel 2). Darauf aufbauend nimmt er fünf Arbeitswelten genauer in den Blick: erstens das örtliche Siemens-Werk; zweitens den öffentlichen Dienst der Stadt und hier besonders die Angestellten der Stadtreinigung, der Verkehrsbetriebe, der Schulen und Kitas sowie der Polizei; drittens akademische Berufe wie Ärzte und Rechtsanwälte und außerdem Studierende; viertens Selbstständige im Lebensmittelhandel, in Gebrauchtwarenläden und im grenzüberschreitenden Handel; sowie fünftens Tätigkeiten »jenseits geregelter Beschäftigungsverhältnisse«, worunter er Arbeitslosigkeit, Schwarzarbeit und Drogenhandel subsumiert (Kapitel 3 bis 7). Abschließend wirft er einen Ausblick auf das wiedervereinigte Berlin (Kapitel 8).

Warum der Westen des geteilten Berlins? Berliner:innen aus der Türkei bildeten seit 1966 die größte Gruppe der Zugezogenen im Westteil und prägten ihn entsprechend mit. Hinzu kam die spezifische Lage der Stadt mitten in der DDR. Die Berliner Mauer begrenzt Zeppenfelds Untersuchungsgegenstand also gewissermaßen doppelt, nämlich örtlich und zeitlich. Diese Konstellation macht nicht zuletzt den Reiz von Zeppenfelds Buch aus. Sein Ansatz unterscheidet sich damit von den gängigen Periodisierungen in Untersuchungen zur Migrationsgeschichte der Bundesrepublik, die sich meist an der Unterzeichnung der Anwerbeabkommen seit 1955 und dem »Anwerbestopp« von 1973 orientieren. Die Potenziale von Zeppenfelds Rahmensetzung werden beispielsweise in den Unterkapiteln zum vielfach grenzüberschreitenden Drogenhandel unter Beobachtung der Alliierten, der Polizeien und der »Stasi« (S. 336-357) und zum Kreuzberger Ortsteil SO 36 (S. 251-301) deutlich. Hier verortet er Arbeitswelten an konkreten Orten wie dem Wrangelkiez und der U-Bahn-Station Bülowstraße und bindet sie zugleich zurück an übergeordnete Fragen wie der nach der Bedeutung familiärer Netzwerke, nach der Aneignung des Viertels und nach interkulturellen Begegnungen. An diesen Stellen gelingt es Zeppenfeld zudem, die vielfältigen transnationalen und translokalen Verbindungslinien aufzuzeigen, die an anderer Stelle mitunter in Halbsätzen abhandenkommen.

Grundsätzlich prägt Zeppenfelds Arbeit allerdings die Qual der (Nicht-)Wahl. Das zeigt sich vor allem an zwei Punkten: der Quellengrundlage und der Frage von Differenzierungen. Auf den ersten Seiten des Buches stellt Zeppenfeld heraus: »Die Migrationsgeschichte hat ein Quellenproblem. Allzu häufig fehlen der historischen Forschung die Stimmen der Eingewanderten selbst.« (S. 31). Dies betrifft jedoch auch seine eigene Untersuchung, die sich vor allem auf eine Vielzahl an Behörden- und Firmenakten, Presseberichten, Statistiken, Fotografien und literarischen Verarbeitungen stützt, die er aus diversen Archiven zusammengetragen hat. Die Rechercheleistung ist beeindruckend, löst aber das Problem nicht. Er nimmt damit vor allem die Perspektiven von Repräsentant:innen der Mehrheitsgesellschaft ein; der oder die Migrierte kommt nur selten tatsächlich selbst zu Wort. Da kaum schriftliche Selbstzeugnisse von ihnen zugänglich sind, wären Interviews mit Migrierten umso wichtiger gewesen. Dass solche Quellen das schriftliche Archivgut kontrastieren und neue Blickwinkel eröffnen können und damit zur Erweiterung historiografischer Erzählungen beitragen, ist auch Zeppenfeld klar. Er stellt dies anhand eines Interviews mit einem Angestellten im Berliner Siemens-Werk heraus, dessen Vater dort als »Gastarbeiter« gearbeitet hatte und dessen Sohn dann ebenfalls, aber als Werkstudent, in die Firma kam (S. 133-136). Umso mehr verwundert es, dass er diese Möglichkeit für seine Untersuchung nicht häufiger nutzt. Auch Bildmaterialien baut er nur spärlich ein. So bleiben die Arbeitswelten weitestgehend ohne Alltag und die eigentlichen Protagonist:innen ohne Gesicht und Namen. Sie verschwinden hinter Zahlen, Typologisierungen und Sammelbegriffen. Zeppenfeld erzählt letztlich eine mehr oder weniger »klassische« Sozialgeschichte mit neuem Thema (S. 13f.).

Dabei geraten Binnendifferenzierungen und Ambivalenzen, welche die türkischen Arbeitswelten in West-Berlin mitkonstituierten, mitunter aus dem Blick. So stellt sich beispielsweise die Frage, warum Intellektuelle bewusst ausgeblendet werden (S. 29) und überhaupt Migrationsmotive jenseits von Arbeit kaum vorkommen. Zu denken ist für die 1970er- und die 1980er-Jahre nicht nur an wirtschaftliche Krisen, sondern auch an politische Umbrüche im Umfeld der Militärputsche in der Türkei. Kurz: Die begrüßenswerte Breite in Zeppenfelds Untersuchung geht zulasten von Vertiefungen. Umgekehrt werden Klammern um Personenkreise gezogen, deren Arbeitsleben und Startvoraussetzungen kaum zu vergleichen waren. Bei den erwähnten Rechtsanwält:innen handelt es sich gar um Angehörige der zweiten Generation, die das deutsche Bildungssystem teilweise oder ganz durchlaufen hatten. Gemeinsam war allen im Hauptteil berücksichtigten Personen lediglich der Lebensmittelpunkt West-Berlin und der Bezug zur Türkei. Davon ausgehend macht Zeppenfeld sie zur Gruppe und labelt sie als »Türkeistämmige«, um »der diversen Gesellschaft der Türkei gerecht [zu] werden« (S. 24). Diese semantische Reflexion ist in jedem Fall zu begrüßen, hätte aber in der Konzeption der Untersuchung und im Text selbst eine größere Rolle spielen können. Dort ist oft das Attribut »türkisch« zu lesen.

Zeppenfelds Arbeit lanciert permanent zwischen Lokal- und Strukturstudie. Das ist zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche. Zwar gelingt es ihm nicht immer, die inhärenten Potenziale seines Ansatzes auszuschöpfen und etwa stets den angestrebten lokalen Zugriff einzulösen. Er vermag es aber, unterschiedlichste Arbeitswelten aufzuzeigen und dadurch mit vielen Klischees zu brechen. Es gab eine Vielzahl von Erwerbsmöglichkeiten und Handlungsspielräumen, die die Migrierten selbst ausfüllten und hinter denen politische Regelungen oder Kontrollen zurücktraten. Das System der »Gastarbeit« entwickelte ein »Eigenleben« (S. 29) jenseits der Pläne aller Beteiligten, seien es Politiker:innen, Firmen, Arbeitnehmer:innen, Kolleg:innen oder Familienangehörige. Zeppenfelds Thema ist nach wie vor hochaktuell. Dies gilt sowohl für unsere gegenwärtige Gesellschaft als auch für die wissenschaftliche Historiografie. Beides greift Zeppenfeld auf: Er will »zum Verständnis des Einwanderungslandes« (S. 18) ebenso beitragen wie zu einer »historische[n] Neuperspektivierungen der deutschen Gesellschaft im Wandel« (S. 383). Dies gelingt ihm nur eingeschränkt. Zweifellos aber regt sein Buch an, weiter über (lokale) Migrationsgeschichte(n) nachzudenken.

 

Zitierempfehlung

Jana Matthies, Rezension zu: Stefan Zeppenfeld, Vom Gast zum Gastwirt? Türkische Arbeitswelten in West-Berlin, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81981> [17.4.2024].

Harro Zimmermann, Günter Grass. Biographie

Osburg Verlag | Hamburg 2023 | 944 Seiten, gebunden | 49,00 € | ISBN 978-3-95510-332-3

rezensiert von

Bernd Rother, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Berlin

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Vorab eine ›Triggerwarnung‹: Dies ist eine Rezension aus der Sicht eines Zeithistorikers; auf literaturwissenschaftliche Fragen werde ich nicht eingehen.

Umfänglich ausgefallen ist diese neue Grass-Biographie. Michael Jürgs begnügte sich vor zwanzig Jahren mit weniger als der Hälfte.[1] Der Bremer Literaturwissenschaftler und Rundfunkredakteur Harro Zimmermann nimmt – wie das Vorgängerwerk – den ganzen Grass in den Blick: den Schriftsteller und darstellenden Künstler ebenso wie den politisch engagierten Staatsbürger. Kindheit und Jugend in Danzig, die schwierigen Jahre bis zum Sensationserfolg mit der »Blechtrommel«, das Auf und Ab der Kritikerreaktionen auf die mit nie ermüdender Produktivität vorgelegten Erzählungen, Novellen und Romane, die große Resonanz auf seine Werke im Ausland, schließlich der Nobelpreis, das immer stärkere Engagement für Willy Brandts SPD, die allmähliche Enttäuschung über die Politik der Sozialdemokratie bis zum Bruch in den 1990er-Jahren, die zugunsten von Gerhard Schröder neu belebte Unterstützung für die Partei – all das wird detailliert beschrieben. Wenig erfährt man hingegen über den Privatmenschen Grass und über die Menschen um ihn herum. Die Schilderung von Grassens politischem Engagement nimmt großen Raum ein. Das Inhaltsverzeichnis erweckt gar den Eindruck, als ginge es nur darum. Niemand (außer Grass natürlich) wird im Buch häufiger erwähnt als Willy Brandt. Die Lektüre erweist dann aber doch, dass sich Zimmermann ebenfalls umfänglich mit dem literarischen Werk von Grass befasst.

Im »Dritten Reich« war Grass wie viele seines Alters überzeugter Nationalsozialist. Der verordnete Besuch des amerikanischen Kriegsgefangenen Grass im KZ Dachau bewirkte nichts, erst »das Eingeständnis Baldur von Schirachs beim Nürnberger Prozess« (S. 57) habe ihm, so Zimmermann über Grass, die Augen geöffnet für die Schuld der Deutschen an Krieg und Judenvernichtung. Die (erneute) Politisierung setzte in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre ein, als Grass in Paris lebte und an der »Blechtrommel« arbeitete. 1961 trat der politische Grass erstmals in Erscheinung und bekannte sich öffentlich zur SPD. In diesem und im folgenden Bundestagswahlkampf leistete er »Text- und Beratungsarbeit« (S. 248) für sozialdemokratische Wahlkämpfer. 1969 und 1972 erreichte die öffentliche Wahlkampfhilfe von Grass für die SPD ihren Höhepunkt. Um ihn herum entstanden vielfältige »Sozialdemokratische Wählerinitiativen«, er selbst hielt Dutzende Wahlkampfreden.

Seine politischen Aktivitäten waren in mehrfacher Hinsicht umstritten: Die teils provozierenden Aussagen bestätigten Konservative (und Nationalliberale) in ihrer Ablehnung seiner Person, zu der sie bereits wegen seines aus ihrer Sicht streckenweise pornografischen schriftstellerischen Werks gelangt waren. Aber auch für Sozialdemokraten, solche an der Spitze der Partei zumal, gab es mehrfach Momente, in denen sie meinten, sich von seinen Positionen distanzieren zu müssen, sei es von der frühen Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, der Missbilligung der bundesdeutschen Asylpolitik der 1990er-Jahre und vieles mehr. Negative Reaktionen erfuhr Grass auch unter Schriftstellern: Manche lehnten die Aktivitäten ihres Kollegen als generell eines Künstlers unangemessen ab, andere stießen sich an zu radikalen, Dritte an zu wenig radikalen Stellungnahmen. Neu ist das alles nicht, wie auch insgesamt Zimmermanns Biographie mit bisher Unbekanntem nicht aufwartet. Auch eine kritische Erörterung der politischen Positionen von Grass erfolgt selten. Dem Autor geht es darum, »die Bedeutung dieses Dichters der Deutschen noch einmal ins Licht [zu] rücken.« (S. 30) Das Buch eine ausgesprochene Apologie zu nennen wäre andererseits unzutreffend, denn der Verfasser bezieht kaum selbst Stellung.

Mit »Dichter der Deutschen« benennt Zimmermann nicht nur den Rang, den Grass aus seiner Sicht in der deutschen Kulturgeschichte einnimmt, sondern auch eines der zentralen politischen (und literarischen) Themen von Grass: Deutschland, die deutsche Nation, die deutsche Vergangenheit und Gegenwart, der Zusammenhalt über die Grenzen des geteilten Landes hinweg. Auschwitz war für Grass dabei der Sehepunkt, den er einnahm. »Die Wunde Auschwitz müsse offen bleiben«, so fasst Zimmermann Grassens Haltung bei dessen Israel-Besuch 1967 zusammen (S. 425). Als 1989/90 die Einheit der deutschen Nation kam, stand Grass zur Verwunderung derer, die sein jahrzehntelanges Eintreten kannten, auf der Seite der Kritiker. Für ihn war es ein Anschluss, eine Überwältigung, gar ein Bruch der Verfassung. Grass wähnte 1990 »einen nahezu delirierenden Nationalismus« am Werke. (S. 687)

In der Politik war, wie bereits angedeutet, Willy Brandt die Persönlichkeit, auf die Grass seine Hoffnungen setzte (so auch 1989/90, aber da blitzte der Schriftsteller beim Politiker ab), den er für dieses und jenes Anliegen zu gewinnen suchte, den er bei Treffen und durch viele Briefe traktierte, häufig zum Leidwesen des Adressaten. Zu Helmut Schmidt fand er keinen ähnlichen Zugang, obwohl dieser doch – was Zimmermann leider nicht anspricht – Kunst und Wissenschaft viel näherstand als Brandt. Nur Gerhard Schröder erwies sich nach anfänglicher Skepsis auf Seiten von Grass als ähnlich an den Künsten interessiert und für die Meinungen der Künstler aufgeschlossen. Von Oskar Lafontaine hingegen war Grass bald enttäuscht, nachdem dieser zuerst sein Hoffnungsträger für die SPD nach Brandt gewesen war.

Zu den aufgeregten Debatten um die Zugehörigkeit von Grass zur Waffen-SS, als dieses Faktum, das Einzelne bereits Jahre vorher von Grass selbst erfahren hatten, im Jahre 2006 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, nimmt Zimmermann eine Frage von Dieter Wellershoff auf: »Hätte die ›Gruppe 47‹, hätten Willy Brandt und die SPD jemals ein Waffen-SS-Mitglied an sich herangelassen?« (S. 806). Was die SPD und was Brandt angeht, kann man da nur mit einem klaren Ja respondieren. Zimmermann hingegen beantwortet die Frage nicht. Dies ist das Grundmuster des Buches: Aus einem wohlsortierten Zettelkasten zieht der Verfasser die jeweils passenden Äußerungen Dritter zum politischen und literarischen Schaffen von Grass heraus und lässt den Leser immer wieder mit einer Zusammenstellung von ›die einen sagen, die anderen sagen‹ ratlos zurück. Weit über Gebühr verzichtet der Autor auf eigene Urteile. Am Ende weiß man, was Marcel Reich-Ranicki, Hans Magnus Enzensberger usw. von Grass hielten, aber erfährt nicht die Einschätzung des Biographen. Auf Dauer wirkt dieses Verfahren recht ermüdend.

Wach wird der zeithistorisch kundige Leser dann aber wieder, wenn er zum eigenen Verdruss über viel zu viele Irrtümer stolpert. Eine kleine Auswahl reicht von der Verwechslung der Ostberliner »Berliner Zeitung« mit der Westberliner »B.Z.« über die Behauptungen, vor Charles de Gaulles Machtübernahme 1958 hätten putschende Militärs Frankreich regiert, Rainer Barzel sei 1969 Kanzlerkandidat der CDU/CSU gewesen, Biedenkopf habe es zum CDU-Vorsitzenden gebracht, Brandt habe sich 1973 bei einem Moskau-Besuch »schweren Angriffen aus den eigenen Reihen« (S. 514) ausgesetzt gesehen (tatsächlich war Wehner in Moskau und griff von dort aus Brandt an) bis zur Fehlerinnerung, Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm wäre im November 1989 in der BRD strikt abgelehnt worden (die SPD stimmte ihm zu).

Zimmermanns Werk endet mit dem Tod des ›Helden‹. Wäre es nicht angebracht gewesen, acht Jahre danach seine Nachwirkung zu thematisieren? Auch eine Zusammenfassung, ein Fazit, eine abschließende Einordnung fehlt. Ausführungen, die in diese Richtung gehen könnten, finden sich im Prolog. Darin erscheint Grass als Repräsentant der Bundesrepublik »in den politischen Ordnungsmaßen der Sechziger- und Siebzigerjahre« (S. 27). Dem schließt sich unmittelbar die Charakterisierung Grassens als »revisionistische[r] Sozialdemokrat« an. Aber wer deshalb erwartet, dass Eduard Bernstein ein wichtiges Thema sein werde, hat sich getäuscht. Das Personenregister vergisst den Ahnherren des Revisionismus gänzlich, der Rezensent fand drei kurze Erwähnungen auf den Seiten 254, 484 und 491. Auch August Bebel hat es zwar – ganz knapp – ins Buch, aber nicht ins Register geschafft, obwohl Günter Grass 2010 eine nach dem Mitbegründer der Sozialdemokratie benannte Stiftung ins Leben rief.

Am Ende legt man das Buch ermattet aus der Hand. Seine Ausführlichkeit ist eher ein Malus als ein Plus. Zu sehr dominiert der Eindruck, hier habe jemand fleißig einen Zettelkasten abgearbeitet. Hinzu kommen vermeidbare sachliche Fehler in den Passagen zur Zeitgeschichte und – noch störender – die weitgehende Abwesenheit von eigenen Urteilen des Autors. Schade!

 

Zitierempfehlung

Bernd Rother, Rezension zu: Harro Zimmermann, Günter Grass. Biographie, Osburg Verlag, Hamburg 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81982> [17.4.2024].

 

[1]Michael Jürgs, Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters, München 2002.

Helena Barop, Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute

Siedler Verlag | München 2023 | 304 Seiten, Hardcover | 26,00 € | ISBN 978-3-8275-0172-1

rezensiert von

Kristoff Kerl, Köln

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In den letzten Jahren ist in einigen Ländern wie Uruguay und den USA Bewegung in die Drogenpolitik gekommen. Das Ende Februar im Bundestag verabschiedete Cannabisgesetz erlaubt es nun auch in Deutschland Erwachsenen, über sogenannte Cannabis Social Clubs legal Cannabis zu erwerben bzw. es privat anzubauen und zu konsumieren. Diese Veränderungen in den Drogenpolitiken einiger Länder hat die Historikerin und Publizistin Helena Barop zum Anlass genommen, um einen Überblick über die Entstehung moderner Drogenprohibition zu liefern. Bereits in ihrer 2021 veröffentlichten und mehrfach preisgekrönten Dissertation »Mohnblumenkriege« hatte sich Barop detailliert mit einem wichtigen Aspekt moderner Drogenpolitik auseinandergesetzt: der Drogen-Außenpolitik der USA zwischen den 1950er und den 1970er Jahren.[1] Nun hat sie mit »Der große Rausch« ein weiteres und erneut sehr lesenswertes Buch vorgelegt. Bei »Der große Rausch« handelt es sich jedoch, anders als bei ihrer ersten Monographie, nicht um ein wissenschaftliches Buch, sondern um ein Sachbuch, das ein breiteres Publikum adressiert und zu diesem Zwecke auf einen wissenschaftlichen Sprachduktus, einen ausführlichen Endnotenapparat und ein detailliertes Literatur- bzw. Quellenverzeichnis verzichtet.

Zeitlich nimmt das Buch den Zeitraum seit dem 19. Jahrhundert in den Blick. Geographisch richtet Barop den Untersuchungsfokus weitgehend auf die USA, die sie als maßgebliche Kraft bei der Herausbildung der modernen Drogenprohibition begreift. So widmen sich acht der insgesamt elf Kapitel der von den USA sowohl im Inneren als auch außenpolitisch verfolgten Drogenpolitik. Aber auch die Entwicklung, die die Drogenpolitik in den geographischen Gebieten genommen hat, aus denen sich die Bundesrepublik zusammensetzt, wird skizziert – wenn auch eher kursorisch.

Einleitend problematisiert die Autorin zunächst den Begriff der »Droge«, wie er alltagssprachlich häufig genutzt wird und dessen Verwendung laut Barop Substanzen wie Alkohol ausschließt. Dabei verweist sie anschaulich auf die Willkürlichkeit und die Widersprüchlichkeit des Sammelbegriffs »Droge«, der sich einer kohärenten Definition entzieht. Vor diesem Hintergrund verwendet sie den Terminus als einen Quellenbegriff.

Den Anfang nahm die Geschichte der modernen Drogenprohibition mit der Synthetisierung von Substanzen wie Morphium (1805) und der Popularisierung eines neuen, nicht-medizinischen Drogengebrauchs durch romantische Dichter wie Thomas De Quincey, Samuel Coleridge und Charles Baudelaire, der auch bald in der Konsumkultur in Form psychoaktiver Genussmittel – beispielsweise dem Pemberton’s French Wine Coca, dem Vorgänger der Coca-Cola – seine Spuren hinterließ (Kapitel 1). Die Entdeckung des Morphiums und des Kokains (1860) lösten in den USA jeweils für einige Jahre große Wellen der Euphorie aus und die Anzahl an Menschen, die diese Substanzen konsumierten, wuchs rapide, bevor der massiv gestiegene Konsum dann mit ein paar Jahren Verzögerung problematisiert wurde. Die ersten gesetzlichen Verbote betrafen jedoch eine andere Substanz: das Rauchopium, das 1875 in San Francisco kriminalisiert wurde. Dieses Verbot wies eine deutlich rassistische Stoßrichtung auf, wurde es doch aufs Engste mit vermeintlich von chinesischen Arbeitsmigranten ausgehenden Lastern und Gefahren verknüpft (Kapitel 2).

Nachdem im späten 19. Jahrhundert der Konsum von Substanzen wie Opium zunehmend mit »Sittlichkeit« und »Moral« in Kontrast gesetzt wurden, kam es um die Jahrhundertwende auch zu den ersten Bemühungen der USA, dem als Übel ausgemachten Drogengebrauch auf globaler Ebene entgegenzuwirken. Und auch im Inneren wurde durch die Verabschiedung des Harrison Narcotics Tax Act (1915) mit restriktiveren legislativen Mitteln gegen Drogenabhängigkeit vorgegangen (Kapitel 3). Nur einige Jahre später wurde in den USA zudem die Herstellung, der Verkauf und der Konsum von Alkohol kriminalisiert – eine politische Entscheidung, die rasch zur Herausbildung von Schwarzmärkten führte, die wiederum von »Untergrundunternehmen« (S. 83) dominiert wurden (Kapitel 4). Nachdem 1933 die Alkoholprohibition wieder aufgehoben wurde, engagierten sich diese auf neu entstehenden Schwarzmärkten. Einen wichtigen Beitrag hierzu lieferte das Verbot des Cannabiskonsums durch den Marihuana Tax Act von 1937, die eng mit anti-mexikanischen moral panic-Diskursen verwoben war (Kapitel 5). Während illegale Substanzen auch in den folgenden Dekaden in steter Regelmäßigkeit zum Gegenstand von moral panic-Diskursen wurden, gerieten legale Amphetamine und Beruhigungsmittel im Zeitalter des McCarthyismus und des Konformismus in den 1950er Jahren zu den kleinen Helfern vieler Bewohner*innen der von den weißen Mittelschichten dominierten suburbanen Räume. Gleichzeitig diente Substanzgebrauch in den 1950er Jahren subkulturellen Gruppen wie den Beats als Mittel eines gegen die dominanten Formen der Lebensführung gerichteten Lebensstils. Substanzgebrauch war also gleichzeitig eine Technik der gesellschaftlichen Anpassung wie auch der rebellischen Abgrenzung (Kapitel 6).

Aber auch in das Feld der psychiatrischen Therapie fanden (psychedelische) Substanzen wie das 1938 erstmals von Albert Hofmann synthetisierte LSD seit den 1950er Jahren zunehmend Einlass. Psychiater*innen und Psycholog*innen wie Humphry Osmond und Timothy Leary versuchten, psychedelische Substanzen dafür fruchtbar zu machen, vermeintliche oder tatsächliche psychische Probleme und Persönlichkeitsstörungen zu erforschen und zu therapieren. Das Zeitalter der »psychedelischen Revolution« nahm seinen Anfang (Kapitel 7). In den 1960er Jahren nutzten zunehmend auch andere Bevölkerungsgruppen die vermeintlichen Subjekteffekte psychedelischer Substanzen. LSD, Meskalin, Psilocybin und Cannabis fanden nun auch Anklang in studentischen und gegenkulturellen Szenen und Milieus – eine Geschichte, die Barop in ihrem Narrativ eng mit dem 1963 von der Harvard University entlassenen Timothy Leary und den sogenannten Hippies verknüpft. Während Gegenkulturelle unterschiedlicher Couleur versuchten, mittels psychedelischer Substanzen und Cannabis ihr Bewusstsein zu »erweitern«, breitete sich in den afroamerikanischen Communities in den zunehmend pauperisierten Innenstädten der großen Metropolen der Gebrauch von Heroin aus (Kapitel 8). Der Substanzgebrauch dieser beiden Bevölkerungsgruppen bildete den Hintergrund des Feldzugs gegen Drogen, den Richard Nixon nach seiner Wahl zum US-Präsidenten 1968 im Namen der sogenannten silent majority startete und der im 1971 ausgerufenen War on Drugs mündete. (Kapitel 9).

Der Export der US-amerikanischen Politik der Drogenprohibition bildet den Gegenstand des zehnten Kapitels, wobei primär die Drogenpolitik im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik im Verlauf des 20. Jahrhunderts in den Fokus genommen wird. Obwohl Drogengebrauch bereits in den Dekaden zuvor eine Rolle gespielt hatte – beispielsweise war den Soldaten im Zweiten Weltkrieg im großen Stile Amphetamine gegeben worden – wurde Drogengebrauch erst in den Jahren um 1970 zu einem öffentlichen Problem, wobei die öffentliche Debatte laut Barop von Fehlinformationen und hysterischen Vorstellungen von Drogenabhängigkeit durchzogen war. In Reaktion darauf kam es zur Verabschiedung eines Betäubungsmittelgesetzes, das wesentlich von US-amerikanischen Politikansätzen inspiriert war. In den folgenden Jahrzehnten wurde insbesondere der gesellschaftliche Umgang mit den sogenannten Junkies zum Sinnbild der bundesrepublikanischen »Drogenpolitik der Ausgrenzung und Desinformation« (S. 235) (Kapitel 10). Die Effekte, die die auf Prohibition ausgerichtete Drogenpolitik zeitigte, lassen sich gegenwärtig in den USA beobachten. Nicht nur, dass Drogenkonsument*innen durch die Politik der Prohibition dazu verdammt sind, auf dem Schwarzmarkt zu agieren und dort häufig verunreinigte Substanzen erwerben, die ihrer Gesundheit schwere Schäden zufügen, lässt sich auf dem Negativkonto der Drogenprohibition verbuchen. Die Drogenprohibition ist auch seit ihren Anfängen eng mit einem gegen People of Color gerichteten Rassismus verflochten, was sich etwa in der Praktik des racial profiling und den daraus resultierenden enorm hohen Zahlen afroamerikanischer Inhaftierter niederschlägt (Kapitel 11).

Helena Barop hat mit »Der große Rausch« ein gut lesbares, sehr informatives und den globalen Regimes der Drogenprohibition kritisch gegenüberstehendes Buch vorgelegt. Eine Stärke des Buches liegt darin, dass es die Verquickung der Drogenpolitiken mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Herrschaftskategorien wie Geschlecht und race bzw. Ethnizität überzeugend herausarbeitet. In diesem Kontext zeigt sich jedoch auch eine Schwachstelle des Buches: die stellenweise Neigung zu Verkürzungen und Simplifizierungen. In »Der große Rausch« wird die Geschichte der Drogenprohibition tendenziell als eine Geschichte dargestellt, die von weißen Männern wie Harry J. Anslinger, Timothy Leary und Richard Nixon gemacht wurde. Dabei drohen andere soziale Gruppen wie etwa weiße Mittelschichtsfrauen als Träger*innen der Drogenpolitiken aus dem Blick zu geraten.[2] Auch in der Darstellung des psychedelischen Substanzgebrauchs in der Counterculture der 1960er und 1970er Jahre zeigt sich dieser Hang zu argumentativer Verengung. Wenn Barop diese Geschichte wesentlich an Leary und den sogenannten Hippies festgemacht, läuft sie Gefahr die stereotype Gleichsetzung von Gegenkultur und Hippies zu reproduzieren. Aber die US-amerikanische Counterculture war wesentlich heterogener und auch militant agierende und von der Revolution träumende Gruppen wie die Youth International Party, die White Panther Party und der Weather Underground befürworteten in den Jahren um 1970 den Gebrauch von Cannabis und LSD als Mittel der radikalen Subjekt- und, darüber vermittelt, Gesellschaftstransformation.[3] Trotz dieser kleinen Kritikpunkte hat Helena Barop mit »Der große Rausch« ein interessantes und lesenswertes Buch vorgelegt, das nicht zu Unrecht seit seinem Erscheinen viel Aufmerksamkeit erfahren hat.

 

Zitierempfehlung

Kristoff Kerl, Rezension zu: Helena Barop, Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute, Sieder Verlag, München 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81978> [5.3.2024].

 

[1] Helena Barop, Mohnblumenkriege. Die globale Drogenpolitik der USA 1950–1979, Göttingen 2021.

[2] Weiße Frauen waren beispielsweise bedeutende Akteurinnen in der Prohibitionsbewegung oder in Anti-Cannabis-Initiativen der 1970er Jahre; vgl. Timo Bonengel, Riskante Substanzen. Der »War on Drugs« in den USA, 193-1992, Frankfurt/New York 2020; S. 146 u. 154-162; Joshua Clark Davis, From Head Shops to Whole Foods. The Rise and Fall of Activist Entrepreneurs, New York 2020, S. 114-116.

[3] Damon R. Bach, The American Counterculture. A History of Hippies and Cultural Dissidents, Lawrence (KS) 2020; Kristoff Kerl, Psychedelic Marxism. The Ecstatic States of the Body in the White Panther Party around 1970, American Communist History 22 (2023), Nr. 3-4, S. 173-194; ders., Rausch und Revolution. Die White Panther Party in Europa, in: Detlef Siegfried (Hg.), Global Europe Underground. Transnationale Netzwerke und globale Perspektiven europäischer Alternativmilieus, 1965-1985, München [2024].

Sebastian Elsbach, Eiserne Front. Abwehrbündnis gegen rechts 1931 bis 1933

Weimarer Verlagsgesellschaft | Wiesbaden 2022 | 160 Seiten, gebunden | 16,00 € | ISBN 978-3-7374-0294-1

rezensiert von

Dennis Werberg, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

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Am 16. Dezember 1931 schlossen sich mehrere republikanische Organisationen, darunter die SPD, das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, die Freien Gewerkschaften sowie der Arbeiter-Turn- und Sportbund zur »Eisernen Front« zusammen. Dieses »Abwehrbündnis gegen rechts« stellt Sebastian Elsbach in den Mittelpunkt einer eigenen, knapp abgefassten Studie zur historisch orientierten Demokratieforschung. Dabei ordnet er die Vorgeschichte und die Arbeit dieses republikanischen Zusammenschlusses in die Geschichte der Endphase der Weimarer Republik ein. Da die Eiserne Front keineswegs eine festgefügte, hierarchisch strukturierte Organisation war, sondern sich vielmehr über gemeinsame Verbindungsausschüsse der genannten eigenständigen Verbände organisierte, nimmt insbesondere die Tätigkeit des Reichsbanners hier viel Raum ein, die Elsbach bereits in seiner Dissertationsschrift umfassend behandelt hat.[1] Der Vorzug der hier besprochenen Arbeit liegt vor allem in der komprimierten Form, in der er seine Forschung für den Lesenden aufbereitet.

Spätestens mit dem erdrutschartigen Wahlerfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen im September 1930 war die Bedrohung des Nationalsozialismus für die Republik von Weimar offenkundig geworden. Das Parlament, die staatlichen Überwachungs- und Polizeibehörden sowie die Gerichte gingen aus verschiedenen Gründen nicht oder in nur unzureichendem Maße gegen diese Bedrohung vor. Initiativen im Reichstag gegen NSDAP und SA hatten aufgrund der starken Fragmentierung des Parlamentes und der inzwischen erreichten Stärke der nationalsozialistischen Fraktion kaum Aussicht auf Erfolg. Das Amt des Reichskommissars für Überwachung der öffentlichen Ordnung war personell nur schwach besetzt. Das Gleiche galt für die politische Polizei auf Landesebene. Zudem bestand zwischen den Behörden Uneinigkeit darüber, welches Verhalten der beobachteten politischen Akteure als verfassungsfeindlich anzusehen war und welches nicht. Der nach den Reichstagswahlen 1930 eingesetzte Sonderbeauftragte, der im Auftrag des Reichsministers des Innern Maßnahmen zur Eindämmung der Nationalsozialisten erarbeiten sollte – der Zentrumspolitiker und Mitbegründer des Reichsbanners Carl Spiecker – wurde nach dem »Rechtsruck« des Kabinetts Brüning im Herbst 1931 wieder abberufen. In dieser Situation waren es politisch engagierte Republikaner und ihre Organisationen, die in die Bresche sprangen. Im März 1931 schlossen sich diese zum Kartell republikanischer Verbände zusammen mit dem Ziel, die gemeinsame politische Basis zu verbreitern, das Reichsbanner durch den Aufbau paramilitärischer Verbände für den Kampf auf der Straße zumindest teilweise zu militarisieren und konkrete Verbotsmaßnahmen gegen die NSDAP zu erarbeiten. Über die Reichsbanner-Zeitung veröffentlichen die republikanischen Aktivisten neueste Entwicklungen und Vorkommnisse in Verbindung mit NSDAP und SA, um die Zivilgesellschaft auf die Bedrohung von rechts aufmerksam zu machen und den öffentlichen Druck auf die Regierungen zu erhöhen.

Hierzu gehörte auch, auf festgestellte Missstände in der Reichswehr hinzuweisen, der in der Endphase der Republik eine immer größere innenpolitische Bedeutung zukam. Dies führte zu großen Belastungen und Spannungen im Verhältnis zwischen Streitkräften und Reichsbanner, die auch durch persönliche Animositäten zwischen Reichswehrminister (und seit Oktober 1931 zugleich Reichsinnenminister) Wilhelm Groener und dem Bundesvorsitzenden des Reichsbanners Otto Hörsing, die eine regelmäßige briefliche Korrespondenz pflegten, bedingt waren. Zu wirksamen Schritten gegen die Nationalsozialisten, wie Hörsing sie forderte, ließ sich Groener zunächst nicht bewegen. Gleichzeitig nahm die Reichswehr die Annäherung von Reichsbanner und preußischer Landespolizei alarmiert auf. Der Versuch des Reichsbanners, im Zusammenwirken mit der Polizei ein republikanisches Gegengewicht zur Reichswehr aufzubauen, scheiterte jedoch am preußischen Innenminister Carl Severing, der stattdessen daraufsetzte, ein vertrauensvolles Verhältnis zum Reichswehrministerium aufzubauen. Dies setzte dem Reichsbanner enge Grenzen.

Für die Gründung der Eisernen Front im Dezember 1931 macht Elsbach verschiedene Motive aus. Vor allem war die Eiserne Front eine Antwort der republikanischen Verbände auf den allgemeinen Rechtsruck auf Reichsebene. So sollten die Kräfte des republikanischen Lagers insbesondere im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlkämpfe des Jahres 1932 und für den Abwehrkampf gegen die immer stärker werdende NS-Bewegung gebündelt werden. Deutlich weniger Einfluss als bisher angenommen hatte laut Elsbach die Großveranstaltung der selbsternannten »Nationalen Opposition« in Bad Harzburg im Oktober 1931, bei der die Republikfeinde von rechts daran scheiterten, ein festes Bündnis zu schließen. Von großer Bedeutung waren jedoch darüber hinaus machtpolitische widerstreitende Interessen innerhalb des republikanischen Lagers. So verfolgte die Reichsbanner-Führung unter Hörsing mit dem Zusammenschluss das Ziel, die Weimarer Koalition des Jahres 1919 im außerparlamentarischen Raum neu zu beleben und nicht zuletzt die Position des Reichsbanners als überparteilicher republikanischer Sammlungsbewegung zu stärken. Die SPD dagegen strebte danach, über den Zusammenschluss ihre Kontrolle über das Reichsbanner zu stärken und es in Zeiten der innenpolitischen Krisen zu einer rein sozialdemokratischen Schutztruppe umzuformen. In den Auseinandersetzungen zwischen Verband und Partei setzte sich die SPD schließlich durch und zwang Hörsing zum Rücktritt. An seine Stelle trat als geschäftsführender Vorsitzender Karl Höltermann, der eine stärkere Anbindung des Reichsbanners an die SPD garantieren sollte.

Hiernach bemühte sich Höltermann um eine Annäherung an Reichsregierung und Reichswehr und bot eine Zusammenarbeit mit der Eisernen Front bzw. mit dem Reichsbanner als zuverlässige Alternative zu einer Kooperation mit den Nationalsozialisten an. Um den erwarteten Aufstieg der NSDAP abzubremsen erklärte sich die SPD derweil bereit, das Kabinett Brüning weiter zu tolerieren. Das Engagement der Eiserne Front für die Wiederwahl Paul von Hindenburgs bei der Reichspräsidentenwahl im März und April 1932 verfolgte dasselbe Ziel. Als Groener in seiner Funktion als Reichsminister des Innern dem Druck der Länder nachgab und am 13. April 1932 ein reichsweites Verbot für SA und SS verhängte, schien dies ein großer Erfolg für die Republikaner zu sein. Vor dem Reichstag nahm Groener gleichzeitig das Reichsbanner in Schutz, erkannte den überparteilichen Charakter des Verbandes an und grenzte ihn positiv von der SA ab, die nicht dem Staatswohl, sondern einem einzigen Mann, nämlich Hitler, verpflichtet sei. Ein Zusammengehen von Reichswehr und Reichsbanner hätte jedoch die von Reichspräsident Hindenburg beabsichtigte autoritäre Umgestaltung des politischen Systems in Frage gestellt. Wie aus dem Nichts brachte Hindenburg daher am 26. April 1932 ein Verbot des Reichsbanners ins Spiel. Außerdem lief das SA-Verbot den Plänen Kurt von Schleichers, dem Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium und engen Vertrauten Groeners, entgegen, die nationalsozialistische Schlägertruppe als Personalreservoir für die Aufrüstung der Reichswehr zu gebrauchen. Noch im Mai wurde Groener dazu gedrängt, das Amt des Reichswehrministers niederzulegen. Nachdem Brüning am Ende desselben Monats als Reichskanzler ebenfalls zurückgetreten war, wurde das SA-Verbot unter seinem Nachfolger Franz von Papen bereits im Juni 1932 wieder aufgehoben. Schleicher wurde neuer Reichswehrminister. Trotz alledem hielten das Reichsbanner und die Eiserne Front unter Höltermann an dem bisherigen Kurs fest und boten sich selbst nach der verfassungswidrigen Absetzung der sozialdemokratisch geführten Regierung in Preußen am 20. Juli 1932 (»Preußenschlag«) als verlässlicher Partner der Reichswehr an. Die Übertragung der politischen Macht an Hitler am 30. Januar 1933 führte zunächst zu einer weiteren Intensivierung der Verbandsarbeit. Die letzte Massenveranstaltung der Eisernen Front fand am 17. Februar im Berliner Lustgarten statt. Doch bereits im März 1933 wurde das Reichsbanner in allen Ländern verboten und seine Organisationsstruktur zerschlagen.

Es ist ein zentrales Anliegen Elsbachs zu zeigen, dass selbst Länder mit starker autoritärer Tradition demokratiefähig sind – dafür ist Deutschland im Übergang vom Kaiserreich zur Republik ein gutes Beispiel. Doch ist Demokratie, selbst wenn sie erreicht ist, keine Selbstverständlichkeit. Sie muss gelebt und – wenn nötig – auch verteidigt werden. In Zeiten erstarkender autoritärer, demokratiefeindlicher Bewegungen und Parteien ist dieser Appell dringender denn je. Die Demokratie steht weltweit unter Druck. Auch wenn sie am Ende nicht erfolgreich waren, können die demokratischen Aktivistinnen und Aktivisten in der Weimarer Republik, die versuchten, »selbst in einer vermeintlich ausweglosen Situation noch ihren Idealen treu zu bleiben« (S. 17), als Vorbild dienen. Gleichzeitig müssen wir bei fest etablierten, autokratischen Systemen hinsichtlich der möglichen Geschwindigkeit eines politischen Wandels realistisch sein. Das gilt insbesondere für Gesellschaften, die über keine oder nur sehr schwache demokratische Traditionen verfügen. Elsbach warnt in diesem Zusammenhang zu Recht vor der Einnahme einer allzu aktivistischen Position und weist darauf hin, dass Demokratie nicht durch Kompromisslosigkeit gegenüber antidemokratischen Kräften allein erreicht werden könne: »Demokratiebewegungen sind fast immer auf einflussreiche Überläufer oder einen Kompromiss mit autoritären Machthabern angewiesen […].« (S. 17) Nur selten wird Demokraten die Macht einfach in die Hände gelegt. Daher ist es umso wichtiger, auf die Bedingungen des Erfolges bzw. des Misserfolges demokratischer Bewegungen in der Vergangenheit zu schauen, um hieraus Lehren auch für heutige Entwicklungen ziehen zu können.

 

Zitierempfehlung

Dennis Werberg, Rezension zu: Sebastian Elsbach, Eiserne Front. Abwehrbündnis gegen rechts 1931 bis 1933, Weimarer Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81975> [5.3.2024].

 

[1] Sebastian Elsbach, Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019.

Nils Güttler, Nach der Natur. Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen

Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 472 Seiten, gebunden | 38,00 € | ISBN 978-3-8353-5381-7

rezensiert von

Daniel Rothenburg, Universität Konstanz

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»Flughafenvergessenheit« (S. 20) attestiert Nils Güttler der Umweltgeschichte und verordnet ihr als Kur eine Geschichte des Frankfurter Flughafens. Die Studie wurde 2022 von der ETH Zürich als Habilitation angenommen und liegt nun in Buchform vor. Der Autor versteht dabei den Flughafen und die von ihm hervorgebrachte und überformte Region – die »Flughafenlandschaft« – als paradigmatisch für technisierte Landschaften, in denen »Natur« und »Gesellschaft« nicht mehr sinnvoll voneinander zu trennen sind. Die Umweltgeschichte habe sich der konzeptionellen Herausforderung, eine angemessene Beschreibung für diese Landschaften zu entwickeln, bisher zu selten gestellt. Dabei seien diese in ihrem Zustand »nach der Natur« (S. 20) doch gerade die Art von Landschaft, die für uns heute immer mehr zum Normalzustand würde. Die »Flughafenlandschaft« bringe ein traditionelles Verständnis, das an der physischen Geographie orientiert ist, an seine Grenzen. Diese Landschaft wird in Güttlers Buch daher entgrenzt – sie wird zum Kreuzungspunkt einer Vielzahl von Skalen, die räumlich mitunter weit entfernt vom eigentlichen Flughafen liegen, aber in seinen Betrieb, seine Wartung und seine Überwachung eingebunden sind. Der zentrale Zugang ist hierbei die Wissensgeschichte, wobei der konzeptionelle Anspruch auf eine »systematische Verbindung umwelt- und wissensgeschichtlicher Ansätze« zielt (S. 13).

Eine der großen Stärken von Nils Güttlers Ansatz ist, dass er seine Analyseregion als multiskalares Objekt begreift, mit dem es gelingt, Verbindungen zu einer Vielzahl von Kontexten zu ziehen, und dabei stets den Bezug zu seinem leitenden Erkenntnisinteresse wahrt. Dabei spielen die »großen« Entwicklungen wie der der Nachkriegsboom, der Beginn der »Ära der Ökologie« und die heraufziehende Hegemonie des Neoliberalismus zwar eine Rolle, sie werden aber stets auf ihre Bedeutung für die Flughafenregion und ihre Akteur:innen bezogen. Wie konsequent der Autor sein Buch anhand seines Erkenntnisobjekts organisiert hat, zeigt bereits die Struktur: Die vier Großkapitel sind unabhängig von etablierten politikgeschichtlichen Periodisierungen und überlappen sich zudem absichtlich, um offen für vor- oder nachgelagerte Prozesse zu sein. Dabei ist die »Unterströmung« aller Kapitel der Ausbau des Flughafens und sein zunehmendes Ausgreifen auf allen Skalen.

Bereits das erste Kapitel (»Heimat und Verkehr«), das zeitlich 1895 einsetzt und 1936 mit der Eröffnung des »Weltflughafens Rhein-Main« endet, ist keine bloße »Vorgeschichte«. Hier zeigt der Autor vielmehr überzeugend, dass die Region »Rhein-Main« durch die entstehende Regionalplanung in Verbindung mit der Wissensgenerierung der »naturgeschichtlichen« Heimatforschung überhaupt erst entstanden ist. Und auch wenn das Bild der »Flughafenregion« letztlich unter der Ägide des Nationalsozialismus etabliert wurde, so war das nur der Endpunkt einer langen Entwicklung, die bereits im Kaiserreich begonnen hatte und in der Landschaftsgestaltung und Selbstbeschreibung ineinandergriffen. Die Region, die der Autor untersucht, wird so nicht vorausgesetzt, sondern empirisch hergeleitet. Die Quellengrundlage des Buchs ist entsprechend breit: Güttler hat im Fraport-Archiv, bei der US-Air Force und der PanAm, in Frankfurter Lokalarchiven und in Archiven der sozialen Bewegungen recherchiert und zudem große Mengen gedruckter Quellen über Heimatkunde, Umwelt, Regionalplanung und Aktivismus ausgewertet.

Wie konsequent Güttler seine Wissensgeschichte als dezidiert politische Geschichte begreift, zeigt sich auch im zweiten Kapitel (»Luft«) anhand seiner Analyse des »Frankfurter Modells« der Himmelsbeobachtung. Hier geraten die Akteur:innen aus Wissenschaft, Industrie und Verwaltung mit ihren Interessen in den Blick. In der Weimarer Republik wurde das Rhein-Main-Gebiet zum Zentrum der deutschen Segelflugforschung. Dem Meteorologen Walter Georgii gelang es hier, sich mit seinem aus »vertikaler Meteorologie« (d.h. mittels Flugzeugen) gewonnenen »Luftwissen« als erfolgreicher wissenschaftspolitischer Akteur zu etablieren. Auch unter dem NS-Regime setzte er seine Karriere fort, indem er sich als Experte für rüstungsstrategische Zwecke anzudienen vermochte. Nach dem Krieg wurde der Flughafen zur zentralen Basis der US-Luftstreitkräfte, die ebenfalls ein großes Interesse an Wetter- und Klimadaten hatten. In der Nachkriegszeit verdichteten sich so die meteorologischen Infrastrukturen weiter und die im Krieg entwickelten Navigations- und Vorhersagetechnologien diffundierten in die zivile Luftfahrt. Sie wurden Teil der alltäglichen Wartung der Flughafeninfrastruktur.

Im Kapitel III (»Flüsse«), das den Zeitraum von 1945 bis 1972 behandelt, wird die Region »Rhein-Main« endgültig zu einer infrastrukturellen Landschaft – und auch als solche wahrgenommen. Die »aviation environment« (S. 192) wurde ermöglicht durch und erforderte interdisziplinäres Steuerungswissen von regionalen, nationalen und globalen Akteuren, ob der NATO und der UNESCO, der Senckenberg Gesellschaft, oder eben der Frankfurter Vogelschutzwarte. Hier wird der Flughafen am deutlichsten als sozialer und ökologischer Ort greifbar: Steuerungswissen ist ein Wissen darum, wie die »flows« von Flugzeugen, Passagieren und Angestellten effizient organisiert und in Bewegung gehalten werden können. Hier kommen die Arbeitsabläufe der »einfachen« Arbeiter:innen und der Fluglots:innen in den Blick, die tagtäglich für Betrieb, Wartung und Monitoring zuständig waren. Zu den vielleicht eindrücklichsten Abschnitten des Buches gehören Gütlers Ausführungen über den »Flughafenförster« als Agenten praxisnahen Managements von Natur in einer infrastrukturell durchbildeten Umwelt. Hier zeigt Güttler überaus anschaulich, wie die Flughafenlandschaft ökologisch manipuliert wurde, um sie an die Bedürfnisse der Luftfahrt anzupassen – gärtnerisch, technisch und durch alltägliche Beobachtung.

