Smart City Innovation Unit: Die Schaltzentrale der Digitalisierung

Mit einer neuartigen Organisationsform setzt das „Bochumer Modell“ in der Verwaltung bundesweit Maßstäbe.

Digitalisierung  |   4. September 2023   |   Feature von Dietmar Kramer  |  Lesezeit: 5 Minuten

Wer mit dem Auto in der Bochumer Innenstadt parkt, bekommt eine erste Vorstellung davon, was Digitalisierung bedeutet – und wie sich auch eine Stadtverwaltung dadurch verändert: Bei der Einfahrt ins Parkhaus erblicken Fahrer_innen nach Angabe ihres Ticketwunsches auf dem Display das Kennzeichen des eigenen Fahrzeuges. Das per Kamera gescannte Nummernschild fungiert als personalisierter Parkschein. Durch diesen digitalen Service müssen Bürger_innen, die ihre Fahrzeuge zuvor registriert haben, ihre zeitgenauen Parkgebühren nur noch einmal monatlich bezahlen. Und das sogar zu einem günstigeren Preis und nicht wie bisher umständlich nach jeder Parkhausnutzung.

Die Digitalisierung bringt in Bochum Veränderungen in vielen Bereichen. Die Smart City Innovation Unit (SCIU) der Stadtverwaltung befasst sich mit den Herausforderungen und Chancen, die der der digitale Wandel birgt. Bochum hat dazu 2021 gemeinsam mit den städtischen Gesellschaften, der IHK Mittleres Ruhrgebiet und dem Netzwerk UniverCity ein umfassendes und zukunftsorientiertes Smart-City-Konzept erarbeitet. Dazu gehören unter anderem Breitbandausbau, das digitale Rathaus, klimafreundliche Mobilität und die Entwicklung einer Smart-City-App für Bochum.

Bochum erfindet sich neu

Die Zukunft des Bochumer Stadtmanagements findet in einem unauffälligen Altbau aus der Malocher-Vergangenheit statt. Aber der äußere Schein trügt. Die Smart City Innovation Unit (SCIU) gleicht einer Task Force. Zu ihr gehören 16 Personen aus der Verwaltung und aus den städtischen Tochterunternehmen.

Schon die ersten Eindrücke in der Schaltzentrale der Bochumer Digitalisierung, im Herzstück also des Bochumer Smart-City-Konzepts, lassen erkennen: Hightech und Forschung haben Kohle und Stahl in ihrer existenziellen Bedeutung für die Stadt den Rang abgelaufen – Bochum ist durch seine konsequent digitale Ausrichtung auf dem besten Weg, sich neu zu erfinden.

Lösungen durch „Schwarmintelligenz“

Dazu gehört am Jour fixe in der SCIU auch der Fortschrittsbericht vom Umgang mit buchstäblich tiefer liegenden Problemen: mit smarten Rattenfallen in der Bochumer Kanalisation. Das ultramoderne LoRaWAN-Funknetz (Long Range Wide Area Network) – eine Funktechnik, die strahlungsarm und energieeffizient Daten einer Vielzahl von Sensoren zur vollautomatisierten Integration in Workflows überträgt – sendet nahezu flächendeckend Meldungen über Nager, die in die Falle getappt sind. Aber an besonders massiv und mit Stahl verbauten Stellen dringen die Signale des Sensors nicht an die stationären Empfänger an der Oberfläche. Was tun? Die Projektmanager Rolf Hartung und Gregor Siedlaczek präsentieren dem gesamten Team die Idee, dass Fahrzeuge des lokalen Abfallentsorgers „Umweltservice Bochum“ auf ihren täglichen Routen durch das Stadtgebiet als „mobile Agenten“ fungieren – durch den Einbau von alternativen Empfangsgeräten.

Die Rattenfallen stehen exemplarisch für die Arbeitsweise der Ideenwerkstatt SCIU. „Zu unserer Projektarbeit gehört auch, Piloten auszuwerfen und auf technische Machbarkeit zu prüfen“, beschreibt Hartung einen Teil der Aufgabenstellung. „Wir wollen nichts entwickeln, was man später nicht verstetigen kann, weil es keiner nutzen möchte“, ergänzt Siedlaczek. Das Gegenteil ist jedoch bei den Ratten der Fall. Der Technische Betrieb muss im Idealfall nicht mehr monatlich zu Kontrollen ins Kanalnetz hinabsteigen, sondern nur noch bei „Treffermeldungen“. Die so frei werdenden Zeitfenster können die Mitarbeitenden für andere oder sogar zusätzliche Aufgaben nutzen. Projektmanager Gregor Siedlaczek nennt es „Schwarmintelligenz“ aus allen städtischen Tochterunternehmen, mit der die SCIU nach Erleichterungen sowohl für Bochums Bürger_innen als auch die Verwaltung sucht.

