Jonas Kreienbaum, Das Öl und der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung. Die Bedeutung der Ölkrisen der 1970er Jahre für die Nord-Süd-Beziehungen (Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 53)
De Gruyter Oldenbourg | Berlin/Boston 2022 | 354 Seiten, Paperback | $ 40,00 | ISBN 978-3-11-076970-8
Henning Türk, Energiesicherheit nach der Ölkrise. Die Internationale Energieagentur 1974–1985 (Geschichte der Gegenwart, Bd. 34)
Wallstein Verlag | Göttingen 2023 | 220 Seiten, gebunden | 32,00 € | ISBN 978-3-8353-5484-5
rezensiert von
Petra Dolata, University of Calgary
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Rund fünfzig Jahre nach der ersten Ölkrise – und in einer Zeit, in der Klimawandel und Ukrainekonflikt nationale Abhängigkeiten von Energie erneut in den Vordergrund rücken – haben die Historiker Jonas Kreienbaum und Henning Türk zwei wichtige Studien publiziert, die zeigen, wie die Weichenstellungen der 1970er-Jahre bis heute die Rolle des Themas Energiesicherheit und besonders der Beziehung zwischen Ölproduzenten und Ölkonsumenten in der internationalen Politik und politischen Ökonomie prägen. Beide Autoren wollen mit ihren Beiträgen die Energiegeschichte von einer primär nationalen Betrachtungsweise der Energiekrisen der 1970er-Jahre wegbewegen, hin zu einer globalen Bestandsaufnahme. Obwohl ihr Hauptaugenmerk jeweils unterschiedlichen Entwicklungen im Zuge der Energiekrisen gilt, ergänzen sich ihre Studien hervorragend, insbesondere weil beide die Bedeutung internationaler Solidarität in einer Zeit zunehmender globaler Interdependenz hervorheben.
Das sprachlich sehr zugänglich geschriebene Buch von Jonas Kreienbaum, das auf seiner Habilitationsschrift basiert, widmet sich in sechs empirischen Kapiteln zum einen den Verbindungen zwischen den beiden Ölkrisen in den Jahren 1973/74 und 1979/80, zum anderen der zeitgenössischen Forderung nach einer alternativen Weltwirtschaftsordnung. Er geht der Frage nach, welche Auswirkungen die Krisen auf die Nord-Süd-Beziehungen hatten, und argumentiert, dass insbesondere die Ölkrise von 1973/74 ein »window of opportunity« eröffnete, welches es den Staaten des globalen Südens erlaubte, ihren Forderungen nach einer neuen, gerechteren Weltwirtschaftsordnung mehr Gehör zu verschaffen und »den Westen effektiv unter Druck zu setzen« (S. 1). Der Erfolg der koordinierten Aktionen von OPEC (Drosselung der Produktion) und den arabischen OPEC-Mitgliedern (Ölembargo) während der ersten Ölkrise hätte gezeigt, wie solidarisches Handeln westlichen Industrieländern Eingeständnisse abringen konnte und damit eine »qualitativ neue Phase in den Nord-Süd-Beziehungen« (S. 6) eingeleitet. Gleichzeitig führte die Vervierfachung des Ölpreises zu massiv verschlechterten Zahlungsbilanzen für diejenigen Entwicklungsländer, die kein Öl produzierten. Ihre Verschuldung stieg während der Dekade zusehends an, während die Bemühungen um eine neue Weltwirtschaftsordnung letztendlich im Sande verliefen. Mit dem Blick auf die internationalen wirtschaftlichen Dimensionen und speziell der Sicht des globalen Südens und seiner politischen Eliten liefert Kreienbaums Studie neue und wichtige Perspektiven auf die ansonsten relativ gut erforschten Ölkrisen.