Der Rest des Kapitels ist eher ein Vorgriff auf das folgende Kapitel IV (»Wald«), insofern hier erstmals das »Gegenwissen« in Gestalt des Pfarrers Kurt Oeser und seiner »Interessengemeinschaft zur Bekämpfung des Fluglärms« erscheint. Hier führt Güttler nochmals zwei seiner Kernthesen aus: Erstens, der Flughafen bringt die Bedingungen seiner eigenen Kritik hervor und zweitens, das Flughafenwissen ist politisch ambivalent und kann nicht eindeutig in »offizielles« Wissen und »Gegenwissen« kategorisiert werden. Vielmehr baute das Gegenwissen auf dem offiziellen Wissen auf. Zudem verstand es die Flughafengesellschaft, ihre Kritiker:innen zu integrieren und zum Teil der Infrastruktur zu machen. Hier verwundert es etwas, dass der Autor den Widerstand gegen den Fluglärm nicht stärker im Kontext der Geschichte der Umweltbewegung reflektiert. Andernfalls wäre der Befund, dass viele Wege zum Gegenwissen führten – aus dem Sponti-Milieu, einem Expertengremium oder eben von der Kanzel einer evangelischen Kirche – vermutlich weniger überraschend gewesen, da die Umweltbewegung bekanntermaßen politisch, weltanschaulich und soziokulturell überaus heterogen war (und ist).[1]

Das letzte Kapitel widmet sich der Startbahn-West-Bewegung als erstem Höhepunkt der »Ära der Ökologie«. Diese Bewegung interpretiert Güttler als Motor für eine Intensivierung der ökologischen Forschung, insofern die Protestbewegung neue Kanäle und Foren schuf, in denen Umweltwissen erhoben, geteilt und diskutiert wurde: unabhängige Laboratorien, Informationsbüros und alternative Forschungsinstitute. Damit sei die Bewegung Teil der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Konflikte geworden. Hier zeigt Güttler überzeugend, wie zum Beispiel Bioindikatoren sowohl zu einem administrativen wie zu einem aktivistischen Instrument der Umweltpolitik wurden. Der Wald habe sich, so Güttlers Fazit, während des Konflikts in ein »vielschichtiges politisch-epistemologisches Objekt« verwandelt, in dem sich »Wissen, Erfahrung und politische Aktion mischten« (S. 332). Geblieben sei davon nach der Inbetriebnahme der Startbahn 1984 indes nur das »offizielle« Wissen im Dienste des Flughafens, während die Formate, Orte und Medien des »alternativen« Umweltwissens heute fehlten.

Bedauerlich ist, dass der Autor am Schluss des Buchs auf eine Konklusion verzichtet, in der er seine konzeptionellen Impulse noch einmal breiter reflektiert. Denn wie ist eine Landschaft »nach der Natur« konkret zu verstehen? Es fällt auf, dass das titelgebende Motiv im Verlauf der Darstellung immer weiter in den Hintergrund tritt. Implizit, so scheint es, hat sich die Flughafenlandschaft in der Nachkriegszeit zu einem Zustand völliger anthropogener Überformung entwickelt, in dem diese immer intensiver beobachtet, beschrieben, vermessen, kontrolliert und damit stillgestellt wurde. Das entspricht aber genau dem modernen Anspruch auf völlige Naturbeherrschung. Auch dafür steht der im Epilog als Symbol der alltäglichen ökologischen Überwachung angeführte Eklektor im Flughafenwald – eine automatisierte Tierfalle für kleine Insektenarten. Als konsequente Interpretation im Sinne einer »post-natürlichen« Landschaft wäre indes vielleicht das Elsternest ganz aus Baumaterialien das bessere Symbol für die »Naturkultur« gewesen, die der Flughafen hervorgebracht hat. Denn durch den häufig engen Fokus auf das Wissen gerät nicht nur der Flughafen als konkreter sozialer und ökologischer – sprich: belebter – Ort häufig aus dem Blick, er verschwindet geradezu unter dem sich überlagernden, wuchernden »Steuerungswissen«. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind die Eigendynamiken dieser Hybridlandschaft, deren Bewohner:innen, wie die Elster, nicht aufhören, sich den Ort anzueignen und selbst zu verändern.

Nils Güttler ist mit »Nach der Natur« ein eindrucksvolles Buch gelungen. Es besticht durch eine breite Quellengrundlage, abgewogene Urteile und vor allem dadurch, dass es bei der Fülle an Skalen und Themen, die es verbindet, fast immer den Rückbezug zum Flughafen durchhält. Dass bei einem Ansatz, der die Region als derart entgrenzt konzeptualisiert, nicht jeder Bezug gleich eng verwoben sein kann, liegt in der Natur der Sache. Die Darstellung ist stets akteursnah und zeichnet sich durch einen klaren Blick für Interessen und machtförmige Aushandlungsprozesse aus. Trotz der hier formulierten Einwände hat Güttler damit zu den gegenwärtigen Diskussionen um »envirotechnical systems« einen inspirierenden Beitrag geleistet. Dieser hätte allerdings noch stärker gewirkt, wenn er seinen wissensgeschichtlichen Ansatz konsequenter mit den existierenden begrifflichen Angeboten aus der Umwelt- und Infrastrukturgeschichte verschaltet hätte.[2]

 

Zitierempfehlung

Daniel Rothenburg, Rezension zu: Nils Güttler, Nach der Natur. Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81977> [5.3.2024].

 

[1] Vgl. Frank Uekötter, Deutschland in grün. Eine zwiespältige Erfolgsgeschichte. Göttingen 2015.

[2] Vgl. hierzu kürzlich: Giacomo Bonan/Katia Occhi (Hrsg.), Environment and Infrastructure. Challenges, Knowledge and Innovation from the Early Modern Period to the Present. München/Wien 2023.

Wolf-Rüdiger Knoll, Die Treuhandanstalt in Brandenburg. Regionale Privatisierungspraxis 1990–2000

Ch. Links Verlag | Berlin 2022 | 704 Seiten, Hardcover | 38,00 €| ISBN 978-3-96289-173-2

rezensiert von

Jakob Warnecke, Universität Leipzig

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Die Treuhandanstalt erregt nach wie vor die Gemüter. Je nach Perspektive wird ihr Wirken in den öffentlichen Debatten oft wenig differenziert entweder als Scheitern oder Erfolg bewertet. In den letzten Jahren sind aber auch einige fundierte wissenschaftliche Forschungsarbeiten zu dem Thema erschienen. Vor allem die Arbeit von Marcus Böick wies einen Weg aus der Schwarz-Weiß-Betrachtung der Behörde.[1] Auch das Institut für Zeitgeschichte hat ein großangelegtes Forschungsprojekt zur Treuhandanstalt aufgelegt, dass die Struktur und Arbeitsweise der Anstalt anhand verschiedener Themenfelder wie etwa der regionalen Privatisierungspolitik und ihren gesellschaftlichen Folgen untersuchen soll. Die Ergebnisse liegen mittlerweile in der Reihe »Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt« vor.[2] Zu dieser Reihe gehört auch die 2022 erschienene Dissertation von Wolf-Rüdiger Knoll, die am Beispiel Brandenburgs die Treuhandanstalt »im politischen Kräftefeld sowie den ökonomischen und gesellschaftlichen Debatten des wiedervereinigten Deutschlands zu verorten« (S. 23) sucht. Dazu fragt sie nach der Bedeutung der Behörde im Land Brandenburg und nach den Einflussmöglichkeiten von Akteurinnen und Akteuren der sozioökonomischen Transformation ebendort in der Zeit von 1990 bis 2000. Um dies empirisch darzustellen, nimmt die Untersuchung insgesamt 25 Industriebetriebe in den Blick. Zu den Quellen der Untersuchung zählen die im Bundesarchiv gelagerten Treuhand-Unterlagen, Akten der entsprechenden Landesministerien sowie Interviews mit damals beteiligten Akteur:innen.

Die Studie ist systematisch strukturiert und gliedert sich in insgesamt sechs Hauptkapitel. Das erste Kapitel beschreibt die Geschichte der wirtschaftlichen Strukturen Brandenburgs zwischen 1945 und 1990 als Rekonstruktion vormaliger und Ansiedlung neuer Industrien, die eine letztlich nur wenig ausdifferenzierte Wirtschaftsstruktur hervorbrachte. Mehrheitlich veraltete Industrieanlagen mit vereinzelten »Modernisierungsinseln« bildeten also die Ausgangslage für die Transformation ab 1990. (S. 104) Das zweite Kapitel nimmt die Akteur:innen der sozioökonomischen Transformation in den Blick und untersucht den Wandel der Bezirksstrukturen und die Entstehung der Landesverwaltung sowie der kommunalen Selbstverwaltung nach 1990 unter der Frage nach der Rolle des Elitenwechsels und der die Zäsur überdauernden Netzwerke. Unter mentalitätsspezifischen Gesichtspunkten richtet sich die Analyse auf das aus der Bundesrepublik zugezogene Verwaltungspersonal. Neben dem Aufbau der Landesverwaltung beschreibt das Kapitel zudem die wirtschaftspolitischen Institutionen des Landes und die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Landesregierung von Manfred Stolpe, sowie die Entstehung der Treuhand und jener Instrumente die für die Zusammenarbeit von Treuhand und Land maßgeblich waren. Beide, Treuhand und Landesregierung, trafen sich mehrmals wöchentlich auf verschiedenen Ebenen, wobei es der Landesregierung besonders über das Treuhandkabinett gelang, die Treuhand in die Interessenpolitik von Land und Kommunen einzubinden. (S. 224)

Das darauffolgende Kapitel nimmt die beiden zentralen Branchen der Braunkohleindustrie und der Stahlindustrie in den Blick. Die Treuhand musste die großen Industriebetriebe der Braunkohleindustrie in neue Strukturen überführen und gleichzeitig die ökologischen Folgeschäden des Bergbaus in der DDR bewältigen. Bei der Privatisierung der fünf Stahlstandorte in Brandenburg stellte sich die Frage nach deren Wettbewerbsfähigkeit nach dem Wegfall des RGW. Vor allem die Privatisierung von EKO Stahl löste Grundsatzdebatten um die Verantwortung und Zuständigkeit der Treuhand in strukturpolitischen Entscheidungen aus. In der Stahlindustrie setzten sich nicht die von der Stahlkrise betroffenen westdeutschen Stahlkonzerne als neue Eigentümer durch, sondern ausländische Investoren, die den Brandenburger Stahlstandorten eine dauerhafte Perspektive boten. Dagegen übertrug die westdeutsche Stromwirtschaft erfolgreich ihr in der Bundesrepublik etabliertes Organisationsmodell auch auf die brandenburgische Braunkohleindustrie. (S. 326)

Das vierte Kapitel fragt nach den konkreten Einflussmöglichkeiten betrieblicher und politischer Akteur:innen. Anhand von zehn betrieblichen Fallbeispielen werden detaillierte Rückschlüsse auf die grundsätzlichen Privatisierungsentscheidungen der Treuhand gezogen. So lässt sich unter anderem ableiten, dass es kommunalen Akteuren nur in einem der untersuchten Fälle gelang, das Privatisierungsgeschehen zu beeinflussen. In der Mehrzahl mussten sie vorrangig die Folgen der Privatisierung bewältigen. (S. 490) Die Privatisierungsprozesse verliefen dabei insgesamt recht unterschiedlich. Ihr Verlauf war von technologischen Voraussetzungen, Wettbewerb sowie individuellen und strukturellen Bedingungen abhängig. Das Handeln der Treuhand führte einerseits in einigen Fällen zu medialen und politischen Skandalen. Andererseits hatte sie durchaus Erfolge zu verbuchen, auch wenn diese aufgrund konjunktureller Entwicklungen oder unternehmerische Fehlentscheidungen nicht immer nachhaltig waren. (S. 494) Im anschließenden Kapitel begibt sich die Studie am Beispiel von Privatisierungen in der Stadt Eberswalde auf die Meso- und die Mikroebene und untersucht, wie die Eberswalder Lokalpolitik mit der Treuhand und den sich aus den massenhaften Entlassungen ergebenen sozialen Fragen umging. Dabei stehen die konkreten kommunalen Handlungsspielräume und die Durchsetzungskraft der Treuhandpolitik sowie die Wechselwirkungen zwischen Stadt, Treuhandanstalt und Landesregierung im Zentrum des Interesses. Der massenhafte Abbau von Arbeitsplätzen bewirkte »ein rasches Aufbegehren der Kommunalpolitik« gegen die Treuhandanstalt (S. 592), die ihrerseits allerdings nicht die Kommune, sondern das Land als ihren Ansprechpartner ansah. Detailliert beschreibt Knoll, wie die aktive Arbeitsmarktpolitik in Eberswalde die sozialen Folgen in der von Schrumpfung und Arbeitslosigkeit geprägten Industriestadt aufzufangen versuchte. Das sechste Kapitel fasst die Ergebnisse zusammen und diskutiert unter anderem die Spezifität des Brandenburger Transformationsprozesses. Dabei kommt der Autor zu dem Schluss, dass der Staats- und Verwaltungsaufbau dem ökonomischen Umbau in Brandenburg hinterherhinkte. (S. 643)

Die Menge der als Beispiele herangezogenen Unternehmen in der 704 Seiten umfassenden Darstellung lässt die Studie etwas überfrachtet wirken und geht mitunter zulasten einer noch tiefergehenden Analyse der vielseitigen Akteurskonstellationen, etwa im betrieblichen Handlungsfeld oder auf kommunaler Ebene. Knoll hat dennoch eine insgesamt sehr informative und gut lesbare Studie vorgelegt, die viele neue Facetten zur Geschichte der Treuhand, dem ostdeutschen Transformationsprozess und der jüngsten Geschichte Brandenburgs zutage fördert. Dem formulierten Anspruch, einen differenzierteren Blick einzunehmen, wird die Arbeit durchaus gerecht. Schlussendlich widerlegt die Studie das Bild einer kollektiven ostdeutschen Ohnmachtserfahrung angesichts des Handelns der Treuhandanstalt und arbeitet anschaulich heraus, wie stark sich landespolitisches Handeln und die Tätigkeit der Treuhand tatsächlich gegenseitig beeinflussten. (S. 653)

 

Zitierempfehlung

Jakob Warnecke, Rezension zu: Wolf-Rüdiger Knoll, Die Treuhandanstalt in Brandenburg. Regionale Privatisierungspraxis 1990–2000, Ch. Links Verlag, Berlin 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81980> [5.3.2024].

 

[1] Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994, Göttingen 2018.

[2] Vgl. exemplarisch Christian Rau, Die verhandelte »Wende«. Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik, Berlin 2022; Max Trecker, Neue Unternehmer braucht das Land. Die Genese des ostdeutschen Mittelstands nach der Wiedervereinigung, Berlin 2022; Dierk Hoffmann (Hg.), Transformation einer Volkswirtschaft. Neue Forschungen zur Geschichte der Treuhandanstalt, Berlin 2020; Andreas Malycha, Vom Hoffnungsträger zum Prügelknaben. Die Treuhandanstalt zwischen wirtschaftlichen Erwartungen und politischen Zwängen 1989-1994, Berlin 2022.

Felix Lösing, A »Crisis of Whiteness« in the »Heart of Darkness«. Racism and the Congo Reform Movement

transcript | Bielefeld 2020 | 396 Seiten, Paperback | 48,00 € | ISBN 978-3-8376-5498-1

reviewed by

Dean Pavlakis, Carroll College, Helena, MT

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For the past few decades, the historical profession has increasingly applied race (and therefore racism) as a mode of analysis of historical eras and phenomena. With this book, Felix Lösing undertakes to examine the racism of a major humanitarian movement, the movement to reform the Congo Free State of Leopold II, King of the Belgians, who was its founder, despot, and exploiter. While some scholars, such as the present writer, have acknowledged the racist attitudes that appear in the discourse of even the most well-intentioned reformers, others have not addressed the subject at all.[1] Lösing asks us to think about racism and racial ideas as pervasive in the reform movement as they were in the movement’s opponents. In this analysis, racism and related ideas are the most important forces among the motives of the reformers, thus pervading their methods and ultimately compromising their effectiveness. As Lösing argues, »a critique of its [the reform movement’s] imperialist and racist ideology seems desperately needed« (29), and his book demonstrates the truth of this argument. Lösing’s prose sometimes suggests that everything was motivated by and expressed through racism, with all other considerations playing secondary roles, but he decisively shows how racial attitudes played a significant role in motives, methods, and outcomes than previous authors have appreciated, including the present reviewer.

The racism of the reform movement, Lösing shows, is essentially fighting fire with fire: a racist counterpoint and complement to racist ideas, structures, and actions in the wider culture and imperial projects of Europe and the United States. Although his analysis sometimes treats racism to a simple yardstick by which all participants can be measured and found wanting, he is aware of the concept’s many meanings and applications, as well as to the varieties of racial thought that co-existed and competed in the decades around the turn of the twentieth century. These ideas did not simply exist in opposition to each other; they were entangled both in the public sphere and in the minds of individuals in ways that can be perplexing to a modern observer; the most dramatic example of this is Edmund D. Morel, the leader of the humanitarian reformers, who subsequently went on to participate in the »Black Horror on the Rhine« campaign – a racist diatribe against the presence of African soldiers in the French forces occupying the Rhineland. (24-29) Many kinds of racism, reflecting essentializing narratives about whites as well as blacks percolated among European leaders and societies.

Lösing weaves many threads into his analysis, including concepts drawn from the work of other scholars. A key element is Neil Macmaster’s exploration of »humanitarian racism« (36), which accepts common humanity of all people but posits that backwards, immature (38), or degenerate people need to be lifted up by the white race – whether through missionary work, colonization, or (per Morel) trade.[2] Another strand is how white societies used racism (38-41) to situate their own place in the racial order. Their racial status was a source of cohesion and pride, while simultaneously generating a field of anxiety that Lösing calls the »crisis of whiteness«:  degeneration, military defeats, or demographic shifts threatened to end white superiority. Nascent expressions of racial solidarity similarly threatened the racial construction of whiteness.  Similarly, exposure of oppression and atrocities in colonial rule corroded the comforting contrast between the civilized white imperial regime and the savagery of colonized people. In Lösing’s insightful reading, the humanitarian movement redeemed the virtue and superiority of the white race by rescuing the African from the worst forms of oppression.

A few examples will have to suffice to convey the depth and richness of the many arguments in the book, as well as of the wide range of secondary and primary sources consulted.

Lösing’s brilliant analysis of Henry Morton Stanley’s widely read depiction of Africans in general and the people of the Congo in particular (128-148) elaborates on the widely acknowledged racism of these depictions. Lösing then makes a persuasive and innovative argument – building on the work of scholars such as Kevin Dunn - that what we might perceive as »anti-racist« or (more realistically) less racist rhetoric from the Congo reformers served to instead construct a new set of racial stereotypes that in turn could be used to generalize, essentialize, and discriminate. While apparently more benign, these stereotypes, designed to inspire white saviors, could also serve as a refreshed ideology of imperial rule, perhaps less murderous than that of the Free State, but nonetheless geared toward subjugation and exploitation. In this way, the new images might move Europeans to pity and outrage, but not empathy.

But Lösing does not confine his gaze to representations of Africans. He also examines how Congophobe literature, especially but not only Joseph Conrad’s and Mark Twain’s contributions, dramatically othered and even Orientalized Leopold’s regime, thus expelling the Congo exploiters from the ranks of the civilized world. By discursively and accurately identifying the Free State regime with all the sins of European colonial powers and then ejecting it from their community like a scapegoat of old, colonialism and therefore European civilization was redeemed in its own eyes, despite the presence of exploitative, oppressive, and brutal practices in other colonies.

Occasionally, Lösing draws a sweeping conclusion from limited or particularist evidence. For instance, he makes the argument that the reformers believed that the Congo atrocities were fundamentally the fault of the African (180), contradicting his insightful analysis of the attack on Leopold’s government. This thinner analysis cites Conrad and Arthur Conan Doyle as if their arguments represented the bulk of the reformers, but this opposes the trend of most reformers’ writing, including that of Morel, Harris, Casement, and many others, which puts the blame on the Europeans, particularly the inventors of the Congo system, most of whom, including Leopold himself, never set foot in the Congo. Similarly, he insists »the Congo reformers did not fundamentally oppose the idea that a colonial administration had to rely on forced labour«, (153) relying on a statement from the diary of Edward Glave, who had participated in the founding of the Congo Free State by working for Stanley, for Leopold’s International Association of the Congo, and for Leopold’s ally, Henry Sanford. Glave was not a Congo reformer; he was an imperial agent who, shortly before his death, noted in his diary that he was disturbed by the dystopia that had emerged from his work. The reformers held many ideas about forced labor, but it is safe to say that Morel, John Holt, and John Harris disapproved of forced labor; indeed, Harris became one of the instigators of the Forced Labor Convention of 1930.

The most sweeping conclusion of all, asserted without argument or evidence, is made on page 29: the Congo Reform Association »promoted and possibly prolonged the violent subjugation of Congolese«. This appears to be based on the common feeling among most reformers that what was wanted was a better colonial regime, not the end of colonialism. In this way, the reformers accepted the idea of continued colonial rule. But the counterfactual notion that colonial rule would have been briefer without the reform movement is not substantiated in this book.

The book has some factual errors, which is not surprising given its scope and the extensive use of factual evidence, some of which could have been avoided by consulting this reviewer’s history of the reform movement: Harry Johnston was never a member of the executive for the Congo Reform Association, Jane Cobden Unwin was not the president of the Women’s Auxiliary, and Morel did not force John Harris to resign from the Association in 1909, though he might have liked to. John and Alice Harris remained until they resigned in March 1910 to take leadership positions at the merged Anti-Slavery and Aborigines Protection Society. The Congo Free State was never even close to the world’s leading supplier of rubber (307, 310); Brazil held that position by a wide margin until the rubber plantations of the Far East became productive in the 1910s.

Notwithstanding these missteps, the book is quite valuable in providing a new perspective and new insights on the Congo reform movement. The bonus for scholars more broadly is the model he provides for examining other movements and geopolitical events in the decades before and after the First World War. Lösing may be trained as a sociologist, but with this work he makes his mark as a historian.

 

Zitierempfehlung

Dean Pavlakis, Rezension zu: Felix Lösing, A »Crisis of Whiteness« in the »Heart of Darkness«. Racism and the Congo Reform Movement, transcript, Bielefeld 2020, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81974> [5.3.2024].

 

[1] Dean Pavlakis, British Humanitarianism and the Congo Reform Movement, 1896–1913, (London: Routledge, 2016), 128; Kevin C. Dunn, Imagining the Congo: The International Relations of Identity (New York: Palgrave Macmillan, 2003), 21-60.

[2] Neil MacMaster, Racism in Europe, 1870-2000 (Houndstooth, Palgrave, 2001).

Frank Schorkopf, Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, 1948–2007

Vandenhoeck & Ruprecht | Göttingen 2023 | 381 Seiten, gebunden | 35,00 € | ISBN 978-3-525-30219-4

rezensiert von

Horst Dippel, Universität Kassel

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Laut Aussage des Autors unternimmt sein Buch »erstmals, Gründung und Genese der Europäischen Union als ›Verfassungsgeschichte‹ zu beschreiben« (S. 9). Dabei geht Frank Schorkopf nicht von einem »formell-revolutionäre[n]« Verfassungsbegriff aus, sondern versteht diesen »materiell-evolutiv« (S. 292). Der Göttinger Europarechtler ist ohne jede Frage für den Versuch einer Verfassungsgeschichte der »Europäischen Union« bestens qualifiziert. Dennoch kann bereits der Buchtitel durchaus als Provokation verstanden werden. Ist es sinnvoll, die europäische Integration über die gesamte Zeitspanne von der Gründung des Europarates und der Montanunion bis zum Lissaboner Vertrag mit dem Rubrum »Europäische Union« zu versehen, obwohl diese erst 1992 mit dem Vertrag von Maastricht gegründet wurde, so dass sich der Begriff als Rechtsfigur kaum auf die Jahrzehnte zuvor übertragen lässt? Wie passend ist für dieses so komplexe Gebilde, das über die hier betrachteten sechs Jahrzehnte mehrfache und teilweise grundlegende Veränderungen erfahren hat, der politische Begriff der »Macht«, eine »Macht«, die zudem »unentschieden« sei? Doch wer ist tatsächlich in der Europäischen Union »unentschieden«? In einem rechtlichen, gar verfassungsrechtlichen Sinn wird man dies nicht von den bestehenden Institutionen der Europäischen Union sagen können. Weit eher trifft dies zu für das ideelle Konvolut der dahinterstehenden Rechtsvorstellungen, die Schorkopf in Supranationalisten, Gouvernementalisten, Pragmatisten und Konstitutionalisten auffächert. Unter ihnen gehen die Vorstellungen über das organisierte Europa von Bundesstaat bis Staatenbund weit auseinander, ohne dass bislang eine Richtung eindeutig die Oberhand gewonnen hätte. Hinzu kommt, dass diese Problematik in jedem der 27 Mitgliedstaaten andere Gewichtungen und Nuancierungen erfährt.

Schorkopf hat den Stoff chronologisch eingeteilt in drei gleichgewichtige Teile: 1948-1969: »Das Ringen um die Supranationalität«, 1969-1984: »Die Suche nach Identität« und 1985-2007: »Der Sprung in die Union«, wobei die insgesamt sechzehn Kapitel jeweils unter einem mitunter etwas holzschnitzartigen Schlagwort stehen (»Politizität«, »Individualität«, »Ambition« u.a.). Das alles ist sehr anschaulich und tiefschürfend dargestellt, wobei sich der Autor nicht allein auf eine umfangreiche Literaturkenntnis stützt (das Literaturverzeichnis umfasst über 30 Seiten), sondern auch unveröffentlichte Quellen aus dem Bundesarchiv, dem Auswärtigen Amt und der Europäischen Union heranzieht. Hierbei hätte man sich allerdings gewünscht, dass dieser Rückgriff auf bislang unveröffentlichte Materialien im Text mitunter stärker hervorgehoben worden wäre und dass diese Aktenbestände im Quellenverzeichnis näher bezeichnet worden wären, statt sie lediglich mit ihren Aktennummern aufzuführen.

Was der Autor in diesen Kapiteln und Teilen entwirft, ist keine Geschichte der politischen Integration Europas. Indem er sich ausschließlich auf die rechtliche und verfassungsrechtliche Konstruktion Europas konzentriert, unterscheidet sich seine Darstellung grundlegend von den bekannten europäischen Integrationsgeschichten. Das ist ihr herausragendes Verdienst und macht sie zu einer ebenso wertvollen wie notwendigen Ergänzung der politischen Integrationsliteratur. Ob man jedoch beide Bereiche stets so scharf voneinander trennen sollte, lassen schon Persönlichkeiten wie Paul-Henri Spaak oder Charles de Gaulle zweifelhaft erscheinen. Wenn man in den 1980er Jahren von der Renationalisierung der europäischen Politik gesprochen hat, ist die rechtliche Entwicklung dieser Zeit davon nicht abzukoppeln.

Mitunter hätte man sich eine kritischere Evaluation der Entwicklung gewünscht. Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, um nur dieses Beispiel anzuführen, dass der europäische Verfassungsvertrag von 2003/04 nicht zuletzt auch deshalb gescheitert ist, weil der ihn ausarbeitende Konvent nach Zusammensetzung, innerer Autonomie, Geschäftsordnung, Beauftragung und Verfügung über seinen Verfassungsentwurf absolut nichts mit seinen vermeintlichen Vorbildern aus dem Ende des 18. Jahrhundert noch mit modernen Verfassungskonventen irgendetwas zu tun hat. Vielmehr handelte es sich um den reinsten Etikettenschwindel, bei dem die europäischen Bürger außen vor blieben und sich mit einer medienwirksam inszenierten Scheinbeteiligung zufriedengeben mussten. Dennoch waren die Staats- und Regierungschefs von ihrem Taschenspielertrick so begeistert, dass sie diesen »Europäischen Konvent« im Lissaboner Vertrag festgeschrieben haben. Ein Europa der Bürger, das Nationalismus und Populismus widerstehen und weiterhin Friede und Wohlstand sichern will, bedarf zu seiner Legitimation überzeugenderer und zeitgemäßerer verfassungsrechtlicher Lösungen.

Wie sich die europäische Verfassungsgeschichte weiterhin materiell-evolutiv weiter entwickeln wird, vermag niemand vorauszusagen. Doch dank Schorkopfs großartigem Pionierwerk liegen die unterschiedlichen Optionen offen auf dem Tisch. Wer weiß, wen Altiero Spinelli, der unermüdliche Kämpfer für ein freies und vereinigtes Europa seit den finsteren Tagen des Zweiten Weltkriegs, mit seinem richtungweisenden sogenannten »Spinelli-Entwurf« von 1984 noch in Zukunft inspirieren wird?

 

Zitierempfehlung

Horst Dippel, Rezension zu: Frank Schorkopf, Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, 1948–2007, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81976> [5.3.2024].

Charlie Taverner, Street Food. Hawkers and the History of London

Oxford University Press | Oxford 2023 | 256 Seiten, hardback | 40,50 € | ISBN 978-0-19-284694-5

rezensiert von

Heiner Stahl, Erfurt

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Städtische Geräuschkulissen und das Geschäft des Straßenverkaufs von Nahrungsmitteln sind eng miteinander verzahnt. Diese Zusammenhänge zu beforschen, lohnt sich also. Als ich den Titel Street Food. Hawkers and the History of London las, war ich begeistert. Ich hoffte darauf, dass Charlie Taverners Buch Ideen entwirft, wie sich die Beziehungen zwischen Geräuschen und Warenverkauf in der Stadt theoretisch und methodisch ausleuchten ließen. Es versprach ein Puzzleteil zu liefern, welches bislang noch fehlte, um das Wissen des Hörens und der Geräusche mit den Wissensbeständen von und den Praktiken des Essens und der Versorgung mit Gütern im (Stadt-)Raum zu verknüpfen. Das lenkt den Blick darauf, dass in der Stadtgeschichtsforschung Pläne, Karten, Architekturen und Diskurse im Vordergrund stehen und selten die konkreten Menschen und ihre Geschäfte zu Geltung kommen. Es berührt Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die sich wohl noch allzu gerne mit Datenauswertungen und dem Auslegen von statistischen Berechnungen begnügt.

Lärm machte Stadt. Menschen, Maschinen, Technologien, Verkehrsmittel und Infrastrukturen, die den Stadtraum bespielten, erzeugten Geräusche. Sie waren und blieben ziemlich unreguliert und verstärkten sich gegenseitig. Sound History und Science and Technologie Studies haben diese Konstellationen der Kommunikation und der medialen Verdichtungen bereits erkundet.[1] Dass sich Taverner darauf bezieht und hier zuordnet, das hätte ich erwartet.

Dennoch überzeugte mich seine Gliederung. Der Sozial- und Wirtschaftshistoriker, der am Birkbeck College der University of London mit diesem Thema promovierte, erzählt von Menschen (People, S. 12-32), die auf Londons Straßen Nahrung verkauften und von denjenigen, die diese erwarben und konsumierten. Von »class«, einem in die Jahre gekommenen Kernkonzept der britischen Sozialgeschichte, spricht Taverner nicht. Allerdings markiert er soziale Figuren, die den Straßenraum bevölkerten, benennt Arbeitskräfte (Workers, S. 33-46) und Verkaufende (Retailers, S. 79-94) und entfaltet die geschlechtlichen Zuschreibungen, die ihre visuellen und literarischen Bezeichnungen enthalten. Er setzt die Bedeutung von Orten (Markets, S. 95-108) mit Bewegungen von Waren und Personen sowie Verkehrskonflikten und tages- und nachtzeitlichen Rhythmen (Traffic, S. 110-125) im Straßenraum in Beziehung. Tätigkeiten, die auf der Straße stattfanden, wirkten sich auf die daran angrenzenden Wohnräume und -häuser aus. In den Ohren der Nachbarinnen und Nachbarn entstanden Störungen und Beeinträchtigungen (Nuisances, S. 126-143), die in Schreien und Rufen, in verbalen und in körperlichen Auseinandersetzungen zum Ausdruck kamen. Der Widerhall, das Echo und die Lautstärke, hingen buchstäblich in der Luft wie die sagenumwobenen Londoner Nebelschwaden. Stimmen, also Kommandos, Beleidigungen und unziemliche Sprache, schrieben sich in die Geräuschkulissen ein, die von Straßenzügen über Gehwege bis hin zu den engen Durchgängen zwischen den Gassen reichten (Voices S.144-158). Armut war laut und sie stank. Akustische und olfaktorische Abfälle vermüllten gleichermaßen den Stadtraum und waren nur schwerlich ohne Rückstände zu entsorgen. Die Erzeugung von Aufmerksamkeit bei der Bewerbung von Waren zog vielfältige Belästigungen nach sich. Es roch, stank, rumorte, gellte und lärmte. Das ließ sich zwar polizeilich bearbeiten und in Berichten von lokalen Komitees zum Gegenstand machen. Jedoch verschwanden damit die schreienden Straßenverkäuferinnen eben nicht aus Stadtbild und Stadtklang der englischen Hauptstadt, auch wenn die Zeitungsjournalisten und -journalistinnen oder soziale engagierte Wohltäter und Wohltäterinnen sich um die Besserung der sozialen und moralischen Lagen von Unterschichten bemühten. Sie gehörte genauso zum Straßenbild von »schlechten« Vierteln, wie der flanierende, in feinem Zwirn gekleidete Geschäftsmann aus der »middle class«, der in den »guten« Stadtteilen wohnend, seine Frau oder Freundin ausführte und sich mit Hilfe der Polizei vor Belästigungen durch ausrufende Straßenhändler zu schützen wusste.

Taverner baut seine Ausführungen auf Aktenbestände aus den London Metropolitan Archives und den National Archives in Kew und dort insbesondere auf Gerichtsakten des zentralen Londoner Strafgerichtshofs »Old Bailey« auf. Er bezieht sich auf das späte 17. und das frühe 18. Jahrhundert und nimmt die Überlieferung von Bürgermeistern, Stadtausschüssen und der lokalen Polizei in den Blick. Das 19. Jahrhundert deckt er ausschließlich mit Komitee-Reports ab, das frühe 20. Jahrhundert beleuchtet er wiederum aus der Perspektive von Polizisten und Praktikern der Lebensmittelsicherheit in den Gesundheitsämtern. Das ist gut gemacht und solide.

Street Food hat ein einprägsames und ansprechendes Coverbild. Es ist ein tolles Lesebuch. Damit lassen sich Seminare für BA- und MA-Studierende ganz gut bestreiten. Sie erhalten anhand des Themas einen ersten Einblick, was Sozial- und Wirtschaftsgeschichte leisten kann. Es erzählt anschauliche und griffige Geschichten und stellt Frauen in den Mittelpunkt, die als Nahrungsunternehmerinnen im Stadtraum immer auch prekäre Stellungen auszuhalten hatten und ihre Rollen immer wieder zu festigen wussten. Street Food ist garantiert frei von jeglicher Theorie. Ich habe theoretische Einbettungen schmerzlich vermisst. Taverner verweist weder auf die Sensory Studies noch auf die Raumtheorie von Lefebvre aus den 1960er Jahren, noch verliert er Sätze über die Zugänge der Urban Studies, wie sie Scott Lash und John Urry in den 1990er Jahren vorschlugen.[2] Sound History findet in diesem Buch gar nicht statt. Karin Bijsterveld hätte durchaus erwähnt werden können. Das alles hätte Street Food nicht nur zu einem Lesevergnügen gemacht, sondern zu einem Menü für Augen und Kopf mit mehreren Gängen werden lassen. Natürlich erwähnt Taverner den kanadischen Komponisten Raymond Murray Schafer, der die Soundscape-Idee formulierte und zur ästhetischen Klanganalyse ermutigte. Dass in dessen Betrachtungsweise, die akustische Verschönerungen von Stadtklängen durch eine geradezu eugenischen Ausmerzung der »schlechten« Sounds erreichen will, zahlreiche Denkfehler stecken, darüber lässt sich Taverner nicht im Ansatz aus. Der Buchautor reist mit leichtem theoretischem und methodischem Marschgepäck, wenn er seine historischen Stadtspaziergänge unternimmt und die Londoner Straßenzüge und Armenviertel zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert durchstreift.

Deshalb ist Street Food für geschichtswissenschaftliche Einsteigerinnen und Einsteiger sicherlich zu empfehlen. Für den Geschichts- oder Englischunterricht in der Schule taugt es ohne Weiteres ebenfalls. Es bezieht sich auf griffige Beispiele und zeichnet sich durch gut geschriebene Einstiege in die jeweiligen Kapitel aus. Mir blieb es zu oberflächlich und es enttäuschte mich maßlos. Das soll allerdings für andere Leserinnen und Lesern nicht der Maßstab sein.

 

Zitierempfehlung

Heiner Stahl, Rezension zu: Charlie Taverner, Street Food. Hawkers and the History of London, Oxford University Press, Oxford 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81979> [5.3.2024].

 

[1] Karin Bijsterveld, Mechanical sound. Technology, culture, and public problems of noise in the twentieth century, Cambridge (MA) 2008; Daniel Morat (ed.), Sounds of Modern History. Auditory Cultures in 19th- and 20th-Century Europe, New York/Oxford 2014; James G. Mansell, The age of noise in Britain. Hearing modernity, Urbana/Chicago/Springfield (IL) 2017; Heiner Stahl, Geräuschkulissen. Soziale Akustik und Hörwissen in Erfurt, Birmingham und Essen (1880-1960), Köln 2022.

[2] Henri Lefebvre, Le droit à la ville, Paris 1968; Scott Lash/John Urry, Economies of signs and space, London 1994.

Christopher Clark, Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt

DVA | München 2023 | 1168 Seiten, Hardcover | 48,00 € | ISBN 978-3-421-04829-5

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Am Anfang dieser Rezension sei betont, dass sowohl Revolutionen als auch der Widerstand gegen reaktionäre Herrschaftssysteme, Diktaturen und totalitäre Herrschaft weit in die Vergangenheit Europas reichen und ein Thema für den gesamten Kontinent sind. Das zeigt Christopher Clark ganz herausragend und umfassend am Beispiel der Revolution von 1848/49 als gesamteuropäischem Ereignis. Im Jahr der 175. Wiederkehr dieser Revolution ist über dieses deutsche und europäische Schlüsselereignis zwar diskutiert und publiziert worden – so über die Frankfurter Nationalversammlung als verfassungsgebendes Gremium mit der Reichsverfassung vom März 1849 und über deren Nachwirkungen auf die Weimarer Verfassung von 1919 und das Bonner Grundgesetz von 1949[1] –, doch blieb dieses Thema am Rande des gesellschaftlichen Diskurses. Auch die Bedeutung des Jahres 1848 für die deutsche Einigungsbewegung blieb, wie etwa Heinrich August Winkler meint, wenig beachtet. Nicht zuletzt lag das daran, dass die deutschen Achtundvierziger an der Doppelaufgabe der gleichzeitigen Herstellung eines Verfassungs- und eines Nationalstaates scheiterten. Doch umsonst waren diese Kämpfe nicht, wie spätestens die Friedliche Revolution 1989/90 zeigte. Winkler hat auch darin Recht, dass diese jüngste der deutschen Revolutionen die erfolgreichste war, da ihr ein nachhaltiger Regimewechsel gelang. Doch gelingt vielen Historikern und Vertretern anderer Disziplinen eine solche Sicht in aller Regel nicht bzw. sie wird von ihnen nicht angestrebt.

Das gilt auch für Clark, der sein Augenmerk auf 1848/49 beschränkt – hier aber Bahnbrechendes leistet. Wie keinem zweiten Historiker gelingt es ihm, heute kaum noch bekannte revolutionäre Ereignisse dieser Jahre sowie ihre Vor- und Nachgeschichte in großen Teilen Europas eindringlich und ausführlich zu schildern. Dabei schweift sein Blick von Spanien bis Galizien und von Ostpreußen bis Sizilien. Er beschreibt Leben und Werk bedeutender charismatischer Akteure, die heute im besten Fall noch Spezialisten bekannt sind: Demokraten, Liberale, Radikale, Patrioten und Sozialisten, ob als Schriftsteller, als Denker oder als militärische Führer. Stets geht es dabei um europäische Aufstände, die erst im Rückblick nationalisiert wurden. Besonders auffällig ist für den Autor die Gleichzeitigkeit der einzelnen Revolutionen dieses europäischen Völkerfrühlings, der ihn an den „Arabischen Frühling“ erinnert.

Clarks Grundthese ist, dass die Revolutionen der Jahre 1848/49 nicht gescheitert seien, sondern dass sie als „Teilchenbeschleuniger“ (S. 13) gewirkt hätten, die letztlich neue politische und gesellschaftliche Formen mit tiefgreifenden Konsequenzen für die neuere Geschichte Europas hervorbrachten. Dem wird man grundsätzlich folgen können, es bringt aber natürlich die Frage mit sich, was das im Einzelnen bedeutet. Das Missverhältnis zwischen Kapitalismus und sozialer Ungleichheit jedenfalls konnte bis heute nicht beseitigt werden. Dagegen scheinen die Spannungen zwischen den verschiedenen Formen politischer Repräsentation gegenwärtig zugunsten des Parlamentarismus entschieden, auch wenn immer wieder nicht nur im demokratischen Diskurs, sondern vor allem von links- und rechtsradikaler Seite Formen direkter Herrschaft ins Spiel gebracht werden.

Aus Clarks Sicht waren die Ereignisse der Jahre 1848/49 in Europa auch dadurch gekennzeichnet, dass sich nur schwer eine Trennlinie zwischen Revolution und Konterrevolution ausmachen ließe. Stattdessen erkennt Clark eine Fülle von Rissen, die in alle Richtungen liefen. Diesen geht er akribisch und mit überwältigender Materialfülle und Detailkenntnis nach. Dabei lautet eine weitere These, dass materielle Not wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts als solche keine Revolutionen auslöste, sondern soziale Probleme nur deren unverzichtbaren Hintergrund bildeten. Das erscheint mir ebenfalls diskussionswürdig, stellt es doch zu sehr die Rolle von Persönlichkeiten in den Mittelpunkt der Geschichte. Zwar spielt auch für Clark die Schilderung der sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten immer wieder eine wichtige Rolle, so bei den Weberaufständen in Lyon 1831 und in Schlesien 1844. Doch letztlich geht es ihm um Revolutionen als politische Vorgänge, um ihre Denker und Kämpfer sowie um ihre konkreten Verläufe. Und obwohl dabei klar wird, dass der Ablauf der Revolutionen nicht immer den Vorstellungen der Intellektuellen entsprach, waren aus Clarks Sicht die „Ideensysteme und Gedankenketten“ der „fähigen Köpfe in ganz Europa“ (S. 133) entscheidend für das Vorfeld und für die Revolution. Hinzu kamen als eigenständige revolutionäre Akteure Frauen, religiöse Minderheiten wie die Juden, nationale Minderheiten bzw. Sprachgruppen und nicht zuletzt Sklaven. So wurde etwa erst 1848 die Sklaverei in den französischen Kolonien abgeschafft. Alle diese Gruppen bzw. ihre Vertreter hatten jeweils eigene Vorstellungen von dem zu Erreichenden, alle gewannen durch die Revolutionen und verloren vieles davon wieder durch die folgenden Konterrevolutionen.

Dabei war „Geheimbündelei“ eine wichtige Lebensform der Revolutionäre, das Lesen von Zeitungen schoss in die Höhe, Bankette und Cafés spielten eine zentrale Rolle. Viele Revolutionäre waren aber auch bereit, für ihre Sache ihr Leben zu geben. Das schildert der Autor für viele europäische Länder in aller Eindringlichkeit und Detailtreue. Dabei wird deutlich, dass die Abläufe einerseits immer unübersichtlicher wurden, andererseits aber überall die gleichen Forderungen zu hören waren: „Verfassung, Freiheit, Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Bürgerwehr […], Wahlrechtsreform“ (S. 474). Die Errichtung neuer Ordnungen wurde angestrebt und an manchen Orten auch verwirklicht, Parlamente wurden gewählt und Verfassungen geschrieben.

Vieles davon brach in Konterrevolutionen zusammen und gleichzeitig schwand der revolutionäre Zusammenhalt. Dafür führt Clark verschiedene Gründe an. So waren die Revolutionäre oft uneins, das Militär blieb den herkömmlichen Obrigkeiten loyal ergeben und die Revolutionen erreichten kaum ländliche Gebiete. Auch Liberale und Radikale arbeiteten nicht zusammen. Trotz dieser Misserfolge blieben jedoch gerade die erwähnten Verfassungen von bleibender Bedeutung, die Sklaverei konnte weitgehend überwunden werden, die Emanzipation von Juden und Roma machte Fortschritte und das Wahlrecht in verschiedenen Staaten unterlag Reformen. Gleichzeitig begann die Neugestaltung von Städten, neues politisches Selbstbewusstsein erwachte, das allgemeine Wahlrecht gewann weitere Anhänger, die Geburt der Sozialdemokratie kündigte sich an und die Voraussetzungen für den deutschen wie den italienischen Nationalstaat konnten geschaffen werden. Jedoch kam auf der anderen Seite die Emanzipation der Frauen kaum vom Fleck, die Kluft zwischen Russland und Westeuropa vertiefte sich und überall keimte neuer Nationalismus auf. Auch mit der weltweiten Anteilnahme an der Revolution, die aber keinen Revolutionsexport mit sich brachte, setzt sich der Autor schließlich auseinander.

Zusammenfassend bezeichnet Clark 1848/49 als die „einzige wahrhaft europäische Revolution der Geschichte“ (S. 9). Hier ist zu fragen, wie es vor allem mit der Revolution von 1989/90 aussieht, einer Revolution in Mittelosteuropa, aber mit weit darüberhinausgehenden Wirkungen. Dabei muss es um ein Gesamtbild der Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts gehen. Und das führt schließlich auch zu der Frage nach eventuellen künftigen Aufständen und Revolutionen. Diese schließt Clark nicht aus, meint aber, dass besonders auch kommende Revolutionen wie 1848/49 sein könnten: „schlecht geplant, verstreut, uneinheitlich und voller Widersprüche“ (S. 1024).

Rainer Eckert, Berlin

 

[1] Vgl. Heinrich August Winkler, Der Fortschritt als Fessel. An ihrem Anfang stehen tiefe Systemkrisen: Was die deutschen Revolutionen 1848, 1918 und 1989 miteinander verbindet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.2023; ders., Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989, München 2023.

 

Zitierempfehlung:

Rainer Eckert, Rezension zu: Christopher Clark, Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt, DVA, München 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81971> [23.1.2024].

Eva Gschwind, Auf zur Urne! Direkte Demokratie in Basel von den Anfängen bis heute

Christoph Merian Verlag | Basel 2022 | 320 Seiten, Klappenbroschur | 32,00 € | ISBN 978-3-85616-982-4

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Im Jahr 1875 führte der Kanton Basel-Stadt die Volksinitiative wie auch das fakultative Referendum ein. Konkret bedeutete dies, dass von nun an jeweils 1000 Stimmbürger (Zahlen von 1875) mit ihren Unterschriften eine Gesetzesinitiative, die Totalrevision der Verfassung oder ein konkretes Projekt zur Volksabstimmung bringen konnten bzw. eine Volksabstimmung über einen Beschluss des Großen Rates, ganz gleich, ob es sich bei diesem um ein Gesetzesvorhaben, um einen Finanzbeschluss oder aber ein Bauprojekt handelte, erzwingen konnten. Anders als beispielsweise in Zürich, Bern oder Genf, ist es in Basel-Stadt über die Frage der Einführung der direkten Demokratie nicht zu schweren, teils sogar gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen. Vielmehr wurde eine Entwicklung nachvollzogen, die auf Ebene des Gesamtstaates bereits 1874 im Zuge der Totalrevision der Bundesverfassung stattgefunden hatte. So hat sich die Forschung bislang noch recht wenig mit der direkten Demokratie in der Stadt am Rheinknie auseinandergesetzt. Diese Lücke möchte Eva Gschwind nunmehr schließen. Ihren Blick auf die direkte Demokratie in Basel-Stadt bindet sie dabei ein in eine Darstellung der politischen Geschichte des Stadtkantons. Ihr geht es nicht zuletzt auch darum, eine Geschichte der Anliegen, die seitens der Bevölkerung artikuliert wurden, vorzulegen. Unter anderem fragt sie, inwieweit und in welcher Form die politische Elite auf das Volk als Machtfaktor eingegangen ist. Wer lancierte zu welchem Zeitpunkt Volksinitiativen und wer war berechtigt, an Volksabstimmungen teilzunehmen? Wirkten Volksinitiativen und Referenden eher in progressiver Richtung oder wurden diese vielmehr zum Bremsklotz für die weitere Entwicklung.

In zwei relativ umfangreichen Kapiteln schildert die Autorin zunächst den Weg zur direkten Demokratie und gibt in diesem Zusammenhang Einblick in die politische Verfassung Basels vor 1875. Die Stadt wurde dominiert von einer Schicht von Kaufleuten, Gelehrten und Fabrikbesitzern, die in sozialpolitischer Hinsicht durchaus fortschrittlich war. So gab es eine progressive Einkommensteuer, die kleine Einkommen schonte. Aus einem „pietistisch-humanistischen Pflichtgefühl“ (S. 49) heraus förderte die städtische Elite im Zusammenspiel mit der „Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige“ auch gleichermaßen Suppenanstalten, preisgünstige Arbeiterwohnungen und die Schaffung von Badeanstalten. Auch bestand seit 1869 ein für die damalige Zeit fortschrittliches Fabrikgesetz. Soziale Zugeständnisse dienten aber nicht zuletzt dazu, ein politisch hoch konservatives System zu stützen, in dem die politische Macht bei nur wenigen Familien konzentriert war. So standen an der Spitze Basels als Exekutive zwei Bürgermeister und ein 13-köpfiger Kleiner Rat, wobei bis auf die zwei Bürgermeister alle Funktionsträger ehrenamtlich tätig waren. Allein schon hierdurch war ein politisches Engagement von weniger Betuchten ausgeschlossen. 36 Sitze des Großen Rates (der Legislative, der jedoch auch die Bürgermeister und die Mitglieder des Kleinen Rates angehörten) wurden in Basel noch immer durch die Zünfte bestimmt. Das Wahlverfahren war überaus komplex, zugleich fanden die Wahlen unter der Woche statt, wodurch abhängig Beschäftigte von den Wahlen ferngehalten wurden.

