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Archiv der sozialen Demokratie

 

Geschichte der Entspannungspolitik

Die Diskussionen über den russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 sind mit Geschichte aufgeladen. Wladimir Putin rechtfertigt den Krieg mit Geschichte, aber auch in Deutschland spielt Geschichte eine große Rolle, wenn es um die Ursachen des Krieges geht: Wurde die autoritäre Entwicklung in Russland zulange nicht wahrgenommen? Waren Dialog und wirtschaftliche Kooperation die falschen Mittel gegenüber Russland? Insbesondere an die Sozialdemokratie richtet sich die Kritik, Dialog und wirtschaftliche Kooperation mit Russland seien die Fortsetzung der historischen Entspannungspolitik Egon Bahrs und Willy Brandts: Menschenrechtsfragen hätten zugunsten des Friedens hintenangestanden; Dialog und wirtschaftliche Kooperation hätten den Diktator stabilisiert. Nicht nur die Kritiker_innen der (sozialdemokratischen) Russlandpolitik seit den 1990er-Jahren stellen dabei eine Kontinuität zur historischen Entspannungspolitik her. Auch viele derjenigen, die aktuell Verhandlungen fordern und die Fokussierung auf Waffenlieferungen kritisieren, beziehen sich positiv auf Willy Brandt und Egon Bahr.

Auf der Website „Geschichte der Entspannungspolitik“ gehen wir aus diesem Grund auf die Neue Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, wie sie auch genannt wurde, ein und arbeiten die Unterschiede zur Gegenwart heraus. Wir begleiten die aktuelle Diskussion durch Interviews mit und Beiträge von Expert_innen und Politiker_innen.


