Mitte der 1920er Jahre wirkt die Großstadt Berlin auf viele junge Menschen anziehend. Das endlos scheinende Kulturangebot löst ein Gefühl von absoluter Freiheit aus. Doch gerade für Frauen sieht die Realität oft anders aus. In allen Gesellschaftsschichten, sowohl in ehelichen als auch in unehelichen Verbindungen, sind sie – neben der Gefahr einer Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten – vom Problem der ungewollten Schwangerschaften betroffen. Trotz des staatlichen Reformgeistes und der Modernisierung der Gesetzgebung beherrschen konservative moralische Vorstellungen vielfach das Denken. Der Zugang zu Verhütungsmitteln bleibt schwierig. Der sogenannte Abtreibungsparagraf 218, der den Abbruch einer Schwangerschaft noch bis 1927 bedingungslos unter Strafe stellt, zwingt tausende Frauen zu illegalen Schwangerschaftsabbrüchen. In Deutschland „erkranken jährlich 75.000 und sterben 7.500“ an den Folgen der Eingriffe, berichtet der „Vorwärts“ am 08.10.1924 im ausführlichen Artikel „§ 218 und die Frauen“.
Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) will nicht tatenlos zusehen: An der 1928 gegründeten „Wohlfahrtsschule für Arbeiterwohlfahrt“ in Berlin wird deshalb für das Schuljahr 1929 das Thema „Ehe- und Sexualberatung“ im Unterricht verankert: Die Zahl der Neu-Anmeldungen an der Schule verdoppelt sich.
Reform des Paragrafen 218
1927 sind etwa 100 Eheberatungsstellen[1] in Deutschland und Österreich verzeichnet, deren Zusammenschluss erstmals im Juli 1927 in Berlin angedacht wird.[2] Hilfesuchende erhalten in den Beratungsstellen u.a. Informationen über Empfängnisverhütung und das strenge „Abtreibungsstrafrecht“. Trotz des Verbots erklären sich einige Ärzte bereit Eingriffe durchzuführen, um den Frauen zu helfen. Mit dem neuen „Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ 1927 und einer Reform des §218 wird die Diskussion rund um das Thema Ehe- und Sexualberatung erneut befeuert. Das Reichsgericht erlaubt der Ärzteschaft nun legal Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, wenn medizinische oder wirtschaftliche Motive der Patientin dafürsprechen.
Gründung der AWO-Wohlfahrtsschule
Die „Internationale Konferenz für Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik“ in Paris 1928 bewirkt erstmals nach dem Ersten Weltkrieg einen Austausch über Ländergrenzen hinweg und bestärkt die AWO-Arbeit in Deutschland. Die „Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege“ berichtet in einem Artikel über die Konferenz und hebt hervor, dass „sich eine neue Wertung des Menschen überhaupt vollzogen hat, […] in Bezug auf den Menschen als Individuum wie als Glied der Gesellschaft.“[3] U.a. wird darin festgestellt, dass auch international der vorherrschende Einfluss des Begriffs der „Neuen Sachlichkeit“, die zunächst als eine führende Kunstrichtung der Weimarer Zeit verstanden werden mag, auf dem „Kulturgebiet der Wohlfahrtspflege“ Anwendung findet. Dies betrifft z.B. die Ausstattung der Heime und Einrichtungen der AWO.[4] Auch die Feststellung, dass die Wohlfahrtspflege in Deutschland teilweise bereits „durch die Mitarbeit der Hilfsbedürftigen-Gruppen selbst […] bedingt [ist]“[5], erinnert an die 1919 zum Zwecke der sozialen Selbsthilfe gegründeten AWO.
