Akademie für Soziale Demokratie

Wolfgang Streeck (2021): Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus. Berlin: Suhrkamp Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Michael Dauderstädt
Michael Dauderstädt ist freiberuflicher Berater und Publizist und war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschaft- und Sozialpolitik der FES.


buch|essenz

Kernaussagen

Die neoliberale Globalisierung ist in der Krise: Die Wirtschaft stagniert; politische Gegenbewegungen (Brexit, Trump, Populisten, Separatisten) gewinnen an Macht. Eine supranationale Gestaltung der Märkte gefährdet die Demokratie und hat wenig Aussicht auf Erfolg. Stattdessen muss der Nationalstaat und der nur in ihm mögliche Schutz der Schwachen und traditionaler Strukturen gestärkt werden. Eine solche Welt souveräner Kleinstaaten bedarf einer kooperativen Weltordnung, für die das Ende der einseitigen US-Hegemonie Chancen bietet.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die neoliberale Wende, Globalisierung und die einseitige Marktintegration in Europa gefährden wichtige Ziele der Sozialen Demokratie. Streeck teilt deren fundamentale Werte (Demokratie und sozialer Zusammenhalt) und befürwortet deshalb einen Rückbau internationaler Verflechtungen und supranationaler Regelungen. Damit vertritt er in der aktuellen Debatte allerdings eine relativ extreme Position. Die Verwirklichung klassischer sozialdemokratischer Ziele kann er sich nur im Zuge einer Renaissance des souveränen Nationalstaats vorstellen.

Verlag: Suhrkamp Verlag
Erschienen: 07.11.2021
Seiten: 538
ISBN: 978-3-518-42968-6


buch|autor

Wolfgang Streeck ist ein deutscher Soziologe. Er war bis 2014 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Zu Beginn der rot-grünen Regierung unter Schröder beriet er das Kanzleramt zu Arbeitsmarktreformen und plädierte erfolglos für einen subventionierten Niedriglohnsektor im Rahmen des Bündnisses für Arbeit. 20 Jahre später entwickelte er sich zu einem der schärfsten Kritiker neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik und des Finanzkapitalismus. Sein diesbezügliches Buch Gekaufte Zeit (2013) war ein Bestseller.


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buch|inhalt

Die Auseinandersetzung zwischen Globalismus (die Entmachtung der Nationalstaaten durch die Globalisierung) und Demokratie läuft quer zu traditionellen politischen Frontlinien. Teile der vor allem gebildeten kosmopolitischen Linken ebenso wie die wirtschaftsliberale Rechte befürworten die Globalisierung als kulturelle und ökonomische Öffnung. Demgegenüber stehen nationalistisch-protektionistische Konservative, aber auch Linke, die soziale Besitzstände und Spielräume für Umverteilung bewahren wollen.

Die Krise des Neoliberalismus

Der Neoliberalismus will den Staat zurückdrängen und den Märkten und der Privatwirtschaft mehr Gestaltungsraum geben. Davon versprach er sich angesichts der Krise des keynesianischen Nachkriegsmodells neues Wachstum. Spätestens die Finanzkrise von 2008 bewies das Scheitern des Modells. Selbst eine expansive Geldpolitik und wachsende Schulden konnten die Stagnation und Deflation nicht überwinden.

Auch die von vielen Linken begrüßte Rückkehr von Keynes in Gestalt von schuldenfinanzierten Staatsausgaben und niedrigen Zinsen dürfte langfristig an institutionellen Hürden wie Schuldenbremse, Maastrichtkriterien und den Interessen der Kapitalanleger scheitern. Die etablierte Wirtschaftspolitik ist letztlich ratlos, wie die Krise zu überwinden wäre.

Der stagnierende Kapitalismus kann die Erwartungen der Menschen nicht mehr erfüllen. Während das keynesianische Nachkriegsmodell auf zunehmenden Massenkonsum setzte, droht angesichts der Klimakrise nun ein Sparkapitalismus. Dieser ist angesichts der ungleichen Verteilung von Wachstum und Verzicht aber in demokratischen Gesellschaften nicht durchzusetzen.

Die Globalisierung veränderte die Kräfteverhältnisse zwischen der mehr ortsgebundenen Arbeit und dem Staat einerseits und dem international mobilen Kapital andererseits. Der Neoliberalismus kündigte den korporatistischen Klassenkompromiss auf, auf den die westlichen Wohlfahrtsstaaten gegründet waren. Er veränderte die Programmatik der rechten und linken Parteien und untergrub das „Standardmodell“ der Demokratie. Dagegen bildet sich aber wachsender Widerstand, oft in Form rechtspopulistischer Parteien.