Um die jeweiligen Einstellungen von Industrieländern, OPEC-Mitgliedern und weiteren Entwicklungsländern auch in relativer Schärfe und Tiefe darstellen zu können, hat sich Kreienbaum für einige Fallbeispiele entschieden, die er näher untersucht: die USA, Westdeutschland und Großbritannien für die Industriestaaten, Saudi-Arabien und Algerien für die OPEC, und das zentralafrikanische Sambia für die Entwicklungsländer, kontextualisiert durch weitere Beispiele wie etwa Indien. Einem Trend in der Globalgeschichte folgend, untersucht er damit sehr spezifische Orte, Institutionen und Akteure sozusagen als »selektive analytische Sonde[n]« (S. 13). Es ist insbesondere ein Verdienst Kreienbaums, neben Archiven in Deutschland, den USA und Großbritannien auch Primärquellen in Sambia und Bestände supra- und internationaler Institutionen wie der Europäischen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen konsultiert zu haben. Es wäre hier sicherlich interessant gewesen, auch Frankreich über Archivquellen einzubeziehen, da das Land in jener Zeit eine distinkte Rolle im europäischen Einigungsprozess spielte und in der Frage einer Energieverbraucherorganisation von den anderen westlichen Staaten abwich.
Nach einem historischen Abriss zur Entwicklung der Nord-Süd-Beziehungen im Zuge der Dekolonisation und zur Gründung der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) 1964 im ersten Kapitel, erläutert Kreienbaum im zweiten Kapitel äußerst kenntnisreich die Auswirkungen der ersten Ölkrise von 1973/74 und zeigt, dass die Krise zwar half, der kurz zuvor eingeforderten Neuen Weltwirtschaftsordnung (NIEO) zur Stabilisierung von Rohstoffpreisen durch Produzentenkartelle und Nationalisierung politisches Gewicht zu verleihen, gleichzeitig aber auch den wirtschaftlichen Graben zwischen erdölexportierenden und erdölimportierenden Entwicklungsländern vertiefte. Insgesamt wurden die Nord-Süd-Beziehungen konfrontativer, auch gegenüber multinationalen Unternehmen. Im Unterschied zum Westen bezeichneten Vertreter der OPEC-Staaten die Ereignisse nicht als Ölkrise, sondern als Ölrevolution.
Anders gestalteten sich die Auswirkungen des Ölschocks auf Sambia, wo die negativen Konsequenzen erst später eintraten, sich dann aber zu einer existentiellen wirtschaftlichen Krise entwickelten, insbesondere weil die Ölkrise eine Inflation auslöste und eine Rezession in Gang setzte, welche die Rohstoffpreise in den Keller fielen ließ. So musste Sambia mehr für Importe bezahlen, während seine Kupferexporte nur noch wenig Einkommen für die Staatskasse generierten. Diese aufschlussreiche und ausgewogene Diskussion der ökonomischen Auswirkungen der Ölschocks auf erdölimportierende Entwicklungsländer ist eine der herausragenden analytischen Leistungen Kreienbaums. Er zeigt, dass diese Länder nicht nur direkt durch die hohen Ölpreise betroffen waren, sondern dass sich ihre wirtschaftlichen Probleme durch sekundäre Effekte noch potenzierten und so zur Schuldenkrise beitrugen. Politisch führte dies nicht unmittelbar zu einer Kluft zwischen der OPEC und den anderen Entwicklungsländern, wie der Autor in den nachfolgenden Kapiteln skizziert. Trotz US-amerikanischer Versuche, die Entwicklungsländer zu spalten, bestand deren Allianz bis 1975 weiter, auch weil die OPEC die wirtschaftlichen Probleme im globalen Süden erfolgreich als Folge des bestehenden ungerechten Weltwirtschaftssystems darstellen konnte.
