Gesine Schwan: Politik trotz Globalisierung

Berlin: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (2021)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Michael Dauderstädt
Michael Dauderstädtist freiberuflicher Berater und Publizist und war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschaft- und Sozialpolitik der FES.


buch|essenz

Kernaussagen

Die Globalisierung und der deregulierte Kapitalismus haben Ungleichheit und Politikverdrossenheit produziert und den Nationalstaat entmachtet. Eine Politik, die gleiche Freiheit und Gerechtigkeit anstrebt, muss liberale Prinzipien mit sozialer Absicherung verbinden. Die repräsentative Demokratie hat einen Vertrauensverlust erfahren. Sie muss durch neue Formen der Teilhabe ergänzt werden, die Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft einbinden. Die offene Austragung von Interessenkonflikten mit der Perspektive transparent begründeter Lösungen bietet einen Ausweg, um die Herausforderungen der Klimakrise, der globalen Migration und des beschleunigten Strukturwandels zu bewältigen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Das Buch, geschrieben von einer prominenten Sozialdemokratin, teilt die programmatischen Ziele der Sozialen Demokratie: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Auf der Grundlage  einer gründlichen Auseinandersetzung mit den politischen Philosophien demokratischer Herrschaft entwickelt die Autorin neue Konzepte partizipativer Politik. Ihre Hoffnung ruht auf Formaten, die unterschiedliche Interessengruppen einbinden und vor allem auf kommunaler Ebene innovative Lösungen erarbeiten.

Verlag: wbg Theiss
Erschienen: 20.01.2021
Seiten: 224
ISBN: 978-3-8062-4308-6

buch|autorin

Professorin Gesine Schwan ist Politikwissenschaftlerin und war lange Zeit Präsidentin der Europa-Universität Viadrina.

Sie ist Präsidentin der Berlin Governance Platform und seit 2014 Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD sowie seit 2015 Co-Vorsitzende des Sustainable Development Solutions Network Germany.

Sie wurde 2004 von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und 2009 von der SPD als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten nominiert.


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buch|inhalt

Das Buch umfasst acht Kapitel, wobei das lange erste (ein Drittel des Gesamttextes) einen Theorieüberblick gibt, während die folgenden Kapitel die aktuelle Situation und Lösungsansätze präsentieren.

Theoretische Konzeptionen von Politik

Das Verhältnis von individuellen und Gruppeninteressen zu gesamtgesellschaftlichen Zielen und Werten ist seit Jahrtausenden Gegenstand politischer Praxis und der theoretischen Reflektion darüber. Im antiken Athen verstand sich Politik, abgeleitet von der griechischen Polis (Stadt), als Diskurs und gleichberechtigte Beteiligung der Bürger (ohne Frauen und Sklaven). In der Renaissance vertrat Machiavelli ein zynischeres Konzept von Machtpolitik, das aber Interessenkonflikte realistisch berücksichtigte und letztlich forderte, Bedingungen für aufgeklärte Mitwirkung zu schaffen.

In der Neuzeit dominierten vertragstheoretische Demokratievorstellungen aus England (Hobbes, Locke) und Frankreich (Montesquieu und Rousseau). Sie gingen vom Individuum und seinen Rechten aus, kamen aber zu unterschiedlichen Idealen von Politik. Während die einen die Rechte der Bürger_innen betonten, befürchteten die anderen immerwährende Konflikte und forderten daher einen starken Staat und die Unterdrückung individueller Freiheiten.

Später sah Marx die Politik nur als Überbau der Produktionsverhältnisse und Klassenkonflikte. Nach Überwindung der Klassengesellschaft würde Politik überflüssig. Anarchisten hatten ähnlich staatskritische Vorstellungen und öffneten den Weg für – auch heute noch relevante – genossenschaftliche Konzepte zur Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Feministische Theorien und Bewegungen sahen in der stärkeren Beteiligung von Frauen einen Weg zur Reduzierung von Herrschaft.

Systemtheoretische Ansätze von Luhmann trennten die Politik als eigenes System hermetisch von anderen Systemen innerhalb der Gesellschaft ab und sahen sie – wie auch andere Systeme (Wirtschaft, Wissenschaft etc.) – als ein separates System mit eigenen Gesetzen. Dagegen betonte Fritz Scharpf die mögliche Interaktion zwischen den Teilsystemen, die allerdings die Sprachfähigkeit von Akteuren in multiplen Systemen erforderte.