Zeitstrahl Entspannungspolitik

15.07.1963

Tutzinger Rede

17.12.1963

Passierscheinabkommen

17.-21.03.1968

Parteitag in Nürnberg

21.10.1969

Brandt wird Bundeskanzler

28.10.1969

Das Ende der Hallstein-Doktrin

28.11.1969

Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags

19.03.1970

Erfurter Gipfeltreffen

21.05.1970

Kasseler Gipfeltreffen

12.08.1970

Moskauer Vertrag

07.12.1970

Warschauer Vertrag

07.12.1970

Kniefall von Warschau

03.09.1971

Vier-Mächte-Abkommen

20.10.1971

Friedensnobelpreis für Brandt

17.12.1971

Transitabkommen

27.04.1972

Misstrauensvotum gegen Brandt

26.05.1972

SALT-I-Vertrag

19.11.1972

Bundestagswahl 1972

21.12.1972

Grundlagenvertrag

11.12.1973

Prager Vertrag

01.08.1975

KSZE-Schlussakte

09.10.1975/12.03.1976

Deutsch-polnische Vereinbarungen

18.06.1979

SALT-II-Vertrag

25.12.1979

Afghanistan-Einmarsch

09.10.1980

Erhöhung des Mindestumtauschs in der DDR

13.10.1980

Geraer Rede

31.08.1980

Gründung der Solidarnosc

10.10.1981

Friedensdemonstration

13.12.1981

Verhängung des Kriegsrechts in Polen

Ab Herbst 1982

Sozialdemokratische Nebenaußenpolitik

6.-9.12.1985

Willy Brandts Reise nach Polen

27.08.1987

SPD-SED-Papier

10.11.1989

„Es wächst zusammen, was zusammengehört“

10.11.1989

„Es wächst zusammen, was zusammengehört“

15.07.1963

Tutzinger Rede

17.12.1963

Passierscheinabkommen

17.-21.03.1968

Parteitag in Nürnberg

21.10.1969

Brandt wird Bundeskanzler

28.10.1969

Das Ende der Hallstein-Doktrin

28.11.1969

Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags

19.03.1970

Erfurter Gipfeltreffen

21.05.1970

Kasseler Gipfeltreffen

12.08.1970

Moskauer Vertrag

07.12.1970

Warschauer Vertrag

07.12.1970

Kniefall von Warschau

03.09.1971

Vier-Mächte-Abkommen

20.10.1971

Friedensnobelpreis für Brandt

17.12.1971

Transitabkommen

27.04.1972

Misstrauensvotum gegen Brandt

26.05.1972

SALT-I-Vertrag

19.11.1972

Bundestagswahl 1972

21.12.1972

Grundlagenvertrag

20.10.1971

Friedensnobelpreis für Brandt

21.05.1970

Kasseler Gipfeltreffen

21.10.1969

Brandt wird Bundeskanzler

21.12.1972

Grundlagenvertrag

25.12.1979

Afghanistan-Einmarsch

26.05.1972

SALT-I-Vertrag

27.04.1972

Misstrauensvotum gegen Brandt

27.08.1987

SPD-SED-Papier

28.10.1969

Das Ende der Hallstein-Doktrin

28.11.1969

Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags

31.08.1980

Gründung der Solidarnosc

6.-9.12.1985

Willy Brandts Reise nach Polen

Ab Herbst 1982

Sozialdemokratische Nebenaußenpolitik

Zeitstahl

Illustration: Gizem Erdem; Rechte: AdsD.


Geschichte der Entspannungspolitik

von Stefan Müller

Zwei Thesen vorweg

Die folgende (sehr kurze) Geschichte der sozialdemokratischen Entspannungspolitik will die Unterschiede zur Russlandpolitik nach 1991 aufzeigen. Sie wird von zwei Thesen geleitet.

  1. Die sozialdemokratische Entspannungspolitik/Ostpolitik vor 1989 war eingebettet in ein Gefüge atomarer Bedrohung und globaler Entspannung. Eine Bedingung der Brandt‘schen und Bahr’schen Politik war das parallel immer vorhandene Potenzial globaler Vernichtung bei gleichzeitigem Wunsch der Supermächte, ihre Rüstungsausgaben in den Griff zu bekommen und einen direkten Krieg gegeneinander zu verhindern. Entspannung und atomare Drohung waren zwei Seiten derselben Medaille.
  2. Im Zentrum der sozialdemokratischen Entspannungspolitik stand Deutschland: Es ging um Erleichterungen für die Menschen im anderen Teil Deutschlands und in einer langen Perspektive um einen alternativen Weg zur deutschen Einheit. Ohne Zweifel stand die Sozialdemokratie immer für eine europäische Friedensordnung. Die Neue Ostpolitik der Regierung Brandt zielte jedoch auf die DDR und Berlin.

Die Strategie des Friedens

Egon Bahr und Willy Brandt knüpften an die von US-Präsident John F. Kennedy entwickelte „Strategie des Friedens“ an. Im Sommer 1963 formulierte Kennedy das Ziel von Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR und sprach von einer friedlichen Koexistenz der Systeme. In seiner Rede an der American University am 10. Juni 1963 äußerte er, dass die USA und die UdSSR (sowie ihre Verbündeten) sich nicht lieben müssten, sondern es sei „lediglich erforderlich, durch gegenseitige Toleranz zusammenzuleben und Streitpunkte auf gerechte und friedliche Weise beizulegen“. Beide Parteien hätten „ein tiefes, auf Gegenseitigkeit beruhendes Interesse daran, dass ein gerechter und ehrlicher Frieden herrscht und dem Wettrüsten Einhalt geboten wird“.

Die Ausgangslage war, dass beide Seiten über ein Maß an Gefechtsköpfen verfügten, die bei einem Krieg die vollständige eigene Vernichtung oder zumindest immense Verluste bedeutet hätte. „Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter“ war die allgemeine Erkenntnis. Die atomare Hochrüstung war ursprünglich gedacht, die wirtschaftlichen Belastungen durch riesige konventionelle Armeen zu reduzieren. Aber auch die atomare Rüstung war nun zur Belastung geworden. Insbesondere die UdSSR warb seit den 1950er-Jahren für eine Art gesamteuropäischer Sicherheitsarchitektur. Die Neuorientierung der USA 1963 folgte auf zwei Krisen, welche die Kriegsgefahr immens gesteigert hatten: Der Mauerbau in Berlin 1961 und insbesondere die Kubakrise 1962.