Dieses Framing wie auch die verschiedenen Initiativen zur Erneuerung der Weltwirtschaftsordnung im Rahmen der UN-Sondergeneralversammlungen 1974 und 1975, der Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit (CIEC), die Industrie- und Entwicklungsländer von 1975 bis 1977 zusammenbrachte, sowie zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und ehemaligen Kolonialländern werden im dritten und vierten Kapitel untersucht. Kreienbaum verweist dabei auf die Formbarkeit der geforderten neuen Ordnung. Je nach Zeitpunkt und je nach Akteur beinhalte die Neue Weltwirtschaftsordnung ganz unterschiedliche Akzente. Sie diente somit eher als Sammelbegriff – und wenn sich auch die Nord-Süd-Beziehungen ab 1975 insgesamt kooperativer gestalteten und sogar Erfolge wie das Lomé-Abkommen zwischen der EWG und 77 Entwicklungsländern erreicht werden konnten, so zeigte sich doch bereits zu Beginn der CIEC-Verhandlungen, dass die Industrieländer, allen voran die USA, nur dem Anschein nach zu Verhandlungen über eine neue, gerechtere Weltwirtschaftsordnung bereit waren.
Allerdings, so Kreienbaum, sei 1975 noch nicht das Ende der Neuen Weltwirtschaftsordnung gewesen. Er widerspricht damit einer Studie von Christopher Dietrich von 2017.[1] Erst in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre zerbröckelte die Solidarität des globalen Südens. Nun traten nicht nur zwischen OPEC-Staaten und erdölimportierenden Entwicklungsländern, sondern auch innerhalb der OPEC Konflikte offen zutage, die zum Scheitern der OPEC-Konferenz im Dezember 1976 führten. Der Verlust einer einheitlichen Front der Entwicklungsländer sowie die Auswirkungen der globalen Rezession hatten das revolutionäre Moment erstickt. Die Industrieländer waren nicht gewillt, Eingriffe in Marktmechanismen zu billigen. Die Pariser Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit endete somit 1977 ohne nennenswerte Ergebnisse.
Die zweite Ölkrise 1979/80, die auch wieder eine Preiskrise war, läutete eine weitere globale Wirtschaftskrise ein. Wie Kreienbaum im fünften Kapitel überzeugend nachzeichnet, wurden die Ereignisse am Ende der Dekade trotz vieler Parallelen anders wahrgenommen als noch 1973/74 – zum einen, weil man nun die Erfahrungen der ersten Krise heranzog, um die neue Krise zu deuten, zum anderen, weil diesmal für die USA mehr auf dem Spiel stand und schließlich, weil sich nun auch in den Augen der OPEC-Staaten wirklich eine Ölkrise und keine Ölrevolution ereignete. Diese Krise traf vor allem die ohnehin schon verschuldeten Entwicklungsländer wie Sambia, so dass »[an]statt zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung und Selbstständigkeit […] die späten 1970er Jahre zunehmende Abhängigkeit von den internationalen Finanzinstitutionen« (S. 259) brachten.
Im sechsten Kapitel beschreibt Kreienbaum detailliert, wie die fehlgeschlagene Nord-Süd-Kommission und der folgende Nord-Süd-Gipfel zum Verschwinden der Neuen Weltwirtschaftsordnung Anfang der 1980er-Jahre beitrugen. Als Gründe für das Scheitern nennt der Autor vor allem den neuen neoliberalen Zeitgeist wie auch die Zerstrittenheit und die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation der Entwicklungsländer. Somit versteht Kreienbaum nicht die Ölkrisen der 1970er-Jahre, sondern erst die frühen 1980er-Jahre als entscheidenden Einschnitt, erstickten sie doch jegliche Hoffnung auf eine andere, gerechtere Art der Globalisierung. Insgesamt zeigt Kreienbaum, wie wichtig es ist, die 1970er-Jahre als »distinkte Phase« (S. 309) anzusehen, oder eben auch als Zwischenphase des Kalten Krieges, in der die Nord-Süd-Beziehungen teils konfliktreicher waren als die Ost-West-Beziehungen, die im Zuge der Détente in dieser Dekade kurzzeitig auftauten. Wenngleich sich heute nur wenige an die Neue Weltwirtschaftsordnung erinnern, so muss man dem Autor Recht geben, dass ihre Geschichte hilft, »die Genese der heutigen Welt zu verstehen« (S. 27).