Eine gänzlich andere Sichtweise vertrat Carl Schmitt, der Politik immer auf dem Raster eines Freund-Feind-Verhältnisses sah. Damit konnte er die nationalsozialistische Rassenideologie rechtfertigen. Ähnliche Vorstellungen sind heute bei rechtspopulistischen, völkischen Bewegungen sichtbar.

Hannah Arendt betonte dagegen die Rolle des Gesprächs und des gemeinsamen Handelns sowie des Verzeihens angesichts vergangener Verletzungen. Zentral ist für sie die Rolle der Feststellung von Tatsachen durch einen freien Diskurs. Eine Unterdrückung der Meinungsäußerung und Entlarvung von Lügen entzieht letztlich der Gesellschaft den Boden.

Verführerische Irrwege

Angesichts mangelhafter Ergebnisse demokratischer Politik finden viele Menschen andere Formen von Herrschaft und Entscheidungsfindung attraktiver.

Auf globaler Ebene erscheint China als mögliches Vorbild: mit seiner effizienten Parteidiktatur, die Wachstum, Sicherheit und auch eine erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie erreicht (hat). „Durchregieren“ scheint Wege zur Bewältigung der großen Herausforderungen zu bieten, aber es hat einen hohen Preis: Intransparenz und letztlich verschleierte Ineffizienz sowie Ungerechtigkeit.

Auch in Demokratien wird der Ruf nach Fachleuten und Technokraten lauter, die die komplexen Probleme besser verstehen als gewählte Politiker und sachorientierte Lösungen durchsetzen, die sonst im demokratischen Streit zerredet, verwässert und blockiert werden. So haben viele Staaten wichtige Politiken an unabhängige, demokratisch nicht kontrollierte Institutionen delegiert (z.B. die Geldpolitik an Zentralbanken). In der Eurokrise wurden Schuldnerländern angeblich alternativlose Sparpolitiken aufgezwungen und deren demokratisch gewählte Organe überstimmt.

Ein weiterer Weg zur Umgehung oder Entmachtung angeblich riskanter demokratischer Politik ist die Einführung von Regeln wie zum Beispiel die Schuldenbremse oder die Maastricht-Kriterien. Dies hat sich aber als wenig praktikabel erwiesen, da die Politik in Notsituationen Auswege und Ausnahmeregelungen gefunden hat.

Am erfolgreichsten war der Versuch (neo-)liberaler Denker wie Hayek oder Friedman, den Markt als die bessere Steuerungsform der Gesellschaft zu präsentieren. Der Staat sollte zurückgedrängt werden und der privatwirtschaftliche Wettbewerb effizientere Lösungen für die Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse schaffen. Diese Sicht basierte auch auf einem reduzierten Menschenbild, der Personen nur als egoistische Nutzenmaximierer sah, die am besten auf monetäre Anreize reagieren. Im Ergebnis führten vierzig Jahre Marktradikalismus zu mehr Ungleichheit und Unzufriedenheit. Spätestens in der Coronakrise wurde unabweisbar klar, wie wichtig ein handlungsfähiger Staat ist 

Die liberale Demokratie in der Krise

Die Enttäuschung der Bürger_innen äußerte sich in vielen westlichen Demokratien in einem Anstieg rechtspopulistischer Strömungen. Donald Trump und Victor Orbán demontierten öffentlich die Prinzipien liberaler Demokratie. Das Erstarken populistischer Parteien rückte auch traditionelle Parteien der rechten Mitte weiter nach rechts.

Die globale ökonomische Liberalisierung untergrub Wohlstand und soziale Sicherheit breiter Schichten. Das Versprechen des politischen Liberalismus von gleicher Freiheit und Würde wurde durch den Markt gebrochen. Viele sahen sich als Opfer des globalen Wettbewerbs durch Eingewanderte und ausländische Konkurrenten. Die Forderungen nach Protektionismus und nationaler Kontrolle nahmen zu. Ihren markantesten Ausdruck fanden sie im Brexit, aber auch in der amerikanischen Politik unter Trump.

