Dietmar Molthagen

Integration ins Grundgesetz

Johannes Eichenhofer im Gespräch darüber, warum er in einem FES-Gutachten für ein Staatsziel Integration plädiert.

Porträt von einem Mann mit einem Bart und Brile. Er trägt einen Anzug und lächelt.

Bild: Johannes Eichenhofer von privat

Die FES veröffentlicht heute ein Gutachten, das auslotet, ob für mehr Integration und Teilhabe neue Gesetze erforderlich sind. Die Autoren Farhad Dilmaghani und Dr. Johannes Eichenhofer schlagen ein neues Staatsziel im Grundgesetz und ein Bundesteilhabegesetz vor. Darüber haben wir mit Dr. Eichenhofer gesprochen.

FES: „Integration kann man nicht gesetzlich verordnen, sondern sie ist ein Prozess.“ So oder ähnlich hört man es in vielen integrationspolitischen Debatten. Warum wären Gesetzesänderungen Ihrer Meinung nach dennoch wichtig und zielführend, um die Integration zu verbessern?

Johannes Eichenhofer: Zwar ist es richtig, dass das Recht die Integration der Einwanderungsgesellschaft nicht im Alleingang bewerkstelligen kann. Dafür bedarf es vielmehr einer Willkommens- und Integrationskultur, die durch alle Mitglieder der Einwanderungsgesellschaft gelebt werden muss. Gleichwohl ist der Einfluss des Rechts auf Integrationsprozesse kaum zu überschätzen: es kann Integrationsleistungen fördern oder unattraktiv machen. Beispielsweise haben in den 1950er bis 1970er Jahren in Deutschland lebende „Gastarbeiter“ eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nur in „begründeten Ausnahmefällen“ erhalten. Ihre Kinder wurden getrennt von deutschen Schüler_innen in sog. „Nationalklassen“ unterrichtet. Heute ist dagegen weitgehend anerkannt, dass Integration eine Aufgabe ist, die in allen Politikfeldern engagiert angegangen werden muss – auch durch entsprechende Gesetze.

Ihr Gutachten diskutiert ein neues Staatsziel. Warum sollte das Grundgesetz ergänzt werden?

Es dürfte inzwischen niemand mehr bestreiten, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist. Gerade im rechtlichen Kontext fehlt es allerdings an Leitbildern für die Einwanderungsgesellschaft. Vergleicht man die maßgeblichen Rechtsgebiete – vom Asyl- und Aufenthaltsrecht über das Schulrecht, das Arbeits- und Sozialrecht bis zum Staatsangehörigkeitsrecht – so finden wir zahlreiche Regelungen, die miteinander in Konflikt geraten. Während beispielsweise das Aufenthaltsrecht die Integrationsförderung davon abhängig macht, dass den Betroffenen bereits ein Aufenthaltstitel erteilt wurde oder sie zumindest über eine gute Bleibeperspektive verfügen, besteht eine Schulpflicht auch unabhängig von diesen Voraussetzungen.

Ein Staatsziel „Vielfalt und Integration“ müssten alle Staatsgewalten beachten, und es würde die Koordinierung der verschiedenen einfachgesetzlichen Integrationsregelungen erforderlich machen. Es könnte ein Integrationskonzept begründen, das auf den Grundrechten und Prinzipien des Grundgesetzes beruht. „Vielfalt“ steht dabei für die Religions- und Meinungsfreiheit sowie das Allgemeine Persönlichkeitsrecht. Denn Einwanderer sollen sich trotz aller berechtigten Integrationsanforderungen des deutschen Staates nicht assimilieren, also ihre Kultur aufgeben müssen. Es geht vielmehr um ein friedvolles Zusammenleben in Vielfalt. Hierzu ist es notwendig, Vielfalt nicht nur anzuerkennen, sondern die Integration der Menschen mit Einwanderungsgeschichte durch eine verstärkte Teilhabe an zentralen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Ressourcen zu verbessern. Schließlich sind Staatsziele gerade in Zeiten großer Unsicherheit im Umgang mit Einwanderung bedeutsam, da sie dem Staat Orientierung vermitteln und zugleich ein Rückschrittsverbot enthalten: Das, was einmal als Staatsziel formuliert wurde, darf nicht mehr hinterfragt oder abgeschwächt werden.

Weiter schlagen Sie ein Bundesteilhabegesetz vor. Inwiefern würde es die Integration verbessern?