In der EU mit ihrer einseitigen Marktintegration spitzt sich der Konflikt zwischen Demokratie und Kapitalismus zu. Die Zentralisierung von Entscheidungen schwächt nationale und regionale Interessen und Lebensweisen. Eine quasireligiöse und propagandistische Verklärung der EU soll die daraus wachsende Euroskepsis entkräften und diffamieren.

Staatensysteme und nationale Souveränität

Ein Staat bestimmt sich immer im Verhältnis zu anderen Staaten und dem internationalen Gesamtsystem. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Zahl der formell unabhängigen, oft auch demokratischen Staaten immer weiter zugenommen: erst durch die Dekolonisierung, ab 1990 durch den Zerfall von Föderationen im ehemaligen Ostblock. Der Entstehungsprozess von Nationalstaaten war (und ist) oft konfliktreich. Die Staatsgebiete decken sich oft nicht mit ethnischen, kulturellen und sprachlichen Siedlungsräumen. Daraus ergeben sich Separatismus und Sezessionswünsche, wenn nicht durch geschickte Föderalisierung (z.B. Schweiz, Deutschland) den Teilstaaten ausreichende Autonomie eingeräumt wird.

Menschen brauchen bei aller grundsätzlichen Weltoffenheit eine eigene kulturelle Umwelt, mit der sie sich gegenüber Fremden abgrenzen. Diese Identitäten sind Quelle des Zusammenhalts aber auch potenzieller Konflikte gegenüber anderen und übergeordneten Staaten. Die beiden Fälle Katalonien und Schottland lassen sich im Kontext historischer Prozesse erklären. Spanien und das Vereinigte Königreich sind ehemalige Imperien, die erst in jüngerer Zeit die regionale Autonomie gestärkt und so dem Separatismus Raum gegeben haben. Deutschland hat dagegen im Fall Bayern Integration und Autonomie versöhnt, steht jetzt aber in Ostdeutschland neuen Herausforderungen gegenüber.

Die internationale Staatenordnung umschreibt die Bedingungen demokratischer Souveränität. In Imperien wird sie eingeschränkt (z. B. die Breschnew-Doktrin im kommunistischen Ostblock). Aber auch die liberale Weltordnung begrenzt den Handlungsspielraum der Nationalstaaten. Im Bretton-Woods-System der Nachkriegszeit (bis 1972) waren Wechselkurse fixiert und Kapitalströme unterbunden. Das ermöglichte eine keynesianische Wirtschaftspolitik und sozialen Ausgleich im Inneren. In der globalisierten Welt stehen die Staaten untereinander im Standortwettbewerb und damit unter dem Druck des Kapitals.

Europa hat seine Staatenordnung durch Vertiefung und Erweiterung überfordert. Ausgehend von international abgestimmten Sektorpolitiken (wie beispielsweise der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl oder Euratom) wurden mit dem Binnenmarkt und der Währungsunion die nationalen Spielräume immer weiter eingeschränkt. Der Brexit ist eine Reaktion auf diese Entmachtung, getrieben von einem Mix aus „rechtem“ Nationalismus und „linkem“ Schutzbedürfnis. Beide wollen die nationale Kontrolle wiedergewinnen. Europas weitere Entwicklung verläuft im Spannungsfeld von dezentralisierender Konföderation und zentralisierendem Imperium.

Die Sackgasse der supranationalen Steuerung

In der Hyperglobalisierung dominiert das Kapital, indem die großen Unternehmen ihre Produktionsnetzwerke und Wertschöpfungsketten quer durch die Staatenwelt und die Gesellschaften etablieren. Die damit verbundene Entmachtung der Nationalstaaten erfordert eine globale Steuerung (global governance), die letztlich imperiale Züge annimmt.

Wie Dani Rodrik schon früh gezeigt hat, ging die Globalisierung zu weit. Sie hat zu einem Trilemma zwischen Nationalstaat, Demokratie und wirtschaftlicher Integration geführt. Diese drei sind nicht alle gleichzeitig zu erreichen, sodass eines geopfert werden muss, wenn man die anderen beiden erhalten will. Nationale demokratische Souveränität ist mit der Globalisierung nicht vereinbar.