Die Autorin stellt den freisinnigen Politiker Wilhelm Klein als denjenigen vor, der seit 1867 mehrfach Anträge stellte, die auf eine grundlegende Erneuerung des politischen Systems zielten, und der damit ab 1873 auch Erfolg hatte. Zunächst kam es zur Einführung der Wahlen am Sonntag und einer Wahlurne. 1875 erhielt Basel dann einen von allen Stimmbürgern direkt gewählten Großen Rat als Legislative und einen hauptamtlichen Regierungsrat mit sieben Mitgliedern (zunächst durch den Großen Rat, ab 1890 direkt vom Volk gewählt) als Exekutive. Durch die gleichzeitige Einführung von fakultativem Referendum und Volksinitiative erwartete sich Klein zudem eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an der Politik, genauso wie eine Lösung etwaiger Konflikte zwischen Wählern und Behörden. Mit diesen Argumenten konnte sich Klein gegenüber seinen konservativen Gegnern durchsetzen, die eine Schwächung des Verantwortlichkeitsgefühls des Großen Rates fürchteten. Überhaupt sahen die Konservativen überall nur „fruchtlose Agitation“ (zitiert S. 21) und sprachen der Bevölkerung die Kompetenz ab, über komplexe Vorgänge ein Urteil zu fällen.

Bemerkenswert war freilich, dass sich das erste Referendum 1876 mit der Frage der Einführung einer Kanalisation beschäftigte und trotz unhaltbarer hygienischer Zustände die Kanalisation abgelehnt wurde. Zu groß war die Furcht vor hohen Anschlusskosten. Das gleiche Spiel wiederholte sich 1881. Erst 1896 sollte Basel die schon 20 Jahre zuvor geforderte Kanalisation erhalten. Am Beispiel der ersten Volksinitiative zeigt Gschwind jedoch auf, dass Volksinitiativen durchaus beschleunigend wirken konnten. Dank einer Volksinitiative erhielt Basel innerhalb kürzester Zeit 1882 eine dritte Rheinbrücke – die zweite Rheinbrücke war erst 1879 fertig gestellt worden.

In vier Kapiteln zeigt die Autorin auf, welche Themen bei den Volksabstimmungen und Referenden dominierten. In der Regel ging es um die weitere Demokratisierung des politischen Systems und um die Berücksichtigung von Minderheiten. Ein Meilenstein war die Einführung des Proporzwahlrechts 1905, mittels dessen die dominierende Stellung der inzwischen regierenden Freisinnigen gebrochen wurde. 1966 führte Basel-Stadt als erster deutschsprachiger Kanton das Frauenstimmrecht ein. 1988 wurde das Wahlalter von 20 Jahren auf 18 Jahre gesenkt. In der Gegenwart wird über das Stimmrecht von Ausländern, die eine bestimmte Anzahl von Jahren in der Stadt leben, wie auch über eine weitere Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre diskutiert. Weitere Themen von Abstimmungen bildete vor allem ab den 1920er Jahren der Ausbau des Sozialstaates, oftmals in Verbindung mit Steuerfragen. Da Basel ein Stadtkanton ist, wurde im Rahmen von Volksabstimmungen auch immer wieder die städtebauliche Entwicklung behandelt. Dementsprechend stellt die Autorin in einem reich bebilderten Kapitel städtebauliche Projekte vor, die von der Bevölkerung entweder angenommen oder verworfen wurden.

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit Abstimmungskampagnen und geht dabei auf „Aufreger und Grenzüberschreitungen“ (S. 228) ein. Von Parteien der politischen Rechten wurden seit den 1920er Jahren immer wieder Abstimmungskampagnen mit fremdenfeindlichem, ja offen rassistischem Unterton geführt, die darauf zielten, Ängste in der Bevölkerung zu schüren – ein unerfreulicher Aspekt der direkten Demokratie. Neben „Schlussbetrachtungen“ (S. 281) und einigen knappen rechtlichen Erläuterungen zur direkten Demokratie bilanziert zudem wiederum ein Kapitel die direkte Demokratie in statistischer Hinsicht. Hier geht es unter anderem um die Frage, wie hoch die Wahlbeteiligung war. Wie viel Prozent der Einwohner Basels dürfen überhaupt wählen? Wann waren Abstimmungen ungültig oder welchen Einfluss hatten bzw. haben die beiden Landgemeinden des Kantons, Riehen und Bettingen, auf das Gesamtergebnis? In den beiden Landgemeinden wohnen zusammen heute immerhin 13,2 Prozent der Stimmberechtigten, die in der jüngeren Vergangenheit bei knappen Entscheidungen wiederholt den Ausschlag gegeben und gerade in Fragen von Wohnungsbau und Miete mehrheitlich anders als die Einwohner Basels votiert haben.

Eva Gschwind wird dem selbst gestellten Anspruch, den Leser „auf eine spannende Zeitreise durch die Basler Politik der letzten 150 Jahre“ (Buchrücken) mitzunehmen, vollauf gerecht. Der Leser bekommt einen detaillierten und doch leicht verständlichen Einblick in das Funktionieren der direkten Demokratie sowie in zentrale Entwicklungen und politische Kontroversen nicht nur der Basler Stadtgeschichte, sondern auch der Schweiz insgesamt und der Oberrhein-Region.

Michael Kitzing, Singen

 

Zitierempfehlung:

Michael Kitzing, Rezension zu: Eva Gschwind, Auf zur Urne! Direkte Demokratie in Basel von den Anfängen bis heute, Christoph Merian Verlag, Basel 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81970> [23.1.2024].

Thomas Fläschner, Bergmannspfade. Die Arbeitswege der Bergleute im Saarrevier

Röhrig Universitätsverlag | St. Ingbert 2022 | 144 Seiten, geb. | 24,00 € | ISBN 978-3-96227-016-2

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Die Entwicklung der Mobilität von Bergarbeitern im mitteleuropäischen Raum während des 19. und 20. Jahrhunderts war in den verschiedenen Montanregionen unterschiedlich. Abhängig von Faktoren wie geografischer Lage, Arbeitsbedingungen und wirtschaftlichen, politischen sowie sozialen Strukturen gestalteten sich Zusammensetzung und Nutzung der infrastrukturellen Mittel. Thomas Fläschner, Leiter der Bereichsbibliothek Empirische Humanwissenschaften der Universität des Saarlandes, schafft mit seiner Studie „Bergmannspfade. Die Arbeitswege der Bergleute im Saarrevier“ einen breiten Überblick über die Arbeitswege der Bergleute in der Saarregion von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in das 20. Jahrhundert. Dabei führt er die einzelnen Verkehrsmittel auf, setzt sie in einen historischen Kontext und arbeitet deren Bedeutung und kulturelle Aneignung heraus.

Der Aufbau gliedert sich nach den einzelnen Verkehrsmitteln: dem Fußweg über die sogenannten Bergmannspfade, der Anfahrt mit der Eisenbahn und später der Straßenbahn, der Nutzung des Fahrrads, den eingerichteten Buslinien und der privaten Motorisierung mit Automobilen oder motorisierten Zweirädern. Allerdings findet eine Schwerpunktsetzung auf die Bergmannspfade und den Eisenbahnverkehr statt. Die Abfolge spiegelt chronologisch die Entwicklung der Mobilität der Bergarbeiter im Saarrevier wider, wobei betont werden muss, dass die parallele Nutzung der einzelnen Verkehrsmittel trotz der fortschreitenden Mobilisierung erhalten blieb (S. 84). Der Autor arbeitet mit vielen quellenbasierten Beispielen eine differenzierte Perspektive auf die zeitlich und örtlich gebundene Mobilität der Bergleute heraus. Neben der Betrachtung der Bergarbeiter selbst, die als offensichtliche Akteure Einfluss auf ihre Arbeitswege nahmen, werden die Verflechtungen mit und zwischen anderen Akteuren – Privatpersonen außerhalb der Bergarbeiterschaft, Gemeinden, Berg- und Forstverwaltungen – und daraus sich ergebende Konflikte aufgezeigt. Anhand konkreter Konflikte verdeutlicht Fläschner das komplexe Netzwerk zwischen den Handlungen der Akteure, das nicht zuletzt vor dem politisch wechselhaften Hintergrund der Saarregion (S. 75–81) zu sehen ist. Zahlreich erschlossene Quellen zeugen von einer ausgeprägten Archivarbeit, unter anderem im Landesarchiv Saarland, im Landeshauptarchiv Koblenz, in den Archives départementales de la Moselle sowie in diversen saarländischen Stadtarchiven. Zudem profitiert die regionalgeschichtliche Studie von einer medienbasierten Analyse zeitgenössischer Zeitungen und Zeitschriften, insbesondere von werksinternen Mitarbeiterzeitschriften sowie gewerkschaftlich orientierten regionalen Wochen- und Tageszeitungen.

Inhaltlich beginnt Fläschner mit der Betrachtung der Bergmannspfade als grundlegender Infrastruktur für den Arbeitsweg der Bergarbeiter. Unter der Führung des Preußischen Bergfiskus erlebte der Steinkohlenbergbau in der Saarregion zur Mitte des 19. Jahrhunderts einen explosionsartigen Aufschwung. Die voranschreitende Industrialisierung und die damit steigenden Belegschaftszahlen verursachten einen erhöhten Bedarf an infrastrukturellen Maßnahmen (S. 13). Die Expansion der Arbeitereinzugsgebiete hatte nicht nur eine Erweiterung des bereits bestehenden Netzes an Pfaden (S. 23–25), sondern auch siedlungspolitische Maßnahmen für die Bergarbeiterschaft zur Folge. Der Autor schafft es an dieser Stelle, die standortabhängige Mobilität zwischen Arbeitsplatz und Heimatort mit den daraus resultierenden Entwicklungen in Beziehung zu setzen. Zum Beispiel entwickelte sich aufgrund des Mangels an Wohnraum und der weiten Arbeitswege eine umfassende Wohnungs- und Siedlungspolitik des Preußischen Bergfiskus, welche die Schaffung des Einliegerwesens ebenso umfasste wie den Bau von Schlafhäusern und der Einführung des Systems der Prämienhäuser (S. 13–23). Ein anderes Beispiel ist die vielfältige soziokulturelle Aneignung der Wege, die sich exemplarisch im Sprachgebrauch – „Ranzenmänner und Hartfüßer“ (S. 87) – oder im Nutzen der Wege als Kommunikationskanäle für Streikgespräche (S. 49) im Arbeiterkampf abbildete. Einen weiteren Schwerpunkt setzt Fläschner mit der Betrachtung der historischen Entwicklung des Eisenbahnverkehrs. Auch hier erwuchs aus den stark steigenden Belegschaftszahlen die Notwendigkeit, das Bahnliniennetz zu verdichten (S. 97), um einerseits überfüllten Zügen (S. 101) entgegenzuwirken und andererseits neue Arbeitereinzugsgebiete zu erschließen (S. 97). Interessant zu sehen ist, dass Arbeiterzüge auch als Räume der Politisierung genutzt wurden (S. 112). Das verdeutlicht noch einmal, wie wichtig der Faktor der Mobilität ist, wenn es darum geht, die Arbeits- und Lebenswelt der Bergleute historisch zu untersuchen.

Charakteristisch für das 20. Jahrhundert war vor allem die Entwicklung von der gemeinschaftlichen Nutzung öffentlicher Wege und Eisenbahnlinien hin zum Individualverkehr mit Kraftfahrzeugen, wobei Fläschner aber die Intermodalität der Verkehrsmittel hervorhebt (S. 131). Daraus folgt, dass der Arbeitsweg der Bergarbeiter im Saarrevier zeitlich sowie räumlich als ein Konglomerat von Verkehrsmitteln bezeichnet werden kann und dass trotz weitgreifender Technisierung die ursprüngliche Art, das Zu-Fuß-Gehen über die Bergmannspfade (S. 131), nicht vollständig ersetzt werden konnte. Zusammenfassend wird damit in Fläschners Untersuchung nochmals die besondere Stellung der Bergmannspfade deutlich, denn sie fungierten als Verbindung zwischen Arbeits- und Lebenswelt der Bergarbeiter sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert.

Durch die Betrachtung von Verkehrsmitteln im Zusammenspiel mit wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und Prozessen sowie den Handlungen der verschiedenen Akteure gelingt dem Autor eine komplexe Darstellung der Mobilität von Bergarbeitern. Die Überlegungen zu Verkehrs- und Siedlungsstrukturen unter Einbeziehung der geografischen Lage der Grubenstandorte ermöglichen Rückschlüsse auf die vergangene sowie die gegenwärtige Raumgestalt der Saarregion. Für weiterführende Studien könnte von Interesse sein, die Erkenntnisse aus der Saarregion überregional oder sogar transnational zu vergleichen, um die entsprechenden Alleinstellungsmerkmale der verschiedenen Montanregionen herauszuarbeiten. Interessant wäre darüber hinaus eine größer angelegte Verflechtungsgeschichte der Mobilität von Industriearbeiter:innen allgemein. Die vielfältigen Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Industrieregionen könnten so kontextualisiert werden, um Prozesse beispielsweise der Migration besser verstehen zu können.

Joana Baumgärtel, Saarbrücken

 

Zitierempfehlung:

Joana Baumgärtel, Rezension zu: Thomas Fläschner, Bergmannspfade. Die Arbeitswege der Bergleute im Saarrevier, Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81969> [23.1.2024].

Daniel Hedinger, Die Achse. Berlin–Rom–Tokio 1919–1946

C.H. Beck | München 2021 | 543 Seiten, Hardcover | 29,95 € | ISBN 978-3-406-74153-1

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Daniel Hedinger nimmt sich in seiner Münchener Habilitationsschrift viel vor: „Dieses Buch erzählt die Geschichte der Achse Berlin-Rom-Tokio“ (S. 7). Nicht eine Geschichte oder ein Interpretationsangebot, nein die Geschichte. Mehr noch, handele es sich doch zugleich auch um „eine Globalgeschichte des Faschismus“ (S. 8). Darüber hinaus trage das Buch auch noch „zu einer Globalgeschichte des Zweiten Weltkrieges bei“ (ebd.). Das ist ein hoher Anspruch, der auf 400 locker gesetzten Textseiten eingelöst werden soll. Auf dem Buchumschlag wird gar behauptet, Hedinger schreibe „anhand umfangreicher Archivrecherchen“ die Geschichte des Achsenbündnisses „neu“. Das ist eindeutig falsch: Rund 100 der 1800 Anmerkungen des Bandes beziehen sich auf Archivalien von zumeist nachgeordneter oder peripherer Bedeutung. Dieses Buch zieht sein Material nahezu vollständig aus der Forschungsliteratur. Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Untersuchung im eigentlichen Sinne. Kein Dokument findet eine eingehende Analyse, keine Gesprächsaufzeichnung wird intensiv ausgewertet, keine programmatische Erklärung näher betrachtet, überhaupt wird nicht ein wissenschaftliches Problem gründlich erörtert. Hedinger legt einen Großessay vor, der eine von vornherein feststehende Interpretation durch gedankliche Operationen, Imaginationen und schlichte Behauptungen zu untermauern sucht. In Hedingers Worten: „Das Buch bietet Synthese und Interpretation zugleich“ (S. 8). Quellenlage oder Forschungsstand werden nicht dargelegt. Zu letzterem heißt es einfach, „die Arbeiten, die sich des Themas annahmen, haben das Bündnis kleingeschrieben“ (S. 12). „In der umfangreichen Literatur zum Zweiten Weltkrieg fristet die Achse Berlin-Rom-Tokio ein Schattendasein“ (S. 11). Dabei kennt Hedinger nicht einmal die einschlägigen Beiträge in dem Reihenwerk Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg oder die für seine Thematik immens relevanten Arbeiten von Andreas Hillgruber etwa zur Struktur der „Hitler-Koalition“.[1]

Daniel Hedinger möchte die Achse großschreiben. Sein Gedankengang verläuft etwa folgendermaßen: „Faschistische Gravitation“ – ein der Naturwissenschaft entlehnter Terminus bietet Hedinger nicht zufällig einen Schlüsselbegriff seiner Darlegungen – habe „den Nährboden für die Annäherung der drei Mächte“ gebildet, die „auf faschistischer Ideologie“ basierte (S. 75 f.). Ein spezifisches „Expansions-, Radikalisierungs- und Beschleunigungspotential des Faschismus“ habe eine „faschistische Radikalisierung erst im transnationalen Wechselspiel der Achsenmächte“ entstehen lassen und dabei zu „einer kumulativen Radikalisierung der Achse“ geführt, die diesem Bündnis „Sprengkraft und Dynamik“ verliehen habe (S. 13). „Erfolgreiche Expansion“ habe in der Praxis „wechselseitig anziehend“ gewirkt und einen „imperialen Nexus“ entstehen lassen, „der die drei Mächte aneinanderband und den Weg in den Weltkrieg ebnete“, wobei „koloniale Kontexte und transimperiale Ursachen des Weltkrieges“ besondere Aufmerksamkeit verdienten (S. 9). Darin offenbart sich eine für Hedingers Darstellung kennzeichnende Neigung zu quellenfernen und abstrakten Begrifflichkeiten, die, häufig nicht hinreichend definiert, als tragende Elemente dienen: Bei Hedinger „entsteht“ etwas aus Deduktionen, ohne dass in den Quellen nach Belegen gesucht werden müsste oder nach tatsächlichen Handlungen, Zielen und Beweggründen menschlicher Protagonisten oder gesellschaftlicher Gruppen. So bedarf es keiner Diskussion der Ursachen und Gründe für die nationalsozialistische Machtergreifung im Deutschen Reich: Es war einfach „die globale Welle des Faschismus, die im Frühjahr 1933 nun unübersehbar auch Deutschland mitgerissen hatte“ (S. 108). „Der Verfall der Weimarer Republik, der Aufstieg der NSDAP und die «Machtergreifung» waren ein integraler Bestandteil des ersten globalen Moments des Faschismus“ (S. 120). Ein Geschichtswissenschaftler, der sich so einfacher Lösungen für schwierigste sachliche und methodische Probleme gewiss ist, mag zu beneiden sein.

Hedingers Bemühungen, „globale Momente“ des Faschismus und „imperiale Nexus“ als Wegbereiter des Zweiten Weltkriegs aufzuzeigen, bleiben weithin ergebnislos. So habe die Pariser Friedenskonferenz von 1919 Prozesse freigesetzt – anonyme „Prozesse“ führen in Hedingers Darstellung durchweg ein handlungsleitendes Eigenleben –, „die auf lange Sicht die Grundlage für eine Annäherung der drei Länder bildeten“ (S. 41). Tatsächlich aber findet Hedinger keine Hinweise auf eine Annäherung von Vertretern Deutschlands, Italiens und Japans im Jahr 1919. Ein „erster globaler Moment des Faschismus“, den Hedinger im Herbst/Winter 1932/33 verortet, war „spätestens 1934 [...] wieder vorbei“ (S. 114). Und noch „Ende 1935 war eine Allianz zwischen Japan, Italien und Deutschland der Traum einiger weniger“ (S. 126). Die seit dem Winter 1935/36 sich allmählich abzeichnende Annäherung und partielle Zusammenarbeit dieser drei Mächte spielte sich hingegen in einem Kontext konventioneller machtpolitischer Zielsetzungen und Entscheidungen ab.

Weil aber von einer Kooperation der drei Mächte in der Sache schon ab Ende 1937 erneut kaum mehr die Rede sein kann, flüchtet sich Hedinger für die Folgezeit in Erzählungen von „Faschisten auf Reisen“, in die Ästhetisierung von Politik und in pseudopolitische öffentliche Spektakel. Das Ergebnis ist ernüchternd: Das gegenseitige Entsenden und Empfangen von Missionen und Besucherdelegationen diente „repräsentativen Zwecken“, verfolgte „aber kaum konkrete diplomatische Ziele“ (S. 230). Wenn Hedinger mit Blick auf die inszenierten Spektakel anlässlich gegenseitiger Staatsbesuche betont, „erst durch die Prozesse wechselseitigen Austausches wurde dem Bündnis gleichsam Leben eingehaucht“ (S. 224) – an sich war es also offenbar tot –, die „medienwirksamen Besuche und Handlungen verliehen dem Bündnis gleichsam erst Substanz“ (S. 14) – an sich war es folglich substanzlos –, dann bestätigt er nur die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungen: Das Achsenbündnis zog zu keiner Zeit eine echte politische oder strategische Zusammenarbeit nach sich.

Hedinger kann diesen Mangel an Substanz nicht wegdiskutieren: „Letztendlich ist die Geschichte der Achse im Krieg natürlich [!] vor allem eine des Scheiterns“ (S. 272). Um es dabei aber nicht bewenden zu lassen, kreiert Hedinger einen Popanz, den er gleich auf der ersten Seite seines Werks vorstellt: „Nichts schien den Aufstieg der drei Mächte aufzuhalten.“ Mitte des Jahres 1942 „herrschten die Drei über gewaltige Imperien. [...] Für kurze Zeit schien es, als stünde der Realisierung einer neuen Weltordnung durch das Bündnis zwischen Deutschland, Japan und Italien nichts mehr im Wege“ (S. 7). Wem schien es denn so? Zu Hedingers Popanz passt eine skurrile Karte „Weltordnungsentwürfe der Achsenmächte“ – auf der Amerika nicht vorkommt –, die die „größte Machtausdehnung der Achsenmächte und ihrer Verbündeten [...] zu unterschiedlichen Zeitpunkten [...] (ca. 1942)“ darzustellen versucht, um die Bedrohung möglichst groß erscheinen zu lassen. Die beabsichtigte Suggestion funktioniert von vornherein nur, indem verschämt angemerkt wird, das im Kartenbild gewaltige ostafrikanische Kolonialgebiet Italiens sei „bis Ende 1941 an die Briten verloren gegangen“. In Nordafrika zeigt die Karte als scheinbar zeitgleich den Frontverlauf vor El Alamein von Oktober 1942 und den in Tunesien vom Winter 1942/43, als Libyen für die Achsenmächte längst verlorengegangen war (S. 543). Das sind Taschenspielertricks. In ähnlicher Weise arbeitet Hedinger mit gigantischen Bevölkerungszahlen und Wirtschaftspotentialen in den vom Deutschen Reich und Japan okkupierten Gebieten, um eine von diesen ephemeren „Imperien“ ausgehende Bedrohung zu suggerieren. Der Versuch, die Leserschaft zu beeindrucken, fällt sofort in sich zusammen, da die Achsenmächte zu keiner Zeit Integrationsangebote für die Mehrzahl der von ihnen unterworfenen Menschen vorzuweisen hatten und nicht zuletzt deshalb auch die scheinbar hinzugewonnene Wirtschaftskraft nicht hinreichend auszunutzen verstanden (S. 354-356). Unabhängig davon war „Mitte 1942“ Italien längst zu einem militärisch und machtpolitisch bedeutungslosen bloßen Anhängsel des Deutschen Reiches herabgesunken, war Hitlers Kriegsplan im Winter 1941/42 desaströs gescheitert, war die militärische Kraftentfaltung des Japanischen Kaiserreichs an ihre Grenzen gestoßen. Alle drei Mächte hatten die strategische Initiative verloren und ihre Führungen besaßen keine Vorstellung davon, wie ihr jeweiliger Krieg vor allem gegen die Vereinigten Staaten zu gewinnen sein mochte.

Tatsächlich gelingt es Hedinger nicht, eine koordinierte Bedrohung der globalen Ordnung durch das Kaiserreich Japan, das Königreich Italien und das Großdeutsche Reich nachzuweisen. Ebenso wenig überzeugt seine Vorstellung eines globalen Faschismus. Das beginnt und endet damit, dass Hedinger jeglicher Definition von „Faschismus“ konsequent ausweicht, ja sie dezidiert ablehnt (S. 415). Es bleibt völlig im Dunkeln, was für Hedinger den „Faschismus“ kennzeichnet – ein für eine „Globalgeschichte des Faschismus“ denkwürdiger Tatbestand. Während schon eine Charakterisierung der nationalsozialistischen Herrschaft als „faschistisch“ deren Beschaffenheit eher verschleiert als zu analysieren hilft, erscheint sie insbesondere im Hinblick auf Japan kaum konsensfähig. Kurzum postuliert Hedinger „in Japan eine ganz eigene Form faschistischen Globalismus, der sich als Pendant zu Neuordnungsentwürfen europäischer Faschisten verstehen lässt“; es handele sich um „eine Art Nipponismus“ als „einer von oben verordneten partikularen Form des Faschismus“ (S. 105 u. 195). Wenn Hedinger schließlich „die japanische Variation eines ethnozentrischen Herkunftsmythos, der polygenetisch aufbereitet nun zelebriert wurde“, heraufbeschwört, dann bleibt nur zu hoffen, dass der Verfasser selbst weiß, was er mitteilen möchte (S. 311).

Der Begriff „faschistische Kriegsführung“, der Hedingers Buch durchzieht, wird nicht definiert: Sie sei durch „die Entmenschlichung des Gegners“ und durch „gesteigerte Gewalt“ gekennzeichnet gewesen, wobei nirgends erklärt wird, wie sich „gesteigerte Gewalt“ von Gewalt unterscheidet (vgl. etwa S. 158-161). Unter diesem Gesichtspunkt wirkt es erstaunlich, wenn Hedinger behauptet, die Zeitgenossen hätten insbesondere den deutschen „Blitzkrieg“ gegen Frankreich 1940 „als Meisterstück faschistischer Kriegsführung“ interpretiert (S. 278). Hedingers bar jeder militärgeschichtlichen Expertise verfertigtes Konstrukt der „faschistischen Kriegsführung“ trägt nicht und wirkt verfehlt, insofern es die Kriterien rascher militärischer Operationen mit verbundenen Waffen, des Bombenkriegs gegen Zivilbevölkerungen oder des bewussten Einsatzes von sexualisierter Gewalt betont, die völlig unspezifisch werden, wenn man den Blick auf die gleichzeitige Kriegführung der Sowjetunion oder der Westmächte richtet.

Hedingers Überlegungen zu gegenseitigen Anregungen oder gar Überbietungswettbewerben der drei Mächte bleiben durchweg ohne Belege in den Quellen. Die Vorstellung, die japanische Eroberung und imperiale Neuordnung Mandschukuos sowie generell die Expansion Japans hätten für die nationalsozialistische Eroberungs- und Siedlungspolitik Vorbildcharakter gehabt (S. 152-155, 415 u. 421), entbehrt nicht nur einschlägiger Nachweise im Hinblick auf die Verantwortlichen im Deutschen Reich, sie präsentiert sich darüber hinaus ohne Kenntnis der Forschungen zum Vorbildcharakter des ephemeren deutschen Ostimperiums im Jahre 1918. Hitler und seine Mitarbeiter benötigten wahrhaftig keine Anregungen aus Fernost für ihre eigenen und ganz spezifischen Großraumvisionen und verbrecherischen Handlungen. Ebenso wenig diente ihnen die italienische Kriegführung in Afrika als Vorbild.

Anstatt in kritischer Weise Quellen zu analysieren, erliegt Daniel Hedinger mehrfach der Suggestionskraft zeitgenössischer Äußerungen, etwa bei der Verwendung von Zitaten aus den Goebbels-Tagebüchern, die oft nichts als Autosuggestion widerspiegeln. Mehrere der in dem Buch wiedergegebenen fotografischen Abbildungen bieten ausschließlich hohle Propaganda, die Hedinger nicht dekonstruiert. In der Konsequenz versteigt sich Hedinger zu analytisch zweifelhaften Urteilen, wenn er die „spirituelle Seite“ des faschistischen Projekts betont (S. 79), wenn „einmal mehr [...] beide Regime schicksalhaft verbunden“ waren (S. 137) oder er in Freundschaftsmissionen „die emotionale Bindung zwischen den beiden Regimen“ wirksam sieht (S. 229). Und wenn Hedinger meint, für die deutsche Führung „markierte der Dezember 1941 [...] keineswegs eine Wende, vielmehr ließ sie den Krieg und die Gewalt im Glauben an den Endsieg weiter eskalieren“, außerdem „glaubten die Achsenmächte“ 1942 „selbst durchaus noch an den Endsieg“ (S. 346 f.), dann urteilt er wiederum ohne Kenntnis der einschlägigen Quellen und Literatur, während sich zwingend die methodische Frage stellt, woher Hedinger weiß, was die deutsche Führung oder gar „die Achsenmächte“ glaubten. Hedinger selbst glaubt zu oft den vermeintlichen Erinnerungen zweifelhafter Zeitzeugen wie Edda Ciano, Erich Kordt oder Max Domarus. In der Sache gelangt er mitunter zu seltsamen Erkenntnissen: Bei der Gründung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda „stand im Frühjahr 1933 klar das italienische Vorbild Pate“ (S. 111), in Deutschland lag ab 1933 „der Fokus auf inneren Reformen“ (S. 115), die SPD habe nach 1919 „die Rückgabe von Kolonien“ gefordert (S. 166), die 1940 in Frankreich einmarschierenden Soldaten der Wehrmacht gehörten zu “den neuen Männern faschistischer Prägung“ (S. 277). Und Adolf Hitler saß „in der Nacht auf den 8. Dezember“ 1941 „besorgt in seinem ukrainischen Hauptquartier in einem Lehnstuhl“ (S. 320): Nein, dort saß er bestimmt nicht.

Rainer Behring, Köln

[1] Vgl. exemplarisch: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 6: Der Globale Krieg. Die Ausweitung zum Weltkrieg und der Wechsel der Initiative 1941-1943, Stuttgart 1990 (bes. S. 95-170: „Die Koalition der Dreimächtepakt-Staaten“); Andreas Hillgruber, Die „Hitler-Koalition“. Eine Skizze zur Geschichte und Struktur des „Weltpolitischen Dreiecks“ Berlin-Rom-Tokio 1933 bis 1945, in: ders., Die Zerstörung Europas. Beiträge zur Weltkriegsepoche 1914 bis 1945, Frankfurt a.M./Berlin 1988, S. 169-185.

 

Zitierempfehlung:

Rainer Behring, Rezension zu: Daniel Hedinger, Die Achse. Berlin – Rom – Tokio 1919-1946, C.H. Beck, München 2021, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81968> [23.1.2024].

Michael F. Feldkamp, Adenauer, die Alliierten und das Grundgesetz

Langen Müller | München 2023 | 176 Seiten, laminiert | 22,00 € | ISBN 978-3-7844-3654-8

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Michael Feldkamp, in der Verwaltung des Deutschen Bundestages tätig und eifriger Publizist, darunter mehrerer Editionen und Veröffentlichungen zum Parlamentarischen Rat, hat nunmehr eine populäre Darstellung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes vorgelegt, die sich im Wesentlichen auf die Zeit zwischen dem 1. September 1948 und dem 23. Mai 1949 konzentriert (S. 36-136). Ihr voraus gehen unter anderem kurze Erwähnungen der Empfehlungen der Londoner Außenministerkonferenz vom Frühjahr 1948, der Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948 und des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee. Den Abschluss bilden die Gründung der Bundesrepublik, die Übergabe des Besatzungsstatuts auf dem Petersberg am 21. September 1949 und die Auseinandersetzungen um Kurt Schumachers Zwischenruf „Der Kanzler der Alliierten“ im Deutschen Bundestag vom 24. November 1949. Feldkamps zentrales Thema ist die Frage, inwieweit die drei Westmächte von den Außenministern über die Militärgouverneure bis zum Alliierten Verbindungsbüro in Bonn Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des Grundgesetzes nahmen.

Die Frage ist so alt wie das Grundgesetz selbst, und die Antwort, die Feldkamp auf der Basis der vorliegenden Literatur bereithält – es ging im Kern um die Ausgestaltung des Föderalismus –, ist ebenfalls hinreichend bekannt. Feldkamp konzentriert sich jedoch weniger auf die konkreten Formulierungen im Text des Grundgesetzes, als vielmehr auf die Konfliktlinien zwischen den verschiedenen politischen Akteuren, in dem Bemühen aufzuzeigen, wie sich letztlich die deutsche Seite in der Interaktion mit den alliierten Stellen weitgehend durchzusetzen vermochte. Das ist durchweg nachvollziehbar und leicht lesbar dargelegt, was die Darstellung für ein breiteres Publikum mühelos zugänglich macht, zumal der Autor auf Fußnoten zugunsten eines ausführlichen Literaturverzeichnisses verzichtet.

Dabei verliefen die Konfliktlinien keineswegs stets eindeutig. Aus Sicht des Autors waren es zumal die zwischen CDU/CSU auf der einen und SPD auf der anderen Seite, während die zwischen Parlamentarischem Rat und Alliierten zunehmend verschwammen und je nach Parteipräferenz dem politischen Gegner geheime Absprachen mit den Alliierten vorgehalten, wenn nicht Kumpanei mit den Amerikanern beziehungsweise – bezogen auf die SPD – mit den Briten unterstellt wurden. Bei alledem hielt sich Adenauer – obwohl im Titel des Buches prominent herausgestellt – aus taktischen Gründen oft im Hintergrund, ohne dass seine tatsächliche Rolle stets hinreichend deutlich wird.

Damit werden zugleich die Grenzen des schmalen Bandes offenkundig. Hätte man sich bereits eine vertiefte Einordnung der ganzen Problematik in den sich verschärfenden Ost-West-Gegensatz und den eskalierenden Kalten Krieg zumal als Erklärungsmodell für das wachsende Entgegenkommen insbesondere der amerikanischen Seite gewünscht, so wird man in den meisten Fragen, etwa möglicher Absprachen zwischen den Amerikanern und der bayerischen Staatsregierung oder hinsichtlich der Spannungen zwischen der SPD-Führung in Hannover und den SPD-Parlamentariern in Bonn, dem Verhältnis zwischen Pierre Koenig, André François-Poncet und Jean Victor Sauvagnargues sowie zwischen ihnen und den Amerikanern wie Briten, den Feinheiten des Adenauerschen Taktierens und Führens und vieles mehr, nicht ohne den Gang in die Archive weiterkommen können. Hier mag noch manches überraschende Detail verborgen liegen. Doch das wäre dann ein anderes Buch geworden.

Horst Dippel, Kassel

 

Zitierempfehlung:

Horst Dippel, Rezension zu: Michael F. Feldkamp, Adenauer, die Alliierten und das Grundgesetz, Langen Müller, München 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81973> [23.1.2024].

Jan Kellershohn, Die Politik der Anpassung. Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980

Böhlau Verlag | Wien/Köln 2022 | 475 Seiten, gebunden | 65,00 € | ISBN 978-3-412-52249-0

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Die aus einer Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum hervorgegangene Studie von Jan Kellershohn beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Arbeit, Qualifikation und Wissen im Rahmen des wirtschaftlichen Strukturwandels im Bergbau. Dabei konzentriert sie sich auf das Ruhrgebiet im Zeitraum von den 1950er Jahren bis zum Ende der 1970er Jahre und nimmt vergleichend außerdem noch die französische Region Nord-Pas-de-Calais in den Blick. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass im Untersuchungszeitraum Qualifikation und Ausbildung immer stärker als Schlüssel verstanden wurden, um wirtschaftlichen Strukturwandel gesellschaftlich wie individuell zu bewältigen und zu gestalten. Den empirischen Kern der Studie bildet dementsprechend eine Untersuchung der sich verändernden Verständnisse, Konzepte, Institutionen und Akteure der beruflichen Ausbildung im Ruhrgebietsbergbau, der wie kein anderes Feld zum Sinnbild für die Herausforderung des industriellen Wandels und daher zu einem Experimentier- und Interventionsraum ersten Ranges wurde. Als zentraler Begriff der vielfältigen Diskurse und Praktiken der in dem Buch geschilderten Qualifizierungs- und Umschulungspolitik im Bergbau figurierte die „Anpassung“: in einer in Bewegung gekommenen Arbeitswelt konnten Arbeitnehmer (tatsächlich geraten ausschließlich männliche Arbeiter in den Blick) nicht mehr auf ein stabiles Verhältnis von Ausbildungsinhalten und späterer Berufstätigkeit vertrauen, sondern mussten sich auf Veränderung einlassen und zur Umstellung bereit sein. Wie sie dazu gebracht werden konnten und wer hierzu überhaupt willens und in der Lage war, diese Fragen standen im Mittelpunkt wissens- und qualifizierungspolitischer Debatten und Bemühungen, deren ausführliche Untersuchung einen Großteil des Textes ausmacht. Damit möchte die Arbeit auch einen Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Strukturwandels leisten, indem sie die vielschichtige Diskursivität dieses Begriffs betont und scheinbare Zwangläufigkeiten wie eine Entwicklung hin zu mehr Mobilität und Flexibilität nicht als Beschreibungskategorien aufnimmt, sondern vielmehr als zeitgenössisches Disziplinarregime auffasst, das fortdauernd gesellschaftliche Ausschlüsse produziert habe.

Zunächst wendet sich der Autor dem Regime der Berufsausbildung im Bergbau um 1950 zu, was als Vorgeschichte erst die folgende Entwicklung hin zu einer „Politik der Anpassung“ in ihrer paradigmatischen Bedeutung verständlich werden lässt. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland lag der Fokus im Rahmen eines holistisch-moralischen Ausbildungssystems auf der Eingliederung in eine Gemeinschaft. Fragen der Qualifikation waren in dieser Sicht untrennbar mit Aspekten der moralischen Lebensführung verwoben. Der Sinn einer Berufsausbildung bestand nicht zuletzt darin, jedem Individuum einen Platz innerhalb der Gesellschafts- und der Belegschaftshierarchie zuzuweisen, der seinem Begabungsniveau entsprach.

Der erste Hauptteil „Von der Eingliederung zur Anpassung“ handelt davon, wie dieses Paradigma brüchig wurde und ein Qualifizierungsimperativ Einzug erhielt, in dessen Zeichen Mobilität und Anpassungsfähigkeit im Laufe der 1960er Jahre zu Fixpunkten der Berufsausbildung wurden. „Mobilität“, zunächst noch eher räumlich verstanden, wurde zuerst in Frankreich Anfang der 1950er Jahr zu einem Schlüsselbegriff des Umgangs mit dem Strukturwandel in Bergbauregionen. Von dort wanderte er nach Deutschland und veränderte in diesem Zuge auch seine Bedeutung: unter Mobilität wurden nun zunehmend Wille und Fähigkeit des Einzelnen zur inneren Umstellung verstanden. Die binationale Vergleichsperspektive schließt sich an dieser Stelle bereits wieder, denn in Frankreich wurde als Reaktion auf den Niedergang des Bergbaus in Nord-Pas-de-Calais die Berufsausbildung in diesem Bereich zum Ende der 1960er Jahre kurzerhand beendet. In Deutschland dagegen entfalteten sich langanhaltende Bemühungen, dem industriellen Strukturwandel mit Veränderungen in der Ausbildungs- und Qualifizierungspolitik zu begegnen. Im Glauben an eine rationelle Gestaltbarkeit der Zukunft, wie er für die 1960er Jahre charakteristisch war, wurde in der ersten Hälfte des Jahrzehnts noch versucht, mithilfe gestufter Ausbildungsformen und dem Einsatz kybernetischer Prinzipien das unter Arbeitnehmern tatsächlich vorhandene Begabungsniveau mit zukünftig benötigten Anforderungsprofilen in Deckung zu bringen. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, insbesondere im Zuge der Rezession von 1966/67, rückten dann zunehmend Umschulungsmaßnahmen für ehemalige Bergarbeiter in den Blickpunkt. Skepsis und Widerstand waren zunächst erheblich, galten doch etwa den regionalen Arbeitsämtern ältere Arbeiter als generell nicht mehr (aus)bildungsfähig. Großangelegte Umschulungsprogramme im Programmieren riefen zuerst Euphorie hervor, brachten jedoch auch die Grenzen der Umstellungsfähigkeit vieler Teilnehmer sichtbar zu Tage. Zeitweilig wurde die scheinbar mangelnde Anpassungsfähigkeit unter Rückgriff auf ältere völkische Stereotype sogar zur gleichsam historisch-ethnisch verfestigten Immobilität des „Ruhrvolks“ anthropologisiert. Die Erforschung von Mobilität mit den Mitteln der modernen Sozialwissenschaften brachte jedoch auch keine eindeutigen Ergebnisse hervor, das Wesen der Mobilität blieb damit staatlicher Intervention dauerhaft unzugänglich.

Vor diesem Hintergrund schilderte der zweite Hauptteil „Von der Anpassung zum Ausschluss“ in zwei Kapiteln, wie das in den 1960er Jahren zur Geltung kommende Ausbildungsregime zwei Sozialfiguren entstehen ließ, die die Grenze der Bildbarkeit markierten: den „älteren Arbeitnehmer“ und den „Lernbehinderten“. Im ersten Kapitel werden Bemühungen analysiert, im Ruhrgebiet ein Netz von Institutionen der Umschulung und Qualifizierung zu etablieren, die vom Autor als ein „großer Apparat zur Rettung und Bewahrung einer schwerindustriellen Männlichkeit“ (S. 258) interpretiert werden. Ihre Ausgestaltung war permanent umstritten, nicht zuletzt, weil sie immer wieder in die Nähe der Rehabilitationspädagogik gerückt wurden, womit „ältere Arbeitnehmer“ in Analogie zu „Behinderten“ gerieten. Als ambitionierte Unternehmung wurde die 1968 ins Leben gerufene Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur, in der ältere Arbeiter unterkommen und gefördert werden sollten, allerdings schon nach wenigen Jahren wieder eingestellt, ohne dass unter den beteiligten Akteuren Einigkeit darüber erzielt werden konnte, was dieses Scheitern über die Bildungsfähigkeit der anvisierten Klientel aussagte. Im letzten Kapitel geht es schließlich wieder um die grundständige Berufsausbildung und das von vielen zeitgenössischen Akteuren wahrgenommene Problem eines zunehmenden Begabungsverfalls unter den Auszubildenden des Bergbaus. Der Fokus der Untersuchung liegt insbesondere darauf, wie sich in den Bemühungen, auf diese Entwicklung mit Reformen in der Ausbildung zu reagieren, eine Unterscheidung zwischen bildungs- und umstellungsfähigen Individuen auf der einen und Bildungsunfähigen auf der anderen Seite etablierte. Dies resultierte unter anderen in der Einrichtung einer abgestuften Berufsausbildung Ende der 1970er Jahre, in der nun eine Vollausbildung zum Bergmechaniker und eine zweijährige Ausbildung zum „Berg- und Maschinenmann“ unterschieden wurden.

Kellershohns Ansatz, den wirtschaftlichen Strukturwandel nicht als vorgängige Tatsache analytisch hinzunehmen, sondern ihn zunächst „vollständig als sprachliches Phänomen“ (S. 21) zu fassen und als solches zum Untersuchungsgegenstand zu erheben, erscheint einerseits ertragreich und auch theoretisch weiterführend, er wird sozialgeschichtlich interessierte Leser*innen aber auch an der ein oder anderen Stelle enttäuschen. Darüber, welche realen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen der im Buch behandelten Qualifizierungspolitik eigentlich zu Grunde lagen, schweigt die Darstellung, obgleich manche Information (etwa die Größenordnung der durch Zechenschließungen freigesetzten Arbeitskräfte und der erfolgten Umschulungsmaßnahmen) zur Einordnung der Befunde durchaus erhellend gewesen wäre. Auch die Perspektive der Bergarbeiter und Auszubildenden als Objekte und Betroffene der Qualifizierungs- und Wissenspolitik, ihre Erfahrungen in Umschulung und Ausbildung oder auch die Frage, was der postulierte „Ausschluss“ für sie konkret bedeutete, bleiben weitgehend ausgeblendet. Die Stärken des Buches liegen auf anderem Gebiet: in der theoretisch informierten und innovativen Art und Weise, mit der sich der Autor der Verwobenheit von Strukturwandel und Qualifizierungsfragen seit den 1960er Jahren widmet, und in dem breiten Quellenzugriff, der eine Fülle neu erschlossenen Materials aus regionalen Archiven verarbeitet und mit übergeordneten Fragen und Perspektiven verknüpft. Der erhobene Anspruch auf Allgemeingültigkeit wird zwar dadurch eingeschränkt, dass weder das seit den 1960er Jahren sich entwickelnde Phänomen migrantischer Arbeitswelten noch (trotz eines geschlechtergeschichtlichen Blicks auf den männlichen Arbeiter) die Erwerbsarbeit von Frauen in den Blick kommen, doch liefert die Arbeit gleichwohl einen ebenso überzeugenden wie stimulierenden Beitrag zum Zusammenhang von Wirtschaftswandel, Arbeit, Bildung/Qualifikation und Wissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der durch seine Thesenfreude zahlreiche Anknüpfungspunkte zum Weiterdenken und -forschen bereithält.

Benno Nietzel, Frankfurt (Oder)

 

Zitierempfehlung:

Benno Nietzel, Rezension zu: Jan Kellershohn, Die Politik der Anpassung. Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980, Böhlau Verlag, Wien/Köln 2022, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81972> [23.1.2024].

Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806–1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, Bd. 5: Elsass-Lothringen

Springer Verlag | Berlin/Heidelberg 2023 | LX, 1559 Seiten, gebunden | 219,00 € | ISBN 978-3-662-64749-3

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Von Michael Kotullas groß angelegtem Deutschen Verfassungsrecht 18061918 erschienen bislang fünf Bände: Bd. 1:Gesamtdeutschland, Anhaltinische Staaten und Baden (2006), Bd. 2: Bayern (2007), Bd. 3: Berg und Braunschweig (2010), Bd. 4: Bremen (2016) und Bd. 18: Nassau (2021). Nun ist nach nur zwei Jahren mit Elsass-Lothringen der sechste Band gefolgt. Dass dieser Band rund 1.000 Seiten kürzer ausgefallen ist als der Band über Nassau, mag nicht der einzige Grund für dieses erfreulich kurze Intervall gewesen sein. Dennoch war er wohl der schwierigste Band angesichts der diffusen Rechtslage im Reichsland Elsass-Lothringen, das 1871 in das soeben gebildete Deutsche Reich zu integrieren war. Aufgrund der rechtlichen Sonderstellung des Reichslandes innerhalb des Reiches musste Kotulla vielfach Neuland beschreiten. Elsass-Lothringen war rechtlich kein Bundesstaat, jedoch seit 1874 im Reichstag vertreten, erst ab 1911 auch im Bundesrat. Doch hier zählten seine drei Stimmen nur, wenn sie tatsächlich nichts zählten, d.h. wenn sie für die Mehrheitsfindung ohne Belang waren. Als Republik innerhalb des monarchischen Reiches schien das Reichsland nicht tragbar. Allerdings war ein eigenständiges monarchisches Oberhaupt, vergleichbar denen der übrigen Bundesstaaten außer den Freien Städten, ebenso undenkbar, sodass es nie zur Anerkennung Elsass-Lothringens als gleichberechtigter, autonomer Bundesstaat innerhalb des Reiches gekommen ist.
Durch diese politische, soziale, ökonomische und nicht zuletzt kulturelle Gemengelage allein mit den Mitteln der Rechtssetzungen steuern zu wollen, mag zwar aus der Perspektive des Deutschen Verfassungsrechts naheliegend erscheinen, erfasst jedoch angesichts einer über die Köpfe der Betroffenen hinweg vollzogenen Okkupation lediglich einen Teilaspekt einer viel tiefergehenden Gesamtproblematik. Dennoch hat sich der Jurist Kotulla entschieden, allein diese Normsetzungen in den Blick zu nehmen, obwohl hin und wieder zumindest Andeutungen über die Weiterungen der unterliegenden Probleme wünschenswert gewesen wären.
Tatsächlich werden die Grenzen dieser ausschließlich juristischen Vorgehensweise in der ausführlichen Einleitung der Dokumentensammlung rasch sichtbar. Als das Reichsland 1871 eingerichtet wurde, verfügte es über keine Verfassung. In den folgenden Kapiteln der Einleitung behandelt Kotulla daher das, was er „Verfassungs-Verhältnisse“ des Reichslandes nennt, um dann im 9. Kapitel zum Verfassungsgesetz vom 31. Mai 1911 zu kommen. Es folgen darauf die Zeit bis zum Kriegsausbruch, die Kriegszeit und der „Abgesang“ (Kap. 12). Damit, so könnte man meinen, wäre das Thema abgehandelt, zumal diese Kapitel hinreichend Raum geboten hatten, den Verfassungsbegriff mit Bezug auf Elsass-Lothringen und dessen Defizite zu thematisieren. Obwohl Kotulla im Zusammenhang mit der unsäglichen Zabern-Affäre die „reklamierte Suprematie der Reichsmilitärgewalt“ herausstreicht und betont, dass sich die „reichsländischen und Reichsinstitutionen als unfähig zu einer wirksamen Kontrolle der Armee und ihrer Einrichtungen“ erwiesen (S. 107), leitet diese Erkenntnis nicht zu einer grundsätzlichen Verfassungskritik über. Dabei wurde darin letztlich mehr als nur das Scheitern von 48 Jahren reichsdeutscher Politik offenkundig. Jenseits von reinen Rechtssetzungen hatten viele Faktoren zu diesem Scheitern beigetragen, von denen der von Deutschland verlorene Erste Weltkrieg nur einer war. Zwar hatte man, als das Haus längst lichterloh brannte, noch am 28. Oktober 1918 die Reichsverfassung geändert und am 30. Oktober den Versuch unternommen, auch die Verfassung Elsass-Lothringens zu ändern (S. 114). Doch auch an dieser Stelle bleibt die fundamentale Kritik an der Verfassungsordnung und den darüber herrschenden Vorstellungen von Reich und Reichsland ebenso aus, wie sie sich bereits im ersten Band bezüglich der Reichsverfassung zu verhalten präsentiert hatte. Statt den letztlich anachronistischen, nahezu einhundert Jahre deutscher und allgemeiner Verfassungsentwicklung konterkarierenden Charakter der Reichsverfassung herauszustreichen, die eine moderne Wirtschaftsordnung mit einem außerhalb der Verfassungsordnung stehenden und bis zum Schluss letztlich unkontrollierbaren Militär – siehe Zabern-Affäre – verband, übergeht Kotulla diese Problematik wortlos.
Auf diese ersten 116 Seiten der Einführung folgt indessen ein dreizehntes Kapitel mit nahezu 200 weiteren Seiten über das „Recht einzelner Sachgebiete“. In ihm geht es in über zwei Dutzend Unterkapiteln um die Bezirks-, Kreis- und Kommunalebene, das Justiz- und Haushaltswesen, das Landesbeamtenrecht, die „Ordnungsgewalt des Militärs“, das Vereins-, Versammlungs- und Pressewesen, Gewerbe, Landwirtschaft, Jagd- und Fischereiwesen, Berg- und Baurecht, das Religions- und Schulwesen – wo eigens auf die katholische Kirche und die protestantischen Kirchen eingegangen, aber die jüdische Glaubensgemeinschaft nicht behandelt wird – die Universität Straßburg und das Eisenbahnwesen – ohne dass die Aufzählung damit vollständig wäre.
Die Relevanz dieser Rechtsbereiche ist unbestritten. Doch wie schon bei den voraufgegangenen Bänden stellt sich auch hier die Frage, ob es sich hierbei in der Tat durchweg um Verfassungsrecht oder in der Regel nicht eher um Verwaltungsrecht handelt. In diesem Zusammenhang spielt stets der selten abrupte, meist langwierige, mitunter gar nicht erfolgte Übergang von französischem Recht auf deutsches Recht eine Rolle. Bei diesen Vorgängen geht es natürlicherweise immer wieder auch um das Auswechseln von Personen, ob bei der Justiz, der Polizei, der Verwaltung, den Schulen oder anderswo, von den damit verbundenen sozialen Verwerfungen und deren Rückwirkungen auf das Gesellschaftsgefüge ganz zu schweigen. Doch von allen diesen Problemen ist nie die Rede. Sicherlich handelt es sich hierbei nicht um genuine Themen des Verfassungsrechts. Aber galt das nicht ebenso bereits zumindest für die Mehrzahl dieser rechtlichen Sachgebiete? Und kann man diese Prozesse wirklich erfassen, ohne ihre unmittelbare soziopolitische Dimension auch nur anzudeuten?
Ungeachtet dieser Einwände wird man Kotulla dankbar sein, dass er sich des schwierigen Themas Elsass-Lothringen angenommen und eine große Fülle bislang weit verstreuter Dokumente in die-sem Band zusammengetragen hat. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob es nicht grundsätzlich angebracht gewesen wäre, auch jene französischen Rechtstexte im Wortlaut abzudrucken, die nach 1870 im Reichsland weiterhin geltendes Recht darstellten? Stattdessen wird man sich mit den einschlägigen Quellennachweisen, mitunter verbunden mit entsprechenden wörtlichen Zitaten in der Einführung, zufriedengeben müssen. Irritierend ist hingegen, dass Verweise auf die durchnummerierten Abschnitte innerhalb der Einführung vielfach mit unzutreffenden Nummern versehen sind.
Es ist die Aufgabe eines Rezensenten, ein Werk kritisch zu bewerten. Dazu gehört aber auch, dort Lob auszusprechen, wo es die Sache gebietet. Dass dies bei den inzwischen sechs Bänden des Deutschen Verfassungsrechts angesichts ihrer immensen Stoff- und Dokumentenfülle mehr als geboten ist, steht völlig außer Frage. Insofern sehen wir alle dem nächsten Band mit Spannung und Freude entgegen und können seinen Schöpfer nur nachdrücklich ermuntern, im Rahmen seiner Kräfte und finanziellen wie personellen Ressourcen fortzufahren.
Horst Dippel, Kassel

 

Zitierempfehlung:

Horst Dippel, Rezension zu: Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806-1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: < library.fes.de/pdf-files/afs/81967.pdf > [23.1.2024].

Christina Morina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren

Siedler | München 2023 | 399 Seiten, gebunden | 28,00 € | ISBN 978-3-8275-0132-5

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In den letzten Jahren – schon vor dem neuen Buch von Christina Morina – war verschiedentlich die Auffassung zu lesen, dass es in der DDR „dialog- und partizipationsorientiertes Handeln“ gegeben hätte, das von den Vorstellungen der Diktatur abwich. Ebenso sollten Teile der DDR-Geschichte als relativ normale Entwicklungen in die deutsche Geschichte eingeordnet werden. Es seien, so die These, in der SED-Diktatur „gesellschaftliche Sphären“ entstanden, in denen sich „zivilgesellschaftliche Diskurse und Partizipationsformen“ entwickelten. Als Beispiele wurden in aller Regel verschiedene Initiativen angeführt, die sich in der DDR vor allem für den Erhalt von Altbausubstanz und ganzer abrissbedrohter Wohnquartiere einsetzten.[1] Dabei spielten gerade diese Gruppen im gesamten oppositionellen Spektrum in der DDR nur eine untergeordnete Rolle, während Friedens-, Umwelt-, Dritte-Welt- und Menschenrechtsgruppen sowie Wehrdienstverweigerer das Bild dominierten.[2]
Eine solche konzentrierte Sicht auf vermeintliche zivilgesellschaftliche Ansätze in der SED-Diktatur führt zwar, wie ich meine, in die Irre. Doch zumindest auf den ersten Blick scheint auch die Bielefelder Historikerin Christina Morina in ihrem neuen Buche „Tausend Aufbrüche“ diese Sichtweise zu stützen, ist es doch das explizite Ziel der Autorin, eine Demokratiegeschichte beider deutscher Teilstaaten zu schreiben. Dass dies angesichts des Gegensatzes von freiheitlicher Demokratie in der Bundesrepublik einerseits und Diktatur der SED in der DDR andererseits problematisch ist, ist Morina dabei durchaus bewusst. Dennoch versucht sie ihren Ansatz durchzuziehen, indem sie für die DDR von einer „Demokratieanspruchsgeschichte“ (S. 291) spricht. Letztlich vermag das nicht zu überzeugen. Grundsätzlich ist Morina aber natürlich als Verdienst anzurechnen, dass sie erstmalig in vergleichender Perspektive und in großer Breite Bürgerbriefe an führende Politiker in der Bundesrepublik sowie Eingaben an staatliche Stellen und SED-Einrichtungen in der DDR auswertet. Das führt bei einer genaueren Analyse ihres Buches zu zahlreichen neuen Einsichten. Dazu kommen Texte, Erklärungen und Flugblätter aus dem Vorfeld der Friedlichen Revolution und solche, die während der Zeit dieses demokratischen Aufstandes – und der darauffolgenden Verfassungsdebatte - mit seinen „Tausend Aufbrüchen“ entstanden.
Bei den ausgewerteten Briefen aus der Bundesrepublik und für die Zeit bis 1989 aus der DDR wird allerdings auch schnell deutlich, dass es sich hier um zwei sehr unterschiedliche Quellengattungen handelt. Das zeigt ein Vergleich der von Morina herangezogenen Briefe westdeutscher Bürger an die Bundespräsidenten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker mit den Eingaben von Ostdeutschen an staatliche und gesellschaftliche Stellen in der DDR. Die Bundesbürger schrieben in der Regel als souveräne Staatsbürger, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung verbessern wollten, während die unmündig gehaltenen Ostdeutschen persönliche Anliegen und für sie existenzielle Fragen mit einem formalen Bekenntnis zur DDR und ihrem Realsozialismus verbanden. Ein weiterer gravierender Unterschied ist, dass in der Bundesrepublik die Briefe vom Bundespräsidialamt bearbeitet und beantwortet wurden, während sie in Ostdeutschland von den angeschriebenen Stellen an die Geheimpolizei Staatssicherheit zur „Bearbeitung“ weitergegeben wurden. Außerdem gab es im SED-Staat keine Möglichkeit, individuelle Rechte auf dem Rechtsweg – etwa vor Verwaltungsgerichten – einzuklagen. Der prinzipielle Unterschied bestand also darin, dass im Osten Demokratie als staatliches Postulat und alltägliche Utopie und im Westen als staatliche Ordnung und alltägliche Praxis verhandelt wurde. Deshalb kann ich Morina grundsätzlich nicht zustimmen, wenn sie meint, dass beide deutsche Staaten auf je eigene Weise eine streitbare Demokratiegeschichte besessen hätten.
Und so ist es dann doch die Frage, ob Morinas Buch über den erwähnten neuartigen Zugriff auf Bürgerbriefe und Eingaben hinaus wirklich neue Erklärungen hervorbringt, oder ob die Autorin nur wie andere darauf kommt, dass wir nicht genau wissen, warum der Osten so unzufrieden und rechtsradikal ist, wie es scheint. Vielleicht hat sich hier ja auch nicht wirklich viel geändert, sondern der Blick ist nur schärfer geworden und die Möglichkeit bzw. die Notwendigkeit darüber öffentlich zu sprechen. Im Hinblick auf rechtsextreme bzw. rechtspopulistische Parteien und Bewegungen wie die AfD und PEGIDA stellt Morina das auch überzeugend dar.
So richtig trägt Morinas Ansatz jedoch erst für die Zeit der Friedlichen Revolution und besonders für das Jahr 1989. Hier ist der eigentliche Ansatzpunkt, den Morina beschreibt, der Protest gegen die von der SED-Diktatur gefälschte Kommunalwahl vom 7. Mai 1989. Einen Höhepunkt mit „tausend Aufbrüchen“ brachte dann der Herbst dieses Jahres. Dabei fragt die Autorin zu Recht, welche demokratischen Vorstellungen die damals handelnden Menschen eigentlich hatten. Allerdings artikulierte nur eine geringe Minderheit der Ostdeutschen ihre demokratischen Hoffnungen und Gestaltungsvorstellungen – Morina sieht das offenbar anders. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob die damaligen demokratiepolitischen Erwartungen heute Anknüpfungspunkte für links- und rechtsradikale Demagogen und Verführer bieten können. Das beginnt damit, dass 1989/90 der Gegenbegriff zur Diktatur nicht Demokratie, sondern Freiheit war. Von zentraler Bedeutung ist auch, dass trotzdem immer wieder „direkte Demokratie“ und Volksentscheide im Mittelpunkt politischer Forderungen standen. Dazu kamen als Forderungen weitreichende Rechtsansprüche auf Sozialleistungen und die Souveränität einer reformierten DDR. Es gab ein widersprüchliches Bedürfnis nach Autonomie und Harmonie, nach Eigen- und Gemeinsinn, nach individueller Wirkmacht und kollektiver Kontrolle. Das ist aus der Situation einer Diktatur heraus mehr als verständlich, doch ist zu prüfen, ob das auch für die Demokratie der heutigen Bundesrepublik gilt. Offensichtlich ist ja, dass heute bei Rechtsradikalen die Vorstellung von direkten Volksentscheidungen statt parlamentarischer Demokratie eine erhebliche politische Rolle spielt.
Im Anschluss an die Schilderung von Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung geht die Autorin der Frage nach, wie auch im vereinigten Deutschland in Briefen an staatliche Instanzen Demokratie als politische Ordnung und alltägliche Praxis verhandelt wird. Dabei geht es zuerst um Forderungen in den 1990er-Jahren, anstelle des Grundgesetzes eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten. Der Verfassungsentwurf des revolutionären Zentralen Runden Tisches war bekanntlich nicht realisiert worden, aber auch das „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Staaten“ und die Versuche der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag, „Impulse aus der Deutschen Einheit“ in das Grundgesetz aufzunehmen, scheiterten weitgehend (S. 229). Zwar konnten erweiterte soziale Grundrechte und plebiszitäre Verfahrenswege in den ostdeutschen Landesverfassungen verankert werden, doch spielen diese heute politisch kaum eine Rolle.
Im letzten Kapitel ihres Buches wendet sich Morina der Bundeskanzlerin Angela Merkel, also einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der deutschen Zeitgeschichte, zu. Das ist als biografischer Ansatz interessant, kreist bei ihr aber leider immer wieder um Merkels Rolle als Ostdeutsche. Nun ist diese fraglos ein wichtiger Punkt in der Selbst- und Außendarstellung der Kanzlerin, aber doch eben nur eine Seite ihrer Persönlichkeit. Im Zusammenhang mit Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck vertritt die Autorin die Auffassung, dass Ostdeutsche im politischen System der Bundesrepublik sogar überproportional vertreten seien. Dem kann ich wiederum nicht folgen, beschränkt das den Blick doch auf wenige Führungspersönlichkeiten, die heute ihre Positionen auch schon nicht mehr ausüben. Entscheidend sind jedoch die Ebenen darunter, wie Staatssekretäre und leitende Beamte. Hier gibt es weiterhin kaum Ostdeutsche und so wird auch das von Morina ausgemachte „Repräsentationsparadox“ vom angeblichen politischen Einfluss der Ostdeutschen und ihrem entgegengesetzten Eindruck der Einflusslosigkeit mit einem einfachen „weiter so“ nicht zu lösen sein.
Dass die demokratischen Ansätze der Friedlichen Revolution in der heutigen Bundesrepublik keine oder nur eine äußerst marginale Rolle spielen, ist grundsätzlich zu bedauern und ein zentraler Grund für die heutige Kluft zwischen Ost und West. Morina kommt in ihrem Fazit zu dem Schluss, dass die bundesrepublikanische Demokratiegeschichte bis heute eine „Demokratieanspruchsgeschichte mit offenem Ausgang“ (S. 310) sei. Auch hier ist Widerspruch anzumelden, doch ist diese Meinung zumindest ein Ansatzpunkt für weitere Diskussionen.
Rainer Eckert, Berlin

 

[1] Solche Gruppen gab es in verschiedenen ostdeutschen Städten, so auch in Potsdam. Vgl.: Rainer Eckert, Revolution in Potsdam. Eine Stadt zwischen Lethargie, Revolte und Freiheit (1989/1990), Leipzig 2017, S. 149-171.
[2] Zu deren Rolle im Vorfeld der Friedlichen Revolution vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 1997, S. 539-770; Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Berlin 2000; Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 232-291. Als Überblick bis 2019 vgl. Rainer Eckert, SED-Diktatur und Erinnerungsarbeit im vereinten Deutschland. Eine Auswahlbibliographie, Halle/Saale 2019, S. 312-469.

 

Zitierempfehlung

Rainer Eckert: Rezension von: Christina Morina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, Siedler, München 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) Band 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/81966.pdf> [23.1.2024].

Stefanie Middendorf, Macht der Ausnahme. Reichsfinanzministerium und Staatlichkeit (1919–1945)

De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2022 | 585 Seiten, gebunden | 69,95 € | 978-3-1107-1218-6

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Um im Bundeshaushalt 2022 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitzustellen, musste das Grundgesetz geändert werden, damit dieses Sondervermögen nicht gegen die Schuldenbremse verstieß; wenige Monate später erklärte die Bundesregierung eine weitere, doppelt so hohe Verschuldung für akzeptabel, um die hohen Gaspreise zu subventionieren. Genau das Instrument, das den Staat vor der finanziellen Lähmung bewahren soll, greift nicht, damit der Staat in außergewöhnlichen Notsituationen handlungsfähig bleibt. Dasselbe Argument zog die Bundesregierung 2020 und 2021 heran, um die Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie durch eine höhere Neuverschuldung zu finanzieren. Schaut man auf die Haushaltsentwicklung der letzten drei Jahre, so erscheint die Grundfrage, mit der sich die Habilitationsschrift von Stefanie Middendorf auseinandersetzt, gut hundert Jahre nach Beginn von deren Untersuchungszeitraum brennend aktuell. Sie beschäftigte sich mit der Konstruktion von Staatlichkeit durch Praktiken, Taktiken und Techniken des Regierens. Das Buch ist ein Ergebnis des vom Bundesfinanzministerium initiierten Forschungsprojekts »Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus«. In diesem Rahmen hatte die Autorin die Institutionengeschichte zu bearbeiten, also gerade die Form der älteren Verwaltungsgeschichte, die seit dem cultural turn als wenig ergiebig und dröge gilt. Da andere Studien im Projekt die Rolle des Ministeriums in den fiskalischen Staatsverbrechen der NS-Diktatur in den Mittelpunkt rücken und zur Finanzpolitik während der Weimarer Ära nach wie vor ergiebige Studien vorliegen1, muss die Studie sich der Herausforderung stellen, neue, innovative Ergebnisse jenseits dieser Perspektiven hervorzubringen.
Die Autorin löst dieses Problem, indem sie das Reichsfinanzministerium als Fallstudie für den Wandel von Staatlichkeit untersucht. Dabei leiten sie zwei konzeptionelle Vorentscheidungen: Sie fragt erstens nach den Antrieben für organisationales Handeln als Gegenstand eigenen Rechts, der nicht aus den Motiven leitender Akteure heraus zu erklären sei. Zweitens löst sie sich von Interpretationen, die das »Scheitern« der Weimarer Demokratie zum Ausgangspunkt nehmen und in der Funktionalität des Staatsapparates für die NS-Verbrechen eine Pathologie moderner Bürokratien erblicken. Gegen solche normativen Erklärungsmodelle von »parasitärer Zersetzung« (Hans Mommsen) und »permanentem Ausnahmezustand« (Karl Dietrich Bracher) untersucht sie die Dynamiken von Regelhaftigkeit, Abweichungen und Neuordnungen als konstitutiven Prozess, der Staatlichkeit seit der Revolution von 1919 hervorbrachte und kontinuierlich umformte. »Ausnahme« ist in dieser analytischen Perspektive in erster Linie ein Argument, um administrative Programme und gouvernementale Praxen zu legitimieren.
Mit diesem Ansatz konzentriert sich die Studie auf Haushaltspolitik als den traditionellen Kern des Finanzressorts. Damit rückt sie ein höchst relevantes Untersuchungsfeld in den Mittelpunkt: Politische Programme übersetzen sich in die Zuteilung finanzieller Ressourcen. Regierungshandeln drückt sich daher vor allem in der Allokation und Distribution von Staatsgeldern aus; die Haushaltspolitik ist aus diesem Grund systematisch ein Kernbestandteil der Aushandlung von Staatlichkeit. Dazu tritt eine gewichtige demokratiehistorische Bedeutung der Haushaltspolitik, weil das Recht, den Staatshaushalt zu bestimmen, das Fundament der parlamentarischen Kontrolle über die Exekutive bildet. Für die Frage, wie der demokratische Staat ausgeformt werden sollte, bildet die Haushaltspolitik daher ein eminentes Handlungsfeld, in
dem die Interaktion zwischen Ministerialbürokratie, Parlament und gesellschaftlichen Interessengruppen von besonderer Bedeutung ist. Schließlich ist der Staatshaushalt auch eine Projektionsfolie und symbolischer Gradmesser für die Ordnung des Staatswesens insgesamt. Haushaltspolitik hat daher neben einer fiskalischen auch eine normative Ebene, auf die das Buch besonders stark abhebt.
Die Studie ist chronologisch in drei Abschnitte gegliedert, die sich an unterschiedlichen Rahmenbedingungen orientieren. Der erste Teil analysiert die Entstehungs- und Etablierungsphase des Reichsfinanzministeriums. Unter den Bedingungen von Krieg und Inflation analysiert die Autorin die Entstehung einer demokratischen Finanzordnung als »Staatsexperimente im Ausnahmezustand«. Anschließend wendet sie sich den als ruhig geltenden mittleren 1920er Jahren zu, um die Annahme einer Normalität im Geschäftsbetrieb des Ministeriums zu dekonstruieren. Der umfangreichste Teil des Buches beschäftigt sich damit, wie das Ministerium den ökonomischen, finanziellen und politischen Umbrüchen seit 1929 begegnete. Als »Ausweitung der Kampfzone« beschrieben, bildet dieser Teil den analytischen Fixpunkt, indem die Autorin fragt, in welchem Verhältnis Regierungstechniken, Ausnahmezustände und Verfassungswandel zueinander standen.
Nur einige Ergebnisse dieser fundamentalen Studie lassen sich hier herausgreifen. So betont die Autorin, dass die starke Ausgestaltung der zentralstaatlichen Finanzgewalt nach dem Ersten Weltkrieg zu einem erheblichen Teil auf außenpolitischen Druck zurückzuführen war, weil der Reichsetat den Willen und das Vermögen auswies, den Reparationsforderungen der Siegermächte zu genügen. Zu dieser Determinante gesellte sich eine Kette fiskalischer Not- und Ausnahmesituationen, die auch nach Ansicht von republikloyalen Akteuren nach Lösungen außerhalb der herkömmlichen Verfahren verlangten, sodass die Budgetpraxis regelmäßig den verfassungsmäßigen Vorgaben hinterherhinkte und das haushaltsrechtliche Instrumentarium umging, erweiterte oder ad absurdum führte.
Entgegen der Annahme, dass zwischen Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise eine Phase relativer Ruhe geherrscht habe, belegt die Studie sehr eindrücklich, dass das Reichsfinanzministerium auch in den Mitteljahren der Republik extranormative Staatstechniken und Ermächtigungsstrategien heranzog. So kooperierte die Haushaltsabteilung etwa eng mit den Abgeordneten des Reichstagsausschusses für den Staatshaushalt, um das Plenum auszumanövrieren. Allerdings geschah dies nicht in der Absicht, das parlamentarische System zu delegitimieren. Die Ministerialbeamten folgten einem an wirtschaftlicher Effizienz ausgerichteten Leitbild, das die Staatsfinanzen entpolitisierte und dem Primat einer überparteilichen »Sachlichkeit« huldigte. Auf diese Weise blieb das Instrumentarium für den Ausnahmezustand praktisch ununterbrochen in Gebrauch, und zwar, wie die Autorin betont, ohne rechtstaatlich begrenzt zu werden. In der ökonomischen Krise ab 1929 konnte es dann auch gegen die parlamentarische Demokratie eingesetzt werden.
Allerdings belegt die Studie instruktiv, dass der Prozess der Entparlamentarisierung des Budgetrechts bis 1931 eben keinem »reaktionären Masterplan« (399) folgte. Zu Recht betont sie, dass die Machtverschiebungen zur Exekutive dennoch gewollt waren, dass sie nicht allein durch Notverordnungen, sondern auch mit Hilfe von administrativen Regelwerken wie der Reichshaushaltsordnung geschahen, und dass sie die Handlungsmöglichkeiten der Spitzenbeamten des Finanzministeriums enorm erweiterten. Dies setzte sich unter ganz anderen Vorzeichen fort, als der ehemalige Leiter der Haushaltsabteilung, Lutz Schwerin von Krosigk, zunächst im Kabinett Papen und dann unter Reichskanzler Adolf Hitler an die Spitze des Finanzressorts trat. Allerdings brachte die NS-Diktatur dem Finanzminister nicht nur Vorteile. Zwar profitierte das Finanzministerium vom Zentralisierungsschub, der die finanziellen Interessen der Länder und Gemeinden ganz denen des Reichs unterordnete. Doch ganze Bereiche der Haushaltsgestaltung – insbesondere der Wehretat – blieben dauerhaft der Kontrolle des Ministers entzogen. Ab 1939 verlor die Haushaltsplanung dann ihre machtpolitische Bedeutung, weil Geld, Kreditwürdigkeit und finanzielle Stabilität im Rassen- und Vernichtungskrieg keine
Schlüsselressourcen mehr darstellten. Der Reichshaushalt wurde so zum »dauernden Provisorium« (457). Schwerin von Krosigk bemäntelte dies, indem er den Krieg als »Laboratorium dynamischer Budgetierung« zu nutzen versuchte. Obwohl dieser Ansatz offensichtlich scheiterte, relativiert die Autorin mit guten Gründen die These vom Machtverfall des Reichsfinanzministeriums. Durch eine intensive Überwachung von Einzelplänen konnten die Reichshaushälter zum Teil den Kontrollverlust kompensieren, den die Erosion des Haushaltswesens als Prinzip staatlicher Ordnung nach sich zog. Mit Nachdruck untermauert die Studie die Verantwortlichkeit und die Mitschuld von Ministerialbeamten und des Reichsfinanzministers für die Staatsverbrechen der NS-Diktatur. Damit tritt sie der Legendenbildung von Krosigks entgegen, der unter den überlebenden NS-Potentaten so viel Resonanz mit seinen Exkulpationsdarstellungen des vermeintlich unpolitischen Fachressorts in der Forschung gefunden hat wie ansonsten lediglich Albert Speer.2
Am überzeugendsten ist die Studie dort, wo sie die Analyse von Ausnahmeregelungen in konkrete Auseinandersetzungen um Machtbeziehungen und Interessen einbettet. Diesen Nexus stellt das Buch immer wieder sehr plastisch her. Zuweilen erscheinen die Entwicklungslinien, die die Autorin ins Zentrum rückt, dem Kontext enthoben. Dies gilt etwa für die Diskussion der Rolle des Reichssparkommissars in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, die die Autorin zwar breit analysiert, ohne aber mitzuteilen, welche Befugnisse diese extranormative Einrichtung gegenüber dem Reichsfinanzministerium wann erhielt. Auch die Diskussion über den Reichshaushalt 1926 beleuchtet instruktiv Pläne und Ansichten über die zukünftige Ausrichtung der Haushaltspolitik, doch das Schicksal dieser Vorhaben bleibt unklar. Durchgängig lässt die Studie die für die Tagespolitik oftmals bestimmenden Rahmenbedingungen beiseite – die Leser*innnen erfahren nur in groben Zügen, über welche Haushaltsgrößen gestritten wurde, wie das Ministerium strukturiert war oder welche Mehrheitsverhältnisse im Haushaltsausschuss gerade herrschten. Es ist das gute Recht und sogar die Aufgabe von Historiker*innen, ihre Fragestellung und Untersuchungsebenen aus eigenem Recht zu definieren. Die Autorin tut das wohlbegründet. Allerdings hat diese Vorgehensweise einen Preis, denn die Lektüre wird auf diese Weise sehr voraussetzungsreich. Glanz und Gefahr einer solchen Argumentation sind verschwistert: Nur durch eine derartige Abstraktion werden die langen Linien von Ausnahmetatbeständen in der Haushaltspolitik überhaupt sichtbar, und die Autorin versteht es glänzend, zwischen Absichten, nicht intendierten Folgen und den durch solche Öffnungen geschaffenen Möglichkeitsräumen zu differenzieren. Doch zugleich geraten situative und pragmatische Motive, Geld für diesen oder jenen Zweck bereitzustellen, weitgehend aus dem Blick, ebenso wie tagespolitischen Konfliktlinien und Kontingenzen.
Stefanie Middendorf hat ein Werk vorgelegt, das das Ziel, über den Gegenstand hinaus zu weisen, eindrucksvoll einlöst. Sein Ergebnis, dass die NS-Diktatur keineswegs durch staatlichen Dilettantismus gekennzeichnet war, sondern auf Ermächtigungstechniken zurückgreifen konnte, die in der Demokratie von Weimar erprobt und sogar zum Schutz der Demokratie hatten eingesetzt werden können, ist sowohl für die NS- als auch für die Weimar-Forschung ein höchst erhellender Befund. Seine irritierende Weitungen für die frühe Bunderepublik deutet die Autorin nur an. Indessen zeigt sie klar, dass Ausnahmezustände als gouvernementale und erfahrungsgeschichtliche Kontinuitätslinie die Wahrnehmung und Gestaltung des Staatswesens in Demokratie und Diktatur bis 1945 verklammern. Alles spricht dafür, dass sich diese Verklammerung mit viel Erkenntnisgewinn auch für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weiterverfolgen lässt.

Bernhard Gotto, München

Dieter Grimm, Die Historiker und die Verfassung. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes

Verlag C.H. Beck | München 2022 | 358 Seiten, gebunden | 34,00 € | ISBN 978-3-406-78462-0

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Als Historiker wird man das Buch jedem dringend zur Lektüre empfehlen wollen, der sich unter allgemeinen Aspekten mit der Geschichte der Bundesrepublik beschäftigt, da es dazu zwingt, den Blick über den gewählten engeren politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich hinaus auf die ihm zugrunde liegenden rechtlichen, genauer verfassungsrechtlichen Bedingungen zu richten. Ein einleitender exkulpierender Hinweis auf das Grundgesetz reicht keineswegs aus, nicht allein, weil das Grundgesetz selbst seit 1949 bislang über 60 Mal geändert wurde, sondern insbesondere, weil die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, indem es die Bestimmung des Grundgesetzes mit Leben erfüllt, dieses in den zurückliegenden 70 Jahren entscheidend gestaltet und weiterentwickelt hat. Oftmals mögen uns die Ereignisse, Krisen oder Zäsuren dieser Jahrzehnte noch gegenwärtig sein, doch ihre verfassungsrechtliche Dimension und die Auswirkungen der Karlsruher Entscheidungen, die damit verbunden oder durch sie herbeigeführt worden waren, übersieht der Nicht-Jurist gerne, selbst wenn diese bedeutsamer als das sie auslösende Ereignis gewesen sein mögen.
Grimm möchte das Bewusstsein für diese grandes décisions, wie es im Titel einer grundlegenden Publikation zu den Entscheidungen des französischen Verfassungsrats heißt, schärfen, indem er diese von den 1950er- bis in die 1990er-Jahre entwickelt und in einem weiteren Schritt danach fragt, wie diese sich in den vom ihm ausgewählten 13 großen historischen Gesamtdarstellungen, Studienliteratur und Kurzdarstellungen, erschienen zwischen 1997 und 2021, niedergeschlagen bzw. Erwähnung gefunden haben. Grimm ist bemüht, das in jedem Einzelfall zu dokumentieren und vermeidet pauschale Urteile. Doch zusammenfassend wird man festhalten können, dass das Ergebnis ernüchternd ist. Von einer systematischen und sachgerechten Einarbeitung dieser Entscheidungen kann bei allen kleineren Unterschieden im Detail keine Rede sein. Die dargelegte Geschichte der Bundesrepublik bleibt lückenhaft, da für ihren weiteren Verlauf grundlegende verfassungsrechtliche Weichenstellungen nicht selten unzureichend erfasst sind oder – in noch größerer Zahl – völlig unerwähnt bleiben.
Fragt man nach den Gründen für diese Versäumnisse, hält sich Grimm erstaunlich bedeckt. Das mag nicht allein damit zusammenhängen, dass der Autor hier selbst Partei ist. Dieter Grimm gehörte auf Vorschlag der SPD von 1987 bis 1999 dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts an und hat mithin selbst an etlichen der hier zur Sprache kommenden Entscheidungen mitgewirkt. Dennoch hat Grimm keine Geschichte der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorgelegt, sondern sich bewusst auf jene Urteile konzentriert, von denen erwiesenermaßen über den Einzelfall hinaus eine erhebliche politisch-rechtliche Folgewirkung ausging. Er erwähnt zwar immer wieder, dass diese Entscheidungen nicht alternativlos gewesen seien, doch die Alternativen (»Sondervoten«) werden in der Regel weder erwähnt noch gar dargelegt. Anders als in juristischen Verfassungsgeschichten unterbleibt mithin die rechtliche Auseinandersetzung um das ergangene Urteil. Vielmehr steht die Entscheidung für sich, und man würde es sich mithin zu leicht machen, die angesprochenen Defizite in den historischen Darstellungen mit mangelnden juristischen Spezialkenntnissen der jeweiligen Autoren entschuldigen zu wollen.
Vielmehr tut sich die Geschichtswissenschaft mit ihren verschiedenen Großschwenkungen seit den 1960er-Jahren zur Sozial-, Struktur- oder Kulturgeschichte, um nur diese zu nennen, schwer
mit Verfassungen als rechtlichen Texten, die vielfach eher als sekundär und nachgeordnet empfunden werden, ohne dass sich die Autoren in der Regel der Tatsache bewusst sind, in welch hohem Maße unser modernes Leben, gleich in welchen Bereichen, rechtlich konnotiert und determiniert ist und dass Veränderungen in diesen rechtlichen Rahmenbedingungen unweigerlich ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und ihre Teilbereiche haben. Wie in der Öffentlichkeit allgemein Karlsruhe eher als mediales Ereignis von Fall zu Fall wahrgenommen wird, werden Verfassung und Verfassungsentwicklung in der deutschen Geschichtswissenschaft, anders als etwa in den USA, eher nicht als auf den Alltag der Menschen durchschlagendes Kontinuum verstanden. Damit stellt sich letztlich die Frage nach der Verfassungskultur in Deutschland, was über die von Grimm in seinem letzten Kapitel thematisierte »unterschätzte Konstitutionalisierung der Politik«hinausgeht.
Kritiker mögen daher Grimms Zugriff auf die ausgewählten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als positivistisch werten, zumal wenn sie die Auswirkungen dieser Entscheidungen selbst wiederum kritisch betrachten. Dem wird man sich insbesondere bei dem missglückten Maastricht-Urteil kaum entziehen können, mit dem das Gericht bemüht war, dem Bekenntnis zum »vereinten Europa«in der Präambel des Grundgesetzes den Rekurs auf die nationalstaatliche Souveränität entgegenzusetzen, was fatal an das engstirnige Festklammern der deutschen Einzelstaaten an ihre »Souveränität«zu Zeiten des Deutschen Bundes erinnert, das in der Öffentlichkeit als wenig zeitgemäß empfunden wurde und heute in der Europäischen Union dazu führt, dass sich Ungarn, Polen und andere den europäischen Werten reserviert bis abweisend gegenüberstehende Mitgliedstaaten nur zu gerne auf das Bundesverfassungsgericht berufen. Das können weder die Europäische Kommission noch der Europäische Gerichtshof hinnehmen, noch liegt es im deutschen Interesse. Denn wenn jedes nationale Höchstgericht der Mitgliedstaaten darüber entscheiden kann, was die europäischen Institutionen tun dürfen und was nicht, gibt es kein einheitliches europäisches Recht mehr, sondern 27 verschiedene.
Es braucht vielmehr eine vertiefte, im Alltag der Menschen verwurzelte Verfassungskultur, auch unter den Historikern, die in ihrer demokratischen Verankerung sich von überlebten Denkmustern befreit, nicht nur von einer, einer Monstranz gleich, vor sich hergetragenen nationalstaatlichen Souveränität, sondern auch von einer, dem 19. Jahrhundert entnommenen Vorstellung von »Staat« und einer damit einhergehenden »Trennung von Staat und Gesellschaft«, die in einer Demokratie geradezu als widersinnig erscheinen müssen. Auch die in vielen juristischen Köpfen immer noch spukende »deutsche Staatsrechtslehre«, die sich gerne als dogmatischer Gegenpol zum Bundesverfassungsgericht und seinen Entscheidungen begreift, gehört einer vergangenen Zeit an. Eine living constitution ist kein Spezialfall für die Juristen. Sie geht uns alle an, und sie ist Teil der bundesrepublikanischen Identität. Hier haben viele von uns noch einen Nachholbedarf, und Dieter Grimm hat uns dies erneut vor Augen geführt.

Horst Dippel, Kassel

Rüdiger Hachtmann, 1848. Revolution in Berlin

BeBra Verlag | Berlin 2022 | 240 Seiten, gebunden | 26,00 € | ISBN 978-3-8148-0261-9

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Rechtzeitig zum Jubiläumsjahr 2023 – die 1848er-Revolution liegt nun 175 Jahre zurück – hat Rüdiger Hachtmann ein gut lesbares und mit Abbildungen versehenes Buch vorgelegt, mit dem er auf den Spuren seines umfangreichen Werkes (Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997) die damaligen Ereignisse in Berlin nachzeichnet. Dabei fügt er politische, wirtschaftliche, soziale und (alltags-)kulturelle Entwicklungen zu einem facettenreichen Gesamtbild zusammen, in das immer auch Hinweise auf die Vorgänge in anderen europäischen Städten, insbesondere in Wien und Paris, eingebettet werden.
So leuchtet er zunächst mit breiter Perspektive die vielfältigen Ursachen für den revolutionären Aufbruch 1848 aus. Deutlich wird, dass das soziale Elend »sicherlich eine Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Umsturz« war, dass aber die Verelendung »keinen ›revolutionären Automatismus‹ in Gang« setzte (S. 19). Bedeutsam für die Zuspitzung der Konflikte Ende der 1840er-Jahre waren neben dem wachsenden Gefühl von sozialer und politischer Ungerechtigkeit auch und vor allem die Ohnmacht gegenüber den Übergriffen des Militärs sowie die Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit, die sich trotz der Unterdrückung der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit zu entfalten begann. Und die Ereignisse in anderen Ländern, zum Beispiel der Schweizer Sonderbundskrieg im November 1847 sowie die Februarevolution 1848 in Paris, befeuerten den Aufstand auch in Berlin.
Am 18. März 1848 begannen in Berlin Protestdemonstrationen, die das Militär sofort mit Gewalt zu unterdrücken versuchte. Das als unverhältnismäßig brutal empfundene Vorgehen der Soldaten bewirkte eine Radikalisierung der Proteste und zu Barrikadenbau und Straßenkämpfen: 15.000 Soldaten standen schätzungsweise 5.000 bis 6.000 Aufständischen gegenüber, die sich hinter zahlreichen Barrikaden verschanzten und damit den Vormarsch der Soldaten in die proletarisch geprägten Viertel Berlins verhinderten. Aufseiten der Herrschenden, also im Königshaus wie in der Militärführung, wurden Verschwörungsmythen verbreitet: Schon in der Nacht vom 18. auf den 19. März machte der König in seinem Aufruf »An meine lieben Berliner« eine »Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend«, für den Aufstand verantwortlich. Das folgte einem immer wieder zu beobachtenden Argumentationsmuster, das vor allem die Unfähigkeit oder den Unwillen bewies, »die sozial- und politisch-strukturellen Ursachen von Rebellionen und Revolutionen in den Blick zu nehmen« (S. 42f.).
Dass sich das Militär dann erst einmal zurückzog, war auch eine Antwort darauf, dass sich in vielen Städten der näheren und weiteren Umgebung Bürger bewaffnet hatten, um den Berliner Aufständischen zu Hilfe zu kommen. In Berlin erfasste die Rebellion unterdessen immer weitere Kreise der Bevölkerung, wobei der übergroße Anteil der zumeist jüngeren Barrikadenkämpfer und -kämpferinnen der unteren Schicht entstammten. Die Zahl der Opfer war hoch: 183 »Märzgefallene« waren zu beklagen; am 22. März wurden die »Märzgefallenen« mit einem großen Trauerzug zur Grabstätte im Friedrichshain geleitet. Aufseiten des Militärs starben, wie es später hieß, 7 Offiziere und 56 einfache Soldaten.
Zunächst sah es so aus, als würde der preußische König einlenken. Zumindest glaubten weite Kreise der kritischen Öffentlichkeit, er werde sich einer Parlamentarisierung Preußens nicht entgegenstellen. Auch wenn derartige Hoffnungen, wie sich bald zeigen sollte, auf einer Illusion
basierten, so waren sie doch durchaus wirksam, was das öffentliche Leben in Berlin anlangte: Die Revolution war nicht nur Ausdruck einer »Fundamentalpolitisierung«, sondern auch einer »Fundamentaldemokratisierung« (S. 64), die nicht nur zur Einberufung der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main und der Preußischen Nationalversammlung, sondern auch zu einem Boom der Volkspresse und Straßenliteratur sowie zur Mobilisierung von Teilen der Bevölkerung führte, die – zu denken ist vor allem an Frauen und Jugendliche – zuvor am politischen Leben eher wenig beteiligt waren. Und diese Politisierung hielt an und bewirkte nicht nur eine organisatorische Verstetigung in demokratischen Vereinen und Clubs, sondern äußerte sich auch in Streiks sowie in der Gründung von ersten Arbeiter- beziehungsweise Gesellenverbänden. Zu erinnern ist vor allem an das Central-Comité der Arbeiter, das sich unter der Präsidentschaft Stephan Borns als eine Art von Arbeiterparlament verstand und eine Reihe von sozialpolitischen Forderungen – von der Beschäftigung von Arbeitslosen in Staatsanstalten bis zur Schaffung von Volksbibliotheken – erhob.
Unterdessen rückten Monarchie und protestantische Kirche eng zusammen: Die Geistlichkeit nahm entschieden gegen die revolutionären Umwälzungen des Frühjahrs 1848 Stellung. Zudem waren monarchischer und kirchlicher Konservativismus nicht nur durch ihre obrigkeitsstaatlichen Gesellschaftsvorstellungen, sondern auch durch einen ausgeprägten Antisemitismus miteinander verbunden. Die seit Jahrhunderten immer wieder propagierte Legende von der jüdischen Verschwörung rückte in den Vordergrund, ließen sich damit doch, wie R. Hachtmann klar macht, »existenzielle Ängste in Krisen- oder Umbruchsituationen […] auf denkbar einfache und griffige Weise ›erklären‹« (S. 119).
Schon im Frühsommer 1848 dominierten die Bemühungen der monarchischen Eliten, ihre Machtposition wieder auszubauen; zu denken ist vor allem an die Rückkehr des Thronfolgers, an die Verweigerung der Anerkennung der Revolution durch die Preußische Nationalversammlung und an die Ablehnung einer allgemeinen Volksbewaffnung. Dadurch spitzte sich der Konflikt erneut zu und führte in der Nacht vom 14. zum 15. Juni 1848 zum Sturm auf das Zeughaus. Dieses Ereignis wirkte polarisierend auf die Berliner Bevölkerung: Während weite Kreise des Bürgertums an die Seite der Monarchie traten, wurden Angehörige der proletarischen Schichten vielfach in ihrer Ablehnung der Monarchie und in der radikalen Befürwortung von demokratischen und sozialen Rechten bestärkt. Dass in der Bevölkerung, vor allem in den proletarischen Wohnvierteln, nach wie vor Unzufriedenheit mit der politischen Situation herrschte, zeigte sich wenig später erneut in der Reaktion auf die Stabilisierung der monarchischen Obrigkeit, die mit der Auflösung des Preußischen Parlaments durch Soldaten am 15. September 1848 manifest wurde. Zu denken ist nicht nur an die Unruhe auf den Straßen, mit der die amtlichen Bulletins und Plakate aufgenommen wurde. Zu erwähnen ist zudem die »Schlacht auf dem Köpenicker Feld« im Oktober 1848; Ausgangspunkt war der Protestzug von 100 Erdarbeitern, die, nachdem sie eine ihre Arbeitsplätze überflüssig machende Dampfmaschine zum Abpumpen von Grundwasser zerstört hatten, gekündigt worden waren und nun ihre Kollegen zum Streik aufriefen. Aus dem Eingreifen der Bürgerwehr wurde ein Barrikadenkampf, bei dem mehrere Arbeiter getötet wurden.
Ihren Abschluss fand der revolutionäre Aufbruch in Berlin schließlich mit der Verkündung der (schein-)demokratischen Verfassung vom Dezember 1848, in der allerdings die garantierten Grundrechte durch eine Reihe von Artikeln relativiert wurden. In der folgenden Reaktionszeit wurden denn auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt, was schon bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus vom Januar 1849 ungleiche Wahlchancen der angetretenen Kandidaten zur Folge hatte.
Abschließend geht R. Hachtmann auf die Frage nach dem Stellenwert der Märzrevolution in Berlin in der deutschen Erinnerungskultur ein. Der Bogen reicht von den Gedenkfeiern der Sozialdemokratie im Kaiserreich über die gespaltene Erinnerungskultur in der Weimarer Republik und die ebenfalls gespaltene Erinnerung in »Ost« und »West« in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart, in der einerseits, z.B. auf dem »Friedhof der
Märzgefallenen«, primär die revolutionären Ursprünge der Demokratiebewegung und andererseits, z.B. 1998 in der Frankfurter Paulskirche, vorrangig die Anfänge ihrer parlamentarischen Ausformung gewürdigt wurden.
Die unterschiedlichen Akzentuierungen der Erinnerungen an die Ereignisse vor 175 Jahren vor Augen, bleibt mit Blick auf die Gedenkfeierlichkeiten im Jahre 2023 zu hoffen, dass es gelingt, eine Erinnerung zu etablieren, in der beides, das revolutionäre Aufbegehren und die Entfaltung der parlamentarischen Demokratie, miteinander verbunden wird; damit könnte zugleich ein Beitrag zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur geleistet werden, in der nicht nur Konflikte und Kriege, sondern eben auch die im 19. Jahrhundert vielerorts in Europa etwa zeitgleich beschrittenen Wege zur modernen Demokratie ihren Platz haben sollten.

Michael Schneider, Kalenborn

Bernd Rother, Sozialdemokratie Global. Willy Brandt und die Sozialistische Internationale in Lateinamerika

Campus Verlag | Frankfurt am Main/New York 2022 | 470 Seiten, gebunden | 39,00 € | ISBN 978-3-59351-501-4

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In diesem Buch von Bernd Rother, einem langjährigen Mitarbeiter der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, geht es, wie der Untertitel verspricht, in erster Linie um Willy Brandt und die Sozialistische Internationale (SI) in Lateinamerika und nicht um deren globales Wirken. Rother hat gute Gründe für diese Beschränkung, denn einerseits ist das Thema an sich schon breit gesteckt und andererseits war Lateinamerika das mit Abstand wichtigste außereuropäische Zielgebiet für die deutschen Mitglieder der SI. Dass sich diese Aktivitäten unter der Präsidentschaft Brandts nach dessen Rücktritt als Bundeskanzler ab 1976 entfalteten, war ebenfalls kein Zufall. Lateinamerika war seinerzeit eine Projektionsfläche für die Linke weltweit. Das galt sowohl im positiven Sinne durch die Hoffnungen, die sich mit den Revolutionen in Kuba und später in Nicaragua sowie mit dem Wahlsieg der Unidad Popular in Chile verbanden, wie auch im negativen durch die Militärdiktaturen, die vielerorts die Ansätze linker Regierungen wieder zunichtemachten.
Rothers Buch konzentriert sich auf die Endphase des Kalten Kriegs von den 1970er- bis in die frühen 1990er-Jahre. Dabei macht er bewusst Einschränkungen, die er in der Einleitung transparent begründet. So geht es ihm nicht um die Gesamtheit der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Lateinamerika in dieser Zeit, sondern um die Außenbeziehungen der Sozialdemokratischen Parteien, die damit als transnationale Akteure in den Fokus rücken. Eine weitere Einschränkung ist die Konzentration auf die europäische, genauer, die deutsche Seite, was mit der Verfügbarkeit der Quellen zu tun hat. Zweifellos ist der Quellenbestand der deutschen Sozialdemokratie umfangreicher und besser zugänglich als die in Lateinamerika – und auch in anderen europäischen Ländern – vorhandenen Quellen, wenn es sie denn überhaupt noch gibt. Um dort in die Tiefe zu gehen, hätte der Autor vor Ort viel Zeit investieren müssen, um Kontakte zu knüpfen und die oft in Privathänden befindlichen Dokumente mühsam zu suchen oder aber die Textquellen durch Oral History-Interviews zu ergänzen.
Da Rother dies nicht tut, bleibt das Buch wie gesagt der deutschen Perspektive verhaftet, wobei auch die Rückwirkungen der sozialdemokratischen SI-Aktivitäten auf die Außenpolitik der sozialliberalen Regierungen ausgeklammert werden. Der Autor konstatiert, dass es sich bei der SI um einen „Scheinriesen“ (S. 29) handelte. Gewicht bekam die Vereinigung durch ihre Einzelmitglieder, die je nach finanziellen Möglichkeiten mehr oder weniger aktiv agierten. Vor allem die deutschen Sozialdemokraten im Verbund mit den schwedischen und österreichischen Genossen verfügten in besonderem Maß über diese Mittel und nutzten sie für ihre Arbeit in Lateinamerika etwa durch die Friedrich-Ebert-Stiftung. Wie der Autor eingangs klar macht, war es nicht die SI, sondern das persönliche Ansehen Willy Brandts, das vor Ort Türen öffnete. Die SI bot demgegenüber nur ein lockeres Forum für den Meinungsaustausch mit lateinamerikanischen Partnern.
Das Buch ist in drei ungleiche Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um die Grundlagen für die internationale Parteiarbeit. Rother diskutiert hier die Faktoren, die die Akteure zur Belebung der SI motivierten. Die Transformationen auf der iberischen Halbinsel waren ebenso ein entscheidender Auslöser wie das als Versagen wahrgenommene Handeln der USA in ihrem vermeintlichen „Hinterhof“. Die Sozialdemokratie, so sahen es Brandt und Gleichgesinnte, konnte demgegenüber einen dritten Weg zwischen dem US-Kapitalismus und dem real existierenden Sozialismus des Ostblocks bieten. Die Solidarität mit den Völkern der „Dritten Welt“ spielte dabei
eine wichtige Rolle. Verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten erleichterten den Austausch. Zudem gab es auf Seiten lateinamerikanischer Reformkräfte schon seit den 1960er-Jahren Interesse daran, den Reformismus der europäischen Sozialdemokraten näher kennen zu lernen, denn Länder wie Schweden galten als Vorbild.
Die Annäherung der europäischen Sozialdemokraten und der lateinamerikanischen Linksreformer spielte sich zunächst außerhalb der SI ab und fand in einer Konferenz in Caracas 1976 einen ersten Höhepunkt. Mit der Wahl Brandts zum Präsidenten der SI verlagerten sich die Gewichte. Die SI wurde zum Zentrum der Zusammenarbeit der Parteien. Wie Rother herausarbeitet, blieben jedoch die Grundprobleme der fehlenden Ausstattung bestehen. Zudem blieb die Internationale tendenziell eurozentrisch. Im Gegensatz zu den Europäern, die sich berufen fühlten, zu allen Themen von den Menschenrechten bis zur Nahostproblematik beizutragen, blieben die Lateinamerikaner zurückhaltend, solange es nicht um ihre eigenen Belange ging. Rother arbeitet hier sehr schön die lateinamerikanische Sichtweise gegenüber den Europäern heraus, die der Salvadorianer Guillermo Ungo treffend als „unausgesprochene Übereinkunft kolonialer Unterwerfung“ charakterisierte (S. 197). Anders als die Europäer kannten die lateinamerikanischen Vertreter in der SI ihre Gesprächspartner nur zu gut.
Im dritten und mit Abstand größten Teil des Buches geht Rother auf lateinamerikanische „Herausforderungen“ ein. Damit meint er die nicaraguanische Revolution, den Bürgerkrieg in El Salvador sowie – allerdings eher epilogartig – den Konflikt um die Falkland-Inseln/Malvinen. Zentralamerika wurde in den 1980er-Jahren zu einem Schwerpunkt der Debatten innerhalb der SI. Nicaragua und El Salvador versprachen den ewigen Kreislauf von Unterdrückung und Gewalt durch reformerische, ja revolutionäre Projekte zu durchbrechen. Wie weit aber durfte der revolutionäre Geist gehen? Darüber war man sich innerhalb der SI uneins. Rother zeichnet die verästelten Diskussionen akribisch nach. Fachlich Interessierte finden hier viele interessante Informationen.
Dieses Buch ist eine willkommene Ergänzung zu den Studien zur Außenpolitik der Bundesrepublik in der Spätphase des Kalten Kriegs. Mit der Konzentration auf die SI und die Parteien rückt Rother Akteure in den Mittelpunkt, die bislang wenig Beachtung fanden. Wie der Autor eindringlich zeigt, war die SI in den ersten Jahren unter Brandt sehr erfolgreich und wurde auch in den Zentren der Macht wie z.B. den USA als beachtenswerter neuer Gesprächspartner geschätzt. In den 1980er-Jahren ließ dieser Glanz nach, die „Herausforderungen“ wurden zu groß. Als dann Persönlichkeiten wie Olof Palme, Bruno Kreisky und schließlich auch Brandt, die die Hochphase entscheidend prägten, starben und mit dem Ende des Kalten Kriegs ein neues Zeitalter begann, verlor die SI schnell an Bedeutung.