Als Vorgeschichte der Gegenwart kann auch Henning Türks Studie zur Geschichte der 1974 gegründeten Internationalen Energieagentur (IEA) gelesen werden. Anders als die Neue Weltwirtschaftsordnung hat diese Institution den Ölpreisverfall und die marktliberale Trendwende der 1980er-Jahre gut überlebt und besteht bis heute. Auch sie ist ein Resultat der Ölkrisen der 1970er-Jahre, wurde aber maßgeblich von den USA geformt. Türk beschreibt detailgenau und kenntnisreich die Entstehungsgeschichte dieser neuen internationalen Organisation, die eine ganz andere Solidarität beschwor als die von Kreienbaum skizzierte. Hier ging es darum, eine Spaltung der westlichen Verbündeten zu vermeiden und ihre Ölabhängigkeit gemeinsam zu bewältigen. Während für Kreienbaum die Ölkrisen die Nord-Süd-Beziehungen ins Zentrum politischer Aufmerksamkeit rückten, konstatiert Türk eine ähnliche Dynamik für die Energiepolitik, die sich als internationales Politikfeld erst in den 1970er-Jahren etablierte. Trotz ihrer bedeutsamen Rolle für die westlichen Industrienationen gab es bislang keine eigenständige historische Studie zur Entstehung der IEA – eine Lücke, die Türk schließen kann, weil er Zugang zum IEA-Archiv hatte, das er zusätzlich zum OECD-Archiv sowie unveröffentlichten deutschen und britischen Primärquellen konsultierte.
Auf dieser breiten Quellenbasis untersucht Türk nicht nur die Entstehung und die ersten zehn Jahre der neuen internationalen Organisation, sondern ihn interessieren vor allem die normativen Grundlagen der institutionellen Energiepolitik sowie die Rolle bürokratischer Akteure, die diese energiepolitischen Normen und Werte aushandelten. Dabei entleiht Türk auch Ansätze aus der Disziplin der Internationalen Beziehungen. Während er die Frage nach den normativen Grundlagen mit Hilfe der konstruktivistischen Theorien von Martha Finnemore empirisch zu beantworten sucht, analysiert er zugleich das Zusammenspiel nationaler und internationaler Akteure der Energiepolitik. Ohne Robert Putnam namentlich zu nennen, referenziert er dessen berühmte Metapher des »Two-Level-Game«[2], wenn er fragt, inwieweit »Regierungen die internationale Ebene [nutzten], um bestimmte unpopuläre Maßnahmen […] in ihren Ländern besser durchsetzen zu können« (S. 19). Ein weiteres Erkenntnisinteresse der Studie gilt den Vorstellungen einer sicheren Energieversorgung, die sich in ganz unterschiedlichen energiepolitischen Entscheidungen niederschlugen.
Auch wenn die Ölkrise von 1973/74 den Ausschlag gab, die Zusammenarbeit der westlichen Industrieländer im Energiebereich durch eine neue internationale Organisation zu fokussieren, gab es auf Seiten der USA bereits ein Jahr zuvor Überlegungen für eine solche Energie- gemeinschaft, wie Türk im zweiten Kapitel seines Buchs darstellt. Zwar habe es mit dem Ölausschuss in der OECD schon seit über einem Jahrzehnt ein Instrument gegeben, um seitens der Industrieländer auf Embargos wie etwa das der arabischen Erdölproduzenten 1967 zu reagieren. Allerdings hatte genau dieses Ölembargo gezeigt, wie schwierig eine zeitnahe und koordinierte Reaktion war. Zudem hatte sich die energetische Lage Anfang der 1970er-Jahre fundamental verändert. Die OECD hatte sich durch den Beitritt Japans und Australiens geografisch nach Asien und Ozeanien erweitert, die heimische Ölproduktion der USA wurde ab 1970 von der rasant gestiegenen Binnennachfrage eingeholt und konnte daher in Krisensituationen nicht mehr als Ausgleichsproduzent einspringen und die Macht der arabischen Erdölnationen hatte sich durch Nationalisierungen und gestiegene Einflussnahme auf Ölpreismechanismen vergrößert.