Die „Strategie des Friedens“ führte schließlich Ende 1969 zu den „Strategic Arms Limitation Talks“ (SALT I), die im Mai 1972 mit dem ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) abgeschlossen wurden. Beide Seiten verzichteten im SALT-1-Abkommen auf den Bau neuer Interkontinentalraketen und neuer U-Boot-gestützter Atomwaffen.

Eines muss betont werden: Die Strategie des Friedens bezog sich auf das Verhältnis der beiden Supermächte und ihrer unmittelbaren Verbündeten und vermied die direkte konventionelle oder atomare Konfrontation. Sie verhinderte aber nicht die mit großer Intensität geführten Stellvertreterkriege an der „Peripherie“ wie beispielsweise in Vietnam (durch die USA) oder Afghanistan (durch die UdSSR).

Wandel durch Annäherung

Rund vier Wochen nach der Rede Kennedys stellte Egon Bahr am 15. Juli 1963 das Konzept „Wandel durch Annäherung“ auf einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Tutzing vor.  Er nahm ausdrücklich Bezug auf Kennedy, stellte aber die Teilung Deutschlands ins Zentrum seiner Überlegungen. Bahr kritisierte, dass bislang freie Wahlen im Osten als Voraussetzung für Gespräche gefordert wurden, also eine Demokratisierung dort stattgefunden haben müsse. Dies charakterisierte Bahr als eine Politik des „Alles oder Nichts“. Diese aus heutiger Sicht eigenartige politische Position war in den 1950er-Jahren weit verbreitet. Dahinter stand die Überlegung, dass ein wiedervereintes Deutschland politisch-militärisch neutral sein könne wie beispielsweise Österreich. Die Sowjetunion hatte in den 1950er-Jahren mehrfach Initiativen in diese Richtung auf den Weg gebracht – was das SED-Regime (aus Angst) und die Adenauer-Regierung (da sie Einbindung in die EG und NATO favorisierten) gleichermaßen ablehnten.

Die Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR und des Aufstands in Ungarn 1956 durch sowjetische Truppen hatten Bahr und Brandt nun gezeigt, dass ein Sturz des SED-Regimes aus dem inneren nicht möglich sei. Der Mauerbau von 1961 hatte die deutsche Teilung schließlich noch weiter zementiert und das Leben in der geteilten Stadt weiter erschwert. Wenn man den Status quo, also die deutsche Teilung, ändern wolle, so die Überlegung Egon Bahrs, müsse man ihn zunächst als Grundlage der eigenen Politik anerkennen.

Die Erfahrung zeigte, so Bahr, dass jeder Druck von innen und außen das stalinistische System der DDR stabilisiere. Stattdessen ging es ihm um „den schmalen Weg der Erleichterung für die Menschen in so homöopathischen Dosen, daß sich hierdurch nicht die Gefahr eines revolutionären Umschlags ergibt, die das sowjetische Eingreifen aus sowjetischen Interesse zwangsläufig auslösen würde“. Die kommunistische Herrschaft sollte nun nicht mehr mit einem Ruck beseitigt, sondern verändert werden. Ein Nahziel sah Bahr unter anderem in der „Auflockerung der Grenzen“.

„Wandel durch Annäherung“ bedeutete also, dass der „Westen“ glaubhaft auf die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der kommunistischen Staaten verzichtete (auf einen militärischen Konflikt sowieso). Die Annäherungspolitik richtete sich an die kommunistischen Eliten: Ihnen sollte hierdurch Raum für vorsichtige innergesellschaftliche Reformen eröffnet werden. Das Ziel dieser Politik der „Annäherung“ war also der „Wandel“ im kommunistischen Machtbereich – mit dem Ziel, den Menschen ihr Leben zu erleichtern. „Wandel durch Annäherung“ bedeutete aber auch das eindeutige Bekenntnis zur europäischen Integration und auch zur NATO-Mitgliedschaft. Weder der Osten noch der Westen sollten Zweifel haben, auf welcher Seite die Bundesrepublik stand. Vor diesem Hintergrund waren die Überlegungen Brandts und Bahrs 1963 nicht nur in der politischen Landschaft der Bundesrepublik ein Novum, sondern es musste auch innerparteilich noch Überzeugungsarbeit geleistet werden.