SCIU in Deutschland beispiellos

Dabei sind die SCIU und das „Bochumer Modell“ selbst ein Experiment. „Unser Konstrukt ist unseres Wissens einzigartig in Deutschland, es gibt nichts Ähnliches“, erklärt SCIU-Koordinator Jan-Robin Schäfer mit Blick auf personelle Aufstellung und inhaltliche Ausrichtung seines Teams.

Schäfers Sondereinheit, in der jedes Mitglied weiterhin wöchentlich einen Tag auch beim ursprünglichen Arbeitgeber im „Konzern Stadt“ tätig ist, steht für einen gesamtstädtisch integrierten und gemeinsam getragenen Ansatz zur digitalen Stadtentwicklung. Als ihre zentrale Aufgabe gilt, das mit 15,2 Millionen Euro veranschlagte Smart-City-Bochum-Konzept, für das bis zu 65 Prozent auch Mittel des Bundes zur Verfügung stehen, möglichst weitgehend umzusetzen und fortzuschreiben.

Ziel ist die kommunale Digitalisierung zugunsten einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Ihrem Selbstverständnis nach fungiert die SCIU als Treiberin digitaler und kommunaler Transformation sowie als Lotsin, Koordinatorin und Partnerin städtischer Fachbereiche und kommunaler Unternehmen.

Smart-City-Bereiche in Bochum

Die Smart City Innovation Unit arbeitet an Lösungen für die Leitthemen „Intelligentes Stadtmanagement“, „Zukunftsfähige Infrastruktur“, „Innovative Wirtschaft & Wissenschaft“, „Digitale Gesellschaft“, „Nachhaltige Mobilität & Umwelt“.

Die Digitalisierung umfasst bislang unter anderem folgende Bereiche der Stadt:

Smarte Sensorik

Unter Einsatz modernster Sensorik erhebt Bochum Klimadaten für das Stadtklima-Monitoring. Gemessen werden Bodenfeuchte, Gewässergesundheit, Temperatur oder Niederschlag. Diese Daten werden den städtischen Fachbereichen zur Verfügung gestellt, um Handlungsempfehlungen abzuleiten. Perspektivisch sollen die Daten in eine offene Datenplattform fließen. Sensorik signalisiert aber beispielsweise auch, wie voll Abfallcontainer sind und wann diese geleert werden müssen.

Smarter Datentransport

Die Stadtwerke Bochum haben in Bochum ein LoRaWAN-Netzwerk mit rund 40 Gateways geschaffen. LoRaWAN (Long Range Wide Area Network) ermöglicht den energieeffizienten und kostenarmen Transport von Daten. Die Smart City Bochum nutzt das Netzwerk unter anderem für eine Vielzahl von Sensorikprojekten.

Smarte Verwaltung

Aktuell können die Menschen in Bochum mehr als 210 Verwaltungsdienstleistungen online erledigen. Beispielsweise können Hunde online zur Steuerveranlagung angemeldet werden. Im „Speed Capture Kiosk“ im Bochumer Rathaus können Bürger_innen ohne vorherige Anmeldung ihr Passfoto für Personalausweis oder Reisepass selbst erstellen, die Fingerabdrücke für das neue Dokument abgeben und digital unterschreiben.

Smart Parken

Im gesamten Stadtgebiet wurde 2020 das Bargeld- und kontaktlose Bezahlen an städtischen Parkscheinautomaten und Parkhäusern per App eingeführt.

Smarte Beteiligung

Mit der Beteiligungsplattform www.bochum-mitgestalten.de hat Bochum eine digitale Beteiligungsmöglichkeit für die Bürger_innen geschaffen.

Smarte Bauplanung

Gemeinsam arbeiten Stadtverwaltung, Wohnungswirtschaft und ein Startup-Unternehmen an einer Plattform, mit der Bauplaner_innen ihre Entwürfe mithilfe von digitalen Modellen („Building Information Models”) auf Einhaltung von Anforderungen der Landesbauordnung und Bauprüfverordnung prüfen können. Die Vorabprüfung soll dazu beitragen, Genehmigungsverfahren schneller und effizienter zu machen.

Schnittmengen nutzen

Für Schäfer ist die Verzahnung der Konzern-Töchter trotz ihres innovativen Charakters ein Resultat zwingender Logik: „Alle haben erkannt, dass Digitalisierung alle betrifft, niemand etwas alleine lösen kann und es Schnittmengen gibt. Irgendwann hätte jedes Unternehmen für sich die zukunftsweisende Bedeutung der Sensorik und ihrer Themenfelder erkannt, so dass der frühe Informationsaustausch zum jetzigen Zeitpunkt sehr wertvoll ist.“ Aus seiner Sicht ist der breite Konsens der Politik über die Grenzen zwischen Ratsmehrheit und Opposition hinweg einerseits für das Smart-City-Konzept und andererseits für sein Team von elementarer Bedeutung. „Solch ein großer Rückhalt ist bei einem umwälzenden Thema wie der Digitalisierung sehr wichtig“, meint Schäfer.