Stefan Rinke, Berlin

Bernd Rother, »Willy Brandt muss Kanzler bleiben!« Die Massenproteste gegen das Misstrauensvotum 1972

Campus Verlag | Frankfurt am Main/New York 2022 | 203 Seiten, broschiert | 26,00 € | 978-3-593-51515-1

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»Willy Brandt muss Kanzler bleiben!«, skandierten 400.000 empörte Bürger:innen im Frühjahr 1972 auf Protestveranstaltungen. Nachdem die Oppositionsparteien CDU und CSU angekündigt hatten, mit Hilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums den Kanzler zu stürzen und die Ratifizierung der Ostverträge durch den Deutschen Bundestag zu verhindern, formierten sich republikweit Streiks, Kundgebungen und Demonstrationen. Bisher blieben diese von der zeithistorischen Forschung unberücksichtigt, während sowohl die eigentliche Abstimmung, die Vorwürfe des Stimmenkaufes als auch die anschließenden »Willy-Wahlen« hinreichend untersucht wurden.
Bernd Rother, Senior Research Fellow der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, schlägt mit seiner hier besprochenen Studie einen neuen Weg ein und widmet sich den bisher vernachlässigten Massenprotesten rund um das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Brandt. Den Ort der Proteste von 1972 in der bundesrepublikanischen Geschichte zu bestimmen, ist neben der Rekonstruktion des Protestgeschehens das Hauptanliegen seiner durchweg lesenswerten und erkenntnisbereichernden Studie. Die Arbeit stützt sich auf die akribische und ausführliche Auswertung zahlreicher regionaler als auch überregionaler Zeitungs- und Archivbestände. Seine Hauptfrage unterteilt Rother in über ein Dutzend weiterer relevanter Forschungsfragen, die sich zusammenfassend mit der Bedeutung der Proteste für die politische Kultur der Bundesrepublik befassen. Zudem wird das Protestgeschehen in die Zeit einer starken gesellschaftlichen Polarisierung und Politisierung eingeordnet, und zuletzt nach Verallgemeinerungsfähigem und Spezifika der bundesweiten Proteste gefragt.
Zunächst skizziert Rother anschaulich den Rahmen seiner Studie und wirft in diesem Zusammenhang einen Blick auf mögliche politische Vorbilder der Proteste und Streiks von 1972, bei denen circa 400.000 Menschen in den Innenstädten und den Betrieben protestierten. Diese Größenordnung ist vergleichbar mit den Protesten im Rahmen der Kampagne »Kampf dem Atomtod« von 1958. Erst im Jahr 1983 protestierten in der Bundesrepublik mehr Menschen, und zwar gegen den NATO-Doppelbeschluss. Rother arbeitet heraus, dass politische Streiks in Deutschland keine traditionelle Handlungsform der Arbeiterbewegung darstellen. Im September 1969 kam es allerdings zu einer »bisher nicht gekannten Welle spontaner Streiks« (S. 31), die allerdings nicht von den Gewerkschaften initiiert worden waren. Bei den September-Streiks von 1969 handelte es sich zudem um ökonomische Arbeitskämpfe, die allerdings die politische Debatte maßgeblich beeinflussten. Mehrere sozialwissenschaftliche Forschungseinrichtungen betonen, dass es bei den bisherigen Streiks zu keiner »Repolitisierung der Arbeiterschaft« (S. 33) gekommen sei. In Deutschland, betont Rother, gab es demnach für die politischen April-Streiks von 1972 keine historischen Vorbilder.
An dieses Kapitel schließen sich zwei weitere Hauptkapitel an, die die Streiks und Proteste erstmalig dokumentieren, bevor die Aktionsformen analysiert und synthetisiert werden. Als CDU/CSU 1972 ihren Antrag zum Kanzlersturz einbrachten, hatte damit »ein Blitz eingeschlagen, die Betriebe ›brannten‹, die Menschen strömten auf die Straßen und Plätze« (S. 51). Als die Opposition versuchte, »einen von ihnen, das Arbeiterkind, den obersten Sozialdemokraten, den höchsten Repräsentanten der Arbeiterschaft, Willy Brandt, zu stürzen« (S. 179), entlud sich der »Eigensinn« (S. 179) der Arbeiterschaft auf Basis eines übergebliebenen Klassenstolzes und verletzter Ehre. Zugleich bedeutete das Vorgehen der Opposition für die Arbeiterschaft den dritten illegitimen beziehungsweise illegalen Anlauf eines Sturzes einer sozialdemokratischen Regierung, ohne die Unterschiede zwischen den Aprilprotesten und den historischen
Referenzpunkten »Kapp-Putsch« (1920) und »Preußenschlag« (1932) hinreichend wahrzunehmen. 1972 bestand die Antwort der Arbeiterschaft aus Arbeitsniederlegungen – aber auch ein Generalstreik war bei Sieg Barzels wieder denkbar geworden. Die Proteste konzentrierten sich auf die Betriebe, in denen die Streiks als wichtigstes Mittel der Interessensartikulation aus den Belegschaften heraus selbst initiiert wurden. Rother verdeutlicht, es gebe keinerlei Hinweise dafür, dass die SPD Bundesorganisation die Streiks initiiert oder gesteuert habe. Ganz im Gegenteil: Von der Welle der Empörung zeigte sich der Parteivorstand überrascht und seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Die Partei und die Gewerkschaften versuchten die Belegschaften vergebens zu bremsen, indem sie an die Verfassungskonformität des oppositionellen Vorgehens erinnerten. In der SPD-Führung wurde auch die Verfassungswidrigkeit eines Erzwingungsstreikes (s.u.) nicht angezweifelt. Auf der anderen Seite wollte die Parteiführung durch konsequentes Abraten keine Unterstützer:innen und Wähler:innen verlieren, gerade auch vor dem Hintergrund der aktiven Rollen einiger lokaler Sozialdemokrat:innen bei der Streikorganisation. Daher entschied man sich im Ollenhauer-Haus für den Weg, spontane Solidaritätsbekundungen nicht zu unterbinden, sie aber auch nicht extra forcieren zu wollen. Doch die Basis wollte aktiv werden. In dieser Situation blickte die abratende SPD-Parteiführung mit kritischem Blick auf die Aktivitäten der DKP in den Betrieben, die Aktionsgemeinschaften mit sozialdemokratischen und gewerkschaftsnahen Arbeitnehmer:innen planten, um die Ostpolitik, das »Prestigeprojekt« (S. 53), nicht nur für die bundesdeutsche Regierung, sondern auch für die kommunistischen Parteien in den Staaten des Ostblocks zu sichern. Aus dieser erwachsenen Konkurrenzsituation vor Ort in den Betrieben wurde zum Beispiel in Stuttgart seitens der lokalen SPD, der Gewerkschaften und der FDP eine Kundgebung einberufen. Auch Demonstrationen und Kundgebungen lassen sich, so zeigt Rother, nicht auf bundesweite Aufrufe der Partei- und Gewerkschaftszentralen zurückführen. Die Appelle und Zurückhaltung der SPD störten wider Erwarten allerdings nicht das Verhältnis zwischen Industriearbeiterschaft und Partei. Ihre Beziehung konnte stattdessen gestärkt werden und erreichte einen neuen Höhepunkt. CDU und CSU hatten durch ihr Vorgehen das Gegenteil des Gewollten erreicht. Ein Überhöhungsprozess hinsichtlich der Person Brandt entwickelte sich fort.
Wichtigste Träger der Streiks waren Industriearbeiter:innen – insbesondere aus der Metallindustrie (in einer weiteren Definition). Auch Student:innen und Schüler:innen organisierten im Übrigen Protestaktionen, blieben jedoch weit hinter den Protesten der Industriearbeiter:innen zurück. Ihre führende Rolle unterstreichen auch die zahlreichen Proteste im Ruhrgebiet, die »alles andere in den Schatten« (S. 178) stellten, obgleich in der Bergbauindustrie kaum Streikaktivitäten zu vernehmen waren. Die IG Bergbau, die im DGB als konservative Gewerkschaft galt, lehnte sowohl Erzwingungs- als auch Demonstrationsstreiks ab. Die IG Metall hingegen trug Demonstrationsstreiks mit. Während in NRW zahlreich gestreikt wurde, kam es im benachbarten Rheinland-Pfalz zu keinem einzigen Streik pro Brandt. Von diesem Befund ausgehend widmete sich Rother dem Zusammenhang zwischen der Intensität der Proteste und der Parteistärke. Die Grenzen seiner Überlegungen sind dem Autor dabei stets bewusst, wenn er die vor Ort »gut verankerte Sozialdemokratie und auch ebenso starke Gewerkschaften« (S. 115) als wichtige, aber nicht hinreichende Erklärung für die Ungleichverteilungen der Streiks und Protestaktionen klassifiziert.
Rother ordnete die Aprilproteste als »letzte politische Bewegung in der deutschen Geschichte, die von der Arbeiterschaft […] getragen wurde« (S. 178), ein. Sie habe sich 1972 mit einer »Gala-Vorstellung« (S. 178) verabschiedet. Bei nachfolgenden Protesten sei es nicht mehr um »Politik im engeren Sinne« (S. 178) gegangen. Bei den an der Umwelt- und Friedensbewegung teilnehmenden Arbeiter:innen handelten ebendiese als »Bürger allgemein« (S. 178). Mit Blick auf die Spontanität sowie das Ignorieren von Empfehlungen der SPD- und Gewerkschaftszentralen stellten die Aprilproteste jedoch keine Abschiedsvorstellung dar, unterstreicht Rother. Ähnlich wie der Außerparlamentarischen Opposition spricht er den Aprilprotesten eine Scharnierfunktion »zwischen einer ›formierten‹ und einer aktivistischen, mündigen Gesellschaft« (S. 178) zu. Für die Zeit seit 1967 ist von der Forschung häufig ein Generationskonflikt attestiert worden, den Rother jedoch für die Aprilproteste von 1972 nicht bestätigen kann. Vielmehr eigneten sich ältere Jahrgänge neuere Protestformen an, die ab 1967 in die politische Kultur der Bundesrepublik integriert wurden.
Wie ein roter Faden zieht sich die streikrechtliche Einordnung der April-Aktionen zwischen Erzwingungs- und Demonstrationsstreik durch Rothers Studie. Er argumentiert gegen eine Einordnung als Erzwingungsstreik, der erst nach Rücktritt Barzels vom Kanzleramt oder Scheitern des Antrages geendet wäre, sondern spricht sich für einen Demonstrationsstreik aus. Keiner der Proteste war von Beginn an auf einen längeren Zeitraum ausgelegt. Es galt lediglich, ein Signal zu setzen. Dazu benötigte es keine Organisationsstrukturen und Führungsfiguren. Am Tag des Misstrauensvotums selbst erlebte die noch junge parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik ihre »größte Belastungsprobe« (S. 180). Bei Erfolg des CDU/CSU-Antrages wäre, laut Rother, die Republik in eine »Legitimationskrise« (S. 180) geraten, in der zahllose Streiks mit Rufen nach Neuwahlen entstanden wären. Ein Generalstreik wäre wohl nicht zustande gekommen, da die Arbeiterbewegung nicht geschlossen hinter der Streikidee stand.
Dass das Misstrauensvotum im Endeffekt scheiterte, stehe in keinem Zusammenhang mit den Aprilprotesten, sondern mit dem »paradoxen Befund« (S. 180), dass die DDR die Geldtransfers an Bundestagsabgeordnete zwecks Stimmenkaufes initiierte: Ein Sturz des Kanzlers lag nicht im Staatsinteresse der DDR und der Sowjetunion. Als ebenso paradox erschien Rother der Befund, dass die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik durch das Misstrauensvotum gestärkt wurde. Nach dem letztlich erfolglosen Antrag der Oppositionsparteien kam es zu keinen weiteren Aktionen. Unter dem Eindruck des nicht existenten Bekanntheitsgrades der Bestechungen galt der Triumph Brandts und seiner Regierung gar als Sieg des freien Mandats. Auch die hohe Wahlbeteiligung bei den »Willy-Wahlen« im November 1972 von 91 Prozent unterstreicht die Stärkung der parlamentarischen Demokratie.
Abschließend wirft Bernd Rother die berechtigte Frage auf, warum die Aprilproteste gegen das konstruktive Misstrauensvotum in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur einen vergleichsweise geringen Stellenwert einnehmen, obwohl ein Erfolg der CDU/CSU eine wohl viel größere Protestwelle sowie ein Verhindern beziehungsweise Bremsen der Ostpolitik bedeutet hätte. Rother beantwortet die Frage mit vier stichhaltigen Argumenten. Erstens: Mit dem Misstrauensvotum verbinden sowohl die Öffentlichkeit als auch die Forschung zunächst die Schlagworte Bestechung und Stimmenkauf, da sie den »Reiz des Verruchten und Kriminellen« (S. 182) besitzen. Zweitens begreift Rother die Aprilproteste als eine »gesellschaftliche Bewegung, die ihre eigene Kraft und ihr eigenes Ausmaß unterschätzte« (S. 183). Bekanntermaßen scheiterten die Unionsparteien in ihrem Vorgehen, sodass sich keine weitere Notwendigkeit einer Vergemeinschaftung ergab. Drittens fanden die Aprilproteste wegen des Wahlsieges vom 19. November 1972, bei dem die SPD ihr bisher bestes Ergebnis bei Bundestagswahlen erzielte, wenig Beachtung. Darüber hinaus beabsichtigten – viertens – weder Gewerkschaften noch SPD, die Proteste in das kollektive Gedächtnis ihrer Mitgliederschaft zu etablieren, da sie die Proteste im Frühjahr 1972 aus verfassungsrechtlicher Perspektive problematisiert und von einer bewussten Forcierung abgeraten hatten. Auf der anderen Seite wurden die Erinnerungen an Proteste im Frühherbst wiederbelebt, um die Anhängerschaft zur Wahl zu mobilisieren.
Bernd Rother ist eine äußerst lesenswerte Studie zu einem Thema geglückt, das bisher in der Forschungslandschaft vernachlässigt wurde. Er argumentiert durchweg stringent und ist sich den Grenzen seiner Thesen stets bewusst. Besonders hervorzuheben ist die akribische Quellenarbeit in zahlreichen Archiven und Zeitungsbeständen, deren Erkenntnisse nun weiterhin für Arbeiten der Protest- und Streikforschung, aber auch für die Parteiengeschichte nutzbar gemacht werden sollten. Insbesondere die regionalgeschichtlichen Zusammenstellungen und Analysen werden die historisch-politische Bildungsarbeit in vielen Regionen bereichern und weiterführende (regionalgeschichtliche) Arbeiten motivieren.

Patrick Böhm, Bochum

Alexander Thiele, Der konstituierte Staat. Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

Campus Verlag | Frankfurt am Main/New York 2021 | 463 Seiten, kartoniert | 29,95 € | 978-3-593-51422-2

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Als Autor einer zeitgleich erschienenen Verfassungsgeschichte[1] mag man mir Voreingenommenheit vorhalten. Dennoch hätte Thiele schreiben können, wie, während sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, beflügelt durch Montesquieu und Jean Louis de Lolme das aufgeklärte Europa für die englische Verfassung begeisterte, in Nordamerika ab 1763 angesichts der sich durch die britische Politik bedrängt fühlenden Amerikaner eine zunehmend intensivere Diskussion über eben diese englische Verfassung auf der Suche nach der Sicherung ihrer Rechte und Freiheiten geführt wurde. Aus dieser Diskussion erwuchsen schließlich die zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, wie sie mit der Virginia Declaration of Rights am 12. Juni 1776 ins Leben traten und sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten gegen vielfältige Widerstände von, wie man heute sagen würde, rechts wie links durchsetzten und in Folge der Herausforderungen der Demokratie ab den 1830er-Jahren (Jacksonian Democracy) inhaltlich anpassten, zumal was die Prinzipien Volkssouveränität, begrenzte Regierung (limited government) und Unabhängigkeit der Justiz betraf.
Auf Frankreich hatten diese Ideen bereits im Vorfeld der Französischen Revolution übergegriffen und ebenfalls zur Sicherung der Rechte und Freiheiten der Bürger 1789/1791 zu entsprechenden Verfassungslösungen geführt, die schon bald durch von der radikaldemokratischen Verfassung von Pennsylvania von 1776 inspirierte Auffassungen abgelöst wurden, die den spezifischen französischen Vorstellungen und Bedingungen eher zu entsprechen schienen und ihren Einfluss nicht allein in Frankreich bis heute ausüben, selbst wenn sich die reale Verfassungssituation in Frankreich rasch änderte und schließlich mit dem Aufstieg Napoleons sämtliche Prinzipien des modernen Konstitutionalismus weggewischt wurden, eine Politik, der sich, wenn auch aus anderen Beweggründen, die Restauration in Frankreich anschloss.
Doch die Ideen und Prinzipien des modernen Konstitutionalismus waren nicht par ordre du mufti aus der Welt zu schaffen. Sie griffen rasch auf andere Länder und Weltteile (Lateinamerika) über. Ungeachtet aller Einschränkungen und Behinderungen fanden sie ihren Weg nach Deutschland, wenn auch nicht in die Verfassung von Westphalen, selbst wenn diese 1807 als liberalste napoleonische Verfassungsschöpfung gelten konnte. Doch mit den liberalen Verfassungen von Bayern (1818), Baden (1818), Württemberg (1819), Braunschweig (1820), Hessen-Darmstadt (1820), Coburg-Saalfeld (1821) und Hessen-Kassel (1831) wurden hier beachtliche Verfassungspositionen erreicht, die sich durchaus neben die Verfassungen von Cadiz (1812) und Belgien (1831) stellen lassen.
Die Paulskirche versuchte, dieses weiterzuführen – andere deutsche Verfassungen waren da zum Teil erfolgreicher. Doch war die Frankfurter Nationalversammlung von Anbeginn zum Scheitern verurteilt, da sie, wie der Blick in die entsprechenden Gesetze oder Dekrete zu ihrer Wahl deutlich macht, weder über ein allseits akzeptiertes Mandat verfügte, noch sie sich – nicht zuletzt dank ihrer liberal-konservativen Mehrheit – anders als ihr heimliches Vorbild, die französische Nationalversammlung von 1789, in der Lage sah, sich durch einen revolutionären Akt ein solches unangefochtenes Mandat selbst zuzulegen.
Der Weg in die Reaktion war damit vorgezeichnet, und aus ihr heraus und unter ausdrücklicher Zurückweisung der »Ideen von 1789« entstand die Reichsverfassung von 1871, die, wie es bereits Napoleon vorgemacht hatte, alle Prinzipien des modernen Konstitutionalismus abschmetterte, entgegen allen Verfassungskämpfen der ersten Jahrhunderthälfte das Militär ausdrücklich aus der Verfassungsordnung herauslöste, es eidlich ausschließlich auf den Kaiser verpflichtet und dem Parlament – das hatte man aus der preußischen Verfassungskrise gelernt – jeden Zugriff auf das Militärbudget verweigerte.
Kein Wunder, dass die Weimarer Verfassung alle diese Gedanken- und Verfassungskonstruktionen von sich wies und wieder an die deutsche Verfassungsentwicklung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zumal an die Paulskirchenverfassung anzuknüpfen und die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus erneut einzuführen suchte. Doch im Ergebnis war es nicht nur eine unvollständige Übernahme dieser Prinzipien. Aufgrund der Gegebenheiten, die die französische Variante dieses modernen Konstitutionalismus eher für die spezifisch deutschen Bedingungen geeignet erscheinen ließ als die amerikanische, kam es im Kern zu einer unausgeglichenen Verfassung, der zudem – ähnlich der französischen Verfassung der Zweiten Republik von 1848 – ein entscheidendes Element fehlte, nämlich dank entsprechender Bestimmungen die Fähigkeit, selbst gravierende Verfassungskonflikte im Rahmen und mit den Mitteln der Verfassung zu lösen. Die weitere Geschichte ist bekannt und braucht hier nicht wiederholt zu werden.
Alles dies hätte Thiele schreiben können. Doch stattdessen stellt er, wie bereits im Titel seines Buches angedeutet, den Weg zum modernen Konstitutionalismus in einem Dreischritt dar: Staat – Verfassungsstaat – moderner demokratischer Verfassungsstaat. Ein derartiges Konstrukt lässt sich allein mit der von Christoph Schönberger zu Recht als »German Approach« gegeißelten, ideologisch aufgeladenen deutschen Staatsrechtslehre begründen, denn, wie wir gesehen haben, die Entstehung des modernen Konstitutionalismus hatte weder etwas mit einem wie auch immer gearteten Konzept von »Staat« – die englische Sprache wie auch die romanischen Sprachen kennen keinen dem deutschen Wort »Staat« dogmatisch vergleichbaren Begriff – noch etwas mit Demokratie zu tun. Statt um Demokratie und Gleichheit ging es um Recht und Freiheit. Doch zumal vom Recht ist in diesem Buch ohnehin wenig die Rede. Stattdessen begegnet man immer wieder der historisch wie inhaltlich abwegigen Gleichsetzung von Verfassung mit Demokratie. Dieser Ansatz mag der Grund sein, weshalb die liberalen deutschen Verfassungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum erwähnt, geschweige denn analysiert werden. Vielmehr wird immer wieder mit der in dieser Form erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgebildeten deutschen Staatsrechtslehre argumentiert, wobei generell der Zurückweisung der These von einem deutschen Sonderweg für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zweifellos zuzustimmen ist, diese jedoch für die Reichsverfassung von 1871, wie gezeigt, nicht haltbar ist, woran auch die bemühten vermeintlichen Parallelen zum Vereinigten Königreich nichts ändern, zumal diese eher auf unzureichenden Kenntnissen des Autors beruhen, was zumal in seinen übrigen Passagen zu England, aber auch zu den Vereinigten Staaten und Frankreich bedauerlicherweise kein Einzelfall ist. Darüber hinaus erscheint es logisch geradezu grotesk, die Auffassung eines deutschen Sonderwegs in der Verfassungsentwicklung methodisch mit dem Rekurs auf eben diesen deutschen Sonderweg in Sachen deutscher Staatsrechtslehre entkräften zu wollen.
Dagegen wird man dem Autor für seine beiden letzten Kapitel (NS-Regime und Entstehung und Entwicklung des Grundgesetzes bis zur Gegenwart, S. 327-381) und die darin entwickelten Gedanken außerordentlich dankbar sein. Was hier angesprochen wird, mag nicht stets von jedem geteilt werden, doch sind es Überlegungen, die durchweg aufgegriffen zu werden verdienen und weiterführen, Nachdenkens wert. Allerdings ist der Anspruch des Bundesverfassungsgerichts, in eigener Rechtsvollkommenheit die EU-Verträge auslegen und der Union notfalls Überschreiten ihrer Befugnisse vorhalten zu können – also der Rückgriff auf eine usurpierte ulta vires-Doktrin – nicht hinnehmbar. Würde er rechtlich Bestand haben, hätten wir kein einheitliches EU-Recht, sondern 27 verschiedene. Zuständig kann hier allein der Europäische Gerichtshof sein. Sollte dennoch das Bundesverfassungsgericht in einem konkreten Fall zu der Auffassung gelangen, dass das EU-Recht mit deutschem Verfassungsrecht nicht vereinbar ist, hat der Gesetzgeber die Pflicht, das deutsche Verfassungsrecht entsprechend anzupassen. Nur gemeinsam können die Mitgliedstaaten EU-Recht ändern, nicht jedoch jeder für sich allein. Auch hier regt uns Thiele zu weiterem Nachdenken an.

Horst Dippel, Kassel

[1] Horst Dippel, Moderner Konstitutionalismus. Entstehung und Ausprägungen. England – Nordamerika – Frankreich – Deutschland – Europa/Europäische Union – Lateinamerika, Berlin 2021.

Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806-1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen. Bd. 18: Nassau

Springer Verlag | Berlin/Heidelberg 2021 | 2.565 Seiten, gebunden | 349,99 € | 978-3-662-62951-2

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Mit dem Abstand von erneut fünf Jahren liegt nunmehr der fünfte Band von Kotullas monumentalem Deutschen Verfassungsrecht 1806–1918 vor. Er setzt die bewährte Einteilung in Historische Einführungen auf Basis der nachfolgend publizierten Dokumente (Teil 1) und die umfangreiche diplomatische Wiedergabe dieser Verfassungsdokumente (Teil 2) fort. Und dennoch ist diesmal Einiges anders. Ausweislich des aktuellen Katalogs der Deutschen Nationalbibliothek ist das Gesamtwerk auf 13 Bände angelegt, und der Nassau gewidmete Teil sollte in dem ursprünglich geplanten Band 8 veröffentlicht werden. Es mag am Umfang dieses Teils liegen, dass er stattdessen getrennt erschienen ist, und zwar als Band 18, was eher einer Zählung zu entsprechen scheint, gemäß der die zuvor geplanten Bände 5 bis 8 nunmehr als Einzelstaatsbände erscheinen sollen. Sollte dies der neue Editionsplan sein, wäre mit einem projektierten Umfang des Gesamtwerkes von eher um die 30 statt 13 Bänden zu rechnen.
Dieser sich andeutenden Entwicklung entspricht, dass die Bände ohnehin immer umfangreicher werden. Band 1 umfasste mit Gesamtdeutscher Verfassungsentwicklung, Anhaltinischen Staaten und Baden zusammen rund 450 Seiten Einleitung und 400 Dokumente auf insgesamt gut 2.000 Seiten. Band 2 war allein Bayern gewidmet mit knapp 390 Seiten Einleitung und 341 Dokumenten, zusammen rund 2.040 Seiten, Band 3 galt, räumlich ungleich enger angelegt, lediglich Berg und Braunschweig mit rund 230 Seiten Einleitung und insgesamt 449 Dokumenten, was sich auf 2.080 Seiten addierte. Band 4 – der Rahmen wurde nochmals enger gesteckt – befasst sich ausschließlich mit Bremen und verfügt über eine Einleitung von gut 380 Seiten und über 700 Dokumenten auf zusammen 2.419 Seiten. Nun kommt mit Band 18 Nassau hinzu mit einer Einleitung von über 600 Seiten und gut 660 Dokumenten, alles wohlgemerkt lediglich für 60 Jahre, mit zusammen 2.565 Seiten.
Man würde der unermüdlichen Schaffenskraft und der bewundernswerten Akribie Kotullas nicht gerecht, wenn man daraus schließen wollte, dass ihm das Deutsche Verfassungsrecht über den Kopf wachse. Aber was er sich hier aufgebürdet hat und mit beispiellosem Engagement in den zurückliegenden 15 Jahren auf die Beine gestellt hat, ist eine unübertroffene Quellensammlung zum deutschen Verfassungsrecht des 19. Jahrhunderts. Dennoch stellt sich unvermittelt die Frage, wie vielen der noch verbliebenen gut 30 Staaten des Deutschen Bundes ihm gegeben sein wird, auf diese Weise zu dokumentieren?
Das zeichnete sich so nicht ab, als sich Kotulla zu Beginn dieses Jahrhunderts an dieses riesige Opus heranmachte. Damals ließ er die Gesamtzahl der zu publizierenden Bände wohlweislich offen. Doch dann drang er immer tiefer in die Materie ein, und das Material wurde immer umfangreicher, ohne dass es ihm gelungen wäre, bei seinem Jahrhundertprojekt zu bleiben und es dennoch auf das Menschenmögliche einzugrenzen. Gewiss, auch die Schiller Nationalausgabe geht nunmehr in ihr 80. Jahr und hat ganze Herausgebergenerationen beschäftigt, ohne dass sie inzwischen abgeschlossen wäre. Auch wenn es dann am Ende wohl doch keine gut 60 Bände sein werden, kann theoretisch dem Deutschen Verfassungsrecht 1806–1918 Vergleichbares widerfahren. Und dennoch passt der Vergleich letztlich nur begrenzt.
Wenn man Hubers sicherlich überhohlbedürftige Quellen zur deutschen Verfassungsgeschichte notgedrungen zum Vergleich heranzieht, so hat sich dieser für den gleichen Zeitraum mit rund 1.000 Seiten begnügt. Sehr zu Recht geht Kotulla daran, diese obsolet zu machen. Aber müssen es deswegen gleich mehrere Zehntausend Seiten werden? Es ist zweifellos legitim, darüber nachzudenken, ob es ausreicht, zur Abbildung des deutschen Verfassungsrechts des 19. Jahrhunderts die Verfassungen der deutschen Staaten und ihre davon abweichenden offiziellen
Entwürfe abzudrucken, wie dies Werner Heun in sechs Bänden für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts unternommen und damit ein gravierendes Desiderat beseitigt hat. Kotulla ist ohne jede Frage zuzustimmen, dass dies für eine vertiefte Beschäftigung mit dem deutschen Verfassungsrecht dieser Jahrzehnte nicht ausreicht. Aber wo ist die Grenze zu ziehen? Wo geht die Dokumentation fast unmerklich vom Verfassungsrecht über zum Verwaltungsrecht? Spätestens mit dem Bremen-Band hat Kotulla deutlich gemacht, dass es für ihn hier keine scharf zu ziehende Trennungslinie gibt, dass er an bestimmten Stellen beides in den Blick nimmt. Die Kommunalverfassung, mit der er sich im Nassau-Band ausführlich beschäftigt, ist Verfassungsrecht auf lokaler Ebene, aber sie ist eben auch Verwaltungsrecht. Beim Jagdrecht, auch das hier mehrfach behandelt, bietet das Verfassungsrecht hingegen bestenfalls einen in der Ferne angedeuteten geistigen Hintergrund. In Besoldungsfragen, bei Witwen- und Waisenkassen, beides wiederholt behandelte Themen, Schulwesen, Münzwesen usw., dürfte dieser kaum auszumachen sein. Alle derartigen Themenfelder haben ihre Relevanz. Doch werfen sie zwangsläufig die Frage auf, ob das Gesamtwerk auf diese Weise nicht zunehmend zu einem deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht wird und es genau diese unscharfe Abgrenzung ist, die zur wachsenden Aufblähung des Gesamtwerkes führt und damit letztlich ihre weitere Durchführbarkeit angesichts einer kaum noch einzugrenzenden Materialfülle gefährdet.
Dazu mag nicht zuletzt beitragen, dass der Verfassungsbegriff, den Kotulla verwendet, doch eher an jenen Huber erinnert, den er doch eigentlich dokumentarisch überwinden will. So benutzt er gerne den tautologischen Begriff der »konstitutionellen Verfassung«, der der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstammt und letztlich nichts anderes zum Ausdruck bringt als den von Anbeginn zum Scheitern verurteilten Versuch, die Sicherung der überkommenen Herrschaftsstruktur durch die Scheinintegration des modernen Verfassungsgedankens zu legitimieren, ohne den Ruf nach Volkssouveränität und der konstituierenden Gewalt des Volkes erst aufkommen zu lassen. Tatsächlich unterschied sich das nassauische Verfassungsedikt von 1814 insofern davon (S. 146–147), als es ihm darum ging, verfassungsrechtlich die Stände einzubeziehen, ohne dafür auf eine Verfassung nach dem Muster des soeben überwundenen napoleonischen Systems zurückgreifen zu müssen, was innen- wie außenpolitisch höchst inopportun gewesen wäre. Dieses Modell hat daher zumindest bis in die 1830er-Jahre vielfache Nachahmung gefunden. Offener, nicht für Kotullas nebulösen »Konstitutionalismus«, sondern für die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus haben sich dann ab 1818 andere deutsche Verfassungen gezeigt. Dass dennoch das Verfassungsedikt von 1814 eine tragende Säule des Nassauer Verfassungslebens bis zu den Revolutionsjahren 1848/49 blieb, wird in der Folge immer wieder deutlich, selbst wenn der noch zu Beginn der Revolution verwandte, doch nachfolgend aufgegebene Begriff der »konstitutionellen Liberalen« (S. 391–392) irreführend ist, da er im Gegensatz zu den in Nassau allerdings eher weniger prägenden demokratischen Liberalen letztlich konservative Liberale meint, die für maßvolle Reformen eintraten, gerade um das bestehende System zu konsolidieren. Besonders deutlich zeigt sich diese Problematik des Kotullaschen Verfassungsbegriff bei der Behandlung der »Zusammenstellung« des geltenden nassauischen Staatsrechts von 1849 (S. 483–485), die für ihn eine Verfassung darstellt, obwohl sie genau dies nicht sein wollte und nicht sein sollte. Zwar hatte hier die Regierung Verfassungsbestimmungen zusammengetragen, die teils auf das Verfassungsedikt von 1814, teils auf die Grundrechteerklärung der Paulskirche zurückgingen, doch dieses zugleich nicht mit dem Begriff der Verfassung, sondern dem in den folgenden Jahrzehnten dank Laband große Konjunktur entfaltenden, doch letztlich hohlen Begriff des Staatsrechts verknüpft, das über jeder Verfassung anzusiedeln sei. Damit blieb die »Zusammenstellung« ein Gesetz, das wie jedes andere Gesetz jederzeit durch eine neue Normierung ersetzt werden konnte. Es war, wie dieses auch außerhalb Nassaus mangels Alternativen vereinzelt unternommen worden war, bestenfalls eine Ersatz-Verfassung – da man die eigentliche neue Verfassung nicht schaffen konnte und wollte –, die jedoch naturgemäß keinen Bestand hatte, selbst wenn die Fortschrittsliberalen Mitte der 1860er-Jahre sie wieder zu Leben erwecken wollten.
Auch wenn eine schärfere Begrifflichkeit in Sachen Verfassung dem Gesamtwerk guttun würde, können diese Bemerkungen den unbezweifelbaren Wert dieser Nassauer Dokumentation nicht im mindestem schmälern, und man wird nur hoffen und wünschen mögen, dass Kotulla sein Opus magnum noch möglichst lange wird fortsetzen können.

Horst Dippel, Kassel

Gabriele B. Clemens, Geschichte des Risorgimento. Italiens Weg in die Moderne

Böhlau Verlag | Köln 2021 | 264 Seiten, gebunden | 30,00 € | 978-3-412-52094-6

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Gabriele B. Clemens lehrt als Universitätsprofessorin für Neuere Geschichte an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, leitet die Arbeitsgemeinschaft für die Neueste Geschichte Italiens und ist Mitherausgeberin der Reihe »Italien in der Moderne«. Sie ist durch vielfältige Forschungsaktivitäten und zahlreiche Publikationen zur europäischen wie zur italienischen Geschichte im 19. Jahrhundert einschlägig ausgewiesen. Damit erfüllt sie die besten Voraussetzungen für ihr Vorhaben, das Zeitalter des Risorgimento, des erwachenden Nationalbewusstsein der italienischen Eliten und der Nationalstaatswerdung Italiens zwischen 1770 und 1870, in einer handlichen Gesamtdarstellung zu beschreiben und zu analysieren. Clemens bemängelt das Fehlen eines aktuellen Überblicks zur Geschichte des italienischen Risorgimento in deutscher Sprache, »der sowohl die klassischen Themen der italienischen Politikgeschichte und sozioökonomische Aspekte als auch die Ergebnisse der italienischen Kulturgeschichte der letzten zwanzig Jahre berücksichtigt« (Vorwort, S. 7). Die vorliegende Arbeit, das sei vorausgeschickt, vermag diese Lücke in weithin überzeugender Weise zu schließen.
Clemens beginnt mit einem Abriss der Entwicklungen in den italienischen Territorien gegen Ende des Ancien Régime von etwa 1770 bis in die 1790er-Jahre. Dieser Rückgriff auf die vorrevolutionäre Zeit sei notwendig, so die Verfasserin, weil die rechtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religionspolitischen Reformen etwa im Königreich Sardinien-Piemont, in der habsburgischen Lombardei, dem Großherzogtum Toskana oder im Königreich Neapel trotz aller Begrenztheiten und Unzulänglichkeiten auf spätere Entwicklungen vorauswiesen. Der knappe und konventionelle Überblick über Reformer und Reformen wird ergänzt durch Hinweise auf die Ausbreitung und Bedeutung von Akademien und gelehrten Gesellschaften, Freimauerlogen und Buchproduktion im Kontext der Aufklärung – Themen, die mitsamt den Aspekten ihrer gesamtitalienischen wie europäischen Vernetzung im Verlauf der Darstellung immer wieder aufgegriffen werden.
Ein ausführliches Kapitel widmet sich der französischen Herrschaft in Italien zwischen 1797 und 1814. Napoleon habe weitere Reformen angestoßen; die an das Empire angeschlossenen Gebiete Italiens und die von ihm abhängigen Modellstaaten seien »mit einem egalitären Rechtssystem, Gewerbefreiheit, staatsbürgerlicher Gleichheit, religiöser Freiheit, einer modernen, funktionierenden Verwaltung und der Abschaffung der Privilegien« gemäß liberalen Prinzipien »grundlegend modernisiert« worden (S. 33). Sozial und ökonomisch profitieren konnten davon allerdings zuvörderst die Notabeln, reiche Bürger sowie der alte und neue Adel, während Clemens keinen Zweifel daran lässt, dass die Masse der Bevölkerung von der französischen Herrschaft auch in Italien primär Kontributionen, Requirierungen und Zwangsrekrutierungen zu erwarten hatte und das Empire den einfachen Untertanen, mochten sie nun auch »Bürger« genannt werden, keine Integrationsangebote vermittelte: »Die französische Herrschaft blieb den Menschen mehrheitlich fremd«; die forcierte und aufgezwungene Modernisierung stieß vielfach auf dezidierte Ablehnung (S. 53).
Das trägt zur Erklärung der Unterstützung bei, die die Restaurationsregime nicht bloß nach dem ersten Zusammenbruch der Franzosenherrschaft in Italien 1799, sondern in weiten Teilen der ländlichen Bevölkerung auch nach 1815 erhielten. Liberal, demokratisch oder gar national motivierte Revolutions- und Aufstandsversuche, die die Geschichte der italienischen, weitestgehend von Österreich dominierten Territorien bis zur Nationalstaatsgründung
durchzogen, waren durchgehend Unternehmen einer politischen und gesellschaftlichen Elite, denen sich Teile der unterbürgerlichen, bäuerlichen oder ärmeren Bevölkerungsschichten bestenfalls aus Unzufriedenheit oder schierer Verzweiflung zeitweise anschlossen. Für Gabriele B. Clemens bleibt der Risorgimento im Sinne einer nationalen Bewegung wie der Schaffung eines italienischen Nationalstaats ein Elitenprojekt; durchweg betont sie »den elitären Charakter des Risorgimento« (S. 221): Das von dem demokratisch-revolutionären Vordenker und Protagonisten des Risorgimento Giuseppe Mazzini »immer wieder beschworene Volk interessierte sich nämlich herzlich wenig für seine politischen Ideen« (S. 9). »Die Masse der Italiener hatte existenzielle Sorgen und war kaum zu motivieren, Haus und Hof zu verlassen, um für eine abstrakte Idee zu kämpfen« (S. 72). »Die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Lande beteiligte sich [...] nicht« an den revolutionären Erhebungen der Jahre 1847 bis 1849 (S. 178). Dem ist schwer zu widersprechen, und Clemens argumentiert hier plausibel gegen Bemühungen von kulturgeschichtlich orientierten Vertretern der italienischen Forschung, eine breite Nationalisierung der Massen schon vor den 1860er-Jahren durch eine vermeintlich weitreichende Wirkung von patriotischen Liedern, Gedichten, Romanen oder Bildern zu postulieren: Dafür fehle jeglicher empirische Nachweis (vgl. insb. S. 70-72 u. 235). Allerdings gilt es zu bedenken, dass das Denken und Fühlen der Masse der italienischen Bevölkerung nicht leicht quellenkritisch zu erfassen ist: Vielleicht würde ein neuer Ansatz lohnen, entsprechende Quellen ausfindig zu machen, vorhandene gegen den Strich zu lesen, um ein allzu schematisches und einfaches Bild vom tumben, desinteressierten und politikfernen italienischen Bauern, Landarbeiter oder einfachen Stadtbewohner wenigstens infrage zu stellen. Immerhin agierten die nationalen Eliten an vielen Stationen der Geschichte des Risorgimento nicht allein, sondern mitunter mit beachtlicher Beteiligung der Bevölkerung – das wird in Clemens‘ Darstellung verschiedentlich deutlich –, und wenn aus der Sicht dieser Eliten »eine Beteiligung der Massen [...] weder im politischen noch im militärischen Bereich erwünscht« war, dann wird genau diese Haltung auch in den von diesen Eliten produzierten Quellen ihren Niederschlag gefunden haben. Den Versuch einer Geschichte des Risorgimento »von unten« wagt Clemens jedenfalls nicht.
Dafür bereichert sie ihre chronologische Darstellung durch zwei facettenreiche Kapitel zu Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur Italiens im 19. Jahrhundert. Sie spürt den industriellen Anfängen in der weitgehend agrarisch bestimmten Ökonomie nach, die allerdings bescheiden blieben, bis ein eigentlicher Take-off erst um 1900 eingesetzt habe. Traditionelle Themen wie die grassierende Armut und die damit verbundenen sozialen Nöte handelt die Verfasserin souverän und mit großer Sachkenntnis ab. Einige Aspekte stellt sie besonders in den Vordergrund: Die Bedeutung von Salons und Gesellschaften, Oper, Kunst und Literatur wird ebenso hervorgehoben wie die gesellschaftliche Persistenz des Adels und die Rolle von Frauen in verschiedenen Bereichen der risorgimentalen Entwicklung. Darüber hinaus betont Clemens den wesentlichen Einfluss des politischen Exils in westlichen Staaten, in das sich zahlreiche Repräsentanten nationaler und revolutionärer Ideen unter dem Druck der vom System Metternich und den verschiedenen Restaurationsregimen ausgehenden Verfolgungsmaßnahmen begaben, auf die künftige politische Entwicklung: In revolutionären Zeiten wie 1848/49 oder 1859/60 wurden viele Exilanten wieder in Italien aktiv und wirkten anschließend am Aufbau des Nationalstaats mit.
In ihrer luziden und auch erzählerisch gelungenen Darstellung führt Clemens ihre Leserschaft durch die verwickelte Geschichte von Revolution und erstem nationalen Krieg 1848/49. Sie verweist darauf, dass die revolutionären Ereignisse ebenso wie ein erneuter Politisierungs- und Reformschub etwa im Kirchenstaat, im Königreich beider Sizilien wie auch in Piemont bereits 1847 einsetzten und Italien damit der europäischen Entwicklung voranging. Die nicht weniger komplizierten Entwicklungen, die vom Königreich Sardinien-Piemont ausgingen und dominiert wurden, mündeten schließlich in den Jahren 1859 bis 1861 in die Gründung des Königreichs Italien einmündeten. Dabei wird deutlich, dass die Situation zunächst durchaus offen war und das Ergebnis die meisten Akteure überraschte: Weder von König Viktor Emanuel II. noch von seinem Ministerpräsidenten Camillo Benso di Cavour, erst recht nicht von Berufsrevolutionären wie Giuseppe Mazzini oder Giuseppe Garibaldi wurde dieses Resultat so angestrebt oder vorausgesehen; die Ereignisgeschichte mit ihrer Betonung von Unwägbarkeiten und Kontingenzen kommt bei Clemens zu ihrem Recht. Am Ende profitiert in Clemens‘ Interpretation der König am meisten. Viktor Emanuel II., König von Sardinien, seit 1861 von Italien, wird von der Verfasserin auf der Basis neuester Literatur als konservativ, antiliberal und allein auf die Interessen einer territorialen Ausdehnung der Herrschaft seiner Dynastie abzielender Monarch charakterisiert, der die Liberalen für seine Ziele zu vereinnahmen verstanden und die Souveränität des Parlaments nie akzeptiert habe. In dezidierter Abkehr von traditionellen Darstellungen geht Clemens so weit, in Piemont ein bloß »pseudoparlamentarisches System« etabliert zu sehen, das dann im Grunde auf den italienischen Nationalstaat übertragen worden sei (S. 182 u. 217). Diese Interpretation dürfte zu weit gehen, zumal keine wirklich überzeugenden Belege beigebracht werden, die auf eine mangelnde Verantwortung des Parlaments und der von ihm gestützten Regierungen für den politischen Kurs des Königreichs und die entsprechenden Entscheidungen hindeuten würden.
Überlegungen zur politischen Struktur und den Führungseliten des neuen Nationalstaats – leider nicht zu seinen außenpolitischen Optionen – sowie ein instruktiver Exkurs zum brigantaggio, dem jahrelang anhaltenden Bandenkrieg bourbonisch-legitimistischer Kräfte und traditioneller deklassierter Bevölkerungsgruppen im Gebiet des ehemaligen Königreichs Neapel gegen die zentralisierenden, fremden Herrscher aus dem Norden, die den neuen Staat repräsentierten und sich mit brutaler Gewalt durchsetzten, sowie zum von Beginn an vergeblichen Kampf dieses neuen Staates gegen das organisierte Verbrechen beschließen den niveauvoll und eigenständig argumentierenden, anregenden und durchweg gelungenen Band. Gabriele B. Clemens synthetisiert in ihm eine breite Forschung und eröffnet zahllose Perspektiven für weitere Forschungen.[1]

Rainer Behring, Köln

[1] Einige Anakoluthe und sachliche Fehler trüben den sehr positiven Gesamteindruck nur unwesentlich: Cesare Beccaria schrieb »Dei delitti e delle pene«, nicht »penne« (S.13); »Joseph II. von Österreich« [?] konnte 1792 in seinen Erblanden nicht 700 Klöster säkularisieren, da er 1790 starb (S. 39); nicht »Edward Burke« verfasste »Reflections on the French Revolution«, sondern Edmund Burke die »Reflections on the Revolution in France« (S. 69); Architektur orientierte sich im späteren 19. Jahrhundert an der Neoromanik, nicht der »Neoromantik« (S. 142); es berührt merkwürdig, wenn Ferdinand Gregorovius‘ klassischer Text »Der Ghetto und die Juden in Rom« ausgerechnet nach der Ausgabe »Berlin 1935« zitiert wird (Anm. 19 auf S. 158); die farbigen Karten sind nicht völlig korrekt: »Italien 1789« auf S. 21 erscheint ohne das Herzogtum Modena, dessen Territorium ebenso wie Lucca fälschlich der Republik Genua zugeschlagen wird, und »Österreich-Ungarn« existierte weder 1789 noch 1810, 1815 oder 1861. Das Literaturverzeichnis ist gemäß den Kapiteln des Buches gegliedert und enthält deshalb leider nicht die Gesamtdarstellungen und Überblickswerke, auf die sich die Verfasserin stützt.