Fachkräfte, die mit der Arbeiterbewegung und dem sozialistischen Grundgedanken vertraut sind, werden 1928 für AWO-Einrichtungen dringend gebraucht. Vorträge und Wochenendkurse im ganzen Land dienen der Einführung in soziale und fürsorgerechtliche Fragen. Im „Vorwärts“ vom 12.09.1928 wird die bevorstehende Eröffnung der „Wohlfahrtsschule des Hauptausschusses für Arbeiterwohlfahrt“ für den 16. Oktober 1928 angekündigt. Dort soll eine vertiefte Ausbildung in einer eigenen Schule mit angegliedertem Wohnheim angeboten werden. Sie steht Frauen und Männern offen und Stipendien können beantragt werden. In zweijährigen Lehrgängen zur Theorie und Praxis der sozialen Arbeit werden überwiegend ehemalige Volksschüler*innen mit erster praktischer Berufserfahrung für die Wohlfahrtsarbeit ausgebildet. Der Antrag für eine staatliche Anerkennung als Fachschule wird vom Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt sofort bewilligt. Den Unterricht übernehmen namhafte Personen. Hedwig Wachenheim leitet die Schule; Hauptamtliche Dozentin ist Dr. Erna Magnus. Als theoretische Grundlage dient das „Lehrbuch der Wohlfahrtspflege“[6]. „Der Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt hat eine sehr segensreiche Einrichtung geschaffen.”, heißt es in dem Artikel „Gesundheitsfürsorgerin“ in der „Frauenstimme“ vom 25.12.1928.
Ehe- und Sexualberatung bei der Arbeiterwohlfahrt
1929 regt die AWO-Gründerin Marie Juchacz (1879-1956) den Ausbau der Ehe- und Sexualberatung bei der AWO an. Die Arbeiterwohlfahrt dürfe nicht nur für die Abschaffung des Abtreibungsparagrafen des Strafgesetzbuches eintreten, sie müsse sich auch für die Errichtung von Ehe- und Sexualberatungsstellen einsetzen[7], betont Juchacz. Sie überlässt die Ausgabe von Präventivmitteln komplett den Ärzten und setzt auf Aufklärung. In AWO-Beratungsstellen werden Broschüren an Ratsuchende ausgegeben, ärztliche Sprechstunden, Vorträge und Kurse angeboten. Die Krankenkassen wollen die Präventionsarbeit unterstützen, die ihre Mitglieder vor schwereren (und damit teureren) Erkrankungen schützt. 1929 erlauben sie Ärzten die Herausgabe von Verhütungsmitteln.
Moralische Bedenken, die daraufhin von ärztlicher Seite formuliert werden, spiegeln die grundlegenden Widersprüche zwischen alten Gesetzen und neuen Ideen der Zeit wider: “Dieser Beschluß betrifft hoffentlich nur die verheirateten Mitglieder, da es ja sonst eine Begünstigung der Unzucht darstellen würde“, ermahnt das offizielle Organ der sächsischen Ärzteschaft die Krankenkassen und wird damit kritisch im „Vorwärts“ zitiert.[8]
Die AWO geht mit der Zeit: Nach einer von Marie Juchacz einberufenen Tagung unter dem Titel „Ausbildung“, die Ende März 1929 in Frankfurt am Main stattfindet, wird für das Herbstsemester 1929 das Thema „Ehe- und Sexualberatung“ an der Wohlfahrtsschule angekündigt. Die Anmeldezahlen verdoppeln sich zum Vorjahr von 30 auf 60 Personen und machen, wie in einem Artikel des „Vorwärts“ vom 2.8.1929 mitgeteilt wird, die „Eröffnung von zwei Parallelklassen im Herbst erforderlich“. In der Zeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“ vom 1.12.1929 führt Marie Juchacz in dem Artikel „Geburtenfrage – Sexualberatung eine Aufgabe der Arbeiterwohlfahrt“ die durch das Jahr hindurch in der AWO diskutierten Themen und deren Voranschreiten im Detail aus.