Die Ostverträge

Der Kern der Entspannungspolitik der Regierung Brandt waren die sogenannten Ostverträge zwischen 1970 und 1973: Der Moskauer Vertrag (12. August 1970), der Warschauer Vertrag (7. Dezember 1970), das Viermächteabkommen über Berlin (3. September 1971), der Grundlagenvertrag (21. Dezember 1972) und weitere Verträge mit der DDR sowie schließlich der Prager Vertrag (11. Dezember 1973). In den Abkommen mit der Sowjetunion und Polen verpflichteten sich die Parteien zum einen auf den gegenseitigen Gewaltverzicht. Zum anderen erkannte die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens an, akzeptierte die Staatsgrenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR und verzichtete für alle Zukunft auf Gebietsansprüche im Osten. Im Prager Vertrag erklärte die Bundesrepublik das Münchener Abkommen von 1938 für nichtig, mit dem unter Gewaltandrohung die Tschechoslowakei das Sudentengebiet an NS-Deutschland abgetreten hatte.

Gegen diesen „Verzicht“ auf Schlesien, Pommern und Ostpreußen sowie die realpolitische Anerkennung der DDR in den Verträgen liefen die westdeutschen Konservativen Sturm. CDU und CSU sprachen noch immer von einem Deutschland in den Grenzen von 1937, also einschließlich der nach 1945 zu Polen gehörenden Gebiete und der DDR. Bei einer solchen Forderung konnte es sich 25 Jahre nach Kriegsende aber nur noch um eine ideologische Position handeln, die in die politische Handlungsunfähigkeit führte. Genau aus dieser Sackgasse wollten die SPD und die mit ihr verbündete FDP ausbrechen.

Parallel zu den Gesprächen mit Moskau und Warschau wurde über den Status West-Berlins verhandelt. Berlin unterstand nach dem Krieg zunächst der Kontrolle aller vier Siegermächte, wobei die Anerkennung der DDR und Ost-Berlins als deren Hauptstadt durch die UdSSR diese Festlegungen schon lange ad acta gelegt hatten. Gestritten wurde noch um den Status West-Berlins. Die Sowjetunion betrachte West-Berlin als „eigenständige politische Einheit“ ohne besondere Bindung an die Bundesrepublik und hatte seit der ersten Blockade 1948 mehrfach mit dem Abschnüren der Stadt gedroht. Mit der Kontrolle der Transitwege (Autobahnen von der Bundesrepublik über DDR-Gebiet nach West-Berlin) verfügte der Osten über ein starkes Druckmittel. Im Viermächteabkommen über Berlin vom September 1971 wurde dann festgehalten, dass West-Berlin zwar nicht zur Bundesrepublik gehöre und nicht von ihr regiert werde, aber besondere Beziehungen unterhalte. Der Status der Stadt und insbesondere die Zugangswege nach West-Berlin waren fortan gesichert.

Die CDU/CSU-Opposition versuchte durch den Sturz des Bundeskanzlers Willy Brandt die Ostverträge zu verhindern. Nach einer Reihe von Übertritten von FDP-Abgeordneten und des SPD-Vertriebenenfunktionärs Herbert Hupka zur CDU waren sich Konservative und Sozialdemokrat:innen gleichermaßen sicher, dass es per konstruktiven Misstrauensvotum zu einem Regierungswechsel kommen würde. Dieses scheiterte für die Öffentlichkeit überraschenderweise, wobei die Bestechung von Unions-Abgeordneten durch die DDR mittlerweile bekannt ist. Im Mai 1972 ratifizierte der Bundestag die Verträge und bei den Bundestagswahlen im November errang die SPD unter Willy Brandt einen in der Höhe nie wieder erreichten Wahlsieg. (Vortrag von Bernd Rother über das Misstrauensvotum, Berlin, 27.4.2022)

Die Ostverträge ermöglichten die Entwicklung vielfältiger zwischengesellschaftlicher Beziehungen. Für westdeutsche Bürger:innen und für West-Berliner:innen war es nun einfacher, Verwandte in der DDR zu besuchen; und auch DDR-Bürger:innen konnten, wenn auch in deutlich geringerem Maß, in den Westen reisen. Die Ostverträge wurden in den 1970er-Jahren mit Leben gefüllt.