Der Prozess imperialer Hyperglobalisierung ist sowohl ökonomisch wie politisch ins Stocken geraten. Wirtschaftlich stagniert seit der Finanzkrise die lange gewachsene Internationalisierung (gemessen am Verhältnis von Welthandelsvolumen oder von Kapitalflüssen zum globalen Bruttoinlandsprodukt). Politisch sind weitere imperiale Regelungsprojekte gescheitert, wie etwa die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft TTIP und das Multilaterale Investitionsabkommen MAI. Die Welthandelsorganisation wurde durch die USA (Trump) blockiert.

Die oft gepriesene global governance ist eine technokratische Utopie, die Herrschaft und Interessen hinter scheinbar sachlogischen Entscheidungen „unabhängiger“ Fachleute zu verstecken sucht. Sie sei auch deshalb vorzuziehen, wenn nicht „alternativlos“, da die zu steuernden Systeme von so hoher Komplexität seien, dass man sie nicht demokratischen Prozessen überlassen dürfe und könne. Die letzte Version ist die Übergabe der wirtschaftspolitischen Steuerung an die demokratisch nicht kontrollierten Zentralbanken, die mit ihrer expansiven Geldpolitik das gescheiterte neoliberale Wachstumsmodell retten sollen.

Auch ein liberales Imperium muss letztlich erfolglos bleiben, weil die Kosten seiner Durchsetzung die erzielbaren Gewinne übersteigen. Die Peripherien sind immer weniger bereit sich unterzuordnen und die Bevölkerung der imperialen Zentren ist immer weniger bereit, die Kosten zur Aufrechterhaltung der globalen Ordnung zu tragen. Corona ist das jüngste deutliche Beispiel für die immer wieder verleugneten Kosten der Globalisierung. Die Pandemie hat eine Krise ausgelöst, deren Kosten die Staaten in eine Finanzkrise stürzen.

Die EU – ein zum Scheitern verurteiltes Imperium

Die EU ist das am weitesten fortgeschrittene Modell supranationaler Staatlichkeit. Aber sie hat die Diversität von Werten und Interessen ihrer Mitgliedgesellschaften unterschätzt. Die verschiedenen Erweiterungen und Vertiefungen angesichts neuer Herausforderungen (Globalisierung, Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Corona) haben zu Spannungen geführt, die kaum zu bewältigen sind.

Dramatisch war und ist der Konflikt zwischen dem nördlichen Zentrum und der südlichen Peripherie, der sich in der Eurokrise zugespitzt hat. In ihr wurde der imperiale Anspruch des Zentrums sichtbar. Demokratische Willensäußerungen der südlichen Gesellschaften wurden ignoriert und durch zentrale Vorgaben ersetzt. Gewählte Regierungen in Italien und Griechenland mussten EU-hörigen Technokraten weichen. Imperien können (und müssen) ihnen freundlich gesinnte nationale Eliten an der Macht halten, indem sie ihnen dazu nötige Ressourcen bereitstellen. Aber das in der EU dazu notwendige Ausmaß überfordert die Bereitschaft und Fähigkeit des Zentrums, vor allem Deutschlands.

Eine mögliche Strategie, die diversen Mitgliedstaaten zur Aufgabe von Souveränität zu bewegen, wäre eine gemeinsame Sicherheitspolitik gegen äußere Bedrohungen. Aber das Projekt einer europäischen Armee muss an den unterschiedlichen nationalen strategischen Interessen scheitern. Frankreich blickt vor allem auf Nordafrika und die islamistische Gefahr und will die volle Kontrolle über seine Nuklearwaffen behalten. Deutschland und noch mehr die für Deutschland wichtigen Länder Mittelosteuropas sehen dagegen eher Russland als Gegner.

Die gespannten Beziehungen zwischen Zentrum (Deutschland und Frankreich) und Peripherie könnten auch durch Solidarität geheilt werden. Aber vor allem in der Währungsunion zeigen sich deren Grenzen. Unzufriedenheit und Widerstand wachsen in der Peripherie angesichts der Forderungen des Zentrums nach finanzieller Konsolidierung und damit verbundenen Reformen (häufig sozialen Einschnitten) als Preis für Hilfen.

