Gemeinwohl-Ökonomie für Non-Profit-Organisationen

Ein Interview mit Martina Dietrich

 

 

Martina Dietrich, systemische Organisationsentwicklerin, unterstützt mit ihrer Firma 'sinnovation - nachhaltig entwickeln' Menschen, Teams und Organisationen in ihrer nachhaltigen und werteorientierten Entwicklung. Als freie Organisationsberaterin berät sie Unternehmen und Social-Profit-Organisationen bei der Weiterentwicklung hin zu ethischem Wirtschaften und bei der Erstellung ihrer Gemeinwohl-Bilanz.

MuP: Was ist das Besondere an der Gemeinwohl-Ökonomie?

Martina Dietrich: Für mich ist die Gemeinwohl-Ökonomie ein Hebel, mit dem wir die Wirtschaft verändern können. Wenn die Wirtschaft sich nicht in eine nachhaltige, ethische Richtung verändert wird, werden wir den Klimawandel nicht aufhalten. In der Gemeinwohl-Bilanz - das Instrument der Gemeinwohl-Ökonomie - geht es nicht nur wie in der Finanzbilanz darum, wie viele Gewinne erarbeitet werden. Es geht darum, wie eine Organisation oder ein Unternehmen arbeitet und zwar ganzheitlich, orientiert an vier Werten: Menschenwürde, Solidarität & Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz & Mitentscheidung. Diese Werte können in Bezug auf alle Berührungsgruppen einer Organisation umgesetzt werden, d.h. in Bezug auf Mitarbeitende, Lieferant*innen, Kund*innen und das gesellschaftliche Umfeld. Und das trifft genauso für Non-Profit Organisationen bzw. Social-Profit-Organisationen zu. Es ist wichtig, dass diese Organisationen, auch wenn sie nicht profitorientiert sind, sich gemeinwohlorientiert aufstellen.

MuP: Welche anderen Nachhaltigkeitsmanagement Tools begegnen Ihnen in der Praxis und was zeichnet die Gemeinwohlökonomie aus?

Martina Dietrich: Es gibt den deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK), die EMAs und verschiedenste andere Tools, wie B-Corp - ein internationaler Verbund – der dem Ansatz der Gemeinwohl-Ökonomie vielleicht am nächsten kommt. Aber all diese Instrumente sind nicht umfassend und in einer so nachvollziehbar logischen Struktur aufgebaut, auch wenn immer mehr Nachhaltigkeitsberichte neben der ökologischen Nachhaltigkeit auch ethische Aspekte einbeziehen. Die Gemeinwohlbilanz ist das Instrument, mit dem es nicht nur um irgendeinen Bericht geht, sondern mit deren Umsetzung eine Vision verfolgt wird. Die Gemeinwohl-Ökonomie ist eine basisdemokratische Bewegung. Viele Nachhaltigkeitsberichte kritisieren in keiner Weise unser Wirtschaftssystem an sich, sondern wollen es weiterlaufen lassen und nur ein bisschen nachhaltiger gestalten. Da unterscheiden wir uns. Unser aktuelles Wirtschaftssystem setzt die Werte der Gemeinwohl-Ökonomie, die auch Grundlage jedes demokratischen Verständnisses sind, wie Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenwürde, nicht um.

Was meiner Meinung nach an der Gemeinwohl-Ökonomie kritikwürdig ist, ist dass wir es noch nicht geschafft haben, ein adaptiertes Tool für gemeinnützige Organisationen zu entwickeln. Die Berater*innen müssen so viel Übersetzungsarbeit leisten, gerade für Non-Profit-Organisationen, obwohl der Ansatz selbst hundertprozentig auf Social-Profit-Organisationen passt.

MuP: Was ist Ihr Verständnis von Gemeinwohl-Ökonomie mit Blick auf Non-Profit-Organisationen?
Martina Dietrich: Der Zweck einer Social-Profit-Organisation ist oft schon sehr gemeinwohlorientiert. Das heißt, es geht um gemeinnützige, positive Ziele für die Gesellschaft. Und deswegen ist da auch eine Nähe der Gemeinwohl-Ökonomie zu Social-Profit-Organisationen. Es geht nicht darum einen Nachhaltigkeitsbericht zu schreiben, sondern tatsächlich eine Vision mit zu verfolgen und zu unterstützen.
Das könnte auch eine Motivation für Social-Profit-Organisationen sein, sich mit der Gemeinwohl-Bilanz zu beschäftigen. Denn neben dem, dass Organisationen nach außen darstellen können, was sie von ihrem Zweck her schon Tolles tun, hinterfragt die Gemeinwohl-Bilanz kritisch, ob nur der Zweck gemeinwohlorientiert ist und wie auch die Umsetzung gemeinwohlorientiert erfolgen kann. Denn bei der Gemeinwohl-Ökonomie geht es auch um folgende Fragen: Wie ist der Umgang mit den Mitarbeitenden? Werden Mitarbeitende gefördert? Wie ist der Einkauf? Das kommt manchmal leider auch bei Social-Profit-Organisationen zu kurz.

MuP: Was sind für Social-Profit-Organisation aus Perspektive der Gemeinwohl-Ökonomie die größten Herausforderungen?

Martina Dietrich: Also die Herausforderungen sind sicher unterschiedlich. Es kommt immer darauf an, wo das Unternehmen oder die Organisation steht.