Wandel durch Handel

Wirtschaftliche Verflechtungen nahmen eine zentrale Rolle im Konzept des Wandels durch Annäherung ein. Egon Bahr bezog sich auch hier explizit auf Kennedy und argumentierte, dass „soviel Handel mit den Ostblockländern entwickelt werden sollte, wie es möglich ist, ohne unsere Sicherheit zu gefährden“. Ökonomische Beziehungen sollten zu gesellschaftlichen Verflechtungen führen und ein höherer Lebensstandard in der DDR Druck vom Regime nehmen. Insofern ergänzten sich Gewaltverzicht, Nichteinmischung und Wirtschaftsbeziehungen.

Der ökonomische Teil des Konzepts „Wandel durch Annäherung“ verfolgte eine politische Logik und hatte in den 1960er-Jahren kaum etwas mit westdeutschen Wirtschaftsinteressen zu tun. Diese gab es zwar, insbesondere im Ostausschuss der deutschen Wirtschaft, allerdings hatten sie keinen Einfluss auf politische Entscheidungen. Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) öffnete sich erst Ende der 1960er-Jahre für das Russlandgeschäft, was aber nicht gleichbedeutend mit Sympathien für die sozial-liberale Regierung war. Einen Meilenstein stellte dann das Erdgasröhrengeschäft von 1970 dar. Die Bundesrepublik lieferte Großröhren an die UdSSR und die UdSSR dafür Erdgas an die Bundesrepublik.

Die Idee eines Wandels durch Handel in den Beziehungen zum Ostblock unterscheidet sich an mehreren Stellen von den Wirtschaftsbeziehungen mit Russland nach 1991. Die Sowjetunion hatte ein ausdrückliches Interesse an der Modernisierung ihrer Wirtschaft und war auf den Handel mit dem Westen angewiesen. Ein wichtiges Ziel dieser Modernisierung war, den Lebensstandard der breiten Bevölkerung zu heben, um so die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus unter Beweis zu stellen. Heute ist die russische Ökonomie dagegen eine Extraktionswirtschaft: Der Handel mit Erdöl und Erdgas dient der Bereicherung einer gesellschaftlichen Elite. Die Gewinne fließen überwiegend in private Taschen und der Handel mit Rohstoffen ist nicht verknüpft mit kulturellem, wissenschaftlichem oder technologischem Austausch. Beim deutsch-russischen Handel der 1970er-Jahre handelte es sich zudem um Kompensationsgeschäfte. D. h., der Handel war ausgeglichen und der Export stand ökonomisch und teils auch technologisch im engen Zusammenhang mit dem Import. In den 1980er-Jahren stieg der Gasimport aus der Sowjetunion zwar deutlich an, aber alles in allem spielte das UdSSR-Geschäft nur eine geringe Rolle für den westdeutschen Außenhandel.

Sozialdemokratische „Nebenaußenpolitik“ (1980er-Jahre)

Mit dem Regierungswechsel 1982 musste sich die SPD neu orientieren. Die Regierung Helmut Kohls setzte zwar die Politik der Entspannung und des Dialogs fort, trotz manch schärferer Töne, aber dies war nicht von Beginn an klar. Um die Neue Ostpolitik abzusichern, nahm die SPD nun eigenständige Beziehungen zu den kommunistischen Parteien Osteuropas auf. Von konservativer Seite wurde dieses Engagement als Nebenaußenpolitik bezeichnet, also als eine Politik, die parallel zur Regierung stattfände. Besonders intensiv gestalteten sich die Gespräche mit der SED, die 1987 in dem gemeinsamen Grundsatzpapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ mündeten. Beide Seiten bekannten sich in dem Papier zur friedlichen Koexistenz und zum friedlichen Wettbewerb der Systeme. Der Widerspruch zwischen den Gesellschaftssystemen wurde keinesfalls verneint, die Konfliktaustragung sollte aber im Kontext einer integrativen Sicherheitsarchitektur erfolgen.