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

Mario Keßler, Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung (1844–1939)

VSA Verlag | Hamburg 2022 | 368 Seiten, broschiert | 26,80 € | 978-3-96488-144-1

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»Zur Befreiung der Menschen von Unterdrückung, Ausbeutung und Völkerhass hatte sich die sozialistische Bewegung im 19. Jahrhundert gebildet. Dennoch war das Verhältnis sozialistischer Persönlichkeiten und Bewegungen zum Antisemitismus niemals einfach, judenfeindliche Vorurteile gab und gibt es auch in der Linken«, heißt es im Klappentext dieses im Dezember 2022 erschienenen jüngsten Buches von Mario Keßler. Keßler ist Senior Fellow am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, an dem er von 1996 bis 2021 arbeitete. Er war außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam, Gastprofessor an der Yeshiva University in New York und unterrichtete an weiteren Universitäten in der DDR, der Bundesrepublik, den USA und Israel. Sein Oeuvre umfasst 29 Bücher in deutscher und englischer Sprache und zahlreiche Herausgeberschaften. Seine Arbeitsgebiete sind unter anderem moderner Antisemitismus, internationale Arbeiterbewegung und Kommunismusforschung.
Dieser Band erscheint im Anschluss an eine kleine Edition über Leo Trotzki und dessen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus im Allgemeinen und in der KPdSU im Besonderen sowie mit entsprechenden Dokumenten Trotzkis, die Keßler ebenfalls 2022 herausgab.[1] Strukturiert wird Keßlers Darstellung der Rezeption von Antisemitismus in der Arbeiterbewegung durch dreizehn Kapitel, deren zeitliche Reichweite sich von der Zeit kurz vor den Revolutionen in Europa 1848/49 bis hin zum Zweiten Weltkrieg erstreckt. Keßlers Blickrichtung erstreckt sich längst nicht allein über die deutschen Sozialisten, sondern bezieht die französische und britische Arbeiterbewegung, die II. Internationale, Russland und die Sowjetunion, natürlich die Komintern sowie die europäische Sozialdemokratie zwischen den beiden Weltkriegen ein. Der Darstellungsteil des Buches reicht bis Seite 296, der Dokumententeil von Seite 297 bis Seite 338, der Anhang nimmt den Rest des Bandes ein.
Zu Beginn führt der Autor kursorisch in die Historie des Problemkomplexes »Judenfeindschaft, Judenemanzipation und Sozialismus« ein. Wiewohl es bereits in der Antike vor unserer Zeitrechnung einzelne Judenverfolgungen gab beziehungsweise das Strafgericht des Imperium Romanum an den aufständischen Juden im 1. und. 2. nachchristlichen Jahrhundert die Vertreibung aus dem angestammten Siedlungsgebiet nach sich zog, kann von systematischem Antisemitismus erst mit dem Aufstieg des Christentums gesprochen werden. Ressentiments und Stigmatisierungen nahmen im Mittelalter zu, auch der Islam stand nicht beiseite. Das Zeitalter der Aufklärung mit den bürgerlichen Emanzipationsbewegungen trug auch zur Judenemanzipation in Europa bei, diese aber währte nur kurz. Auch die Arbeiterbewegung zeigte oft ein zwiespältiges Verhältnis zum Judentum, womit Keßler bei seiner eigentlichen Auseinandersetzung angelangt ist.
Die Entstehung einer deutschen Nationalbewegung war in Teilen auch mit Antisemitismus gekoppelt. In der bürgerlich-demokratischen Bewegung um 1848 hingegen fanden sich zahlreiche Aktivisten mit jüdischem Hintergrund, die aber vor allem gegen die absolute Monarchie und für den Verfassungsstaat eintraten. Doch blieb das Verhältnis zwischen Emanzipation des Bürgertums beziehungsweise der Arbeiterklasse und der Emanzipation der Juden in Deutschland fragil, auch in der Arbeiterbewegung fanden sich immer antisemitische Aussagen. Doch die große historische Linie wies in die Richtung der Solidarität. Spannend sind daher Keßlers Analyse und Kontextualisierung von Marx` Schrift »Zur Judenfrage«.[2] Angelehnt an diese Frühschrift warfen viele nachfolgende Historiker dem jungen Marx Antisemitismus vor. Keßler schaut hier sehr genau hin und stellt heraus, dass es zwar erstens »gehässige Bemerkungen gegen politische Widersacher jüdischer Herkunft, am deutlichsten gegen Lassalle« gab, ihm aber »›Jude‹ und ›Judentum‹ (...) als ›soziale Symbole‹ der auf Privateigentum und Konkurrenz beruhenden Gesellschaft« dienten. Diese Symbole, da irrte Marx offensichtlich, »waren kaum geeignet, den Blick für die kapitalistische Realität zu schärfen« (S. 32f.). Letztlich aber habe für Marx gegolten, dass die Lösung der sozialen Frage ohne die gleichberechtigte Integration der Juden nicht vorstellbar gewesen sei. Auch Friedrich Engels geizte nicht mit derben Bemerkungen über jüdische Zeitgenossen, war jedoch ein entschiedener Befürworter des politischen Kampfes gegen Antisemitismus und trug zum Beispiel durch seinen »Anti-Dühring« mit großer Wirkung in der deutschen Arbeiterbewegung zu ihm bei. Ein in seiner Bedeutung ganz sicher unterschätzter Repräsentant der politischen Emanzipation von Juden und letztlich auch des sozialistischen Zionismus war Moses Hess, der zeitweilig sehr eng mit Marx und Engels kooperierte. Er verband den demokratischen Emanzipationskampf und den Sozialismus mit der nationalen Eigenständigkeit der Juden und forderte demgemäß in Palästina freien nationalen Boden, um die Klassen- und Rassenherrschaft abzuschütteln (S. 65).
Die folgenden Kapitel verlassen das Terrain der Programmatik und betreten jenes der sozialistischen Bewegungen in Europa. Hier rekonstruiert Keßler den manchmal widerspruchsvollen Weg sozialistischer Kräfte zu klaren Positionen gegen Antisemitismus auf demokratisch-sozialistischer Basis. Die deutschsprachige Sozialdemokratie habe stets den Antisemitismus als moralisch verwerflich postuliert, ihn aber als potenzielle Kraft oder als Gärungsmittel häufig unterschätzt, gleich ob in Berlin oder Wien. August Bebel im Kaiserreich und später Otto Bauer in Österreich haben der Nachwelt zu diesem Komplex Anregendes hinterlassen. Dennoch benennt Keßler hier ein übergreifendes Manko: Auch im deutschsprachigen Raum fanden sich in der Arbeiterbewegung antijüdische Vorurteile, die trotz der Verpöntheit des Antisemitismus nicht verschwanden. Für die französischen Sozialisten bedeutete der Dreyfus-Prozess eine inhaltliche Zäsur. Durch diesen Justizskandal von 1894-1899 schärfte die (gespaltene) Arbeiterbewegung ihren Blick. Zunächst zurückhaltend reagierend angesichts der im Prozess zum Ausdruck kommenden reaktionären Gefahr für die französische Republik insgesamt, ergriff sie vor allem nach den Interventionen von Emile Zola als Literat und von Jean Jaurès als Sozialist entschieden Partei; 1899 wurde der Antisemitismus auf einem Kongress aller französischen sozialistischen Organisationen einheitlich scharf verurteilt.
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit den Entwicklungen im 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Sowohl die westeuropäische Sozialdemokratie als auch die Situation in der Sowjetunion werden dabei analysiert. Den Band beschließen 17 Dokumente, die von einem Artikel von Moses Hess aus dem Jahr 1862 bis zu Leo Trotzkis Beitrag »Die Gefahr der Ausrottung des jüdischen Volkes« aus dem Jahr 1938 reichen. Für die Entwicklungen in Russland und in der UdSSR sei auf das eingangs erwähnte Buch von Keßler über Leo Trotzki verwiesen.
Der hier vorgestellte Band ist eine ungemein wichtige Handreichung über eine noch in Gänze aufzuarbeitende Entwicklungslinie der europäischen Arbeiterbewegung. Bei allen Widersprüchlichkeiten, die Keßler anführt und mit den Dokumenten hinterlegt, zieht er folgendes Fazit: Die Arbeiterbewegung hat den Kampf um die eigene Emanzipation verbunden mit dem Kampf gegen Antisemitismus und für die Befreiung aller Menschen. Das bleibt ihr historisches Verdienst. Nicht ohne Grund musste Hitler erst die Arbeiterbewegung zerschlagen, um Rassenwahn und Holocaust den Weg zu bahnen.

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

[1] Mario Keßler (Hrsg.), Leo Trotzki oder: Sozialismus gegen Antisemitismus, Berlin 2022.

[2] Karl Marx, Zur Judenfrage [1844], in: ders./Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 347–377.

 

James D. White, Red Hamlet. The Life and Ideas of Alexander Bogdanov

Brill | Leiden 2018 | xiv + 494 Seiten, gebunden | 199,02 € | 978-90-04-26890-6

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Aleksandr Bogdanov (1873–1928) gehört zu den interessantesten Persönlichkeiten der russischen Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung. Bereits während des Studiums politisch aktiv und in Konflikt mit der zaristischen Obrigkeit geraten, nahm er ab den 1890er-Jahren an zentralen politisch-philosophischen Debatten der russischen Sozialdemokratie teil. Sein Versuch einer Verbindung von Denken im Anschluss an Karl Marx mit den materialistischen Ansätzen unter anderem von Ernst Mach trug ihm die entschiedene Gegnerschaft von Lenin ein, der darauf durch die Veröffentlichung des Bandes »Materialismus und Empiriokritizismus« antwortete. Neben naturwissenschaftlich-philosophischen Arbeiten engagierte sich Bogdanov zudem in der proletarischen Kulturpolitik und veröffentlichte utopische Romane. Innerhalb der russischen Politik nach dem Oktoberumsturz 1917 blieb er zwar als Denker einflussreich, aber von dem neuen Regime politisch isoliert.
Umfassende biografische Darstellungen zu Bogdanov existierten bislang kaum. Vor diesem Hintergrund stößt die nun in englischer Sprache erschienene Biografie von James D. White in eine erhebliche Forschungslücke. Der Autor arbeitet als Historiker am Department of Central und East European Studies der Universität Glasgow und hat umfangreich zur Geschichte des Marxismus in Russland veröffentlicht. In seinem Vorwort hält White fest, es gehe ihm vor allem um eine intellektuelle Biografie Bogdanovs, die allerdings nicht isoliert von dessen Leben und politischen Aktivitäten entfaltet werden könne. Bogdanov selbst habe in seinem Schreiben mehrfach auf Shakespeares Hamlet Bezug genommen. Anders als landläufige Interpretationen Hamlets als Zauderer habe Bogdanov Hamlet als jemanden verstanden, der zwar als Nachfahre der Wikinger kriegerisch erzogen wurde, aber auch eine Neigung zu Kultur und Künsten gehabt habe. Bogdanov habe sich selbst als jemand im Geiste sowohl der Revolution wie auch der Philosophie gesehen. Im Anschluss an die Arbeit von Dietrich Grille passe »Red Hamlet« daher mit Blick auf Bogdanovs eigenen Anspruch einer Verbindung von Philosophie und politischem Handeln sehr gut.
Der Gang der weiteren Darstellung folgt den Lebensstationen Bogdanovs. Sie ist dabei insbesondere in den frühen Kapiteln ohne umfassende Kenntnisse des zeitgenössischen politischen Politik- und Personenpanoramas teils nur schwer zu erfassen, da viele Personen erwähnt werden, deren Vita und Bedeutung kaum näher erläutert werden. Dies betrifft auch teils
die politisch-philosophischen Bezüge zu Bogdanovs Texten. In den späteren Kapiteln gelingt die Darstellung dann teils deutlich besser und klarer.
Der inhaltliche Einstieg beginnt mit Bogdanovs Studienzeit zunächst in Moskau und dann in der Verbannung in Tula. Bereits von Anfang an gehörten Wechselwirkungen zwischen Bogdanovs naturwissenschaftlichem Studium und Bezügen zu marxschem Denken dazu. Zu engen persönlichen Gesprächspartnern gehörte der später auch in der Sowjetunion als Wissenschaftspolitiker bedeutende Anatolij Lunačarskij, der eine Zeitlang auch mit Bogdanovs Schwester verheiratet war. Intellektuell wichtig blieb über den gesamten Lebensweg hinweg zudem der Bezug auf materialistische Denker wie Ernst Mach und Richard Avenarius. Wie immer recht schwer nachzuvollziehen sind die im Band angesprochenen vielfältigen inhaltlichen Auseinandersetzungen, persönlichen Debatten und politisch-strategischen Seitenwechsel innerhalb der russischen Partei.
Neben seiner wissenschaftlich-analytischen Stellung erreichte Bogdanov zudem auch politisch einigen Einfluss, indem er zu den Verwaltern der unter anderem aus Raubüberfällen stammenden Parteikasse gehörte. Diese Tätigkeit führte zugleich zu Kontroversen über die Ausrichtung der Partei und die damit zusammenhängenden Ausgaben. Im Mittelpunkt von Bogdanovs philosophisch-theoretischen Arbeiten stand das Zusammenbringen der Entwicklungsprozesse von Natur und Gesellschafft. Im Jahr 1909 gründete er die Zeitschrift Vperëd (Vorwärts). Bogdanovs theoretische Arbeiten und die von ihm vertretenen politisch-strategischen Ansichten brachten ihn in zunehmenden Konflikt zu Lenin, was letztlich 1913 zu seinem Ausschluss aus der Partei führte. Im Bereich der Theorie zentral war dabei Lenins Einordnung von Bogdanovs materialistischer Philosophie als idealistische Abkehr vom marxschen Materialismus. Als Beispiel für Bogdanovs politisch-inhaltlichen Ehrgeiz schildert White sehr eindrücklich die von ihm mitbetriebene Parteischule auf Capri, in der Bogdanov versuchte, auf Basis seines Denkens neue Kader zu schulen, wodurch er sich in klare Opposition zu der Mehrheit in der Parteiführung brachte. In den folgenden Jahren bis zu seinem Tod blieb Bogdanov daher zwar intellektuell einflussreich, aus den tatsächlichen politischen Entscheidungskreisen aber ausgeschlossen.
Mit »Die Philosophie der lebendigen Erfahrung« legte er eine Zusammenfassung seines philosophischen Denkens vor. Ziel von Philosophie sei es, die jeweiligen Erfahrungen der Menschen wieder zusammenzubringen, die durch die Spezialisierung auf einzelne Arbeits- und Wissensbereiche auseinandergetrieben seien. Durch die Entwicklung der Maschinen sei dies nun möglich. Da der Arbeiter zunehmend nur noch die Maschinen überwachen werde, werde die Unterscheidung zwischen dem Arbeiter und dem Ingenieur verschwinden. Die Teilung der Arbeit sei nicht mehr die Teilung der Person, sondern eine rein technische Angelegenheit. Die Spezialisierung in die verschiedenen Wissensgebiete wieder zusammenzubringen, sei ein zentraler Aspekt neuer proletarischer Kultur. Nach der Oktoberrevolution entwickelte Bogdanov mit der ›Tektologie‹ eine umfassende systemische Erklärung der Welt. Zentral dafür sei das
Verständnis einer Einheit von physiologischen und psychologischen Faktoren sowie die Betrachtung von Wechselwirkungen aus Aktivität und Widerstand als Treiber von Entwicklung. Mit Kurzfassungen in Zeitschriften habe Bogdanov versucht, auch die Arbeiter für den Theorieansatz zu interessieren. Seine Hoffnung sei gewesen, die Tektologie zur Grundlage proletarischer Wissenschaft und damit prägend für die neue Gesellschaft zu machen. Dies sei allerdings nicht gelungen: Um richtig in das Konzept eintauchen zu können, hätte man zumindest ein gewisses Maß an Wissen in den Gebieten der Physik, Chemie und Biologie sowie gleichfalls der Ökonomie, Astronomie und der Sprachwissenschaften haben müssen. Leser und Leserinnen hätten damit letztlich über das Wissen verfügen müssen, das sie sich mithilfe der Tektologie eigentlich erst hätten aneignen sollen.
Den Machtübergang zu den Bolschewiki habe Bogdanov zwar loyal begleitet, inhaltlich aber sehr skeptisch gesehen. Die politische Bewegung sei in Bogdanovs Sicht nicht mehr von den Arbeitern ausgegangen, sondern habe vor allem auf Soldaten beruht. Im Ergebnis habe es sich damit um eine Soldaten- und eben keine Arbeiterrevolution gehandelt. Das entstandene politische System trage eher staatskapitalistische beziehungsweise kriegskommunistische Züge. Auch wenn der unmittelbare politische Einfluss Bogdanovs gering blieb, behielt er als zentrale Figur der Proletkult-Bewegung – die auf eine eigenständige Kultur- und Bildungsbewegung der Arbeiterschaft abzielte und damit faktisch auch in Konflikt zu dem hierarchischen Politik- und Kulturverständnis der Bolschewiki geriet – eine gewisse öffentliche Relevanz. Obwohl nicht Mitglied der Partei und ohne Staatsamt, sei Bogdanovs Einfluss daher während der Jahre 1918 bis 1920 auf einem Höhepunkt gewesen. Mit der von ihm maßgeblich mitgeprägten Proletkult-Organisation habe er über eine eigene, große und unabhängige Bildungsorganisation verfügt, zudem seien seine Werke Standardtexte zum Studium marxistischer Theorie gewesen. Zuletzt war Bogdanov als Leiter des Instituts für Bluttransfusion tätig, einer Technik, in der Bogdanov eine neue Möglichkeit zur Gesundheitserhaltung und Gesundheitsförderung des Menschen sah. Er nahm dabei selbst auch an entsprechenden Experimenten teil – und verstarb im Jahr 1928 an den Folgen einer solchen Transfusion.
White hält fest, Bogdanov habe – wie Marx auch – Sozialismus nicht als bestimmtes ökonomisches System, sondern als bestimmtes Verhältnis zwischen den Menschen, als menschliche Gemeinschaft gesehen. Daher sei es ihm auch nicht um ein einmal zu etablierendes System, sondern um einen sich fortlaufend weiterentwickelnden Prozess gegangen. Zentral sei für Bogdanov immer die Überwindung der Spezialisierung gewesen. Der Unterschied zu Lenin sei gewesen, dass dieser vor allem Revolutionsführer mit Macht habe sein wollen. Letztlich sei es den Bolschewiki gelungen, Bogdanov gezielt aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen.
Insgesamt ist White eine lesenswerte Biografie gelungen. Herausfordernd ist mitunter die stillschweigende Voraussetzung der Kenntnis des zeitgenössischen politischen und theoretischen Kontextes. Dies ist aber in großen Teilen auch der Tatsache geschuldet, dass Bogdanov eine sehr
umfassende und intellektuell enorm anspruchsvolle inhaltliche Arbeit betrieb. Diese ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass Bogdanovs intellektueller Lebensweg als Aktivist im repressiven Zarenreich begann, sich dann in der keinesfalls einfachen Situation der Emigration fortsetzte und dann im komplexen Machtgefüge des neuen bolschewistischen Regimes endete – und Studieren und Schreiben damit die meiste Zeit in den sehr eingeschränkten und einschränkenden Lebensumständen des Exils oder der Illegalität im eigenen Land stattfanden.

Thilo Scholle, Lünen

Sonia Combe, Loyal um jeden Preis. »Linientreue Dissidenten« im Sozialismus

Ch. Links Verlag | Berlin 2022 | 272 Seiten, Gebunden | 25,00 € | ISBN 978-3-96289-141-1

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Sonia Combe spürt in ihrer bereits 2019 in Frankreich erschienenen Studie denjenigen DDR-Intellektuellen nach, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs freiwillig aus dem Exil nach Ostdeutschland zurückkehrten, um sich am Aufbau eines antifaschistischen Staates zu beteiligen, dabei jedoch nie zu SED-Apparatschiks mutierten. Was waren Wurzeln und Triebfedern der Loyalität dieser »linientreuen Dissidenten« – der Begriff ist abgeleitet vom Titel der Autobiografie Jürgen Kuczynskis – die zwar das Ziel des politischen Systems teilten, »dessen Stil und Methoden sie jedoch nicht unterstützen konnten« (S. 19). Was waren die zugrundeliegenden Mechanismen und welchen Preis zahlten diese Menschen, denen man aufgrund der Nichtübereinstimmung von Überzeugung und Verhalten nach Leon Festinger eine »kognitive Dissonanz« (S. 23) unterstellen könnte.
Im ersten Teil geht Combe auf die Gründe der Kulturschaffenden ein, ins Land der Täterinnen und Täter zurückzukehren. Während man die Exilantinnen und Exilanten im Westen nicht wirklich willkommen hieß, buhlte der Osten regelrecht um sie. Die Autorin hebt hier besonders die Rolle der sowjetischen Kulturoffiziere, oftmals eigentlich »Professoren in Uniformen« (S. 62) hervor, die bereits kurz nach Kriegsende ein Programm ausarbeiteten, dass die kulturellen Eliten anziehen sollte. Ihnen wurden Intendantenposten, Lehrstühle an Universitäten, Verlagsleitungen, das Mitwirken in Verbänden, Engagements an Theatern und zahlreiche weitere Entfaltungsmöglichkeiten angeboten. Die im Osten proklamierte demokratisch-antifaschistische Umwälzung wirkte sicherlich nicht nur auf die zahlreichen überzeugten Marxistinnen und Marxisten attraktiv. Als ebenfalls nicht zu unterschätzenden Punkt geht die Autorin auch auf das Bedürfnis vieler Künstlerinnen und Künstler insbesondere der schreibenden Zunft ein, sich bei der Arbeit ihrer Muttersprache zu bedienen. » [D]ie Sprache war mitunter wichtiger als politische Überzeugungen« (S. 76).
Anschließend widmet sich die Autorin dem den Parteikommunistinnen und Parteikommunisten zur »zweiten Natur« gewordenen »gewaltigen Kontrollmechanismus« des Schweigens. Gleichwohl sei es meist kein »Akt des Gehorsams« gewesen, »da man das Schweigen mit der Rettung kommunistischer Ideale rechtfertigte« (S. 91). Also eher eine »Ethik des Schweigens« (S. 89). Die aus den sowjetischen GULags Entlassenen schwiegen über das Erlittene genauso, wie allgemein nicht über die antisemitische Welle des Spätstalinismus gesprochen wurde. Erst die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 markiert die Überschreitung einer zuvor selbstauferlegten Grenze: Mit der Weitergabe der Petition an die Agence France Press (AFP) verließ eine von Künstlerinnen und Künstlern artikulierte Kritik an den Machthaberinnen und Machthabern zum ersten Mal den geschlossenen Raum der Partei. Im Prinzip blieb es jedoch bei dieser Ausnahme. Die Kulturschaffenden orientierten sich (ansonsten) stets am Leitspruch des Kulturfunktionärs Hermann Kant: »Streitet euch, aber tut es hier« (S. 140) – Missstände sprachen sie nur innerhalb der SED an.
Die dem Nationalsozialismus entronnenen Künstlerinnen und Künstler wie Anna Seghers oder Ernst Busch dienten der Übergangsgeneration um Christa Wolf und Heiner Müller als Vorbilder, die ihnen, die im Dritten Reich sozialisiert worden waren, nach der Bewusstwerdung der Katastrophe 1945 neuen Halt gaben. Dieser Einfluss dient für Combe auch als Beleg dafür, dass der DDR-Antifaschismus, bevor er nur noch eine »säkulare Religion« und einen »Mythos« darstellte, »ein Kampf« war. Sie führt aber auch das Paradox an, dass diese Generation »die
Ideologie der Gründerväter mit Begeisterung« (S. 148) aufnahm, ausgerechnet zu einer Zeit, in der bei der Bekämpfung von (vermeintlichen) Regimegegnerinnen und Regimegegnern kaum ein Mittel zu brutal war.
Der Werdegang Jürgen Kuczynskis mit Sanktionen, Rückzug in die eigentliche Arbeit – »Schweigen verstand er als einen Akt des Widerstands« (S. 189) – und schließlich seiner lauter werdenden Kritik während Glasnost und Perestroika dient Combe im folgenden Abschnitt als »ein exemplarischer Weg« (S. 177) des von ihr betrachteten Sujets.
Im letzten Kapitel erklärt Combe die DDR zum letzten Ort der deutsch-jüdischen Symbiose. Die Anziehungskraft des Kommunismus auf »nichtjüdische Juden« (S. 209) entstamme dabei der Ähnlichkeit des jüdischen Messianismus mit seiner »ausgeprägten Sensibilität für Ungerechtigkeit« (S. 207) zum revolutionären Marxismus, wobei nach der Shoa die Assimilation in einer egalitären kommunistischen Partei die beste Aussicht auf Gleichberechtigung geboten habe, mitunter als »Eintrittskarte für die moderne Gesellschaft« (S. 207) galt.
Im Fazit attestiert die Autorin ihren Protagonistinnen und Protagonisten schließlich eine »Theaterperformance [,] eine Haltung, die es ermöglicht, in Situationen, in denen andere eine Vormachtstellung haben, das Gesicht zu wahren und sich durchzulavieren« (S. 217). Auch deshalb spricht sie sie in gewisser Weise frei von Festingers Verdikt der »kognitiven Dissonanz« (S. 216). Sie mussten Kompromisse eingehen. »Aber kompromittierten sie sich dabei?« (S. 219).
Sonia Combes Untersuchung, deren Grundlage unter anderem von ihr in den 1980er-Jahren in der DDR durchgeführte Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bilden, erlaubt detaillierte sowie erkenntnisreiche Einblicke in die Welt der DDR-Intellektuellen. Ihr Ziel, die Bedeutung dieser angeblich von einer antikommunistisch dominierten Geschichtsschreibung ignorierten »kritischen Marxisten« aufzuwerten, gelingt ihr anhand des Zusammengetragenen indes nicht. Combe betont mehrmals, dass »die Partei keinen monolithischen Block bildete« (S. 142) und in ihr immer auch »pluralistisches Denken« (S. 27) gerade durch die im Parteirahmen von den kritischen Intellektuellen offen geäußerten Meinungen existierte. Diese »loyale Subversion« (S. 25) hatte aber, wie sie selbst an zahlreichen Stellen anhand von Zeitzeugnissen offenbart, nicht einmal das Potenzial, Parteistrafen der SED-Mitglieder zu verhindern. Gerade die von Combe beschriebenen »subpolitischen Gesten« (S. 140) waren doch Ausdruck der Machtlosigkeit. Wie sollte denn dieser in einer Blase simulierte Pluralismus politische Relevanz erringen, um auf die ganze DDR-Gesellschaft auszustrahlen? An der sich in den 1980er-Jahren entfaltenden Bürgerrechtsbewegung hatte dieses »intellektuelle Pfand der DDR« (S. 25) jedenfalls kaum einen Anteil.
Auf handwerklicher Ebene hätte sich der Rezensent an manchen Stellen mehr kritische Distanz der Autorin zu den Aussagen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten gewünscht. Es handelt sich um über dreißig Jahre alte subjektive Äußerungen von teils überzeugten Anhängerinnen und Anhängern des Marxismus-Leninismus, die anhand des aktuellen Forschungsstandes eingeordnet gehören. Zudem ist fraglich, wie frei die Personen tatsächlich sprachen, auch wenn Combe diese Bedenken gleich zu Beginn ihres Vorwortes mit Verweis auf eine Aussage Christoph Heins zu den 1980er-Jahren regelrecht abschmettert: »Damals war es schon lange her, dass man für seine Meinung ins Gefängnis gekommen war« (S.11). Eine Darstellung, die so pauschal formuliert sachlich falsch ist.
Die mehrfach genutzte Begrifflichkeit »Kristallnacht« für die reichsweiten Pogrome im November 1938 wirkt heute mehr als anachronistisch, gerade in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung.
Wirklich ärgerlich ist jedoch, dass Combe bei ihren historischen Einordnungen mithilfe von Auslassungen, inhaltlichen Verkürzungen sowie rhetorisch gestellten Fragen ein schiefes Bild bestimmter Sachverhalte vermittelt. Am deutlichsten zum Tragen kommt dies bei der Beschreibung der Entnazifizierung in der DDR, die sehr eindimensional und an DDR-Propaganda erinnernd erfolgt. Sie begründet die Behauptung einer »schnelle[n] und konsequente[n]
Entnazifizierung im Osten« (S. 52) zum Beispiel mit den 1950 abgehaltenen Waldheimer Prozessen (S. 53f.). Tatsächlich stehen diese – nicht nach rechtsstaatlichen Standards durchgeführt; Verurteilung zahlreicher Regimegegnerinnen und Regimegegner – als Symbol für die willkürliche politische Justiz in der DDR. Unerwähnt lässt sie in diesem Zusammenhang hingegen die Gründung der NDPD als Auffangbecken für ehemalige NSDAP-Mitglieder auf Initiative Walter Ulbrichts im Jahr 1948, um innerhalb der Blockparteien die führende Rolle der SED zu sichern. Ein Akt, der unter überzeugten Antifaschistinnen und Antifaschisten große Empörung auslöste, auch in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), deren Auflösung man 1953 ebenfalls aus machtpolitischem Kalkül beschloss. In Ostdeutschland nahm die Funktionsfähigkeit der Besatzungszone beziehungsweise des Staates also ebenfalls einen sehr hohen Stellenwert ein. Ein Vorwurf, den Combe ausschließlich Westdeutschland macht (S. 55). Während zu begrüßende Entwicklungen in der Bundesrepublik, wie die Frankfurter Ausschwitzprozesse ab 1963, allein auf Druck der DDR zustande gekommen wären (S. 57), also eigentlich auch ihr Verdienst seien, dient die Notwendigkeit, die Entnazifizierung schnell vonstattengehen zu lassen, Combe wiederum als Entschuldigung für in der DDR politisch und gesellschaftlich aktive ehemalige Nazis (S. 58). Hier misst die Autorin mit zweierlei Maß.
Gänzlich unverständlich ist schließlich ihr Vorwurf an die deutsche Forschungslandschaft, durch die Gewährung von Fördergeldern den Ton des aus ihrer Sicht einseitigen DDR-Geschichtsbildes – einer »Geschichtsschreibung durch die Sieger« (S. 26) – zu dominieren, in dem »diese auch von Historikern auf eine Diktatur reduziert worden ist« (S. 26). Nicht nur von ihr selbst angesprochene Beispiele (S. 169f.), sondern das Portfolio des Ch.Links-Verlags, der auch ihre Studie veröffentlicht, zeugen hingegen von einer umfangreichen Beschäftigung mit vielfältigen Themen der DDR-Geschichte und führen Combes Einschätzung so ad absurdum. Fakt ist aber auch: Die DDR war ihrem Wesen nach eine Diktatur. Gleichzeitig, so Combe, sei zu fragen, »inwiefern diese uniforme Erzählung dem Aufstieg des Rechtsradikalismus Vorschub geleistet hat« (S. 26), womit sie der Forschung implizit auch eine Mitschuld am Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern unterstellt.
Es ist bedauerlich, dass eine interessante und auch wichtige Studie zur Erhellung der Motivlage von vermeintlich offen und kritisch denkenden Geistern und ihrer Unterordnung unter ein repressives Regime durch einen geschichtspolitischen Diskurs dieser Art entwertet wird.

Andreas Neumann, Berlin

Hartfrid Krause, Arthur Crispien. Vom Spartakusanhänger zum sozialdemokratischen Reformsozialisten

Westfälisches Dampfboot | Münster 2022 | 268 Seiten, broschiert | 28,00 € | 978-3-89691-079-0

Zusammen besprochen mit:

Hartfrid Krause, Mein Vaterland ist die Menschheit, die Länder der Erde. Die Broschüren von Arthur Crispien (1914–1933),

Grin | München 2022 | 363 Seiten, kartoniert | 22,95 € | 978-3-34668-048-8

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Hartfrid Krause kann mit Fug und Recht als der Experte der Geschichte der USPD gelten. Die 1975 veröffentlichte, aus seiner Dissertation hervorgegangene Studie »USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« ist nach wie vor grundlegend für jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser relativ kurzlebigen Partei des deutschen Linkssozialismus, die auf dem Höhepunkt ihrer politischen Wirkung 1920 beinahe so stark war wie die SPD, aus der sie 1916/17 hervorgegangen war, als die Kritiker an der Burgfriedenspolitik im Ersten Weltkrieg aus der Reichstagsfraktion ausgeschlossen wurden. 2021 wurde das Werk als erweiterte und aktualisierte 2. Auflage erneut verlegt.[1] Doch ruhte sich Krause, der zwischenzeitlich als Lehrer und Schulleiter in Hessen wirkte, keinesfalls auf seinen alten Lorbeeren aus, sondern publizierte in den vergangenen Jahren weitere Broschüren und Bücher zur USPD oder zu ihren Hauptrepräsentanten, die auch als E-Books verfügbar sind.
Zu den wichtigsten Köpfen der USPD gehört neben Hugo Haase, Georg Ledebour und Wilhelm Dittmann zweifellos Arthur Crispien (1875–1946), über den bislang noch keine biographische Darstellung existierte. Crispien war von 1919 bis 1922 Co-Vorsitzender der USPD und von 1922 bis 1933 Co-Vorsitzender der SPD, stand also in den Jahren der Weimarer Republik stets an der Spitze einer sozialdemokratischen Partei. Dennoch gehört auch er zu jenen Sozialdemokraten, deren Namen heute kaum mehr präsent sind. Das allein ist sicher Grund genug für eine Biographie. Krause stellt seinen Zugang zu Crispien unter die Leitfrage, ob dieser eher ein »Vorsitzender der zweiten Reihe« oder ein Parteiführer war, dem der internationale Betätigungsrahmen vordringlich erschien, ähnlich wie Willy Brandt mit seinem Wirken für die Sozialistische Internationale. Der biographische Teil dieses Bandes reicht bis zur Seite 145, es folgen hundert Seiten mit Dokumenten Crispiens sowie eine Chronik der USPD und der Anhang.
Arthur Crispien wurde am 4. November 1875 in Königsberg in einer kinderreichen Arbeiterfamilie geboren. Wie Hugo Haase und Otto Braun war er Ostpreuße. Er erlernte den Malerberuf und folgte damit zunächst seinem Vater, der für die Sozialdemokratie aktiv war, was in Ostpreußen wegen dessen ökonomischer und politischer Rückständigkeit eine Sisyphusarbeit darstellte. Seiner ersten Ausbildung folgte eine zweite als Theatermaler. 1894 trat der junge Crispien der SPD und der Malergewerkschaft bei. Sein frühes politisches Engagement kostete ihm den Arbeitsplatz. 1906 wurde er hauptberuflicher Redakteur der Königsberger Volkszeitung, schon 1903 hatte er vergeblich für den Reichstag im Wahlkreis Elbing-Marienburg kandidiert. In den Folgejahren verstetigte sich seine Laufbahn als »Arbeiterbeamter«, unter anderem als Parteisekretär für Westpreußen. Der Arbeiterpresse blieb er dabei stets treu. Von August Bebel politisch vorgeprägt, lernte Crispien 1909/10 an der Parteischule der SPD in Berlin Rosa Luxemburg kennen. Sie sollte seine sozialistischen Vorstellungen viele Jahre maßgeblich beeinflussen. Nach drei vergeblichen Reichstagskandidaturen (1903, 1907, 1912) wechselte er von Danzig nach Stuttgart als Chefredakteur der Schwäbischen Tagwacht. Die Parteiorganisation in Stuttgart um Clara Zetkin und Friedrich Westmeyer stand auf dem marxistischen, der württembergische Landesvorstand um Wilhelm Keil auf dem reformsozialistischen Flügel, der auch die Kooperation mit bürgerlichen Parteien suchte. Crispien gehörte zu den »Radikalen« und nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum engeren Umfeld der »Gruppe Internationale« um Luxemburg, Karl Liebknecht, Zetkin und Andere. Die Solidarität mit Liebknecht brachte ihm 1916 drei Monate Gefängnis ein. Im Herbst 1917 trat er der USPD bei. All diese Fakten rekonstruiert Krause auf einer wenig opulenten Basis an Primärquellen, aber Crispien hinterließ in seinem Nachlass beim Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) in Bonn einige Erinnerungstexte, die der Biograf erfolgreich zu Rate ziehen konnte. Weiteres konnte mit Hilfe seiner Reden und Artikel Schriften in der sozialdemokratischen Presse, durch Parteitagsprotokolle und aus der Sekundärliteratur gewonnen werden.
Crispien entfernte sich 1918/19 zusehends von der Spartakusgruppe und ging nicht zur KPD, sondern blieb in der USPD, für die er vom 9. November 1918 bis zum 10. Januar 1919 als Innenminister in der provisorischen württembergischen Regierung wirkte. Im März 1919 wurde er neben Hugo Haase zum Vorsitzenden der USPD gewählt. In dieser Funktion trat er von 1919 bis 1921 für den Wiederaufbau der Internationale ein. Als dieses Projekt aus Sicht vieler linkssozialistischer Parteien gescheitert war, sträubte er sich, genauso wie seine Genossen Dittmann und Ledebour, gegen eine Vereinnahmung der USPD durch die Dritte Internationale Lenins. An dieser Frage spaltete sich die USPD im September 1920. Die Rest-USPD schloss sich im Februar 1921 mit weiteren linkssozialistischen beziehungsweise linkssozialdemokratischen Parteien zur »Wiener Internationale« zusammen, die 1922/23 die Wiedervereinigung mit der SPD und anderen Parteien der alten Internationale vorbereitete, woran Crispien mitwirkte. Seit dem Nürnberger Vereinigungsparteitag 1922 leitete Crispien gemeinsam mit Otto Wels die vereinigte SPD bis 1933. Die Nazis zwangen ihn und unzählige Genossinnen und Genossen aus Partei und Reichstagsfraktion zur Flucht, Crispien, Dittmann, Ledebour und andere Exponenten der Novemberrevolution mussten die Rache der Nazis fürchten. Crispien ging ins Exil in die Schweiz. Auch dort wirkte er, in der Weimarer Zeit zum Reformsozialisten geworden, gegen das NS-Regime und für die Unterstützung Hilfesuchender. Gerade wollte er aus der Schweiz seine Rückkehr ins besetzte Deutschland vorbereiten, als er am 29. November 1946 plötzlich in Bern verstarb. So war es ihm nicht vergönnt, am demokratischen Wiederaufbau in Deutschland und am Wiederaufbau der SPD mitzuwirken. Der biographische Teil des Buches ist natürlich etwas gerafft, aber gelungen. Crispien war, wie Krause bilanziert ein »überzeugter Sozialist und konsequenter Internationalist der Arbeiterklasse« und ein Politiker, »der im Hintergrund vor allem international agierte.« (S. 145)
Unter den Dokumenten nehmen seine Erinnerungen »Ein Proletarierleben für das Proletariat« den größten Raum ein und vertiefen die biographische Darstellung. Krause dürfte ihre Entdeckung im AdsD sicher als Glücksfall betrachtet haben. Weitere Quellen aus seinem vielfältigen Wirken vervollständigen diesen Buchteil.
Ergänzt wird dieser Band durch die Dokumentation der Broschüren Crispiens von 1914 bis1933, denen Hartfrid Krause ein eigenes »Book on Demand« gewidmet hat. Dieser Broschürenband mit dem für sich selbst sprechenden Titel »Mein Vaterland ist die Menschheit, die Länder der Erde« ermöglicht einen Einblick in Crispiens Wirken auf dem linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie und für das internationale Agieren des demokratischen Sozialismus. 14 Broschüren mussten druckreif vorbereitet werden, eine echte Fleißarbeit, die Anerkennung verdient. Crispien setzte sich hierin unter anderem mit der Entwicklung der USPD, der Geschichte Internationale und mit Karl Marx, aber auch mit politischen Gegenwartsfragen auseinander. Wer tief in die Geschichte der USPD und ihrer Repräsentanten einsteigen möchte, kommt um diese und andere Arbeiten Krauses nicht herum!

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn

[1] Hartfrid Krause, Die USPD 1917–1931. Spaltungen und Einheit, 2. erw. und akt. Aufl., Münster 2021.

Sabine Mecking/Manuela Schwartz/Yvonne Wasserloos (Hrsg.), Rechtsextremismus – Musik und Medien

Vandenhoeck & Ruprecht unipress | Göttingen 2021 | 376 Seiten, Gebunden | 55,00 € | 978-3-8471-1327-0

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Rechtsextreme Musik ist seit der Serie rechtsextremer Gewalt Anfang der 1990er-Jahre zum Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Analog zu der stilistischen und ideologischen Pluralisierung rechter Musikformate, die weit über den etwas statischen Begriff Rechtsrock hinausgehen, hat sich der Forschungszweig weiterentwickelt und umfasst neben historischen Perspektiven unter anderem auch funktionelle Dimensionen der Medialität sowie Überlegungen über die Perzeption, Rezeption und Wirkung.
Der »Sturm auf den Reichstag« am 29. August 2020 hat einmal mehr bestätigt, was bereits durch die rechtsterroristischen Anschläge in Kassel, Halle und Hanau deutlich wurde: das Gefahrenpotenzial, das vom Rechtsextremismus in Deutschland ausgeht, ist hoch. Die immer wieder aufgeworfene Frage danach, ob das Hören entsprechender Musik die verbale, psychische und physische Gewalt von Rechtsextremisten fördert, legt den Schluss nahe, dass die Musik mehr als nur eine »Komponente extremer Einstellungen« ist, sondern möglicherweise sogar ein »mitbestimmendes Phänomen« (S. 14). Musik spielt demnach eine maßgebliche Rolle bei der »Kommunikation, Inszenierung und Multiplikation rechtsextremer Haltungen« (S. 7).
Der Sammelband »Rechtsextremismus – Musik und Medien« basiert auf einer interdisziplinären Tagung, die 2018 unter demselben Titel an der Hochschule für Musik und Theater Rostock stattfand. Das Ziel der Veranstaltung war eine Aktualisierung des Forschungsfeldes, das sich nunmehr seit etwa 25 Jahren herausgebildet hat. Einen besonderen Fokus sollten dabei stilistische und mediale Entwicklungen, die Wirkung und die mit der Musik verbundenen Szenestrukturen einnehmen.
Dem wird der Band in seiner inhaltlichen Aufteilung durchaus gerecht. Das erste Kapitel »Historie, Narrative und Methodik« ist dabei als Einführung und inhaltliche Bestandsaufnahme aufzufassen. Wolfgang Benz beginnt einleitend mit einem historischen Überblick über die Entwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945. Anschließend beschreibt Sabine Mecking die stilistische Ausdifferenzierung rechtsextremistischer Musik seit den 2000er-Jahren und geht dabei konkret auf den National Socialist Hardcore und Rechtsrap ein. Darüber hinaus erläutert sie die Funktion der Musik als ein zentrales Medium für die Rekrutierung, Radikalisierung und Gruppenidentifizierung im rechtsextremen Milieu. Wie Musik als »zentraler Baustein« (S. 84) rechtsextremer Erlebniswelten funktioniert, weitet Thomas Pfeiffer in seinem Beitrag aus. Er geht dabei sowohl auf die Emotionswelten von Jugendlichen ein als auch auf die mögliche Scharnierfunktion in jugendliche Lebenswelten, die Musik und rechtsextreme Symbolik herstellen kann. Dennoch ergeben sich in der Forschung über rechtsextreme Musik methodologische Herausforderungen: Die Black-Box, so Manuela Schwartz in ihrem Beitrag, weise eine zu geringe Systematik, Transparenz, Dokumentation und Nachprüfbarkeit auf (S. 101). Zudem bestehe ein Mangel an analysierfähigen Zeugen. Mögliche Einschränkungen sieht sie auch in der pauschalen Verwendung des Begriffs Rechtsrock als Überbegriff, da dadurch der vorhandene Stilpluralismus vernachlässigt werde.
Im zweiten Kapitel »Ambivalenz, Perzeption und Medien« werden vor allem musikalische und multimediale Grauzonen untersucht, die unter Umständen ein Scharnier in das rechtsextreme Spektrum sein können. Nachdem das erste Kapitel einen guten und kompakten Überblick in die Thematik, ihre Komponenten und Leerstellen vermittelt hat, werden an dieser Stelle des Bandes nun spezifische Aspekte behandelt. Darunter fällt die Frage nach der textlichen Ambivalenz von Musikstücken und ihren Interpretationen als Potenzial rechtsextremistischer Propaganda (Jan Philipp Sprick). Yvonne Wasserloos thematisiert dagegen die Verwendung von Instrumentalmusik in rechtsextremen Gruppierungen. Die Tendenz, Instrumentalmusik zur Hinterlegung von rechtsideologisch aussagekräftigen Bildern beziehungsweise Videos zu nutzen, macht sie anhand von sinfonischer Musik bzw. Soundtracks und Fashwave kenntlich. Georg Brunner geht anschließend auf das Internet als zentrales Medium bei der Distribution und Verfügbarkeit von rechtsextremer Musik ein. In seiner Auswertung zeigt er ebenfalls, wie YouTube als ein Spiegelbild des fortgeschrittenen Stilpluralismus zu sehen ist. Seine Analyse umfasst neben einer generellen Einordnung der untersuchten Interpreten vor allem die Bildsprache sowie Nutzerkommentare. Wie sich die Pluralisierung des Rechtsextremismus und seiner Musik konkret ereignet hat, wird dagegen in Christoph Schulzes Beitrag schlüssig. Dabei beschreibt er vor allem Prozesse der Aneignung von Rap und Hardcore am Beispiel der Autonomen Nationalisten, zeigt aber auch die kulturelle Rückwirkung der vereinnahmten Jugendkulturen auf die rechtsextreme Szene auf. Doch ambivalente Musikformate finden sich auch außerhalb der rechtsextremen Szene, wie Fabian Bade mit einer Analyse der teils polarisierten journalistischen Auseinandersetzungen über die nationalsozialistische Ästhetik und Symbolsprache der Band Rammstein zeigt. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass das Polarisierungspotenzial der Band gesunken ist, was sich auch in der medialen Rezeption faschistoider Ästhetik abzeichnet.
Das dritte Kapitel »Rezeption, Wirkung und politische Bildung« nimmt einen perspektivischen Wechsel auf die Ebene der Rezipientinnen und Rezipienten vor. Michaela Glaser präsentiert an dieser Stelle eine qualitative Studie des Deutschen Jugendinstituts von 2009, deren Ergebnisse jedoch nicht an Aktualität verloren haben. Aus der Befragung von Jugendlichen ergibt sich ein vielfältiges Bild. Der Mythos der »Einstiegsdroge Musik« kann hier zwar nicht eindeutig widerlegt werden, da in zwei Fällen die Musik tatsächlich eine unterstützende Rolle bei der sozialen Annäherung gespielt hat. Dennoch zeigt sich, dass vor allem individuelle Vorprägungen entscheidend sind, ob sich Jugendliche in der Musik »wiederfanden« (S. 229). Es konnten demnach sowohl Indizien auf die unterschiedlichen individuell-subjektiven Bezugspunkte zu rechtsextremer Musik ausgemacht werden als auch auf die gruppenbezogenen Funktionen. Die rechtsextreme Lebenswelt stellt nach wie vor auch eine Herausforderung für Präventivstrategien dar, vornehmlich für die politische Bildung. Dies thematisiert Gudrun Heinrich am Beispiel der Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 als Lerngegenstand. Zwar werden in diesem Beitrag weniger musikalische als generelle Aspekte aufgezeigt, jedoch wird, neben allgemeinen Grundsätzen der politischen Bildung, ein Modell in fünf Schritten vorgestellt, das sich durchaus auch auf das Feld Musik und Medien übertragen lässt. Dadurch werden wertvolle Anreize zur methodischen Erweiterung auf das Themenfeld rechtsextreme Musik und Medien im Kontext der politischen Bildung gegeben. Eine konkrete Beschäftigung mit rechtsextremer Musik im Schulunterricht findet sich dagegen in Jan-Peter Kochs Beitrag. Neben einer didaktischen Interpretation rechtsextremer Songs, bei welcher die Lehrkraft lediglich eine vermittelnde Funktion einnehmen solle, sieht er das interkulturelle Lernen als besonders wichtig an. Die Beschäftigung mit dem »Fremden« (S. 268) soll Jugendlichen den eigenen Standpunkt verdeutlichen und so eine persönliche Bewertung hervorrufen. Der letzte Beitrag, ein Essay von Oliver Krämer, stellt eine Frage, die im Kontrast zu den anderen Beiträgen steht: Gibt es eine Musik, die sich nicht politisch vereinnahmen lässt? Zwar geht auch Krämer davon aus, dass Musik immer in gesellschaftlichen Zusammenhängen stattfinde und dadurch immer eine gewisse politische Komponente beherberge (S. 275). Dennoch beantwortet er die eingangs gestellte Frage durchaus plausibel, indem er vorwiegend unter Einbezug von Neuer Musik und (Free) Jazz eine Musikpraxis beschreibt, die bei Rezipientinnen und Rezipienten die Fähigkeit zum aktiven Denken stimuliert. Aufgrund der im Vordergrund stehenden inhärenten musikalischen Struktur
verschließt sich jene Musik zunächst einmal der Gefühlsebene. Sie muss erst rational erschlossen werden und lässt so kaum eine politische Vereinnahmung zu.
Der Sammelband schließt mit einer Dokumentation einer öffentlichen Podiumsdiskussion, die im Rahmen der Fachtagung stattgefunden hat. Ziel dabei war, Ausblicke und Erweiterungen auf den Forschungsgegenstand interdisziplinär zu diskutieren, aber auch generelle Fragen, Problematiken und Desiderate zu bündeln, die bereits in den Vorträgen angeklungen waren.
Insgesamt schafft der Band eine gewinnbringende Bündelung und Aktualisierung des Forschungsfelds. Während die Pluralisierung der Stile und Szenen eine stetige Aktualisierung des Forschungsstandes erfordert, scheinen ambivalente Formate beziehungsweise Grauzonenphänomene aktuell immer mehr in den Fokus der Forschung zu rücken. Nach wie vor bestehen jedoch viele offene Fragen, deren Bearbeitung »stärker regional, semantisch und international« (S. 17) ausgerichtet sein sollte, um Betroffenenperspektiven und szeneinterne Mikrostudien zu ergänzen. Auch dafür sind die Erschließung neuen Quellenmaterials sowie eine intensivere interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich.