Zumal es keine Blaupause, kein Vorbild gibt: „Niemand weiß, wie Smart City geht. Aber es gibt in Bochum ein klares Commitment, Smart City durchzusetzen. Das Bochumer Modell bedeutet ja, dass wir alle zusammen das schaffen, was Verwaltung auf der einen Seite und die Konzernunternehmen auf der anderen Seite jeweils alleine nicht schaffen“, betont Projektmanager Hartung. Und sein Kollege Siedlaczek verweist auf ganz praktische Vorteile: „Das zur Verfügung stehende und angewandte Knowhow aus allen beteiligten Kommunalunternehmen ist ein entscheidender Grund dafür, dass wir schon so weit gekommen sind.“

Stadtklima-Monitoring in vielseitiger Form

Zu den wichtigsten Projekten gehört die übergeordnete Maßnahme „Stadtklima-Monitoring für die Klimafolgenanpassung“. Darunter fällt das Pilotprojekt der Bodenfeuchte-Messung an Stadtbäumen ebenso wie das Vorhaben einer „Heat Map“, die die Temperaturen im Stadtgebiet anzeigt. Teil der Maßnahme ist auch die Gewässersensorik, durch die in Bochumer Seen und Regenrückhaltebecken etwa der pH-Wert oder der allgemeine Zustand geprüft werden.

Sensoren messen beispielsweise bei Stadtbäumen die Bodenfeuchte, um den Wässerungsbedarf zu ermitteln. Dafür werden Daten stündlich erhoben und über das LoRaWAN-Netz der Stadtwerke Bochum übermittelt. Das liefert auch Erkenntnisse für die effizienteren Planung von Gießfahrten vor allem in langen und heißen Trockenphasen. Ebenso könnte es dazu beitragen, in Zukunft die Übernahme von Gießpatenschaften durch Bürger_innen attraktiver zu machen. „Das Monitoring ist alles andere als ein Selbstzweck, alleine weil es zu einem sparsamen Verbrauch der Ressource Wasser beiträgt“, erklärt Hartung.

„Hitze-Karte“ für die Stadt

Beim Projekt „Heat Map“ stellen Sensoren an Glascontainern fortwährend die Temperaturen im gesamten Stadtgebiet fest. Diese „Hitze-Karte“ umfasst mehr als 1000 Messpunkte und soll zu einer verlässlichen Grundlage besonders für die Stadtplanung werden. „Man könnte damit leicht erkennen, ob man an bestimmten Stellen wegen hoher Temperaturen besser kein Seniorenheim bauen sollte“, erläutert Siedlaczek einen pragmatischen Nutzen. Die „Hitze-Karte“ ist eine Machbarkeitsstudie in Zusammenarbeit mit dem Klimanetzwerk Bochum. Nutzen ließe sie sich unter anderem auch für den Umgang mit Extremwetterereignissen, weil sie beispielsweise Temperaturen oder Niederschlagsmuster zeigt.

Mit den Bürger_innen ins Gespräch kommen

Auf der Suche nach Vorteilen für alle Menschen in Bochum sucht die SCIU gezielt auch die Nähe zur Bevölkerung. Mit dem „Stadtlabor zu Besuch“ will die Unit ihre Arbeit und Erfolge, aber auch Misserfolge transparent darstellen. Das Stadtlabor sei ausdrücklich für den Dialog mit den Bürger_innen angelegt. „Wir wollen mit den Menschen, für die wir arbeiten, ins Gespräch kommen, dabei findet auch Sensibilisierung statt. Wenn die Menschen spüren, dass ihre Ideen willkommen sind, schafft das Involvement. Denn bei aller Digitalität ist Digitalisierung ein ‚People’s business‘, ein Thema von Menschen für Menschen“, erläutert Rolf Hartung. Und Gregor Siedlaczek ergänzt: „Wir wollen Ängste bei den Menschen abbauen, wenn sie verstehen können, was wir tun.“

In der Gesamtschau von zwei Jahren SCIU lädt Koordinator Jan-Robin Schäfer andere Städte und Gemeinden ausdrücklich zur Entwicklung von ähnlichen Konstrukten wie dem „Bochumer Modell“ ein. Für ihn ist die Organisationsform seiner SCIU auch aus arbeitswissenschaftlicher Sicht ein Gewinn: „Der wissenstechnische Mehrwert und die Erfahrungen mit den unterschiedlichen Unternehmenskulturen sind es wert, alle unvermeidlichen Reibungen auf dem gemeinsamen Weg auszuhalten. Man muss und kann Zusammenarbeit lernen. Wenn man Wissen auf eine breitere Basis stellt, profitieren am Ende alle.“

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