Die in der Coronakrise getroffenen Maßnahmen des „Wiederaufbauprogramms“ mit (vorher immer abgelehnten) gemeinsamen Schulden und Steuern werden die EU langfristig nicht retten. Letztlich ist der Umfang der Mittel zu gering, wenn man sie auf Länder und die siebenjährige Laufzeit umrechnet, und die zeitliche Dauer beschränkt. Die Währungsunion bräuchte aber, wie die Beispiele Ostdeutschland und Mezzogiorno zeigen, dauerhafte Transfers in Höhe von vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts, um ein Auseinanderdriften auch nur aufzuhalten.

Ausweg nach unten: Kooperative Kleinstaaterei

Die Hyperglobalisierung und ihre neoliberale Steuerung sind ökonomisch und politisch gescheitert. Schon jetzt breiten sich Protektionismus und Wirtschaftsnationalismus aus, um bedrohte einheimische Arbeitsplätze zu schützen und die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern abzusichern. Die Pandemie hat diesen Prozess beschleunigt. Der Aufstieg Chinas hat die amerikanische Hegemonie beendet, deren Macht die alte marktliberale Ordnung garantiert hat.

Generell lassen sich komplexe Systeme wie die Weltwirtschaft besser regulieren, wenn sie in Subsysteme zerlegt sind und deren Koppelung beschränkt ist. So hat die von Keynes inspirierte alte Weltwirtschaftsordnung von Bretton Woods (1945-1972) Kapitalverkehrskontrollen vorgesehen.

Die Vorzüge kleiner und mittlerer Staaten, deren Zahl zunimmt, werden deutlicher. Sie sind wirtschaftlich erfolgreicher und sozial gerechter. Außerdem sind sie demokratischer, da in ihnen politische Prozesse überschaubarer sind und die dann gefassten Entscheidungen dank des größeren äußeren Handlungsspielraums auch umsetzbar sind. So kann die kapitalistische Wirtschaft wieder politisch und gesellschaftlich eingebettet werden.

Auch ein System zahlreicher kleiner und mittlerer Staaten ist in der Lage, globale Gemeinschaftsgüter (z.B. Klimaschutz) zu produzieren. Es bedarf dazu keines Machtworts einer imperialen Führungsmacht. Vielmehr kann und sollte man mehr auf gesellschaftliche Moralvorstellungen als auf „rationale“ staatliche Nutzenkalküle vertrauen. Ohnehin war die alte, liberale internationale Ordnung nicht wirklich regelbasiert. Die USA behielten (und behalten) sich immer vor, Regeln zu missachten, die ihre Souveränität und Interessen zu sehr verletzen.


buch|votum

Streecks Buch ist der wohl bisher gewichtigste deutsche Beitrag zur Debatte, wie Ziele der sozialen Demokratie angesichts von Globalisierung, europäischer Marktintegration und jahrzehntelanger neoliberaler Politik erreicht werden sollen. Allerdings vertritt der Autor eine in dieser Diskussion relativ extreme Position, die sich in abgeschwächter Form z.B. auch bei Michael Bröning in dessen Buch „Lob der Nation“ findet, während andere Autor_innen wie Gesine Schwan in ihrem Buch „Politik trotz Globalisierung“ die gleiche Problematik mit weniger radikalen Mitteln lösen wollen.

Insbesondere Streecks EU-Skepsis und die damit verbundenen Rückbauforderungen reiben sich mit der sozialdemokratischen Programmatik. Die von ihm zurecht kritisierte übergriffige Sparpolitik in der Eurokrise und einseitige Marktintegration versuchen mehr proeuropäische Autor_innen (z.B. Björn Hacker in seinem Buch „Weniger Markt, mehr Politik. Europa rehabilitieren“) auf weniger nationalistischen Wegen zu korrigieren – ganz zu schweigen von Befürworter_innen einer Abschaffung der Nationalstaaten und einer europäischen Republik (Ulrike Guérot).

Umstritten werden auch Streecks analytische Befunde eines Scheiterns der Globalisierung und Europas bleiben – unabhängig von seinen politischen Zielen. Aber er hat eine beeindruckende Fülle empirischer und theoretischer Belege für seine Thesen zusammengetragen, auch wenn jüngste Entwicklungen (nach Abschluss seines Manuskripts) einige Prognosen (z. B. andauernde Deflation) schon widerlegt haben. Aber der Kern seiner Analyse belegt, wie notwendig eine intensive Debatte über mögliche Auswege aus der offensichtlichen Krise ist. Streecks Thesen bleiben dazu ein wichtiger Ausgangspunkt.

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