Das Spezifische dieser sozialdemokratischen „Nebenaußenpolitik“ nach dem Regierungswechsel 1982 war die fortwährende Fokussierung auf die kommunistischen Eliten und Staatsspitzen; die hinter dem Konzept des „Wandels durch Annäherung“ stehenden Überlegungen wurden fortgeschrieben. Im Ergebnis scheute die SPD den Kontakt zu oppositionellen Bewegungen im kommunistischen Machtbereich wie der Charta 77 (CSSR), der Solidarnosc (Polen) oder der Friedens- und Umweltbewegung in der DDR. Dies wurde bereits zeitgenössisch kritisiert, gewinnt aber in der aktuellen Diskussion an Bedeutung. Der Sozialdemokratie wird ein Mangel an Empathie und der Vorrang von Friedens- und Stabilitätsfragen gegenüber Menschenrechtsfragen vorgeworfen. Dieser sehr weitgehende Vorwurf trifft jedoch nicht den historischen Kern, denn „Wandel durch Annäherung“ hatte ausdrücklich Menschenrechte im Blick. Das Konzept zielte auf Erleichterungen für die Menschen in der DDR. Allerdings kann heute gefragt werden, inwieweit das konzeptionelle Denken der Neuen Ostpolitik in den 1980er-Jahren erstarrt war und der Rollenwechsel von der Regierungs- zur Oppositionspartei nicht ausreichend reflektiert wurde. Womöglich hätte beides funktioniert: Gespräche mit den Machthabern und der Opposition zu führen.

Um die Politik der Sozialdemokratie der 1980er-Jahre zu verstehen, sollte man aber auch wissen, dass zu der Zeit große Teile der westdeutschen Gesellschaft eine Revolution in der DDR und eine (Wieder-)Vereinigung auf absehbare Zeit für unrealistisch hielten. Dies bestärkte Initiativen, die auf Dialog mit den Eliten im Osten und die Politik kleiner Schritte setzten.

Ergebnisse der Entspannungspolitik

Welchen Anteil die Entspannungspolitik am Zusammenbruch der kommunistischen Staaten und an der deutschen Einheit hatte, wird seit 1989 diskutiert. Der zeitliche Zusammenhang zur erneuten Rüstungsspirale in den 1980er-Jahren führte schon zeitgenössisch zum Argument, dass die USA durch den Rüstungswettlauf (unter anderem mit dem Weltraum-Programm SDI/Strategic Defense Initiative) die Sowjetunion zu Tode gewirtschaftet habe. Die Entspannungspolitik dagegen habe den Machthabern im Osten Legitimität verschafft und deren Systeme am Leben erhalten. Übersehen wird dabei, dass sich die Deutschlandpolitik der Kohl-Regierung kaum von der sozialdemokratischen Neuen Ostpolitik unterschied. Erinnert sei hier lediglich an den vom CSU-Politiker Franz Josef Strauß 1983 eingefädelten Milliardenkredit an die DDR.

Ein weiteres Argument für die kritische Sicht auf die Entspannungspolitik ist, dass sich in den sowjetischen Quellen der 1980er-Jahre keine Hinweise auf die Entspannungspolitik oder die Ostverträge finden. Stattdessen sind die katastrophale ökonomische Lage oder auch das Weltraumrüstungsprojekt der USA Gegenstand der Beratungen. Ohne Zweifel dominierte im innersowjetischen Diskurs der 1980er-Jahre das tagesaktuelle Geschehen und es ist kein Wunder, dass sich dort kaum noch Referenzen auf den Vertrag mit Bonn vom August 1970 finden. Allerdings greift es zu kurz, die immensen wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion erst mit dem Rüstungswettlauf der 1980er-Jahre in Verbindung zu bringen. Bereits seit den 1950er-Jahren wurde in der UdSSR über die hohen Belastungen durch die Rüstung diskutiert. Gleiches gilt für den Wunsch nach Modernisierung der Wirtschaft, nach Technologietransfer und Handel mit dem Westen. Weitreichende Reformen des zentralisierten und bürokratisierten Lenkungssystems wurden zwar erst unter Michail Gorbatschow in den 1980er-Jahren umgesetzt und ohne Zweifel wäre ein solcher Versuch 20 oder 30 Jahre vorher nicht möglich gewesen. Krisendiskussionen wurden in der UdSSR aber seit den 1950er-Jahren geführt. Der sowjetische Geheimdienstchef unter Stalin, Lawrenti Berija, schlug bereits nach Stalins Tod vor, sich vom Leninismus zu trennen. Der Marxismus-Leninismus und die Sowjetideologie haben seit dem Zweiten Weltkrieg sukzessive an Bindekraft verloren und sind einem politischen Pragmatismus gewichen. Die Fokussierung auf die Aufrüstungsinitiative der USA in den 1980er-Jahren als Ursache für den Zusammenbruch der UdSSR greift deutlich zu kurz.