Wie Türk auf der Basis akribischer Quellenarbeit zeigen kann, war es vor allem Henry Kissinger, zu diesem Zeitpunkt US-Außenminister und Sicherheitsberater, der auf eine neue institutionalisierte Zusammenarbeit im Energiebereich pochte. Er lud zu der Washingtoner Energiekonferenz im Februar 1974 ein und setzte die europäischen Bündnispartner öffentlich unter Druck, um eine Einigung für die Gründung der Internationalen Energieagentur zu erwirken. Oberstes Ziel war es, eine geeinte Front gegen die OPEC und zukünftige Embargos zu etablieren. Wenngleich dieser Teil der Geschichte bekannt war, vermag Türk doch neue wichtige Entwicklungen hervorzuheben So hätte neben Kissinger und den USA auch die Bundesrepublik Deutschland eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der IEA gespielt, etwa bei der Gründung einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe zur Transparenz der Ölmärkte und zur Kontrolle internationaler Ölfirmen – ein Thema, das nicht auf der Agenda der USA stand.
Nach der Gründung und dem organisatorischen Aufbau der IEA, widmet sich Türk in den folgenden Kapiteln der eigentlichen Zusammenarbeit im Rahmen der Organisation. Das dritte Kapitel untersucht insbesondere die (von Kreienbaum ebenfalls analysierten) Nord-Süd-Beziehungen, aber auch die Schwierigkeit Solidarität unter den IEA-Mitgliedern zu organisieren. Dabei hatten vor allem die USA mit »konkurrierende[n] Solidaritätsansprüche[n]« (S. 62) zu kämpfen, etwa seitens Frankreichs, das ja nicht nur die Pariser Nord-Süd-Konferenz initiiert hatte, sondern auch auf eine europäische Ölverbrauchersolidarität pochte. Auch die IEA-Mitglieder Großbritannien und Kanada entwickelten sich zu Erdölproduzenten, die bei der Diskussion um Mindestpreise für Importöl teils andere Interessen als ihre Verbündeten vertraten.
Im vierten Kapitel diskutiert Türk anhand der energiepolitischen Ziele der IEA die Durchsetzung bestimmte Normen und Werte, allen voran der Energiesicherheit. Hätten sich die Bemühungen der IEA zunächst vor allem auf Öleinsparungen konzentriert, so ging es ab 1977 häufig um alternative Energieressourcen, wie etwa Kohle oder, wesentlich kontroverser, Atomenergie. Um die Einhaltung energiepolitischer Ziele überprüfen zu können, wurden 1977 ein IEA-Gruppenziel sowie zwölf energiepolitische Prinzipien formuliert, die auch einen Einblick in die Wertvorstellungen der Organisation erlaubten. Zu diesem Zeitpunkt sah man noch den Staat als wichtigsten Akteur. Die Energiepolitik eines jeden Mitgliedslandes sollte regelmäßig in einer Art Peer-Review-Verfahren evaluiert werden. Allerdings zeigt Türk am Beispiel der Bundesrepublik auch, dass dies lediglich ein Soft-Power-Instrument war, das gegebenenfalls »aus ordnungspolitischen Gründen oder aus Rücksicht auf starke Wirtschaftszweige ignorier[t]« (S. 98) werden konnte.