Jacob Hirsch, Bonn

Detlef Lehnert/Volker Stalmann: Johannes Stelling 1877–1933. Sozialdemokrat in Opposition und Regierung: Hamburg – Lübeck – Schwerin – Berlin

Metropol-Verlag | Berlin 2021 | 394 Seiten, gebunden | 24,00 € | ISBN 978-3-86331-567-2

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Welche Schwierigkeiten es Historikern bereitet, sich einer Persönlichkeit wie Johannes Stelling zu nähern, von dem kein Nachlass überliefert ist, der nicht zu den passionierten Briefeschreibern zählte und der als Mitglied des Reichstags kaum in Erscheinung trat, davon hätte man gerne mehr in der Einleitung des Bandes gelesen. Dort hätte man auch die Frage erörtern können, ob man angesichts dieser widrigen Quellenlage überhaupt das Wagnis einer biografischen Untersuchung eingehen sollte. Allein, die beiden Autoren haben auf dieses Standardkapitel einer jeden wissenschaftlichen Darstellung verzichtet. Statt einer Einleitung finden sich erst auf der Seite 16 in der Fußnote 32 die Hinweise darauf, dass Detlef Lehnert die Abschnitte »Hamburg und Lübeck«, also Herkunft und politischen Aufstieg, Volker Stalmann hingegen »Schwerin und Berlin« verfasst habe, mithin die Karrierehöhepunkte des gebürtigen Hamburgers als Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin 1921 bis 1924 und als Reichstagsabgeordneter von 1919 bis 1933 (mit der kurzen Unterbrechung Mai bis Dezember 1924) sowie als Mitglied des SPD-Parteivorstands seit 1924. An gleicher Stelle erfährt man auch, dass die umfangreiche Quellenrecherche in Zeitungen, Zeitschriften und Protokollen im Wesentlichen von den beiden Historikern Jörg Pache und Jens Thiel geleistet wurde, die dafür mehr Anerkennung verdient hätten, als in einer Fußnote versteckt zu werden. 

Die Darstellung folgt der Biografie Stellings chronologisch, beginnend mit seiner Geburt 1877 als unehelicher Sohn einer aus Mecklenburg stammenden Köchin, die erst vier Jahre später einen Schneider namens Stelling heiratete. Der Junge wuchs in proletarischen Lebensverhältnissen auf, die er als begabter Schüler durch den Besuch einer Fortbildungsklasse und eine anschließende Lehre als Handlungsgehilfe hinter sich lassen konnte. Beeindruckt von dem Sozialexperten der SPD-Reichstagsfraktion Hermann Molkenbuhr, der 1893 bis 1898 den ersten Hamburger Reichstagswahlkreis in Berlin vertrat, schloss sich Stelling als 18-Jähriger der SPD an. 

Sein eigentlicher politischer Aufstieg vollzog sich in der Hansestadt Lübeck, wo er 1901 zum Lokalredakteur des »Lübecker Volksboten« gewählt wurde. Hier heiratete er im gleichen Jahr Frieda Schilling. Sie bekamen 1903 ihr einziges Kind, die Tochter Gertrud. 1904 stieg er zum Chefredakteur seines Blattes auf, 1907 wurde er in die Lübecker Bürgerschaft und damit in ein – wenn auch kleines – Landesparlament gewählt. Beide Funktionen hatte er bis 1919 inne. Während des Ersten Weltkriegs stützte er die Burgfriedenspolitik der Parteimehrheit, wie er überhaupt zumeist die Haltung des Parteivorstands mittrug. Schon in der Massenstreikdebatte 1906 habe Stelling, so Detlef Lehnert, »das typisch zentristische Credo« vertreten: »Wir müssen einigend wirken und das trennende Moment beseitigen.« (S. 41) Die Person Stellings steht jedoch in weiten Teilen des Kapitels über Lübeck quellenbedingt im Schatten einer Organisationsgeschichte der lübischen Sozialdemokratie. 

Nach der Novemberrevolution wurde Stelling in die Weimarer Nationalversammlung gewählt, von wo aus er im August 1919 als Innenminister in die Regierung von Mecklenburg-Schwerin berufen wurde, des größeren der beiden ehemaligen mecklenburgischen Großfürstentümer, die bis 1918 ohne gewählte Landtage als rückständigste Staaten des Deutschen Reichs gegolten hatten. Von 1921 bis 1924 amtierte er als Ministerpräsident, davon im ersten Jahr 1921/22 unter Einschluss der DVP und damit in der ersten Großen Koalition der Weimarer Republik überhaupt. Stellings Regierung konnte zahlreiche wichtige Projekte realisieren, etwa auf dem Sektor der Bildungspolitik, indem die Volksschullehrer zu Staatsbeamten aufgewertet und die Lernmittelfreiheit eingeführt wurden (S. 230). Aber natürlich agierte die Schweriner Landesregierung nicht im luftleeren Raum, sondern war in die reichsweite politische und ökonomische Entwicklung eingebunden, die zahlreiche Wählerinnen und Wähler der SPD enttäuschte. Bei den Landtagswahlen am 17. Februar 1924 erfolgte daher »ein regelrechter Absturz« (S. 251). Die regionale Sozialdemokratie sackte von 41,7 auf 22,8 Prozent ab und schied aus der Regierung aus. 

Stelling konzentrierte sich nunmehr auf seine Tätigkeiten als Sekretär im SPD-Parteivorstand und seit Januar 1928 als Gauvorsitzender des Reichsbanners Berlin-Brandenburg. Im Reichstag blieb er auf die mehrfach erwähnte Funktion eines »Hinterbänklers« (etwa auf S. 267) beschränkt, was durch eine Ermittlung der Anzahl seiner Reichstagsreden (insgesamt lediglich acht) leicht hätte belegt werden können. Stelling war also ein Mann des Parteiapparats, nicht des Parlaments. Sein politisches Urteilsvermögen ist ambivalent einzuschätzen, einerseits warnte er bereits 1919 vor einer drohenden Kandidatur Paul von Hindenburgs bei einer künftigen Reichspräsidentenwahl (S. 145) und übte berechtigte Kritik an Gustav Noske (S. 148), andererseits erkannte er die Tragweite des Sturzes von Reichskanzler Hermann Müller 1930 nicht (S. 310) und hing nach der Errichtung der NS-Diktatur »einem geradezu fatalistischen Entwicklungsglauben« an (S. 374), indem er die Gefahr für sich persönlich wie für die Partei unterschätzte. Der in diesem Buch geschilderte Übergang von der Regierung Müller zum Kabinett Brüning entspricht im Übrigen nicht dem neuesten Forschungsstand. Brüning war über die Intrige zum Sturz Hermann Müllers schon Monate vorher eingeweiht gewesen und hatte gegenüber deren Drahtziehern seine Bereitschaft zur Bildung des ersten Präsidialkabinetts erklärt. 

Stelling stimmte am 23. März 1933 in der zum Reichstag umgebauten Kroll-Oper gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz; eine Flucht aus Deutschland lehnte er ab und unterstützte den im Reich verbliebenen Berliner gegen den Prager Exilvorstand der SPD. Durch seine Funktion beim Reichsbanner (bis 1932) und durch von ihm kolportierte Gerüchte, dass die Nationalsozialisten für den Reichstagsbrand verantwortlich seien, zog er sich in besonderem Maße den Hass der neuen Machthaber zu. Während der sogenannten »Köpenicker Blutwoche« wurde er von der SA verhaftet, schwer misshandelt und in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 1933 ermordet. Sein Leichnam wurde in einen Sack gestopft, in die Dahme geworfen und erst am 1. Juli 1933 aufgefunden. 

Letztlich bleiben viele Fragen aus Stellings Biografie offen: Wer zählte außer Hermann Molkenbuhr zu seinen persönlichen Vorbildern? Wer förderte ihn? Mit welchen führenden Sozialdemokraten »konnte« er, mit welchen nicht? Wie war das weitere Lebensschicksal seiner Witwe und seiner Tochter? Tochter und Schwiegersohn traten nach 1945 als Zeugen in den genannten Strafprozessen auf. Aber wie und wo lebten sie anschließend? Dass diese Fragen vielleicht nicht beantwortet werden können, weil die Quellen schweigen, hätte thematisiert werden können. Dass Täter der »Köpenicker Blutwoche« 1947 und 1948 in West- und 1950 in Ost-Berlin vor Gericht gestellt wurden, wird erwähnt, nicht mitgeteilt wird jedoch, dass die Urteile in Ost-Berlin wesentlich härter ausfielen und dass es die DDR war, die lange vor der Bundesrepublik Deutschland Stelling im öffentlichen Raum würdigte: mit der Überführung seines Grabes im Jahr 1950 in die »Gedenkstätte der Sozialisten« auf dem Friedhof in Friedrichfelde, wo man es noch heute besuchen kann, mit der Einrichtung einer Gedenkstätte zur »Köpenicker Blutwoche«, mit der Anbringung einer Gedenktafel sowie der Benennung einer Straße in Köpenick (Stellingdamm) und einer Brücke in Adlershof. Zu diesen Gedenkorten ist nun die vorliegende Studie hinzugekommen. An Johannes Stelling als eines der frühesten und prominentesten Opfer des NS-Terrors zu erinnern und zahlreiche Bausteine zu seiner Biografie zusammengetragen zu haben, ist – trotz aller offenen, also den nicht gestellten wie den nicht beantworteten Fragen – ein bleibendes, ein unbestreitbares Verdienst dieses Buches.

Bernd Braun, Heidelberg

Gerhard Kluchert/Klaus-Peter Horn/Carola Groppe/Marcelo Caruso (Hrsg.), Historische Bildungsforschung. Konzepte – Methoden – Forschungsfelder

Verlag Julius Klinkhardt | Bad Heilbrunn 2021 | 388 Seiten, kartoniert | 29,90 € | ISBN 978-3-7815-5563-3

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Es ist ein Paradox der (deutschen) Historiografie, dass zentrale Aspekte der menschlichen Vergangenheit aus dem Kanon der allgemeinen Geschichtswissenschaft ›ausgelagert‹ scheinen: so die Geschichte von Religion und Glauben in die Kirchengeschichte und die von Bildung, Erziehung und Aufwachsen in die Historische Bildungsforschung. Historikerinnen und Historiker wissen selbstverständlich um die geschichtlichen Hintergründe der Situation; darum, dass infolge der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems im 19. Jahrhundert einzelne Disziplinen ihre ›eigene‹ Geschichte zu erforschen und schreiben begannen, auch mit dem Ziel, das Programm des eigenen Faches zu rechtfertigen. Die Auslagerung einzelner Themen aus dem Gros der Geschichtsschreibung hat Vor- und Nachteile. Zum Ertrag zählt sicherlich, dass ihnen die Aufmerksamkeit einer Gruppe hochausgebildeter Spezialistinnen und Spezialisten zukommt, die sich in einer Breite und Tiefe mit ihnen beschäftigen, die anderenfalls kaum vorstellbar wäre. Die intensive Beschäftigung hat ihr Fundament in eigenen Lehrstühlen und Fachorganisationen und findet unter anderem Niederschlag in spezifischen Publikationen. Die Kehrseite der Ausdifferenzierung ist eine bisweilen mangelnde Bezugnahme von spezifischer und allgemeiner Historiografie aufeinander. Letztere neigt dazu, die Arbeiten der ersteren als zwar entlastend für die eigene Forschung wahrzunehmen, sie aber zugleich als nachgeordnet abzutun. Ihre häufig herausragenden Leistungen werden so höchstens in Zeiten thematischer Konjunkturen zur Kenntnis genommen, auch weil das jeweilige Feld als vermeintlich zu speziell und unübersichtlich gilt.

Für das Forschungsgebiet der Historischen Bildungsforschung kann dieses Argument spätestens mit der Veröffentlichung des vorliegenden Handbuchs nur noch eine vorgeschobene Ausrede sein. Der Band, der Beiträge ausgewiesener Fachvertreterinnen und -vertreter vereint, hat zum Ziel, »über den Stand und die Entwicklung der Historischen Bildungsforschung« (S. 9) zu informieren, also eine Art »State of the Art« zu präsentieren, wie es die vier Herausgeberinnen und Herausgeber im Vorwort formulieren. In ihrer Einleitung beschreiben sie hierzu zunächst, was den Gegenstandbereich kennzeichnet, wie sich die Disziplin in unterschiedlichen nationalen Kontexten, besonders aber im deutschsprachigen Raum, seit dem 18. Jahrhundert institutionell und inhaltlich entwickelt hat und worin ihre Leistungen, Probleme und Desiderate liegen. Die Historische Bildungsforschung stellt demnach ein interdisziplinäres Forschungsfeld dar, das maßgeblich zwischen der Erziehungswissenschaft und der Geschichtswissenschaft angesiedelt ist. Historisch im Umfeld der Pädagogik und speziell der Lehrerbildung entstanden, konzentrierten sich ihre Arbeiten, wie die der allgemeinen Geschichtswissenschaft, zuerst auf die Geschichte von Institutionen, Personen und Ideen, bevor sie sich durch die historiografischen Wenden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sozial- und später kulturhistorischen Fragen zuwendeten. Als Forschungsgebiet, das sich der »Erforschung des pädagogischen Feldes im geschichtlichen Wandel« widmet, geht der Blick der Historischen Bildungsforschung stets in zwei Richtungen: auf »Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung« und auf den »Beitrag von Sozialisation und Enkulturation zur Entwicklung von Geschichte und Kultur« (S. 13). Das gesamte Forschungsfeld zeichnet sich heutzutage durch seine große Produktivität, eine tiefgreifende Verwissenschaftlichung und ein breites Themenspektrum aus, wie sich auch in den Beiträgen des Bandes zeigt.

Zählt man die thematische Einleitung nicht mit, erschließt der Band die Fachdisziplin der Historischen Bildungsforschung in jenen drei Dimensionen, die dem Untertitel zu entnehmen sind: Konzepte, Methoden und Forschungsfelder. Was darunter jeweils konkret zu verstehen ist, kann sich die Mehrzahl der Leserinnen und Leser wohl vorstellen, trotzdem ist es etwas bedauerlich, dass es im Band nicht noch einmal näher erläutert wird. Dessen ungeachtet, umfasst der Abschnitt »Konzepte« erwartungsgemäß unterschiedliche, zeitlich zum Teil aufeinander folgende, zum Teil gleichzeitig praktizierte historiografische Zugriffe wie die Sozial- und Strukturgeschichte, die Ideengeschichte oder die Historische Biografiegeschichte. Der Gegenstand »Quellengattungen und Methoden« dreht sich dezidiert um diese, wobei in den lediglich drei Beiträgen des Abschnitts noch zwischen qualitativen und quantitativen Methoden unterschieden wird. Im umfassendsten Block »Forschungsfelder« werden schließlich zentrale Themenbereiche der Historischen Bildungsforschung wie »Kindheit«, »Familie«, »Schule«, »Kinder- und Jugendliteratur«, aber auch »Medien«, »Militär«, »Interkulturalität und Minderheiten« erschlossen. Sämtliche Beiträge sind nach demselben Schema gegliedert: Auf eine kurze Definition des jeweiligen Bereichs folgt ein Abschnitt über Forschungsgeschichte und -kontexte, eine kurze Einführung in die Reichweite und Grenzen des Gegenstands sowie abschließend eine Diskussion von Desideraten und Forschungsperspektiven. Die Darstellung bezieht sich in vielen Fällen in erster Linie auf die deutschsprachige Forschung, wobei wichtige internationale Entwicklungen Erwähnung finden. Jeder Beitrag beinhaltet Hinweise zu zentralen Veröffentlichungen, der Anspruch auf eine umfassende Nennung der relevanten Literatur wird nicht erhoben.

Es ist an dieser Stelle nicht der Raum, um die rund 32 Fachartikel des Bandes im Einzelnen zu besprechen. Es seien daher lediglich zwei Beobachtungen formuliert, die sich aus der Lektüre ergeben haben. Zum einen stellt sich die Frage nach den Kriterien, die der Entscheidung, welche Gegenstände in den Band aufgenommen wurden und welche nicht, zugrunde lagen und die den thematischen Zuschnitt der einzelnen Kapitel beeinflusst haben. So ist es zwar nach Meinung des Rezensenten mehr als begrüßenswert, dass der wohl federführende Herausgeber des Bandes, Gerhard Kluchert, eine, wie nicht anders zu erwarten, kenntnis- und detailreiche Einführung in die Historische Sozialisationsforschung vorgelegt hat. Es erstaunt allerdings, dass der Beitrag von Karin Prien über die ohne Frage wesentlich einflussreichere Kulturgeschichtsschreibung genauso viel Platz in dem Band einnimmt und in diesem Zusammenhang, praktisch ›nebenbei‹, noch so wichtige Forschungskonzepte wie die Mentalitätsgeschichte und die Historische Anthropologie mitbearbeitet, die eigentlich ein eigenes Kapitel wert gewesen wären. Zum anderen wäre ein stärkerer Bezug einzelner Artikel auf die aktuelle internationale Forschung wünschenswert gewesen. So wird zum Beispiel im Beitrag über das Forschungsfeld »Kindheit« zwar mit vielen der üblichen Klischees über die Geschichte von Kindheit und Kindern aufgeräumt, darunter der Annahme, dass in früheren Zeiten nicht zwischen Kind- und Erwachsenensein unterschieden würde. Gleichzeitig werden akteurszentrierte Ansätze, die spätestens seit den 2000er-Jahren aufkamen, vorgestellt, nicht aber deren unter dem Begriff der Agency Trap diskutierten Probleme thematisiert. Ähnlich verhält es sich im Artikel über die Historische Geschlechterforschung, in dem zwar die Forschungsperspektive der Männlichkeitsgeschichte aufgegriffen und als (Teil-)Desiderat gekennzeichnet wird, neuere Forschungen zur Queer History aber keine Erwähnung finden.

Die angeführte Kritik tut der Qualität sowohl der einzelnen Beiträge wie auch des gesamten Bandes keinerlei Abbruch. Sie kann unter Verweis auf die im Vorwort erwähnte lange und verschlungene Entstehungsgeschichte des Bandes relativiert werden, weil davon auszugehen ist, dass einzelne Beiträge schon vor längerer Zeit verfasst worden sind. Das lange Warten auf den Band hat sich dennoch gelohnt, denn er schließt eine Lücke, indem er allen Interessierten, ob Studierenden oder Forschenden, ob Historikerin oder Erzieherwissenschaftler, in zentralen Forschungsbereichen der Historischen Bildungsforschung einen fachkundigen, systematisch angelegten und äußerst gut lesbaren Zugang ermöglicht. Dem Band sind daher zahlreiche Leserinnen und Leser zu wünschen. Mit ihm verbindet sich zugleich die Hoffnung, dass die eingangs skizzierte Distanz zwischen Geschichtswissenschaft und Historischer Bildungsforschung von vielen überwunden werden möge.

Daniel Gerster, Hamburg

Florian Heßdörfer, Der Geist der Potentiale. Zur Genealogie der Begabung als pädagogisches Leistungsmotiv

Transcript Verlag | Bielefeld 2022 | 239 Seiten, kartoniert | 35,00 € | ISBN 978-3-8376-6051-7

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Die Beschäftigung mit den Selbstoptimierungsimperativen der modernen Arbeitswelt und ihr faszinierendes Oszillieren zwischen der Ermächtigung und der Entmachtung des Individuums stellen seit den 2000er-Jahren ein beliebtes, disziplinenübergreifendes Sujet der Geistes- und Sozialwissenschaften dar. Kamen die ersten Auseinandersetzungen mit diesem Komplex noch aus dem Kontext einer Zeitdiagnostik in kritischer Absicht, erscheinen in den letzten Jahren zunehmend empirie- und fallstudiengestützte Qualifikationsschriften, die sich mit der Geschichte und Gegenwart von Begabung, Leistung und ihrer Optimierung auseinandersetzen. In der Geschichtswissenschaft dominieren dabei zwei Tendenzen: Zum einen handelt es sich um Detailstudien zu einzelnen Ausbildungsinstitutionen und Organisationen der Wissensgenerierung wie beispielsweise dem Deutschen Institut für technische Arbeitsschulung (DINTA) oder dem Tavistock Institute of Human Relations. Zum anderen wird deutlich, dass sich die Annahme einer Zäsur in den 1970er-Jahren als Übergang vom Fordismus zum Postfordismus und damit ein Übergang von einer Politik der Einpassung zu einer Politik der beständigen Weiterbildung nur schwerlich aufrechterhalten lässt.

In diesem Umfeld siedelt sich der Band Florian Heßdörfers an, der auf eine kumulative Habilitation an der Universität Leipzig zurückgeht. Die Monografie kann als ein Ertrag der auch in der Erziehungswissenschaft und Pädagogik in den letzten Jahren produktiven Auseinandersetzung mit den Grundbegriffen dieser Disziplin verstanden werden. Die Studie – eine Genealogie des Leistungsmotivs in der Pädagogik – wendet sich der Zeit um 1900 zu, um über die Figur des Potentials und der Potentialität die Bedingungen der Pädagogik in der Gegenwart zu untersuchen. Ziel dieser Diskursanalyse ist die »Herausarbeitung von Elementen einer pädagogisch strukturierten ‚Menschenregierungskunst‘“ (S. 22). Die Analyse und die Quellenauswahl beanspruchen dabei keineswegs systematischen, sondern »exemplarischen Charakter“ (S. 21), der es aber erlaube, die Regelhaftigkeit des Diskursfeldes des Potentials zu erfassen. »Potential“ ist bei Heßdörfer Analysebegriff, unter dem er Signifikanten wie Begabung, Talent oder Anlage subsumiert. Die Arbeit selbst besteht aus einem umfangreichen systematisierenden Überblick (S. 17–76), gefolgt von fünf Detailstudien. Diese Tiefenbohrungen stellen, vom ersten Kapitel abgesehen, Überarbeitungen bereits publizierter Aufsätze dar.

Fünf Elemente sind für Heßdörfer konstitutiv für den »Geist der Potentiale“ um 1900: Zunächst der Siegeszug psychologischer und pädagogischer Prüfungstechniken und die damit verbundene Suche nach dem Eigentlichen des Subjekts. Damit eng verknüpft identifiziert Heßdörfer zweitens ein biopolitisches Subjektivierungsregime, in dem Individuum und Gemeinschaft, »individuelle[] Entfaltung und kollektive[] Produktivität“ (S. 52) zusammenfallen. Darüber habe, drittens, die Ökonomie Einzug in das Feld der Pädagogik erhalten. Vorstellungen der Marktförmigkeit und Nutzbarkeit des Potentials seien zum Ideal avanciert. Das für die Pädagogik konstitutive Dilemma von Freiheit und Zwang ließ sich, nach Heßdörfer, dadurch auflösen, dass der »Einzelne zum Maßstab seiner selbst“ (S. 57) erhoben wurde. Viertens habe die Pädagogik über den Geist der Potentiale neue Strategien des Zugangs zum Individuum entwickelt: die Beratung und das Spiel. In beiden Fällen bildete ein idealisierter Begriff der Arbeit den Fluchtpunkt. Zuletzt habe sich durch die Figur der Potentialität einen der Grundbegriffe der Pädagogik – die Gleichheit – rekonfiguriert: Das Denken in Begriffen des Potentials habe ermöglicht, bei Annahme einer »abstrakte[n] Gleichheit“ (S. 70) des Menschen von der konkreten Ungleichheit der Individuen auszugehen.

Die folgenden Tiefenbohrungen entwickeln diese Achsen anhand von Detailstudien, die sich vornehmlich auf einzelne Autorinnen und Autoren der Vor- und Zwischenkriegszeit konzentrieren. In den Fokus treten bekannte und weniger bekannte Personen aus Pädagogik und Psychologie wie Ellen Key (Kap. 1), Theodor Litt (Kap. 2), Wilhelm Hartnacke (Kap. 3), Hermann Ebbinghaus, Berthold Hartmann und Hugo Münsterberg (Kap. 4). Heßdörfer geht es natürlich nicht um diese Autorinnen und Autoren selbst, sondern um die in ihren Texten geronnenen Regelmäßigkeiten des sich um die Figur der Potentialität herausbildenden Aussagenfeldes. Insbesondere die Schnittmengen zwischen dem Pädagogischen und dem Ökonomischen, die Heßdörfer am Beispiel von Theodor Litts »›Gesamtökonomie der geistigen Kraft eines Volkes‹« (S. 111) herausarbeitet, und die darin deutliche Nähe zum Rationalisierungsdiskurs der 1920er-Jahre verdienen eine stärkere geschichtswissenschaftliche Berücksichtigung. Das Potenzial einer Annäherung von Arbeits- und Bildungsgeschichte jenseits einer Verordnungsgeschichte der Berufsbildung lässt sich fasst über die gesamte Arbeit Heßdörfers ausmachen.

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive bleiben trotz aller Schnittmengen auf der Ebenen des Kontexts Fragen offen. Der von Heßdörfer als »einige Jahrzehnte um 1900 herum« (S. 11) ausgewiesene Untersuchungszeitraum korrespondiert natürlich insbesondere für die deutsche Geschichte mit Umbrüchen, die Krisendiagnosen und entsprechenden Rationalisierungs-, Heils- und Wiederaufstiegsdiagnosen Vorschub leisteten. Da sich der Autor vornehmlich auf die deutschsprachige Pädagogik konzentriert, bleibt ungeklärt, inwieweit es sich hierbei um ein transnationales Phänomen handelte und inwieweit Vorstellungen des Nationalen – auf die Nation als omnipräsenten Fluchtpunkt der Potentialitätsfigur verweist Heßdörfer wiederholt (zum Beispiel S. 56 oder 147–156) – auf die Ausformung des Potentialitätsdiskurses zurückwirkten. Darüber hinaus arbeitet Heßdörfer zwar überzeugend eine Genealogie der Pädagogik der Gegenwart über die Jahrhundertwende hinaus. Wie sich die 1970er-Jahre, das Paradigma der Kompetenz und der Siegeszug des lebenslangen Lernens in den Brückenschlag von 1900 in die Gegenwart einordnen lassen, wird, trotz eines abschließenden Überblicks (S. 197–210), aber nur kursorisch ausgeleuchtet. Durch die Anlage seiner Studie relativiert Heßdörfer die Bedeutung dieser Zäsur; gibt sie aber dennoch nicht auf, indem er etwa den Abschied von Wesenssemantiken und den Übergang zu einer »Situation einer permanenten Versuchsanordnung« (S. 207) als Signum der 1970er-Jahre ausmacht.

Interdisziplinarität bleibt also trotz identischer Interessen ein zweischneidiges Schwert. Einerseits stellt Heßdörfers Analyse exponierter pädagogischer Texte eine beeindruckende Systematisierungsleistung dar. Andererseits deckt sich diese Brillanz auf synchroner Ebene nur teilweise mit den Interessen der Geschichtswissenschaft, die sich vor allem auf die Diachronie und die Froschperspektive jenseits der Höhenkammliteratur konzentriert. Das interdisziplinäre Potenzial liegt genau an der Kreuzung dieser beiden Blickrichtungen: den gereinigten und systematisierten Diskurs, den Heßdörfer pointiert ausbreitet, durch die Heterogenität, Ambivalenz und die Ungleichzeitigkeit der Geschichte wiederum zu veruneindeutigen. Sowohl die Frage nach den Verästelungen des von Heßdörfer skizzierten Diskurses in Institutionen und Organisationen als auch nach der Praxis des Diskurses selbst, nach der Materialität, der Entstehung, der Kontingenzen und dem, was diese kanonischen Texte verbergen, bleiben am Ende in weiteren Untersuchungen zu erörtern.

Jan Kellershohn, Halle an der Saale

Walter Mühlhausen, Hessen in der Weimarer Republik. Politische Geschichte 1918–1933

Waldemar Kramer | Wiesbaden 2021 | 279 Seiten, gebunden | 20,00 € | ISBN 978-3-7374-0490-7

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Bereits im Rahmen seiner Dissertation hat Walter Mühlhausen eine Gesamtdarstellung der politischen Geschichte Hessens in den Jahren 1945–1950 erarbeitet. Nunmehr legt er einen ebenso fundierten Überblick zur Geschichte Hessens in der Weimarer Republik vor. Das heutige Bundesland Hessen bildete damals kein einheitliches Gebilde, sondern unterteilte sich in den Volksstaat Hessen, der 1918 an die Stelle des Großherzogtums Hessen-Darmstadt getreten war. Das ehemalige Herzogtum Nassau, das frühere Kurfürstentum Hessen und die ehemalige Freie Stadt Frankfurt bildeten seit 1866 die preußische Provinz Kurhessen-Nassau, außerdem gehörte der Kreis Wetzlar bis 1932 zur preußischen Rheinprovinz. Das vormalige Fürstentum Waldeck stand bereits seit längerem unter preußischer Verwaltung und wurde 1929 ebenfalls Teil der Provinz Kurhessen-Nassau.

In allen Teilen Hessens verlief der Umbruch von 1918/1919 weitgehend ohne Blutvergießen und somit ruhiger als auf Reichsebene. Anschaulich arbeitet Mühlhausen heraus, dass im Volksstaat Hessen eine Räterepublik niemals ein Thema war. Vielmehr kam es in Darmstadt wie auch in den Nachbarländern Baden und Württemberg schon im November 1918 faktisch zur Bildung einer Koalitionsregierung aus Sozialdemokratie, Zentrum und Linksliberalen. Diese Regierung hat, wie Mühlhausen betont, große Verdienste erbracht. In der schwierigen Umbruchphase am Ende des Ersten Weltkriegs gelang es, die Demobilisation des Heeres zu meistern, die Soldaten wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren, die Wirtschaft auf Friedensproduktion umzustellen und eine drohende Hungerkatastrophe zu vermeiden.

Politisch standen der Volksstaat Hessen wie auch Preußen für Stabilität. In beiden Ländern regierte langfristig eine Weimarer Koalition, in Preußen zeitweilig eine große Koalition, beide Regierungen verfügten dabei bis 1931/1932 über stabile parlamentarische Mehrheiten. Auch hier vergleicht Mühlhausen die Situation mit der in anderen Ländern. So wurde beispielsweise in Darmstadt nie wie in Thüringen oder Sachsen eine Volksfrontregierung gebildet, noch kam es wie in Thüringen vor 1933 zur Einbeziehung der Nationalsozialisten in die Regierung.

Gemeinsam hatten die Gebiete des heutigen Hessen jedoch nicht nur eine gewisse politische Stabilität, sondern auch die Last der Besatzung. So war das linksrheinische Gebiet des Volksstaats Hessen vollständig von französischen Truppen besetzt. Außerdem hatten die Franzosen um Koblenz und Mainz herum Brückenköpfe mit einem Radius von 30 km gebildet. Natürlich bildete die Besatzung eine schwere Belastung für die junge Demokratie. Eingehend schildert Mühlhausen die Auseinandersetzung mit der Besatzungsmacht und damit verbunden die wiederholten Ausweisungen deutscher Politiker aus dem besetzten Gebiet wie auch die katastrophalen Folgen für Wirtschaft und Finanzen.

Trotz dieser Hypothek war, so Mühlhausen, die Weimarer Republik »keine ›Republik ohne Republikaner‹« (S. 3). In diesem Sinne weist er darauf hin, dass sich zum Beispiel im Mai 1923 mehrere zehntausend Menschen auf dem Frankfurter Römerberg einfanden, um der 75. Wiederkehr der Zusammenkunft der Paulskirche zu gedenken. Auch stellt Mühlhausen einzelne Persönlichkeiten vor, die sich für Demokratie und soziale Reformen eingesetzt haben. Zu diesen gehörte der Wetzlarer Unternehmer Ernst Leitz II. (Leica). Er setzte das soziale Engagement seines Vaters fort, beginnend ab 1885 hatte der Betrieb ein umfassendes Sozialversicherungswesen für seine Arbeitnehmer geschaffen, schon 1906 kam es zur Einführung des Achtstundentags. Während der Weimarer Zeit war Leitz für die DDP Mitglied in Kreis- und Gemeindevertretungen, genauso wie er das örtliche Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in Wetzlar unterstützte. Unterstützung erhielten von ihm ebenfalls in der NS-Zeit auch Verfolgte des Regimes, jedoch hat auch er während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter beschäftigt.

Den mutigen Vorkämpfern für die Demokratie standen jedoch auch nationalkonservative Gegner gegenüber. Diese fanden sich unter anderem an den Universitäten, in der Verwaltung, aber auch in der Industrie, wo Ernst Leitz II. eher eine Ausnahme bildete. Genauso stand die protestantische Kirche der Demokratie in großen Teilen ablehnend gegenüber. Mühlhausen verweist hier auf den hessischen Kirchenpräsidenten Wilhelm Diehl, der zugleich als Mitglied der DNVP dem Darmstädter Landtag angehörte und für den »der 9. November 1918 das größte ›Verbrechen, das jemals am Deutschen Volke vollbracht worden‹ sei« (S. 137f.), darstellte. Damit verweist Mühlhausen auf eines der gängigsten Argumentationsmuster der antidemokratischen Rechten: die so genannte Dolchstoßlüge, gemäß der das kaiserliche Heer im Felde unbesiegt gewesen sei und es nur durch die Revolution zur Niederlage im Krieg gekommen sei, wobei vor allem Sozialdemokraten, Juden und Katholiken zu Schuldigen gestempelt wurden.

Angesichts der unverdauten Niederlage hatte die Dolchstoßlüge Konjunktur, vor allem als 1925 mit Paul von Hindenburg ein Mann Reichspräsident wurde, der diese wesentlich geprägt hatte. Gleichwohl wählten in der Mitte der 1920er-Jahre, einer Phase relativer Stabilität, die Menschen im Gebiet des heutigen Bundeslands Hessen noch mit deutlicher Mehrheit die Parteien der Weimarer Koalition. Erst im Gefolge der Weltwirtschaftskrise kam es zum Aufstieg der NSDAP. Immerhin waren am Beginn der 1930er-Jahre Landesregierungen der Weimarer Koalition in Berlin wie auch in Darmstadt weiterhin geschäftsführend im Amt. Denn die Nationalsozialisten hatten zwar massive Stimmengewinne verbuchen können, jedoch die absolute Mehrheit verfehlt, sodass sie keine neue Staatsregierung wählen konnte. Auch die geschäftsführenden Landesregierungen »bekämpften aktiv Bestrebungen der Antidemokraten, verboten deren Versammlungen, Organisationen und Publikationsorgane« (S. 225). Die endgültige Zerstörung der Demokratie auch in den Ländern erfolgte schließlich von Gegnern der Weimarer Demokratie auf Reichsebene: Durch den Preußenschlag Franz von Papens wurde nicht nur die Weimarer Koalition in Preußen entmachtet, auch in der Verwaltung der Provinz Kurhessen-Nassau wurden engagierte Demokraten entlassen. Zugleich schuf der Preußenschlag das Vorbild für das Vorgehen der Nationalsozialisten gegen die demokratischen Landesregierungen im Frühjahr 1933.

Auf symbolischer Ebene zerstörten die Nationalsozialisten die Demokratie unter anderem dadurch, indem sie noch 1933 ein seit 1926 bestehendes Denkmal von Reichspräsident Friedrich Ebert an der Paulskirche entfernten. Ein neues Denkmal für Ebert wurde 1950 in Anwesenheit des zweiten hessischen Ministerpräsidenten der Nachkriegszeit, Christian Stock, wieder aufgestellt. Der Sozialdemokrat Stock hatte bereits in der Weimarer Zeit der Nationalversammlung angehört. Er hatte somit »in der ersten Republik zu den Verteidigern der Demokratie gehört« (S. 229), die sich nach »der Erfahrung vom Scheitern der ersten Republik« erfolgreich dafür eingesetzt haben, »die zweite (Republik) wehrhafter, krisenfester (zu) machen« (ebd.).

Mühlhausen legt eine überaus kompetent und zugleich leicht verständlich geschriebene politische Geschichte Hessens während der Weimarer Zeit vor, wobei er jedoch auch auf kulturhistorische Aspekte wie die Rolle der Frau eingeht und ebenfalls nicht vergisst, auch immer wieder einen Blick auf die Entwicklung in einzelnen Kommunen zu werfen.

Michael Kitzing, Singen am Hohentwiel

Hannes Androsch/Heinz Fischer/Wolfgang Maderthaner (Hrsg.), Vorwärts! Österreichische Sozialdemokratie seit 1889 | Werner Michael Schwarz/Georg Spitaler/Elke Wikidal (Hrsg.), Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis

Christian Brandstätter Verlag | Wien 2020 | 400 Seiten, gebunden | 48,00 € | ISBN 978-3-7106-0424-9

Birkhäuser Verlag | Basel 2019 | 472 Seiten, gebunden | 39,00 € | ISBN 978-3-0356-1957-7

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Die Politik der sozialen Demokratie in Österreich – hier verstanden sowohl als Parteiorganisation als auch als gesellschaftliche Bewegung im weiteren Sinne – steht im Mittelpunkt zweier von Umfang und Inhalt her ausgesprochen gewichtiger Bände.  

Die zeitlich größte Spanne deckt dabei der von Hannes Androsch, Heinz Fischer und Wolfgang Maderthaner herausgegebene Band »Österreichische Sozialdemokratie seit 1889« ab, der sich auf 400 Seiten im Katalogformat maßgeblichen programmatischen und politischen Wegmarken der Parteientwicklung von Beginn an  widmet. Die Darstellung der Beiträge ist getragen von Sympathie und Respekt für die Leistungen und Akteure der Sozialdemokratie – vermutlich auch, weil bei nahezu allen Autorinnen und Autoren ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Bewegung vorhanden ist. Dennoch handelt es sich nicht um eine Jubelschrift, die einzelnen Texte sind durchweg sachlich fundiert und differenziert begründet. Eingeteilt ist die Darstellung in acht nach Zeitepochen gegliederte Kapitel, die von einigen Exkursen – unter anderem zu den Themen »Staat«, »Judentum«, »Frauenpolitik« und »Europa« – unterbrochen werden. Besonders lesenswert ist hier der Exkurs zur »kulturellen Moderne« im Kontext des »roten Wiens« und Österreichs der 1920er-Jahre. Geboten werden pointierte Schlaglichter und Skizzen zu längeren Entwicklungslinien, eher am Rande kommen Personalentscheidungen sowie interne Auseinandersetzungen vor, sodass sich der Sammelband letztlich gut als ein (sehr) ausführlicher und reich bebilderter Essay zur Parteigeschichte lesen lässt. 

Am Ausgang der Sozialdemokratie ab Mitte der 1880er-Jahre habe eine Koalition »von wenigen radikaldemokratischen, freisinnigen, meist jüdisch-großbürgerlichen Intellektuellen mit Vertretern der ›organischen‹, überwiegend aus dem anarchistischen Handwerkermilieu stammenden Arbeiterintelligenz« gestanden, der es in den folgenden eineinhalb Jahrzehnten gelungen sei, eine reformistisch-demokratische Massenpartei der Arbeiterschaft und damit ein neues Gebilde in der Parteiengeschichte aufzubauen. Mit Blick auf die Bedeutung der Partei bei der Gründung und Entwicklung der ersten österreichischen Republik nach 1918 wird unter anderem das Wirken von Otto Bauer sowie weiterer Austromarxisten herausgestellt und als »offensive Verfassungspolitik« im Sinne einer auf die Macht des Rechts und nicht auf die Mittel der Gewalt gestützten politischen Strategie eingeordnet. Politische Anschlüsse an die rechts- und verfassungspolitischen Überlegungen des Austromarxismus habe es erst in den 1970er-Jahren unter Bruno Kreisky und insbesondere Justizminister Christian Broda wieder gegeben. 

Sehr beeindruckend und zugleich sehr bedrückend gelingt die Schilderung des Schicksals von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Widerstand und in der Verfolgung, beispielsweise der Lebens- und Leidenswege der in Konzentrationslagern ermordeten Käthe Leichter und Robert Danneberg ebenso wie von Rosa Jochmann, die die Lagerhaft überlebte. Differenziert und durchaus kritisch wird zudem der problematische Umgang mit den ins Exil gedrängten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nach 1945 geschildert, etwa am Beispiel des ehemaligen Finanzstadtrats von Wien, Hugo Breitner, der vergeblich auf die ernsthafte Einladung zur Mitarbeit am Wiederaufbau der Partei und des Landes gehofft habe. 

Auch für die Auseinandersetzung mit den zurückliegenden Jahrzehnten bis in die Gegenwart bietet der Band interessante Einblicke. So sei die SPÖ seit der Rückeroberung der Kanzlerschaft durch Alfred Gusenbauer im Jahr 2006 vom »Mythos des richtigen oder falschen Parteivorsitzenden besessen, als liege der Erfolg allein am Führungspersonal. Die Sozialdemokratie ist zu Modernität verurteilt und von Heimweh nach der verlorenen Größe getrieben«. Mitherausgeber Hannes Androsch empfiehlt in Anlehnung an das Motto des Jahres 1968 »Leistung, Aufstieg, Sicherheit«. Die SPÖ müsse eine »Partei des Prinzips Hoffnung« werden, die die technologischen und kommunikativen Revolutionen der letzten und der kommenden Jahrzehnte nicht abwehrt, sondern ihnen eine soziale und humane Dimension abverlange. Es bleibt dabei unklar, ob technologische Entwicklung hier als ein etwas losgelöst von gesellschaftlicher Steuerung eigenmächtiges Phänomen verstanden werden soll – ähnliche der »Sachzwänge« der Jahre des (vermeintlichen) »Dritten Wegs« – oder ob hier darüber hinausgehende Perspektiven entwickelt werden sollen. 

Einen unglaublich profunden Überblick über das »Rote Wien« zwischen 1919 und 1934 bietet der Begleitband zur gleichnamigen Sonderausstellung im Wien Museum in den Jahren 2019 bis 2020. Dabei leistet das Werk weit mehr, als nur etwas tiefer gehende Informationen zu einzelnen Ausstellungsbereichen zu liefern: Letztlich gleicht der mit über 400 Textseiten ebenfalls im Katalogformat sehr voluminöse Band eher einem Handbuch zur Geschichte und Analyse des Roten Wien. In ihrer Einleitung halten die beiden Herausgeber und die Herausgeberin als Leitintention für die aktuelle Befassung »die Interpretation des Roten Wien als ein Projekt der Emanzipation und Teilhabe« fest. Die insgesamt 73 Beiträge verteilen sich auf die Abschnitte »Grundlagen und Voraussetzungen«, »Fürsorge«, »Schulreform und Bildung«, »Architektur, Infrastruktur, Wohnen«, »Kommunikation und Kunst«, »Arbeiterkultur«, sowie »Gewaltsames Ende, Verfolgung und Emigration«. Neben überblicksartigen – und reich bebilderten – Texten zu einzelnen Aspekten finden sich auch reine Bilddokumentationen und Nachdrucke historischer Texte. Hinzu kommen einige moderierte Gespräche zwischen Wissenschaftler*innen und Publizist*innen zu grundsätzlichen Fragen der historischen Einordnung wie auch zu aktuellen Bezügen und Rückgriffen auf das Rote Wien. Eher am Rande gestreift wird die politisch-gesellschaftliche Situation im restlichen Österreich, die ja sowohl für die Sonderstellung wie auch die realen Handlungsbedingungen der Politik der Wiener Sozialdemokratie maßgeblich waren.  

Erkennbar wird in allen Beiträgen der Anspruch einer differenzierten Einordnung – bei einer allseits geteilten grundsätzlichen Sympathie für den Gegenstand der Beschäftigung. So ist die Grundmelodie des Bandes auch nicht die des Scheiterns, sondern die eines bemerkenswerten und nach Anschlussmöglichkeiten auszulotenden Experiments einer am Gemeinsinn orientierten Gestaltung einer Stadt. Einzelne Texte weisen inhaltliche Überlappungen auf, etwa bei den Themen des kommunalen Wohnungsbaus und der von der Stadt als beispielhaft angestoßenen Architektur. Dass ein vollständiger Bruch mit bestehenden Ungleichheitsverhältnissen meist nicht gelang, zeigen etwa die Beiträge zur Finanzierungsstrategie des Roten Wien über Luxussteuern, zur Frauen- und Familienpolitik, zur Situation von Juden und zur Entstehung des Antisemitismus. Im Bereich der Jugendfürsorge wird mit Blick auf den Umgang mit Kindern in der »Kinderübernahmestelle« ein ambivalentes Spannungsverhältnis beschrieben, bei dem sich offensichtlich emotionale Bedürfnisse der Kinder und nüchtern-wissenschaftliches Vorgehen der Einrichtung nur schwer in Einklang bringen ließen. Spannend sind auch die Beiträge zu Schulreform sowie zu den Schulbaukonzepten, die als Verbindung von pädagogischen Konzepten und den dafür angemessenen Räumen gedacht wurden. Im Bereich der Architektur und Stadtplanung nehmen naturgemäß die Gemeindebauten sowie die Gartensiedlungen breiten Raum ein. Hier suchen einige Artikel auch nach internationalen Projekten, die sich das Rote Wien zum Vorbild nahmen, etwa in Großbritannien in den 1930er-Jahren. Im Bereich der Kultur verbindet sich die Darstellung mitunter mit der Geschichte der Sozialdemokratie, etwa wenn es um die grafische Gestaltung der Wahlkampagnen der Zeit geht. Durchaus gemischt fallen die Beiträge zum Verhältnis des Roten Wien zur Kunst aus. Hier gelang es den Einschätzungen im Band zufolge eher nicht, die Idee einer eigenen »Arbeiterkultur« mit dem Anspruch, der Arbeiterschaft den Zugang zur »Hochkultur« zu ermöglichen, zu verbinden – wie etwa in den Beiträgen zum Thema Musik gezeigt wird.  

Nur ganz am Rande wird beschrieben, mit welchen politischen und gesellschaftlichen Gegenströmungen stadtintern und extern sich das Rote Wien auseinanderzusetzen musste. Der Band schließt eindrücklich mit dem Ende des Roten Wien, auch wenn ein eigener Beitrag zu den Februarkämpfen 1934 fehlt. Enthalten ist stattdessen eine Bilderserie aus dem Fotoalbum der sozialdemokratischen Politikerin Gabriele Proft, das ihre persönliche politische und ihre private Geschichte des Jahres einschließlich ihrer Verhaftung und Inhaftierung dokumentiert. Dokumentiert wird auch die Kündigung von Juden aus den Gemeindebauten nach dem Anschluss an das Deutsche Reich ab 1938 – während die Familien teilweise bereits verzweifelt nach einer Möglichkeit suchten, das Land verlassen zu können. Abgeschlossen wird der Band mit einigen Texten und Gespräch mit Nachfahren von Protagonist*innen des Roten Wien, etwa dem Enkel des vormaligen Gesundheitsstadtrats Julius Tandler, dem Sohn von Käthe und Otto Leichter sowie der Enkelin von Helene Bauer.  

Der Band ist eine herausragende Leistung der Herausgeber*innen und Autor*innen, der einen wirklichen Meilenstein bei der Erinnerung und Bearbeitung der Politik des Roten Wien setzt. Er zeigt zudem, an wie vielen Stellen auch aktuelle Anschlüsse möglich wären – hier allerdings verbunden mit einer intensiv zu leistenden Debatte über derzeitige Handlungsbedarfe in Städten und die Verfasstheit von (Stadt-)Gesellschaften und ihren Ansprüchen an politisch-gesellschaftliche Gestaltung (einschließlich der Frage nach dem Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt und gesellschaftlichen Fragmentierungen). 

Beide Bände bieten damit nicht nur vom bloßen Umfang, sondern auch mit Blick auf die Konzentriertheit und Tiefe der inhaltlichen Aufbereitung der jeweiligen Themen ein beeindruckendes Panorama der historischen Entwicklung. Sie zeigen auf, inwieweit sich an Vorstellungen einer sozialen Demokratie orientierende Politikkonzepte verwirklichen lassen – ohne die internen wie externen Begrenztheiten zu ignorieren.