Die klassische liberale Theorie sah politische Freiheit auf wirtschaftliche Unabhängigkeit durch Eigentum gegründet. In der Tat erfordert gleiche Freiheit soziale Sicherheit, wie sie die modernen Wohlfahrtsstaaten bieten (sollten). Sie schützen die Bürger_innen vor unverschuldeten Lebensrisiken (Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit). In der globalisierten Welt müssen diese Systeme sozialer Absicherung international ausgedehnt und flankiert werden.

Diese äußere Absicherung muss durch mehr lokale Teilhabe ergänzt werden, um den Menschen wieder Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaft und des Gemeinwesens zu geben. Beschränkungen der Verfügungsgewalt über Grund und Boden und Mitbestimmungsrechte am Arbeitsplatz sind wichtige Elemente einer effektiven Demokratie.

Die Rückkehr zum Nationalstaat als Alternative führt in eine Sackgasse. Die Kosten solcher Alleingänge sind unübersehbar. Moderne Gesellschaften und ihre Wirtschaft sind auf Offenheit angewiesen. Deshalb haben sich etwa in den USA auch viele Bundesstaaten und Kommunen – gegen die Politik Trumps – für Klimaschutz und Migration eingesetzt. Allerdings muss auch das offene internationale System klug und demokratisch reguliert werden, damit nicht der Freihandel andere wichtige Ziele wie Umwelt- und Verbraucherschutz untergräbt.

Den globalen Kapitalismus kooperativ zähmen

Die Welt braucht eine Good Global Governance. „Governance“ umfasst das ganze Geflecht von Institutionen, Akteuren, Regelungen und Verfahren, mit denen ein Land oder ein Unternehmen oder eben auch die Weltwirtschaft gesteuert wird. Global muss sie heute eng mit dem Ziel der Nachhaltigkeit verknüpft werden.

Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung, wie sie schon 1987 im Brundtland-Bericht gefordert wurde, verlangt die Gleichberechtigung der Bedürfnisse aller Menschen, auch der zukünftigen Generationen, und die Rücksichtnahme auf die begrenzten Ressourcen unseres Planeten. Aber diese Prinzipien sind Gegenstand massiver Interessenkonflikte und unterschiedlicher Risikowahrnehmung. Daher brauchen wir eine intensive offene Auseinandersetzung. Nur wenn ein solcher Streit zugelassen ist, besteht die Aussicht auf gegenseitiges Verständnis und Verständigung.

Vom produktiven Konflikt haben sich die radikalen Befürworter des marktbezogenen Wettbewerbs aber entfernt. Dessen ökonomische Logik untergräbt die Vertrauensbasis der Demokratie. Der Wettbewerb muss durch Zusammenarbeit ergänzt werden.

In der Nachkriegswelt sind Organisationen und Institutionen der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Zusammenarbeit entstanden. Sie sind aber durch die marktliberale Globalisierung geschwächt worden. Die Kooperation der Nationalstaaten ist immer weniger in der Lage, durch kluge Rücksicht auf die Interessen und Bedürfnisse der anderen zu nachhaltigen Lösungen zu kommen. Sie muss durch neue zivilgesellschaftliche Formen der Deliberation ergänzt werden.

In einer „antagonistischen Kooperation“ sollen Regierungen, Zivilgesellschaft und Unternehmen ihre Konflikte offen austragen. In der Konfrontation der Positionen und dem Zwang zur Begründung lassen sich gemeinwohlorientierte Lösungen erarbeiten. Ein Beispiel ist die Kontrolle transnationaler Lieferketten, um Umwelt und Beschäftigte zu schützen. Eine Verbindung von staatlichen Auflagen und zivilgesellschaftlicher Überwachung und Protestbewegung drängt die Unternehmen dazu, ihre Prozesse nachhaltig und sozial zu gestalten.

Die nationale Demokratie erneuern

In der repräsentativen Demokratie besteht eine Kluft zwischen den gewählten Parlamentariern und dem Wahlvolk. Aber das Volk ist – entgegen populistischen Behauptungen – nicht homogen. Die Freiheit und Ungebundenheit der Vertreter erlaubt einerseits sachgerechte und abgewogene Entscheidungen jenseits modischer Meinungswellen; andererseits kann sie auch von Lobbyisten beförderte Partikularinteressen zulasten des Gemeinwohls durchsetzen. Die in den zurückliegenden Jahrzehnten zunehmende Ungleichheit hat viele Menschen der repräsentativen Demokratie entfremdet.