In der Sowjetunion fand ein mehrere Jahrzehnte dauernder Prozess der Loslösung von den weltanschaulichen Grundlagen des Marxismus-Leninismus statt; von einer durch die Sowjetunion inspirierten und ausgehenden Weltrevolution war ebenfalls seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr die Rede. Diesen langsamen Auflösungsprozess muss die ebenfalls auf lange Sicht angelegte Entspannungspolitik gegenübergestellt werden. Die Reformen Gorbatschows, die schließlich das Ende der Sowjetunion besiegelten, wurden nicht von außen (durch den Westen) erzwungen, allerdings unterstützte der Westen diesen Wandel durch Austausch und Entspannung. Mit einer gegenteiligen Politik hätte er, und dies war die Grundannahme der Neuen Ostpolitik, die sowjetischen Eliten zusammengeschweißt und eine Wagenburgmentalität befördert. Insofern kommt der Entspannungspolitik tatsächlich das große Verdienst zu, Reformdiskussionen in den osteuropäischen Staaten durch das eigene glaubhafte Eintreten für demokratische Werte unterstützt zu haben.

Gegenwart

Die deutsche Russlandpolitik seit 1991 unterscheidet sich von der historischen Entspannungspolitik Egon Bahrs und Willy Brandts. Die geopolitischen Rahmenbedingungen haben sich geändert, aber auch die deutsche Ostpolitik. Ab den 1990er-Jahren wurde Russland nicht mehr als weltpolitischer Gegner wahrgenommen, sondern als normaler kapitalistischer Staat, der allerdings in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht noch Nachholbedarf hatte. Nach der „Stabilisierung“ des politischen Systems in Russland in den 2000er-Jahren unter Putin (die sich im Kern durch eine zunehmend autoritäre Politik auszeichnete) wurde im Auswärtigen Amt das Konzept der „Annäherung durch Verflechtung“ entwickelt (Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste: Die EU-Russlandpolitik, Nr. 58/06 v. 30.11.2006). Der Erfolg der Europäischen Union wird hier mit der Verflechtung und allmählichen Harmonisierung der Interessen ihrer Mitgliedsstaaten erklärt und dieses Modell sollte nun auch gegenüber Russland verankert werden. Der Gedanke war, dass die Attraktivität der EU ihren Nachbarn animiert, Normen und Lebensstandards an die der EU anzunähern. Verbunden war dies mit der Vorstellung, dass sich ein moderner Kapitalismus nur im Rahmen von Demokratie entwickeln könne.

Das Konzept „Annäherung durch Verflechtung“ weist zwar semantisch eine Nähe zur historischen Ostpolitik auf und der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier stellte es auch in diese Tradition. „Wandel durch Annäherung“ zielte aber trotz seiner Prämisse, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der UdSSR und der sozialistischen Staaten einzumischen, unmittelbar auf deren gesellschaftlichen Wandel. Die deutsche Russlandpolitik der 2000er-Jahre sprach zwar ebenfalls davon, dass Russland den Wandel zu einem demokratischen Rechtsstaat vollziehen solle, legte dem aber lediglich eine generelle modernisierungstheoretische Annahme zugrunde. Dass die Modernisierung der Ökonomie nur durch Demokratie und eine lebendige Zivilgesellschaft erfolgen könne, wurde quasi als Automatismus vorausgesetzt. Unberücksichtigt blieb dabei insbesondere die Frage, ob die gesellschaftlichen Eliten Russlands tatsächlich ein umfassendes Interesse an der Modernisierung ihrer Ökonomie haben oder ob es ihnen nicht ausreicht, die immensen Einnahmen aus dem Öl- und Gastgeschäft in ihre privaten Taschen fließen zu lassen.

