Die von den Bundes- und Landesregierungen ab dem März 2020 verhängten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie waren in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel und erweckten den Eindruck eines Ausnahmezustands, der nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens betraf.
Die Sorge um die Alten und Erkrankten und die Solidarität mit den vulnerablen Bevölkerungsgruppen führte dazu, dass das von Politik und Sachverständigen zunächst als medizinisch unsinnig und mit westeuropäischen Wertvorstellungen unvereinbar abgelehnte Tragen von Masken nach Einführung einer Maskenpflicht beim Einkauf und im Nahverkehr Ende April 2020 vom Großteil der Bevölkerung anstandslos akzeptiert wurde. Das galt im Grundsatz auch für die einschneidenden Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen während der wiederholten Lockdowns. Für die Proteste der sogenannten Querdenker und aus dem rechtsradikalen und -populistischen Lager gegen die Coronamaßnahmen findet Thießen in der Seuchengeschichte zahlreiche Parallelen.
Mehr noch: Als nach Anbruch des Superwahljahres 2021 die politisch Verantwortlichen ähnlich einschneidende Maßnahmen wie im Vorjahr zur Brechung der nunmehr dritten Welle der Pandemie lange Zeit hinauszögerten, sahen sie sich nicht nur der geharnischten Kritik führender Autoritäten im Bereich der Epidemiologie und Virologie wie Melanie Brinkmann ausgesetzt, sondern auch weiten Teilen der Medien und der Öffentlichkeit. Erstmals wurde nun auch der Gedanke einer zuvor von der Politik kategorisch ausgeschlossenen Impfpflicht mit zunehmender Intensität diskutiert.
Medizinhistorisch Versierte erinnerten daran, dass die Impfpflicht gegen verschiedene Infektionskrankheiten (im Verein mit niederschwelligen Impfangeboten) in Ost- und Westdeutschland zu einer der weltweit höchsten Impfquoten geführt hatte. Das in beiden deutschen Staaten bis in die 1970er Jahre gültige, bereits 1874 verabschiedete Reichsimpfgesetz hatte die Pockenimpfung aller Kinder in ihrem ersten und zwölften Lebensjahr jahrzehntelang verbindlich vorgeschrieben.
Die Sorge um Alte und Kranke während der Coronapandemie und die damit begründeten politischen Maßnahmen unterscheiden sich dabei Thießen zufolge fundamental vom Umgang beispielsweise mit der sogenannten Hongkong-Grippe. An ihr starben 1968 bis 1970 weltweit bis zu vier Millionen Menschen. Die Verheerungen dieser Grippe aber sind aus dem kollektiven Gedächtnis erstaunlicherweise völlig verschwunden.
Auch in der alten Bundesrepublik war das Gesundheitssystem im Winter 1969/70 an die Belastungsgrenze geraten. Die Zahl der Verstorbenen wurde nach Abflauen der Pandemie im Frühjahr 1970 auf 50.000 Menschen geschätzt. Insgesamt nahmen Politik und Gesellschaft das massenhafte Sterben anders als in der aktuellen Pandemie mehr oder minder gelassen in Kauf.
Den für eine Einordnung der Gegenwart wichtigsten Grund hierfür sieht Thießen in „einem neuen Erfahrungsraum der Deutschen, die Gesundheit und Krankheit nun anders bewerten“ als noch 50 Jahre zuvor. Seit den 1970er und 1980erJahren hatten fundamentale Verbesserungen der Gesundheitsvorsorge und andere Faktoren den Deutschen nicht nur zu einer Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung verholfen; sie hatten auch Vorstellungen eines erfüllten und aktiven Lebens im „vierten Lebensalter“ nach dem Beruf und überhaupt ein gesundes Leben „als letztes Fortschrittsversprechen der Moderne“ verinnerlicht.
Es kam zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens der Gegenwartsgesellschaft, dass auch das Leben der Älteren gegenüber äußeren Bedrohungen wie einer Epidemie zu schützen sei, selbst um den Preis wirtschaftlicher Verwerfungen und Einbußen. Das ist somit nicht nur als historisches Novum zu begreifen, sondern durchaus auch eine tröstliche Erkenntnis.
Allerdings zeigte sich im Verlauf der Pandemie auch, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen in Deutschland von den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Coronakrise im gleichen Maß betroffen waren. Thießen beschreibt eindringlich, wie die Pandemie nicht allein die Schwächen eines zunehmend an Profitinteressen orientierten Gesundheitssystems offenlegte und verstärkte, sondern auch soziale Ungleichheiten.
Insbesondere wurden mühsam erkämpfte gleichstellungspolitische Geländegewinne wieder zur Disposition gestellt: durch Kontaktbeschränkungen, Kindergarten- und Schulschließungen, die Einschränkung besonders der Dienstleistungsberufe sowie durch die erneute Zuweisung der nun verstärkt anfallenden Carearbeit an die Frauen.
Während die Pandemie zunächst weithin als der große „Gleichmacher“ zumindest zwischen Armen und Reichen rezipiert wurde, gewann im weiteren Verlauf der Pandemie die Einsicht an Boden, dass sich soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und zwischen privilegierten und unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen noch verstärkt hatten.
Erst die Zukunft wird erweisen, ob die dann besonders im Frühjahr 2021 – bereits im Zeichen der anstehenden Bundestagswahl – ins Leben gerufenen Landes- und Bundesprogramme zur Abfederung der sozialen Folgen der Pandemie diesen Trend abmildern oder gar brechen konnten und ob sie vielleicht sogar den Beginn eines sozialpolitischen Paradigmenwechsels markieren.