Thilo Scholle, Lünen

Udo Grashoff, Gefahr von innen. Verrat im kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Wallstein Verlag | Göttingen 2021 | 471 Seiten, gebunden | 52,00 € | ISBN 978-3-8353-3950-7

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Untersuchungen über Vertrauensleute (V-Leute) in den NS-Verfolgungsapparaten haben sich zu einem eigenständigen Forschungsfeld entwickelt. Die Gestapo setzte V-Leute gegen beinahe alle Feindgruppen ein. Dass sich die Perspektive der Forschung dabei auf die illegale KPD fokussiert hat, ist sicher mit dem vergleichsweise hohen Bedeutungsgrad des kommunistischen Widerstands erklärbar. Und die bislang vorliegenden Erkenntnisse über das Phänomen sind eindeutig: Ohne die Mitwirkung hunderter V-Leute wäre es der politischen Polizei kaum gelungen, den kommunistischen Widerstand im Zuge der großen Verhaftungswellen in den Jahren 1933 bis 1935/36 derart effektiv zu zerschlagen. 

In seiner aus einer bei der Universität Leipzig eingereichten Habilitationsschrift hervorgegangen Monografie dehnt Udo Grashoff die auf die Agententätigkeit im Dienste der Gestapo enger geführte Forschungsoptik auf einen weiter gefassten, analytischen Verratsbegriff aus, »der sich an der individuellen Handlungslogik orientiert«, die den Bruch eines Treueverhältnisses sowie ein intentionales Agieren voraussetzt. Damit soll »die Verratszone bis in ihre Randbereiche« erfasst werden (S. 14 f.). Mittels Clustertechnik hat Grashoff zahlreiche Einzelfälle in Kategorien gefasst und damit Verrat in den jeweiligen Konstellationen »von situativen Faktoren und individuellen Handlungsdispositionen« ausgeleuchtet (S. 432 f.).  

Das »kommunistische Verrats-Label« wird dabei in sechs Untergruppen unterschieden: 1. »Renegaten«, die entweder zum politischen Gegner, vor allem zur SA oder/und zur NSDAP, überliefen und/oder die sich im Zuge eines expliziten Gesinnungsverrats demonstrativ für die NS-Propaganda dienstbar machten; 2. »Apostaten«, die sich dem Widerstand entzogen, weil sie die Konsequenzen fürchteten oder dessen Sinnhaftigkeit generell infrage stellten, ohne sich indes auf die andere Seite zu schlagen; dazu kamen 3. »Polizeispitzel«, welche die Gestapo meist aus dem kommunistischen Milieu rekrutierte; überwiegend »umgedrehte« Funktionäre, die als Kollaborateure der Staatspolizei ihre früheren Genossen ausspionierten; 4. »Aussagewillige«, die in den Folterverhören Namen ihrer Genossen preisgaben und somit unfreiwillig der Gestapo halfen; 5. »Mischtypen«, welche Spielräume nutzten, ihr Verhalten situativ an die Rahmenbedingungen anpassten und aus der Notlage heraus Konzessionen an die Gestapo machten oder nur zum Schein auf deren Offerten eingingen; 6. »Verdächtige«, die lediglich infolge aufkommender Gerüchte als angebliche »Verräter/innen« markiert wurden (S. 15 f.). 

Anders als die bisherige Forschung suggeriert, spielten Renegaten aus den Spitzengremien der KPD, etwa aus dem Zentralkomitee (ZK), zumindest in der Anfangsphase der NS-Diktatur keine Rolle. Einen höheren Stellenwert hatten Überläufer/innen der unteren Ebene, die sich manchmal aktiv an den Rollkommandos beteiligten, mit denen SA, SS und Stahlhelm die linken Milieus in den Großstädten angingen. Dabei bildet das Überläufertum in NS-Organisationen nur das Finale einer immensen Fluktuation, die schon in der Weimarer Republik an den Rändern der Partei eingesetzt hatte. In Anbetracht der 1933 einsetzenden Massenverfolgung gegen die kommunistische Bewegung, die sich bis zum Ende der NS-Diktatur auf bis zu 150.000 Verhaftete und etwa 20.000 Tote belief, war dies für die KPD nur ein Problem unter vielen: »Überläufer bewirkten eine signifikante, aber in ihren Ausmaßen begrenzte Erosion der Mitgliederbasis der Partei« (S. 82). Insgesamt könnte bis 1934 ein Sechstel der KPD Parteimitglieder zu den Nazis übergewechselt sein. Bei zuletzt 300.000 Mitgliedern dürfte es sich um eine Größendimension von maximal 50.000 handeln (S. 41 f.). 

Der instabilen Basis der KPD stand indes ein gefestigter Parteikern gegenüber, der den strukturellen Fixpunkt in den indifferenten Mitgliedermassen bildete. Allerdings war die Überführung einer zentralistisch geführten Kaderpartei in eine konspirative Widerstandsorganisation schwierig. Fatalerweise waren es jene unteren Funktionsträger/innen, die als Schreibkräfte, Kuriere oder Sicherungspersonal eine marginale Stellung innerhalb der Parteihierarchie einnahmen, andererseits aber strukturelle Schlüsselpositionen besetzten, die sich als Einbruchstellen der Gestapo erwiesen. Da diese »technischen Mitarbeiter« über ein genaues Insiderwissen der inneren Zusammenhänge verfügten, hatte ihre Konversion verheerende Auswirkungen auf die widerständischen Milieukerne (S. 98 u. 118).  

Die auf den Verfolgungsterror unzureichend vorbereitete Führung der illegalen KPD reagierte darauf, indem sie eine Umstrukturierung bei den »Technischen Aufgaben« vornahm. Vorzugsweise blieb dieser Bereich nun den Angehörigen aus dem sicherheitspolitischen »AM-Apparat« vorbehalten, der bereits unter den Bedingungen der Legalität mit der Spitzelabwehr betraut war. Für die Gestapo war es meist ein langwieriges Unterfangen, diese altgedienten Kader durch Foltererpressung zum Reden zu bringen und anschließend als V-Leute einzuspannen. Wenn bewährte kommunistische Funktionäre jedoch »umgedreht« und dann bis in die Leitungsebenen der Widerstandsnetzwerke vordrangen, wirkten sie wie ein Einfallstor für eine sich kaskadenartig fortsetzende Verfolgungsdynamik. Mit den Angehörigen des KPD-Nachrichtendienstes als V-Leute gelangte die Gestapo an das erforderliche Detailwissen, um der illegalen KPD mittels größerer Verhaftungsaktionen vernichtende Schläge zu versetzen (S. 120). 

Als Erklärung für den Fakt, dass gerade Angehörige des KPD-Nachrichtendienstes zu Verrätern ihrer eigenen Sache wurden, führt der Autor drei Faktoren an: Der Zugriff der Gestapo, die diese Zielgruppe wegen ihrer klandestinen Eignung besonders intensiv »bearbeitete«, der Grad der ideologischen Schulung, wobei sich die weltanschaulich gefestigten Absolventen meist resistenter gegen ihre Zwangsrekrutierung erwiesen. Für einen Seitenwechsel waren drittens dazu noch bestimmte Charaktereigenschaften förderlich. Persönlichkeiten mit »Abenteurer-Mentalität«, die dubiosen Agentenpraktiken zuneigten, ließen sich nicht nur leichter für eine Spitzeltätigkeit gewinnen, sondern legten dabei manchmal außergewöhnlichen Eifer an den Tag (S. 159 ff.).  

Bei ihrem V-Leute-Einsatz konnte die Gestapo einerseits an das bereits vorhandene Erfahrungswissen der Politischen Polizei der Weimarer Republik anknüpfen, andererseits durchlief sie im Zuge ihrer Entwicklung einen Professionalisierungsprozess. Neu daran waren die Ansätze eines zentralisierten »Vertrauensmännersystems«, das die Informationsgewinnung des Gestapa seit 1935/36 reichsweit intensivierte. Der Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, bezeichnete die V-Männer folglich als »die eigentlichen Träger des Kampfes gegen die marxistischen Organisationen« (S. 163). Mittels ihres gestaffelten V-Leute-Einsatzes gelang der Gestapo die Infiltration einiger Bezirksleitungen der illegalen KPD und sogar deren Steuerung. In Breslau, München oder Wien etwa wurde der Widerstand auf diese Weise solange ausgehöhlt, bis er zur Farce mutierte (S. 164 u. 198 f.). Andernorts, so etwa in Chemnitz, erlebte die Stapo dagegen herbe Rückschläge. Nach Kriegsbeginn war die Gestapo praktisch außerstande, ihre Spitzel in die weiter verzweigten Netzwerke von Großstädten in die Leitungspositionen zu platzieren. Selbst wenn sie auf ihrer Jagd nach »Edelwild«, so der zynische NS-Jargon, Erfolge verbuchte, stieß sie zuweilen auf »hartgesottene Kommunisten […], die alle Vorwürfe abstritten« und eine »todesmutige Standhaftigkeit« bewiesen (S. 212).  

Nach den rigiden Normen der KPD stand beinahe jedes über die kategorische Aussageverweigerung hinausgehende Verhalten unter dem Verdikt des Verrats, was zumeist die Verstoßung aus der Partei nach sich zog – ungeachtet des Umstands, dass der Kapitulation in den Verhören fast immer eine brutale physische und psychische Gewaltausübung vorausgegangen war. Um dem Schicksal eines Verräters an den Genossen zu entgehen, verübten viele Kommunisten Suizid. Andere verfielen auf Ausweichstrategien, bei denen »Schwankungen, Ausweichbewegungen, Taktik, Opportunismus und Kollaboration […] oft eine schwer zu durchschauende Melange [bilden]« (S. 237). In der Zwickmühle machten die Verhafteten zunächst oft widerwillig Konzessionen an ihre Peiniger, bekamen später jedoch Skrupel. Temporäre Handlungsspielräume nutzten sie dazu, um der Gestapo substanzlose Informationen zu liefern. In einigen Fällen gelang es den Betroffenen tatsächlich, ihre Verfolger auszumanövrieren. Nach Schätzungen des Reichssicherhauptamts waren mindestens 30 Prozent aller V-Leute nicht verlässlich. Daneben gab es aber auch Verräter/innen aus Überzeugung, bei denen es zur Herbeiführung eines Gesinnungswandels keiner Gewalt bedurfte. Wenn die Staatspolizei auf eine sukzessive »Zerstörung der subjektiven Sinnstruktur« (Klaus-Michael Mallmann) derjenigen abzielte, die ihr in die Fänge gerieten, bot sie ihren Konfidenten gleichzeitig eine neue Identität an, mit der sich entleerte Ideale kompensieren ließen. Erleichtert wurde die Ablösung des Loyalitätsverhältnisses, wenn die Bindungen an die KPD bereits durch interne Konflikte erschüttert waren.  

Im Umgang mit Verrätern setzte die illegale KPD die schon vor 1933 praktizierten Methoden der Spitzelabwehr fort. Im zeitlichen Abstand gab der sicherheitspolitische AM-Apparat Spitzelwarnlisten heraus, die nach der »Schrotflintenmethode« zwar eine beträchtliche Anzahl von Treffern aufwies, aufgrund unbewiesener Verdachtsmomente aber öfters über das Ziel hinausschoss. Insofern bekamen die »zerstörerische Wirkung des Verdachts […] zahlreiche Kommunisten im Widerstand zu spüren« (S. 381). Nach den strikten Normen des Parteireglements blieb den Verhafteten letztlich nur der Suizid als Ausweg. Der Autor hebt hervor, dass die »Unerbittlichkeit in der Handhabung des Verratsbegriffes durch die illegale KPD […] jedoch nicht mit Beliebigkeit oder Paranoia verwechselt werden [darf]« (S. 381 u. 437) oder gar einem Auswuchs des stalinistischen Terrors in der UdSSR gleichkam, wo jedwede Abweichung von der Parteilinie inflationär als Verrat stigmatisiert wurde. Die Spitzelgefahr in Deutschland war rational begründet und deren Abwehr eine Reaktion auf eine unmittelbare Existenzbedrohung. Wenn im Widerstand gelegentlich Gewaltakte gegen überführte Spitzel vorkamen, geschahen diese fast nie aus Tötungsabsicht: »Fememorde gehörten generell nicht zum Repertoire der illegalen KPD« (S. 417).  

Die Frage, ob das Überlaufen zu den NS-Organisationen in der Durchsetzungsphase des Regimes 1933/34 gar als »empirischer Test der Reichweite der Totalitarismustheorie dienen« kann, verneint der Autor. In Anbetracht des Umstands, dass Übertritte in der Regel nicht aus freier Meinungsbildung resultierten, sondern in Zwangslagen erfolgten, kann »die These einer durch innere Wesensverwandtschaft bedingten Konvertibilität von Links- und Rechtsextremismus […] für das gesamte Verratsgeschehen keine Gültigkeit beanspruchen« (S. 434). Ebenso wenig lassen sich seine Befunde als Gegenthese zur Heldenerzählung in der DDR heranziehen, um die Geschichte der KPD quasi als eine von Verrätern darzustellen. Ungeachtet mancher Beispiele von Schwäche, Tragik und Niedertracht im kommunistischen Milieu warnt der Autor vor einer »Überbetonung der Verratsproblematik«. Über deren Bedeutungsgrad für den kommunistischen Widerstand kommt der Autor daher zu einer paradox anmutenden Einschätzung: In funktionaler Hinsicht stellte Verrat für die illegale KPD zwar ein signifikantes, existenzbedrohendes Problem dar, war aber trotz seiner verheerenden Auswirkungen zugleich ein peripheres Phänomen (S. 162 u. 433 f.).  

Auf einem zweifellos kontaminierten Terrain hat der Autor alle erdenklichen Fallstricke vermieden, indem er, statt vorschnell zu (ver)urteilen, stets abwägend analysiert. Sein Werk dürfte einen bleibenden Wert für die Historiografie behalten.

Hartmut Rübner, Berlin

Sammelrezension: Das Jahr 1943 in Italien als Zäsur in Selbstzeugnissen und Erinnerungskultur

Norman Lewis, Neapel ’44. Ein Nachrichtenoffizier im italienischen Labyrinth

Folio Verlag | Wien/Bozen 2016 | 238 Seiten, gebunden | 22,90 € | ISBN 978-3-85256-687-0

Luciana Castellina, Die Entdeckung der Welt

Laika Verlag | Hamburg 2016 | 192 Seiten, kartoniert | 21,00 € | ISBN 978-3-944233-64-2

Giacomo Notari, Ihr Partisanen, nehmt mich mit Euch. Ein Bericht aus der Resistenza

PapyRossa Verlag | Köln 2018 | 159 Seiten, kartoniert | 12,00 € | ISBN 978-3-89438-583-5

Adelmo Cervi, Meine 7 Väter. Als Partisan gegen Hitler und Mussolini

Mandelbaum Verlag | Wien 2016 | 421 Seiten, Broschur | 19,90 € | ISBN 978-3-85476-652-0

Enrico Loewenthal, Hände hoch, bitte! Erinnerungen des Partisanen Ico

Hentrich & Hentrich Verlag | Berlin 2014 | 206 Seiten, gebunden | 22,00 € | ISBN 978-3-95565-060-5

Paolo Emilio Petrillo, Der Riss 1915–1943. Die ungelösten Verflechtungen zwischen Italien und Deutschland

Drava Verlag | Klagenfurt 2016 | 358 Seiten, kartoniert | 19,80 € | ISBN 978-3-85435-808-4

Wolfgang Storch/Klaudia Ruschkowski (Hrsg.), Deutschland – Italien. Aufbruch aus Diktatur und Krieg

Sandstein Verlag | Dresden 2013 | 396 Seiten, kartoniert | 48,00 € | ISBN 978-3-95498-018-5

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In der italienischen Erinnerung nimmt das Jahr 1943 als zeitgeschichtliche Zäsur vielfach einen wichtigeren Rang ein als das Kriegsende 1945. Mit der Absetzung Benito Mussolinis als Regierungschef am 25. Juli 1943 endete der ventennio, die gut 20-jährige faschistische Herrschaft, was zu verbreiteten Jubelkundgebungen in der Bevölkerung führte, und mit der Bekanntgabe des Waffenstillstandes zwischen dem Königreich Italien und den westalliierten Kriegsgegnern am 8. September 1943 und der gleichzeitigen Landung US-amerikanischer und britischer Truppen im Süden der Apenninenhalbinsel eröffnete sich die Perspektive einer freiheitlich-demokratischen Entwicklung des Landes. Währenddessen entpuppte sich mit dem Einmarsch von Wehrmachtverbänden, die sich schon Monate zuvor geschwürartig auf dem Territorium des Partners im »Achsen«-Bündnis auszubreiten begonnen hatten, seit diesem 8. September das Deutsche Reich als der neue und eigentliche Feind aller anti- und nichtfaschistischen Kräfte Italiens, während die spätfaschistische »Repubblica Sociale Italiana« gewiss noch erhebliches Unheil anzurichten vermochte, letztlich aber im Schatten der nationalsozialistischen Besatzungsorgane agierte und deren Existenz kaum zu überleben imstande sein würde. Es entwickelte sich landesweit eine multiple, unübersichtliche Konfliktlage, in der alliierte gegen deutsche Armeen um den Besitz Italiens kämpften, deutsche Besatzungstruppen und Verfolgungsorgane im Vorgehen gegen Aufständische, Partisanen und regionale Befreiungskomitees mitunter mit brutalsten Mitteln ihre Ziele verfolgten, und linke und republikanische Freiheitskämpfer in kaum weniger brutal ausgetragenen bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen mit radikalfaschistischen Milizen um die Zukunft Italiens rangen, während in dem Gebiet unter alliierter Militärherrschaft erste politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Weichenstellungen für diese Zukunft im Wettbewerb wieder erstehender pluralistischer Parteien erfolgten. Für viele Italiener brachten die Monate zwischen Sommer 1943 und Frühjahr 1945 neue Hoffnungen und erneute Enttäuschungen mit sich, für Millionen von ihnen noch einmal extremes Leid und Entbehrungen. Die Soldaten des sich auflösenden italienischen Heeres desertierten, verschwanden per Osmose in der Gesellschaft, versteckten sich oder suchten Schutz bei den alliierten Verbänden; von ihren ehemaligen deutschen Verbündeten drohte ihnen zu Tausenden kaltblütiger Mord und zu Hunderttausenden die Verschleppung als Militärinternierte ins Reich, um dort als Zwangsarbeiter unter üblen Bedingungen in Lagern untergebracht zu werden. Die Zivilbevölkerung, auch dort, wo sie nicht direkt in den verschiedenen Kampfzonen ansässig war und nicht Partei ergriff, litt unter Hunger und Desorganisation, Mangel an allem und der potentiellen Bedrohung durch Besatzungs- und Kampfverbände aller Art. Für politisch oder als Juden verfolgte Menschen erschien der 25. Juli 1943 zunächst als Lichtblick, bevor mit dem Hereinbrechen der deutschen Herrschaft die Situation für sie noch einmal nachhaltig gefährlich wurde, und zwar jetzt lebensgefährlich.

Diese kurze Phase italienischer Zeitgeschichte wird durch einige Selbstzeugnisse ganz unterschiedlicher Art beleuchtet, die im Berichtszeitraum[1] in deutscher Übersetzung von kleineren Verlagen publiziert wurden. Sie seien im Folgenden kurz annotiert und auf die Frage hin überprüft, inwiefern sie für die wissenschaftliche Forschung von Relevanz sind. Norman Lewis (1908–2003), der nach dem Krieg als Roman- und Reiseschriftsteller bekannt werden sollte, betrat mit seiner Einheit just am 8. September 1943 als Unteroffizier des »Field Security Service«, eines militärischen Nachrichtendienstes der britischen Armee, im Rahmen der alliierten Landung bei Paestum italienischen Boden und versah daraufhin gut ein Jahr lang seinen Dienst als Besatzungssoldat in der Stadt Neapel und ihrem Umland. Seine als Tagebuch deklarierten Aufzeichnungen bieten offenkundig eine nachträgliche, literarisch sorgfältig aufbereitete Darstellung seiner dortigen Erlebnisse und Beobachtungen. Sie liegen in einer deutschsprachigen Neuausgabe vor. Lewis schildert den Übergang von direkten Kriegshandlungen zu einer Situation, in der sich durch das allmähliche Vorrücken der alliierten Front nach Norden das Ende der Kämpfe vor Ort abzeichnete, wenngleich Neapel weiterhin zum Ziel schwerer deutscher Bombenangriffe wurde, deren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung der Verfasser ebenso drastisch schildert und als völlig sinnlos verurteilt wie die ständigen verheerenden US-amerikanischen Bombardements selbst kleinerer italienischer Orte, die häufig keinerlei militärischen Nutzen erbrachten. Von Bedeutung im Hinblick auf die interalliierte Zusammenarbeit in Italien erscheinen Lewis’ Hinweise auf ein vielfach verständnisloses Nebeneinander britischer, US-amerikanischer und kanadischer Kampf- und Besatzungseinheiten und auf gegenseitige Ressentiments, auch auf Kriegsverbrechen und Vergewaltigungen im besetzten Hinterland (bemerkenswert ist auch hier der Hinweis auf das einschlägige Verhalten französischer Kolonialtruppen aus Nordafrika auf S. 165f.). Den Hauptinhalt des Buches bilden die Zustände im soeben vom Faschismus befreiten Kampanien: Der grassierende Hunger, der offenkundig bereits in den letzten zwei Jahren der faschistischen Herrschaft zum Hauptübel für die Bevölkerung geworden war und der auch in den ersten Monaten der alliierten Besetzung nicht wirksam bekämpft werden konnte, der vollständige Mangel an Arbeitsmöglichkeiten und die nicht zuletzt daraus resultierende weitverbreitete Prostitution, der Schwarzmarkt, auf dem vor allem aus den reichen Beständen der Besatzungsmächte alles zu haben war, die Korruption, in die wiederum auch Instanzen der US-amerikanischen Militärregierung bis in hohe Ränge verwickelt waren, die auch für die Re-Installation von mafiösen Strukturen im Umland von Neapel verantwortlich zeichneten – Italo-Amerikaner und Remigranten spielten dabei ebenso eine Rolle wie unter dem Faschismus aus dem Verkehr gezogene und nun entlassene ehemalige Strafgefangene –, die für Außenstehende letztlich undurchschaubar und unverständlich bleibende Gemengelage von Camorra, vagabundierenden Verbrecherbanden, korrupten Verwaltungen und Polizeiorganen, letztlich auch unfähiger und selbst nicht von Korruption unberührter Militärjustiz. Norman Lewis hält die alliierte Militärregierung in Kampanien schließlich für vollkommen korrupt und im Grunde gescheitert angesichts einer Gesellschaft, die Lewis mit einem afrikanischen Stammessystem vergleicht (der Verfasser präsentiert sich nicht frei von biologistischen und tendenziell rassistischen Ressentiments; er beschreibt gerne »wieselgesichtige« oder »hyänengesichtige« Menschen oder solche mit einem »schrumpeligen kleinen Affengesicht« (S. 111, 153, 112) und argumentiert mitunter in einer Weise, die der heutige Leser nicht für politisch korrekt halten wird). Es entsteht das Bild einer archaischen Gesellschaft, die sich durch äußere Einflüsse kaum verändern lässt, ähnlich wie in Carlo Levis autobiografisch fundiertem Roman »Cristo si è fermato a Eboli« (Christus kam nur bis Eboli). Wenn ein authentisches Tagebuch von Norman Lewis als Grundlage seiner Darstellung existiert, dann würde eine wissenschaftliche Edition nützlich sein – in der vorliegenden Form ist sein Buch als Quelle für die zeitgeschichtliche Forschung nur sehr bedingt brauchbar, indem es nachträglich reflektierte Impressionen liefert.

Das gilt erst recht für die autobiografische Darstellung von Luciana Castellina (geb. 1929) über ihre Jugend zwischen bürgerlichen und faschistischen Erziehungseinflüssen und einer anfänglich ziellosen, dann immer konsequenter verlaufenden Hinwendung zum Parteikommunismus in den Jahren von 1943 bis 1947. Die Idee zu dem Buch kam der Verfasserin, die inzwischen eine lange Karriere als kommunistische Politikerin und Journalistin hinter sich hatte, im Alter von gut 80 Jahren, als sie das Tagebuch wiederfand, das sie vom 26. Juli 1943 bis zu ihrem Eintritt in den »Partito Comunista Italiano« (PCI) im Herbst 1947 geführt hatte. Daraus werden verstreute Zitate wiedergegeben, darüber hinaus auch unsystematisch einige längere Passagen: Aus ihnen wird ersichtlich, dass eine Gesamtpublikation dieser pubertären Aufzeichnungen keinen Gewinn für die Zeitgeschichtsforschung bedeuten würde, da sie weitgehend inhaltsleer sind und im wesentlichen »nur Informationen aus zweiter Hand, von älteren Schulkameraden« wiedergeben (S. 105). Das weiß Castellina, und deshalb besteht ihr Buch ersatzweise aus weitschweifigen und geschwätzigen Reminiszenzen an ihre Familiengeschichte, ihre lebenslangen Bekanntschaften und Freundschaften – sie lernte anscheinend ausschließlich Menschen kennen, die später Berühmtheit erlangen sollten oder zumindest sehr wichtig waren – und ihre einstigen Träume und Lernprozesse: Es handelt sich um nichts als eine mäßig interessante coming-of-age-Geschichte. Immerhin bekommt der Leser Hinweise auf die durchaus erträgliche Situation einer bourgeoisen Familie mit teilweise jüdischem Stammbaum unter den faschistischen Rassengesetzen mit deren zahllosen Ausnahmen und Schlupflöchern – bis die Situation in Norditalien und in Rom sich mit der deutschen Herrschaft drastisch veränderte – und auf Triest, den Herkunftsort des jüdischen Familienzweigs, über dessen Zuordnung im Staatenkonflikt nach 1945 im Zwiespalt von nationalitalienischen und kommunistisch-internationalistischen Sichtweisen reflektiert wird. Im Übrigen enthält die Darstellung zahllose Zeugnisse des »naiven Enthusiasmus« (S. 137) einer Frau, die auch 2011 noch »eine schmerzhafte Sehnsucht« nach dem längst untergegangenen PCI verspürte (S. 192). Die in den Text verwobenen Fragmente ihres Tagebuchs stellen durchgehend ihre Einsicht »Ich weiß nichts und bin nichts« (S. 148) unter Beweis, und am Ende hielt Luciana Castellina »das Schreiben eines Tagebuchs [...] für eine allzu kindische Tätigkeit« (S. 174): In ihrem eigenen Fall hatte sie recht.

Auch der Ende 1927 geborene Giacomo Notari brachte mit gut 80 Jahren seine kurzgefassten Erinnerungen zu Papier. Um den versprochenen »Bericht aus der Resistenza« handelt es sich nur zu geringen Teilen. Das erste Drittel des Büchleins erscheint unter historischen Gesichtspunkten am interessantesten; es beschreibt anschaulich das Leben in einem emilianischen Gebirgsdorf von rund 300 Einwohnern in den 1930er-Jahren. Merkwürdigerweise scheinen dort keine Faschisten aktiv gewesen zu sein, und von Faschismus ist kaum etwas zu erfahren. Notaris Ausführungen zu seiner Tätigkeit als 17-Jähriger im Partisanenkrieg umfassen dagegen kaum 15 Seiten und gipfeln in seiner Gefangennahme eines deutschen Soldaten. Schließlich schildert er sein Berufsleben als parteikommunistischer Politiker in apenninischen Berggemeinden, in der Provinzregierung von Reggio Emilia und als Funktionär des regionalen Partisanenverbands bis über die Jahrtausendwende hinweg. Für die Zeit zwischen 1943 und 1945 gewinnt man einige Impressionen zu umherstreifenden italienischen und deutschen Soldaten sowie zu den Freiräumen, die sich in dem formal zur Republik von Salò gehörenden Gebiet zwischen Poebene und Apennin für Menschen auftaten, die sich dem Zugriff von sozialfaschistischen Behörden und deutschen Besatzungsorganen entzogen. Notari erinnert in diesem Zusammenhang überall solidarisches Verhalten seiner Landsleute. Der Verfasser berichtet darüber hinaus, er habe sich im Frühjahr 1944 im Alter von 16 Jahren nach Reggio aufgemacht, sich dort bei der Kommandantur der faschistischen Miliz gemeldet und darin Aufnahme gefunden – obwohl ihm ein Mindestalter von 20 Jahren bedeutet wurde – mit dem Ziel, im Sinne der Partisanen »all die jungen Männer, die gegen ihren Willen eingezogen worden waren, zu überzeugen, dass sie desertierten« (S. 73f.), und tatsächlich sei ihm dort das »Vertrauen [...] von vielen Dutzend anderen Soldaten entgegengebracht« worden, »die ich ganz offen aufforderte zu desertieren« (S. 81). Nach der Verlegung seiner Einheit nach Como, wo offenbar ein Kampfeinsatz bevorstand, sei Notari desertiert und habe sich mit einem Kameraden wieder in seine Heimatprovinz durchgeschlagen, um dort Anschluss an die Partisanen zu suchen. Mag auch das Gerüst stimmen: Ein kritischer Interpret solcher Zeitzeugenberichte wird bezüglich der Motivation von Notaris Eintritt in die Miliz skeptisch bleiben.

Notari will im Oktober 1943 auch Aldo Cervi begegnet sein (S. 67), der aufgrund seiner Hinrichtung infolge eines Urteils des sozialrepublikanischen Sondergerichts Reggio Emilia Ende Dezember 1943 zu einem Mythos der italienischen Resistenza-Erinnerungskultur heranwuchs. Seine sechs Brüder wurden mit ihm erschossen. Das Schicksal der Cervis generierte diverse Veröffentlichungen bis hin zu einem Spielfilm. Mit Aldo Cervis Lebens- und Familiengeschichte setzt sich sein im August 1943 geborener Sohn Adelmo in einem ungewöhnlichen Buch auseinander, das mit Hilfe eines Ko-Autors entstand und in einer Erstpublikation in deutscher Übersetzung vorliegt. Das von Giovanni Zucca zusammengestellte Buch lässt sich keiner literarischen Gattung zuordnen: Es kombiniert Erzählungen und Erinnerungen Dritter mit Dokumenten und Forschungsergebnissen und fügt reichlich fiktive Dialoge und erfundene Gegebenheiten hinzu. Von der Geschichtswissenschaft bewegt es sich weit entfernt, wenngleich die Autoren immer wieder beachtenswerte Reflexionen über das Verhältnis von Faktizität und Fiktion einfügen.

Auch die Erinnerungen eines weiteren hochbetagten ehemaligen Partisanen an seine Zeit in der Resistenza sind von einer ausführlichen Darstellung seiner Kindheit und Jugend in Turin und seiner beruflichen Tätigkeit als Unternehmer sowie seines Einsatzes für die Vergangenheitsbewältigung nach 1945 eingerahmt. Enrico Loewenthal kam als Sohn jüdischer Eltern – sein Vater war aus Deutschland eingewandert, gründete in Turin ein erfolgreiches Handelsunternehmen und heiratete eine Italienerin – 1926 zur Welt und bekam seit 1938 die Auswirkungen der antijüdischen Gesetzgebung der italienischen Regierung zu spüren. Voller Bitterkeit schildert er seinen zeitweiligen Wechsel auf eine jüdische Schule, die Abwendung vieler Freunde von der Familie, geschäftliche Einschränkungen, die Wiederaberkennung der von seinem Vater erworbenen italienischen Staatsbürgerschaft, die für jüdische Italiener gekürzten Lebensmittelrationen. Gleichwohl gibt auch seine Darstellung der Jahre 1938 bis 1943 zu erkennen, dass er und seine italienischen Verwandten als Angehörige einer ausgesprochen wohlhabenden und gut vernetzten Familie unter den faschistischen Rassengesetzen trotz zahlreicher diskriminierender Maßnahmen in insgesamt erträglichen Zuständen lebten: Selbst sein Onkel Rudolf, der als »gefährliches Element« zeitweise im Lager Ferramonti interniert war, das sich »dank der Toleranz seiner Direktoren und des Anstand[s] seiner Bewohner bald zu einer richtigen kleinen Stadt mit Bibliothek, Synagoge, Schule und Friedhof« entwickelt habe, und der dann mit seiner Familie in »ein Bergdorf in der Provinz Parma« verbannt wurde, beschwerte sich dort allenfalls über »ein ziemlich unbefriedigendes Leben« (S. 41f.). Noch 1943 verbrachten die Loewenthals ihre Ferien unbehelligt in der Sommerfrische ihres Landhauses in den Hügeln bei Turin, wo sie nach kurzfristigen Hoffnungen infolge des politischen Umsturzes vom 25. Juli rasch erkannten, dass ihnen mit der Übernahme des Landes durch deutsche Besatzungsorgane Gefahren von ganz anderer Qualität drohten. Sie erhielten von einem Mitarbeiter der Stadtverwaltung neue Papiere, die sie als »Arier« auswiesen, und zogen sich in ein abgelegenes Bergtal zurück. Enrico wollte gegen Deutsche und Faschisten kämpfen und schloss sich im Alter von 17 Jahren den Partisanen an, einer von nicht wenigen Partisanen jüdischer Religion oder Abstammung. Loewenthal legt eine lebendige Schilderung seiner Aktionen im italienisch-französischen Grenzgebiet Piemonts und im Aostatal vor, eines zumeist auf die Defensive beschränkten Abwehrkampfes gegen wiederholte faschistisch-deutsche Offensiven, einer zunehmend gedeihlichen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit französischen und US-amerikanischen Militärs, von Entbehrungen, Hunger und Erschöpfung während des Einsatzes im Hochgebirge. Loewenthals Erinnerungen sind insofern untypisch, als sie nicht die verbreitete und oft stereotype kommunistische Sichtweise widerspiegeln: Er brach aufgrund der in den kommunistisch geführten »Garibaldi«-Einheiten angewandten Methoden im Umgang mit »Abweichlern« mit ihnen und wechselte zu der radikal-demokratischen Gruppierung der Aktionspartei, des »Partito d’Azione«, der im Geiste der Widerstandsbewegung »Giustizia e Libertà« agierte, stieg als 18-Jähriger zum Kommandanten zweier rund 20 Mann starker Kampfgruppen auf und sollte sein Leben lang ein streitbarer Antikommunist bleiben. Die Frage der Authentizität und damit der Brauchbarkeit solcher Erinnerungsschriften als historische Quelle stellt sich naturgemäß auch hier, zumal der Verfasser behauptet, er »konnte ein ganzes Batallion [sic] deutscher Soldaten überreden, sich zu ergeben, und führte sie dann über einen Pass in die Schweiz« (S. 12). Angesichts dieser abenteuerlichen Geschichte, der zufolge diese »Vielzahl« von Wehrmachtsoldaten Anfang April 1945 auf einen Bluff hin einfach ihre Waffen mitsamt schwerem Gerät einer Handvoll Partisanen ausgeliefert hätte (S. 123–132), würde ein zeitgenössischer, authentischer Beleg oder wenigstens die Darstellung weiterer Zeugen nützlich sein.

Wer sich mit dem Nutzwert von »Erinnerungen« schwertut, die im Abstand von sechs oder sieben Jahrzehnten niedergeschrieben wurden, der wird auch mit dem Band des italienischen Journalisten Paolo Emilio Petrillo über »die ungelösten Verflechtungen zwischen Italien und Deutschland« wenig anfangen können. Petrillo geht von der These aus, »für die Italiener« bedeute »der 8. September 1943 ein schmerzhaftes und schwieriges Ereignis, das vielleicht noch nicht völlig geklärt, aber zumindest lange diskutiert worden ist«, während dagegen »sowohl in der deutschen Erinnerungsliteratur als auch in historischen Abhandlungen der 8. September 1943 kaum Beachtung findet«; »das historische Ereignis 8. September 1943« habe »aus dem Blickwinkel der Deutschen bis heute keine historiographische Beachtung gefunden« (S. 22f. und 33). Das ist schon deshalb eine kühne Aussage, weil Petrillo einschlägige Arbeiten von Rudolf Lill, Jens Petersen, Gerhard Schreiber, Josef Schröder, Michael Wedekind oder Hans Woller nicht kennt. Es offenbart darüber hinaus ein gewisses Maß an Obsession, ein anhaltendes Leiden Petrillos und anderer italienischer Intellektueller angesichts vermeintlicher, von deutscher Seite vorgebrachter Vorwürfe einer mangelnden Einsatzbereitschaft und Leistungskraft der italienischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg, insbesondere eines italienischen »Verrats« des deutschen Bundesgenossen an jenem 8. September, auch scheinbarer deutscher Überlegenheitsgefühle und Überheblichkeitsattitüden gegenüber Italienern im allgemeinen. Petrillo fragt sich jedenfalls, was dieses Ereignis des italienischen Waffenstillstands mit den Westalliierten und des damit verbundenen Frontwechsels »für die Deutschen« darstelle: »Welchen Einfluss, auch emotional, hatte es auf die Politik der deutschen Besatzer, die bis zum April 1945 in Italien waren? Und in welchem Maß prägen die Urteile, die sich die Deutschen damals bildeten, weiterhin das deutsche Italienbild?« Es könne nützlich sein, »über den 8. September auch etwas aus der Perspektive der Deutschen zu erzählen, und zwar, weil eine Analyse bestimmter historischer Vorgänge vielleicht helfen könnte, das gegenseitige Unverständnis zu überwinden, das immer noch häufig zwischen Italien und Deutschland« bestehe (S. 22 und 122). Dieses Anliegen mag man ungeachtet der Gemeinplätze und Unschärfen, die Petrillos Ansatz kennzeichnen, für sinnvoll halten oder nicht; seine Herangehensweise erweist sich jedoch als unterkomplex und führt zu keinem Ergebnis. Auf rund 150 Seiten erstellt der Verfasser einen wenig inspirierten Abriss einiger Aspekte deutsch-italienischer Beziehungen von den 1920er-Jahren bis 1943, dessen Irrelevanz er selbst präzise auf den Punkt bringt: »Da es sich um sehr bekannte Ereignisse handelt, über die es bereits eine reiche Literatur gibt, ist die Darstellung dieser Geschichte hier bewusst knapp gehalten und soll hauptsächlich helfen, die Berichte und Kommentare der deutschen Zeitgenossen für diesen fraglichen Zeitraum einzuordnen« (S. 51). In diese »Darstellung« werden zahlreiche mitunter lange Zitate aus den einschlägig bekannten deutschen Quellenpublikationen und der Memoirenliteratur eingestreut – das Goebbels-Tagebuch, Protokolle von Hitlers Lagebesprechungen, die Lageberichte des Sicherheitsdienstes des Reichsführers-SS, Zeitungsartikel von Hermann Göring und Reden Adolf Hitlers, Memoiren von Erwin Rommel und Fridolin von Senger und Etterlin. So bekommt ein Journalist rasch die Seiten voll. Die andere Hälfte des Buches füllen Niederschriften von Gesprächen Petrillos mit an die 90 Jahre alten ehemaligen deutschen Soldaten, die sich zum Teil 1943 nicht einmal in Italien aufhielten. Diese wörtlich wiedergegebenen, in der Gesprächsführung ziellosen Interviews erweisen sich als vollständig sinnfrei, zumal der Verfasser sie einfach nur publiziert, ohne auch nur die geringste Anstrengung zu ihrer Einordnung oder Interpretation zu unternehmen. Einen Versuch, die von ihm aufgeworfenen Fragen zu beantworten, sucht der Leser vergeblich. Dieses völlig nichtssagende Buch wird die zeitgeschichtliche Forschung nicht voranbringen.

Dem 70. Jahrestag der Besetzung Italiens durch die deutsche Wehrmacht verdankt auch ein 2013 erschienener Band des Deutschen Historischen Museums in Berlin seine Entstehung: Er war »ursprünglich als Begleitveröffentlichung zu einer umfassenden Ausstellung zum deutsch-italienischen Verhältnis seit 1943 vorgesehen« – ein solches »gleichermaßen wichtiges wie ehrgeiziges Projektvorhaben« (S. 8) wurde jedoch aus nicht genannten Gründen nie realisiert. Es handelt sich also um einen Ausstellungskatalog ohne dazugehörige Ausstellung. Geboten werden Texte in Häppchenform im Umfang von einer bis sieben Seiten von zumeist bekannten Autoren oder einschlägig ausgewiesenen Expertinnen und Experten zu Aspekten der deutsch-italienischen Geschichte vom Beginn der faschistisch-nationalsozialistischen Kooperation bis zum Mauerfall. Darin geht es um die deutsche Besatzungspolitik in Italien und den Partisanenkrieg, Militärinternierte und Deportierte, Wirtschaftsbeziehungen, die Südtirol-Frage, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi sowie Walter Ulbricht und Palmiro Togliatti – die DDR wird stets mitbedacht –, das Gedenken an deutsche Massaker in Italien und an die dort gefallenen Wehrmachtsoldaten. Vor allem aber werden zahllose Begegnungen, Verflechtungen und Spiegelungen der beiden Länder im kulturellen Bereich gewürdigt: Literatur und Kunst, Kino und Theater, Musik und Architektur, die gegenseitige Perzeption von Künstlern, Schriftstellern und Philosophen sowie Orte des kulturellen Austauschs werden in kaleidoskopartiger Vielfalt mittels zeitgenössischer und darstellender Texte abgehandelt. Das alles ist reichlich illustriert durch Fotografien, Zeichnungen und Abbildungen von Kunstwerken, und mit Zeittafeln und Literaturhinweisen versehen. Es handelt sich um ein Buch zum anregenden Durchblättern, von dem für die zeitgeschichtliche Forschung keine neuen Impulse ausgehen werden.

Rainer Behring, Köln

[1] Diese Sammelbesprechung ergänzt einen zweiteiligen Forschungsbericht des Autors, der im gedruckten Band des Archivs für Sozialgeschichte veröffentlicht wurde: Rainer Behring, Italien im Spiegel der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung. Ein Literaturbericht (2013–2018). Erster Teil: Erster Weltkrieg, Kontroversen um den italienischen Faschismus und um Benito Mussolini, in: AfS 59, 2019, S. 369–408; Zweiter Teil: Spezialstudien zur faschistischen Herrschaft und zur Italienischen Republik seit 1946, in: AfS 61, 2021, S. 473–535.

 

Matthias Bauer, Die transnationale Zusammenarbeit sozialistischer Parteien in der Zwischenkriegszeit. Eine Analyse der außenpolitischen Kooperations- und Vernetzungsprozesse am Beispiel von SPD, SFIO und Labour Party

Droste Verlag | Düsseldorf 2018 | 457 Seiten, Broschur | 49,80 € | ISBN 978-3-7700-5339-1

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Im Mai 1923 schlossen sich in Hamburg die beiden »übriggebliebenen« Flügel der bei Kriegsausbruch im August 1914 zerbrochenen Zweiten Internationale zur Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI) zusammen. Sie verstanden sich im Unterschied zur nun in der Kommunistischen Internationale organisierten revolutionären Linken weiterhin als (rechte oder linke) Sozialdemokraten. Bei den Vereinigungsdiskussionen war es nicht zuletzt um ein grundlegendes Prinzip gegangen, dessen Aufgabe als Ursache ihres Zusammenbruchs benannt wurde: Der Primat der Internationale, der durch die national bestimmten Entscheidungen der sozialdemokratischen Parteien am Vorabend des Weltkriegs unterlaufen worden war. Dies habe das Versagen bei Kriegsausbruch ermöglicht. Nun bestand der artikulierte Konsens darin, eine Wiederholung zu verhindern, auch wenn das so nachdrücklich vor allem vom linken Flügel, von den Wortführern der ehemaligen Wiener Arbeitsgemeinschaft wie Friedrich Adler, formuliert wurde.

Doch die SAI, die sich nun (zumindest bis zum Einschnitt 1933) alle drei Jahre in breit beschickten und mit großer Öffentlichkeitswirkung zusammentretenden Kongressen und ansonsten in ihren regelmäßig tagenden Führungsgremien ausdrückte, war das eine. Zwischen diesen Strukturen der Internationale einerseits und dem Wirken der nationalen Mitgliedsparteien andererseits lag das oftmals viel entscheidendere transnationale »Zwischengeschoss« der Kontakte von Partei zu Partei, bei denen insbesondere die »Schwergewichte« – SPD, SFIO und Labour Party – ihren Einfluss außerhalb oder jenseits der formellen Entscheidungsebene der SAI geltend machten. Damit war sie doch faktisch bei der Beschlussfassung »nachgelagert«.

Matthias Brandt hat in seiner Augsburger Dissertation genau diese transnationale Zusammenarbeit der drei genannten Parteien für die Zwischenkriegszeit mit Blick auf diese »Sandwichstellung« zwischen »oben« und »unten« untersucht. Sein Ausgangspunkt sind jedoch zunächst eine Skizzierung des Zusammenbruchs der Internationale im Weltkrieg als Ergebnis der Konfrontation der verschiedenen Parteien und dann die verschiedenen Bemühungen ab 1919 um ihre Wiederbelebung bis hin zur Fusion der beiden sich zunächst durchaus scharf gegenüberstehenden internationalen sozialdemokratischen Nachkriegszusammenschlüsse im Jahre 1923.

Die Existenz der SAI, ihre Diskussionen und Entscheidungsprozesse, ihr internationales Wirken liefern dann den Hintergrund, vor dem die spezifische Entwicklung des »Parteiendreiecks« im Spannungsfeld des jeweiligen nationalen politischen Umfelds in allen Einzelheiten entfaltet wird. Dabei stehen im Zentrum die außenpolitischen Probleme durch das in Versailles geschaffene internationale Systems, genauer: die Bemühungen zu dessen Weiterentwicklung durch neue Maßnahmen zur Friedenssicherung. Dies betraf vor allem die Abrüstungsfrage, aber auch die Vereinbarung eines Kriegsächtungspakts und nicht zuletzt das Reparationsproblem.

Dies ging nicht ohne Widersprüche zwischen den einzelnen Parteien und oft auch unter Beiseitedrängen, manchmal sogar unter Ausklammerung der Entscheidungsebene der Internationale vor sich. Exemplarisch zeigte sich das beim Zustandekommen des Locarno-Paktes. Bemühte sich die Labour Party zunächst darum, ein Vertragswerk zur Friedenserhaltung in enger Ankoppelung an den Völkerbund zu schaffen, tendierten SPD und französische Sozialisten dazu, den diplomatischen Bemühungen zwischen den Regierungen Deutschlands und Frankreichs zu folgen, um ein solches aus diesen bilateralen Kontakten zu entwickeln. Das folgte aus den besonderen Bemühungen der SPD um eine vorzeitige Beendigung der Rheinlandbesetzung, wozu der Schlüssel in Frankreich lag.

All das wird minutiös anhand der zahlreichen Kontakte der Parteiführer untereinander wie der Diskussionen in der SAI, ihren Kongressen und Leitungsorganen, nachgezeichnet. Im Großen und Ganzen der Chronologie folgend, mündet die Darstellung in den Endkampf der Weimarer Republik bis hin zur Machtübernahme Hitlers als Herausforderung für die internationale Sozialdemokratie.

Ein abschließender dritter Teil zieht dann gleichsam die Summe aus diesem Hauptteil und entwickelt systematisch die Transferprozesse. Sie drückten sich in den Akteuren, deren persönlicher Austausch oftmals für die Entscheidungsfindungen vorherbestimmend waren (hier werden dazu auch einige vorgestellt), und durch institutionalisierte Beziehungen zwischen den Parteien aus (etwa wechselseitige Parteitagsbesuche oder Zusammenarbeit in der Presse). Dabei waren »Graswurzelkontakte«, wie er sie nennt, beispielsweise Besuche auf Schulungen und Ferienlager, zwar für die Atmosphäre wichtig, aber letztlich nicht für die Beschlussfindung bestimmend. Es zeigt sich, dass manchmal auch nur Fragen der Praktikabilität (Sprachenkenntnisse!) Auswirkungen hatten. Letztlich geht es darum, welche Formen der Kooperation ihre Bedeutung hatten und inwieweit sie dem verkündeten Anspruch auf (proletarischen) Internationalismus entsprachen.

Es erweist sich, dass die Ebene der von ihm so genannten nationalen »Parteieliten«, damit die Formulierung ihrer Interessen aus den jeweiligen staatlichen Zusammenhängen heraus, doch die entscheidende war und damit die Internationale eben nur eine nachgeordnete, ja nachvollziehende Instanz war. Letztlich verwundert das auch nicht. Es hatte sich ja auch durch den Ersten Weltkrieg und die Entscheidung zum jeweiligen »Burgfrieden« ein deutlicher Bruch gegenüber den vor 1914 formulierten Ansprüchen ergeben.

Die Arbeit orientiert sich ganz an den Feldern der klassischen internationalen Politik, was angesichts der zentralen Bedeutung für die Tätigkeit sowohl der Parteien wie der Internationale nun auch nicht verwundert und sicher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Mitgliedschaft gestanden haben dürfte. Ergänzend kann man aber auch darauf hinweisen, dass sich ein solches Hin- und Herschwanken zwischen dem Wirken der nationalen Führungen und der Beschlusslage der Internationale ebenfalls in der zentralen sozialpolitischen Frage jener Jahre ergab: die gesetzliche Verankerung des Achtstundentags durch eine Ratifizierung des 1919 unter weltweitem sozialdemokratischen Beifa