Besonders interessant für die Bundesrepublik schien auf den ersten Blick die IEA-Kohlepolitik, die seit 1977 Kohle als alternative Energieressource zwecks Ölimportreduzierung zu fördern suchte. Wie im fünften Kapitel beleuchtet wird, standen sich dabei allerdings ganz unterschiedliche Energiesicherheitsargumente gegenüber. Während Bonn auf die Absicherung heimischer Kohle abzielte, die nicht zu Weltmarktpreisen produziert werden konnte, präferierte die IEA den Import wettbewerbsfähiger Kohle, um die erwarteten Ölengpässe in den 1980er-Jahre abfedern zu können. Diese Einschätzung der globalen Energiesituation sollte sich alsbald als Irrtum erweisen, auch wenn sie zunächst durch die Ereignisse im Iran und der resultierenden Ölkrise von 1979/80, die im sechsten Kapitel diskutiert wird, bestätigt schien.
Die zweite Ölkrise war nicht Resultat eines Embargos, sondern eines Produktionsausfalls (Iran). Dies zeigte die Probleme einer Strategie auf, die starr auf ein weiteres Embargo ausgerichtet war. Wie schon Kreienbaum gezeigt hatte, traf diese Krise die USA weit mehr, die deshalb alle IEA-Mitglieder zu Öleinsparungen anmahnten. Laut Türk stellten die höheren Ölpreise jedoch für die Bundesrepublik ein weit geringeres Problem dar, weshalb diese Einsparmaßnahmen eher zurückhaltend gegenüberstand. Waren die Verhandlungen darüber schon nicht reibungslos vonstattengegangen, erwies sich der gemeinsame Krisenmechanismus als äußerst umstritten. Obwohl man sich geeinigt hatte, automatisch ein gemeinsames Ölverteilungssystem in Gang zu setzen, wenn ein Mitgliedsland um mehr als sieben Prozent unter die normale Ölversorgung rutschte, entschied man sich im Fall Schwedens nach hitziger Debatte dagegen. Die USA setzten von nun an auf ein anderes Instrument zur Sicherung der Energieversorgung in Krisenzeiten: strategische Ölvorräte. Die IEA hatte eingesehen, dass die veränderte Art der Krise auch neue Maßnahmen erforderte. Womöglich ist es auch dieser Flexibilität zu verdanken, dass die IEA bis heute als wichtige internationale Organisation im Energiebereich besteht.
Diese Flexibilität zeigte sich ebenso im Umgang mit neuen Herausforderungen Anfang der 1980er-Jahre, wie Türk im siebten Kapitel anhand der Erdgaspolitik der IEA näher beleuchtet. Erdgas wurde als alternative Energiequelle anerkannt, jedoch sollten keine neuen Abhängigkeiten von einzelnen Produzenten entstehen. Dies war natürlich vor allem gegen die Sowjetunion gerichtet. Türk nutzt die IEA-Gasstudie von 1983, um die divergierenden Interessenlagen der verschiedenen Akteure zu veranschaulichen. Hier gab es vor allem Differenzen zwischen dem westdeutschen Wirtschaftsministerium und dem IEA-Direktor Ulf Lantzke, der früher in eben diesem Ministerium für die Energiepolitik zuständig gewesen war. Türk vermutet folgerichtig, dass die konsequente Haltung des IEA-Sekretariats in dieser Frage den USA signalisieren sollte, dass man auf der gleichen Seite stehe, was für den Fortbestand der Behörde zu diesem Zeitpunkt sicherlich dienlich war.
Wie bereits von Kreienbaum dargelegt, relativierten sich die Lehren aus den Energiekrisen der 1970er-Jahre während der 1980er-Jahre – zum einem, weil Mitte der Dekade der Ölpreis auf ein Rekordtief rutschte und zum anderen, weil wirtschaftsliberale westliche Regierungen, allen voran in Großbritannien und den USA, nun fast ausschließlich auf Marktinstrumente setzten. Die 1984 als Nachfolgerin von Lantzke von den USA durchgesetzte IEA-Direktorin Helga Steeg verkörperte die neue »marktliberale Position der IEA« (S. 177). Die IEA habe sich, so Türk, »erfolgreich angepasst« (S. 184). Neben der zentralen Rolle der USA, gehören die politische und strategische Bedeutung des oft als rein technisches Instrument verkannten IEA-Sekretariats und der Wandel der geopolitischen und geo-ökonomischen Position der IEA im gewählten Betrachtungszeitraum zu den Hauptergebnissen der überaus lesenswerten Studie. Türk hebt als weiteres Ergebnis die handlungsweisende Signifikanz der Energiesicherheit hervor, die unter anderem Umweltüberlegungen ins Abseits gedrängt habe. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Studie noch mehr auf die verpasste Chance der Verknüpfung von Energie und Umwelt eingegangen wäre.