Die Berichte von Zeitzeuginnen wie Lotte Lemke (1903-1988), Hedwig Wachenheim (1891-1969) und Marta Schanzenbach (1907-1997), lassen grundsätzliche Rückschlüsse über die AWO-Wohlfahrtsschule zu. Ein Zusammenhang zwischen dem Anmelde-Boom 1929 und dem modernen Unterrichtsthema „Ehe- und Sexualberatung“ lässt sich vermuten. Möglicherweise tragen zu dem Zeitpunkt auch weitere Faktoren dazu bei: z.B. das Bühnenstück "Revolte im Erziehungshaus" von Peter Martin Lampel 1928/29, das die Aufmerksamkeit der Berliner Jugend auf die Mängel im System der Fürsorgeerziehung lenkt. Oder die Rahmenbedingungen der Ausbildung mit Stipendien und Wohnheim schaffen ideale Lernbedingungen, die sich Studierende wünschen. Marta Schanzenbach erklärte in einem Interview: „Keine wirtschaftlichen Sorgen zu haben und nur lernen zu dürfen, bedeutete für mich ein kaum fassbares Glück.“[9]
Die Wirtschaftskrise und der politische Wandel führen 1930 zu staatlichen Finanzkürzungen in der Wohlfahrt und treffen auch die AWO-Wohlfahrtsschule schwer. Die Schule ist gezwungen, „im Herbst 1930 nur eine neue Klasse aufzunehmen“.[10] Am 12. Mai 1933 besetzen Nationalsozialisten die Räume des AWO- Hauptausschusses am Belle-Alliance-Platz 6/8 und der Lindenstraße 3 in Berlin und führen das abrupte Ende der ersten AWO-Wohlfahrtsschule herbei.
[1] Das Netz von Sexualberatungsstellen entsteht durch den Einsatz der sich nach 1918 entwickelnden Sexualreformbewegung und den im Bund für Mutterschutz und Sexualreform (BfMS) vereinten Kräften der radikalen Frauenbewegung.
[2] Vgl. „Standesdünkel gegen Eheberatung.“ in: „Frauenstimme“, Beilage zum „Vorwärts“, 21.07.1927, S.2-3 und „Warum Sexualberatung?“ in: „Frauenstimme“, Beilage zum „Vorwärts“, 03.02.1927, S. 2.
[3] Wronsky, Siddy: „Internationale Konferenz für Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik“ in Paris 1928“. In: Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, Nr. 5, August 1928, S. 225-229, hier S. 229.
[4] Siehe dazu auch Kirschmann-Röhl, Elisabeth in: Kähler, Wilhelmine (Hrsg.): Der Frauen Hausschatz. Jahrbuch für Arbeiterfrauen und Töchter. Hamburg 1922.
[5] Wronsky, Siddy: „Internationale Konferenz für Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik“ in Paris 1928“. In: Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, Nr. 5, August 1928, S. 225-229, hier S. 229.
[6] Wachenheim, Hedwig (Hrsg.); Juchacz, Marie; Colm, Hanna; Hirschfeld, Dorothea; Schroeder, Louise; Simon, Helene: Lehrbuch der Wohlfahrtspflege. Berlin 1927.
[7] Roehl, Fritzmichael: Marie Juchacz und die Arbeiterwohlfahrt. Bonn, 1961, S. 141/142.
[8]„Um Sein und Werden. Vom 33. Deutschen Krankenkassentag.“ Der Abend – Spätausgabe des „Vorwärts“, 21.08.1929.
[9] Tebbel, Renate: Marta Schanzenbach (1907-1997). Eine Frau der ersten Stunde. Freiburg 2010, S. 46.
[10] Vgl. Roehl, Fritzmichael: Marie Juchacz und die Arbeiterwohlfahrt. Bonn, 1961, S. 148
Lydia Struck ist Kulturanthropologin und Autorin des Buches "‘Mir geht so vieles durch den Kopf und durchs Herz‘: Marie Juchacz - Briefe und Gedanken zum Neuanfang der AWO“. Sie ist eine Urgroßnichte von Marie Juchacz. Veröffentlichungen von Lydia Struck im Bestand der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung finden Sie hier.
Die Recherche in der „Historischen Presse der deutschen Sozialdemokratie online“ erlaubt unterschiedliche Interpretationen. Hier wird einer Information nachgegangen, die durch Berichte in den Jahrbüchern der Arbeiterwohlfahrt von 1929 ergänzt werden könnte. Zu den angeschnittenen Themen kann mithilfe der Volltextsuche weitergehend geforscht werden.
Im Bestand der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung befinden sich zahlreiche Medien zur Geschichte und Gegenwart der Arbeiterwohlfahrt.