Die Gleichsetzung von kapitalistischer Modernisierung und Demokratie führte dann auch dazu, Sicherheitsaspekte außen vor zu lassen. Während in der historischen Ostpolitik der Handel mit den Staatswirtschaftsländern dort seine Grenze fand, wo Sicherheitsfragen berührt wurden, stellt sich dies heute anders dar. Sicherheitsfragen bezogen sich vornehmlich auf die nach einer kontinuierlichen Energieversorgung. Es wurde dabei jedoch nicht die Frage gestellt, ob Russland selbst einmal die Energiesicherheit gefährde könne.

Fazit

Die historische Ostpolitik wird in der aktuellen Debatte zu Unrecht in eine historische Linie mit der deutschen Russlandpolitik der vergangenen 30 Jahre gestellt. Die historische Entspannungspolitik zielte auf die Verbesserungen in den deutsch-deutschen Beziehungen (mit dem langfristigen Ziel der deutschen Einheit) und war in diesem Sinne Menschenrechtspolitik. Willy Brandt, Egon Bahr und viele andere wussten um die Interdependenz von Dialog, den sie suchten, und der dahinterstehenden atomaren Drohung, derer sie sich durch die Politik der Westintegration versicherten. Diese Grundkonstellation von 1945 – zwei sich gegenüberstehende feindliche Blöcke mit vollständig unterschiedlich politisch-ökonomischen System – war nach 1989/1991 nicht mehr gegeben. Das Ziel der historischen Entspannungspolitik, einen Wandel beim Gegner herbeizuführen, wurde damit nach 1991 aufgeben.

Unabhängig von der Bewertung der jüngsten Ereignisse ist es notwendig, auf diese Unterschiede hinzuweisen. Andernfalls besteht die große Gefahr, die historische Ostpolitik und ihre Akteure als Zitate-Steinbruch in der aktuellen Debatte zu vernutzen. Die Verdeutlichung der Unterschiede soll zur begrifflichen und analytischen Schärfe in der aktuellen Debatte beitragen.

Bildergalerie

Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in Berlin, 26.6.1963; Rechte: AdsD [6/FOTA069625].

Bild: Der politische Leiter der Evangelischen Akademie in Tutzing, Roland-Friedrich Messner, mit Egon Bahr, 1963; Rechte: nicht ermittelbar; Quelle: AdsD [6/FOTA169455].

Willy Brandt, Alexej Kossygin (Ministerpräsident der Sowjetunion), Leonid Breschnew (Generalsekretär der KPdSU) und Egon Bahr bei der Vertragsunterzeichnung, Moskau, 12.8.1970; Rechte: J. H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung [6/FJHD015121].

Bild: Willy Brandt am Fenster des Hotels Erfurter Hof beim Gipfeltreffen am 19.3.1970; Rechte: J. H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung [6/FJHD003647].

Otto Reinhold, Direktor Akademie für Gesellschaftswissenschaften des Zentralkomitees der SED, mit Erhard Eppler, Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission im Erich-Ollenhauer-Haus, Bonn 1987; Quelle: AdsD [6/FOTA015418]; Rechte: nicht ermittelbar.

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki. Helmut Schmidt und Erich Honecker; Quelle: AdsD; Rechte: nicht ermittelbar [6/FJHD000414].

Bild: Egon Bahr (Direktor Institut für Friedensforschung, Universität Hamburg), Dieter Dowe (Leiter Forschungsinstitut FES) u. Stephan Hilsberg (MdB) beim FES-Kongress "Die Ostpolitik der SPD in der Opposition 1982-1989", 14.9.1993; Quelle: AdsD [6/FOTA139538].

Quellen zur Entspannungspolitik der SPD

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