Ein Bundespartizipations- und Teilhabegesetz müsste sich – zur Konkretisierung des Staatsziels – die wichtige Aufgabe stellen, dass sich die vielfältige Bevölkerungsstruktur unserer Einwanderungsgesellschaft auch in der Staatsgewalt wiederspiegelt. Konkret bedeutet dies, im öffentlichen Dienst den Anteil der Beschäftigten mit Einwanderungsgeschichte zu erhöhen. Eine solche interkulturelle Öffnung der Bundesverwaltung wäre mit zahlreichen Vorteilen verbunden: Sie würde die Leistungen der Verwaltung für Menschen mit Einwanderungsgeschichte durchlässiger machen und der Staatsgewalt zu größerer Akzeptanz verhelfen. Schließlich könnte das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft immer besser eingeübt werden, wenn sich Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte immer wieder in verschiedenen Rollen begegnen. 

Im Zuge der flüchtlingspolitischen Debatten hat der Bundestag im vergangenen Jahr mehrere Gesetzespakete verabschiedet. Warum sehen Sie trotzdem weiteren Regelungsbedarf?

Die Asylpakete I und II sowie das Integrationsgesetz des Bundes richten sich zunächst nur an Geflüchtete, die in jüngerer Zeit nach Deutschland gekommen sind. Während die Asylpakete primär die Beschleunigung des Asylverfahrens zum Ziel haben und nur vereinzelt integrationspolitisch relevante Maßnahmen wie die Ausweitung der Integrationskurse oder die Lockerung des Leiharbeitsverbots enthalten, wurden mit dem Integrationsgesetz Anreize geschaffen, um Ausbildungsberufe zu ergreifen und den Arbeitsmarktzugang zu erleichtern. Gleichzeitig enthält das Integrationsgesetz jedoch auch die umstrittene Wohnsitzauflage für Personen, denen bereits ein Aufenthaltstitel erteilt wurde. Die Gesetze zeigen also genau jenen Zustand der Unentschlossenheit zwischen Abwehr und Integration, der durch ein Staatsziel zugunsten der Integration behoben werden könnte. Maßnahmen der interkulturellen Öffnung, wie sie unserem Vorschlag für ein Bundespartizipations- und Teilhabegesetz vorschweben, sind im Integrationsgesetz gar nicht enthalten.  

Wo sehen Sie aktuell die größten Hindernisse für eine Gesetzgebung, wie Sie sie vorschlagen?

Ganz klar: Es bedarf hierfür einer politischen Mehrheit. Als Verfassungsänderung würde die Einführung eines Staatszieles „Vielfalt und Integration“ im Grundgesetz voraussetzen, dass eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder von Bundestag und Bundesrat diesem Vorschlag zustimmen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Für die Verabschiedung eines Bundespartizipations- und Teilhabegesetzes würde dagegen eine einfache Mehrheit im Bundestag ausreichen. Ob sich eine solche Mehrheit findet, hängt erstens von der Bundestagswahl im September ab. Zweitens hat die aktuelle Stimmungslage der öffentlichen Debatte einen großen Einfluss. Es dürfte kaum ein Thema geben, das so emotional besetzt ist wie die Migrations- und Integrationspolitik.

Immer wieder schreiben Sie davon, dass Gesetze den Rahmen für gesellschaftliches und individuelles Handeln setzen. Wie kann das Recht dazu beitragen, eine kollektive Identität zu entwickeln, die Integration fördert?

Das Recht und insbesondere die Verfassung sind nicht nur ein Ensemble von Rechten und Pflichten. Laut ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründen die im Grundgesetz gewährten Grundrechte auch eine objektive Werteordnung. Das Grundgesetz macht damit die zentralen Werte unserer Gesellschaft transparent. Sie stellen die Grundlage dar, auf der wir unser Zusammenleben gestalten müssen. Mit unserer Forderung nach einem Staatsziel „Vielfalt und Integration“ würde das Grundgesetz nun um eine wichtige Komponente bereichert, die es zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens am 23.5.1949 noch nicht enthalten konnte: Einer Grundlage des Zusammenlebens in der Einwanderungsgesellschaft.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dr. Johannes Eichenhofer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld. Zudem ist er stellvertretender Vorsitzender von DeutschPlus e. V.

Die Fragen stellte Dietmar Molthagen, FES.

 

Eichenhofer, Johannes; Dilmaghani, Farhad

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Berlin, 2016

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