Liest man Türks und Kreienbaums Studien zusammen, so zeigt sich methodisch der Mehrwert transnational und international angelegter Analysen der Ölkrisen der 1970er-Jahre. Nicht nur, dass diese Krisen überhaupt erst den politikwissenschaftlichen Begriff der Interdependenz ins Leben riefen[3], auch der rege internationale Handel von Erdöl und seine Auswirkungen auf nationale Zahlungsbilanzen erfordern es, dass die Geschichte der Ölkrisen jenseits nationaler Kontexte geschrieben wird. Weiterhin schaffen es beide Autoren, diese »Dekade der Energiepolitik« (Türk, S. 21) als eine eigenständige historische Periode zu untersuchen, in der energiehistorisch wichtige normative Konzepte geformt wurden und institutionelle Weichenstellungen erfolgten. Historisch genauso wichtig sind allerdings auch die nicht erfolgten Veränderungen und gescheiterte Initiativen wie die Neue Weltwirtschaftsordnung. Sie helfen uns zu verstehen, wo wir uns heute befinden. In diesem Sinne sind die 1970er-Jahre weit mehr als eine Übergangsphase. In dieser Dekade betrat ein neues Politikfeld, die Energiepolitik, die internationale Bühne und während die 1980er-Jahre, wie von beiden Autoren überzeugend dargestellt, fundamentale Veränderungen mit sich brachten, verließen Fragen der Energieversorgung diese Bühne auch nicht mehr. Um also die Genese heutiger energiepolitischer Verflechtungen und Diskurse zu verstehen, sind diese Studien, die sich den 1970er-Jahren widmen unumgänglich. Es bleibt nur zu hoffen, dass beide Studien auch einem nichtdeutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht werden, so wie 2018 das zuerst 2014 erschienene Werk von Rüdiger Graf.[4] Aus kanadischer Sicht wäre es schön, wenn dann auch ein bisschen mehr zu den Positionen Kanadas als Erdölproduzent in der IEA gesagt würde und die Rolle von Allan MacEachen als kanadischer Ko-Präsident der Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit stärker behandelt würde.
Zitierempfehlung
Petra Dolata, Doppelrezension zu: Jonas Kreienbaum, Das Öl und der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung. Die Bedeutung der Ölkrisen der 1970er Jahre für die Nord-Süd-Beziehungen, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2022; Henning Türk, Energiesicherheit nach der Ölkrise. Die Internationale Energieagentur 1974–1985, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 64, 2024, URL: <https://library.fes.de/pdf-files/afs/82009.pdf> [27.8.2024].
[1]Christopher R. W. Dietrich, Oil Revolution. Anticolonial Elites, Sovereign Rights, and the Economic Culture of Decolonization, Cambridge 2017.
[2]Robert D. Putnam, Diplomacy and Domestic Politics. The Logic of Two-Level Games, in: International Organization 42, 1988, S. 427–460.
[3] Vgl. Robert O. Keohane/ Joseph S. Nye, Power and Interdependence. World Politics in Transition, Boston 1977; vgl. aus der zeithistorischen Forschung Martin Deuerlein, Das Zeitalter der Interdependenz. Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren, Göttingen 2020.
[4]Rüdiger Graf, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin/München etc. 2014; ders., Oil and Sovereignty. Petro-Knowledge and Energy Policy in the United States and Western Europe in the 1970s, New York 2018.