Um die Nachteile der repräsentativen Demokratie auszugleichen, setzen die Kritiker auf alternative Entscheidungsverfahren wie die Auswahl von Volksvertretern durch Los und auf Volksabstimmungen. Durch Los bestimmte und durch staatliche Finanzierung unabhängige Bürgerräte können Volksabstimmungen vorbereiten. In Irland konnte so die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe  vorbereitet werden, die letztlich durch ein Gesetz im Parlament eingeführt wurde.

Ein solches mehrstufiges Verfahren, das durch Losverfahren bestimmte Bürgerversammlungen mit einer ordentlichen parlamentarischen Gesetzgebung verbindet, verspricht eine höhere Akzeptanz. Es erlaubt die offene Austragung von Interessenkonflikten und vermeidet die gefährliche Illusion eines neutralen Staates.

Kommunen als Labor der Veränderung

Nachhaltige Politik im Sinne der UN-Ziele für eine nachhaltige Entwicklung erfordert einen schwierigen Interessenausgleich zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Auf kommunaler Ebene sind konstruktive Lösungen oft leichter zu erreichen. Sie können durch Entwicklungsbeiräte vorbereitet werden. In ihnen werden die verschiedenen Akteure mit den Interessen, Werten und Bedürfnissen der jeweils anderen konfrontiert. Gemeinsam müssen sie aus dieser Perspektivenvielfalt zukunftsfähige Kompromisse entwickeln, die über die enge Rationalität des eigenen Systems (z.B. Profitmaximierung) hinausgehen.

Städte und Kommunen bilden seit Langem auch transnationale Netzwerke. Vor allem im Bereich der Umweltpolitik können sie innovative Ansätze entwickeln und Vorbildfunktion ausüben, auch wenn sie nicht auf einen Schlag die großen Herausforderungen bewältigen können. Aber sie bieten Raum für kooperative demokratische Politik, die Vertrauen schafft. An drei Beispielen lässt sich dies zeigen.

Digitalisierung: Gesucht wird ein Weg zwischen der amerikanischen privatkapitalistischen Profitorientierung und der chinesischen staatskapitalistischen Kontrollorientierung. Die ungeheure Datensammlung gefährdet auch die Demokratie, wenn sie zur Manipulation der Wähler_innen eingesetzt wird. Dabei könnte eine klug eingesetzte Digitalisierung das Leben aller verbessern. Ein vielversprechender Weg sind die Smart Cities. Sie bieten ihren Bürger_innen Lernangebote, neue Mobilitätskonzepte und Mitwirkungsmöglichkeiten. Wichtig ist auch die Rolle der Gewerkschaften, um Digitalisierung mit demokratischer Teilhabe zu verbinden.

Klimaschutz: Die gerechte Transformation (just transition) verbindet den notwendigen ökologischen Strukturwandel mit sozialer Absicherung. Entwicklungsbeiräte können tragfähige Kompromisse ausarbeiten, um die Folgen von Deindustrialisierung zu bewältigen. Ein Beispiel war die deutsche Kohlekommission, in der Staat, Unternehmen und Zivilgesellschaft ein sozial abgefedertes Ausstiegsszenario vereinbart haben.

Migration: Die Asyl- und Flüchtlingspolitik krankt an innerer Widersprüchlichkeit zwischen moralischem und rechtlichem Anspruch und einer erbarmungslosen Politik der Abschreckung und Zurückweisung. Viele Städte haben sich für eine humane Alternative entschieden. 140 haben sich zum Beispiel zur „Seebrücke“ zusammengeschlossen. Sie haben erkannt, dass eine kluge Aufnahmepolitik den wohlverstandenen eigenen Interessen an wirtschaftlicher Entwicklung und kultureller Bereicherung dient.


buch|votum

Globalisierung und wachsende Ungleichheit haben die Legitimität der nationalen Demokratie untergraben. Gesine Schwan plädiert für neue Formen der Partizipation, die Grenzen überschreitet und lokale Potenziale nutzt. Interessenkonflikte sollen offen ausgetragen und Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit in Bürgerräten rational entwickelt und begründet werden. Damit liefert sie Ansätze für eine Politik gegen populistische Verkürzungen und marktliberale Ausblendung sozialer Ungleichheiten.

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