Häufig ist der Bereich Einkauf und Lieferant*innen ein echtes Entwicklungsfeld im Sozialbereich. Oft ist ein Argument: Wir haben kein Geld dafür. Deshalb bestellen wir mal eben schnell bei Amazon, weil das billig ist und schnell geht. Es fehlt an Zeit und Geld, um sich damit mehr zu beschäftigen. Und da ist ein Dilemma bzw. vielleicht ist es auch eine organisations-kulturelle Frage für Social-Profit-Organisationen, was können und wollen wir uns leisten.

Ein weiteres Entwicklungsfeld ist der Bereich Mitarbeitende. Das überrascht vielleicht, aber das kommt häufig zu kurz. Hier spielt sicher die intrinsische Motivation der Mitarbeitenden eine Rolle. Alle machen die Arbeit, weil sie das gut finden und dafür brennen. Dann fällt eben manchmal hinten runter, dass man sich um seine Mitarbeitenden auch gut kümmert. Im Pflegebereich ist das sowieso ein Dauerbrenner, aber auch in anderen Bereichen, auch in politischen Organisationen, wo ich früher selbst gearbeitet habe. Das war auch meine Erfahrung damals und hat mich, ehrlich gesagt, sogar aus dem Bereich weggetrieben. Danach fand ich es super spannend in der Industrie zu landen und zu sehen, was man alles für Mitarbeiter*innen umsetzen kann. Durch eine Gemeinwohl-Bilanzierung können im Themenfeld Mitarbeitende die Bedarfe nochmal klarer gemacht und Lösungen gefunden werden. Da geht es nicht nur ums Gehalt, sondern für mich geht es vielmehr um Weiterentwicklungsmöglichkeiten und die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass alle ein menschenwürdiges Leben haben.

MuP:Warum sollten Social-Profit-Organisationen sich mit der Gemeinwohl-Ökonomie beschäftigen und diesen Prozess der Bilanzierung durchlaufen?

Martina Dietrich: Also ein großer Pluspunkt für Social-Profit-Organisationen ist, dass sie über die Gemeinwohl-Bilanz endlich darstellen können, was sie Positives für die Gesellschaft tun. Aber daneben ist es auch ein einfaches und gutes Organisationsentwicklungsinstrument, welches Social-Profit-Organisationen nutzen können, um sich weiterzuentwickeln. Das ist sozusagen ein hilfreicher Nebeneffekt, neben dem, dass man sich wirklich gemeinwohlorientierter auszurichten kann.
Was natürlich noch dazu kommt, ist der Fakt, dass auf EU-Ebene die neue CSRD-Richtlinie kommen wird. Also wo es darum geht, dass Unternehmen ab 250 Mitarbeitende verpflichtet sein werden, einen ethischen Bericht abzuliefern. Dann gibt es tatsächlich eine Notwendigkeit, einen ethischen Bericht abzuliefern. Möglicherweise fragen sich viele dann, mit welchem Tool sie arbeiten wollen. Dann ist die Gemeinwohlbilanz das umfassendste und ganzheitlichste Instrument.

MUP: Was empfehlen Sie Social-Profit-Organisationen, die sich jetzt auf den Weg machen und sich mit dem Thema Gemeinwohl-Ökonomie auseinandersetzen wollen?

Martina Dietrich:Es gibt inzwischen immer mehr Beispiele von Organisationen, die sich gemeinwohlbilanziert haben. Sich mit diesen Organisationen auszutauschen, ist auf jeden Fall ein guter Einstieg. Und wenn klar ist, das wollen wir als Organisation angehen, kommt es darauf an, für sich einen guten Zeitpunkt zu finden, eine Ressourcenplanung zu machen und nicht unterschätzt, was damit verbunden ist. Aber wenn man auch die Chance sieht, nach innen so viel zu verändern, dann schmerzen die Ressourcen weniger.  

MuP: Haben Sie Tipps für Social-Profit-Organisationen, die sich diese Gemeinwohl-Matrix vornehmen und auf die eigene Organisation übertragen wollen?

Martina Dietrich: Alle Unterlagen um eine Gemeinwohlbilanz zu erstellen können im Sinne des Open Source Modells auf der Webseite der GWÖ heruntergeladen werden. Damit kann eine Organisation den Prozess ganz alleine für sich angehen. Es gibt darüber hinaus zertifizierte Gemeinwohl-Berater*innen, die Organisationen im Prozess und mit Fach-KnowHow dabei unterstützen können. Außerdem gibt es die Möglichkeit auch für kleinere Organisationen einen sogenannten Peerprozess zu machen gemeinsam mit anderen kleinen Organisationen.

Ein wichtiger Tipp ist, dass der Prozess wirklich unter einer hohen Beteiligung der Mitarbeitenden passiert. Das sind die besten Prozesse. Auf gar keinen Fall sollte es ein Prozess sein, wo die Geschäftsführung und vielleicht noch die Assistenz gemeinsam die Fragen beantworten und den Bericht schreiben. Für mich ist ganz wichtig in der Umsetzung, die Mitarbeitenden mitzunehmen, eine gute Kommunikation zu haben und den Prozess partizipativ zu gestalten.

Zudem bedarf es einer Offenheit, nochmal genau hinzugucken und sich auf den Prozess einzulassen. Häufig haben gerade gemeinnützige Organisationen das Gefühl, schon sehr fortschrittlich in Bezug auf Gemeinwohlorientierung zu sein. Im Laufe des Prozesses fällt dann meistens doch das ein oder andere auf. Da braucht es eine Offenheit, um nicht hinterher gerade als gemeinnützige Organisation enttäuscht zu sein.

Wir bedanken uns für das Interview!       
Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartner*innen geben deren eigene Auffassungen wieder.

Dieses Interview wurde verschriftlicht und redaktionell überarbeitet. Bonn, 2023

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