Kernaussagen
Wir leben in einer Ära des Wandels. Die Auswirkungen von Globalisierung, Digitalisierung und anderen gesellschaftlichen Veränderungen führen zu einer Krise des (neo-)liberalen Paradigmas, das seit den 1980er Jahren vorherrscht. Die Vorstellung eines permanenten Fortschritts wird zunehmend in Frage gestellt und die Möglichkeit für sozialen Aufstieg scheint hauptsächlich einer neuen urbanen Akademikerklasse vorbehalten zu sein, die hochqualifizierte Wissensarbeit leistet. Die alte Mittelschicht und körperlich arbeitende Dienstleister aus der Unterschicht geraten hingegen zunehmend ins Abseits.
Die daraus resultierenden Probleme werden mit Erfolg von Populisten aufgegriffen, die einfache Lösungen versprechen und sich dabei nostalgischer Vorstellungen der Nachkriegsjahre bedienen. Es ist aber klar, dass es kein Zurück gibt. Die Lösung könnte stattdessen ein „einbettender Liberalismus“ sein, der stärker auf Regeln setzt, um den Einfluss des Marktes zu begrenzen.
Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie
Reckwitz‘ Analysen können zu einem besseren Verständnis der Herausforderungen beitragen, vor denen die Soziale Demokratie bei der Adressierung der Probleme einer zunehmend diversifizierten Gesellschaft steht. Da der von ihm beschriebene Wandel nicht nur die sozialen Praktiken und Konsumgewohnheiten betrifft, sondern auch die politische Kultur, kann die Soziale Demokratie Reckwitz‘ Einsichten nutzen, um ihre politische Kommunikation und ihr Angebot an politischen Lösungen an die sich verändernden kulturellen Bedürfnisse und Werte anzupassen.
Kapitel 1: Kulturkonflikte als Kampf um die Kultur: Hyperkultur und Kulturessenzialismus
Im Gegensatz zu Samuel Huntingtons These vom Kampf der Kulturen stehen sich Kulturen im „Regime der Kulturalisierung“ nicht antagonistisch gegenüber. Vielmehr geht es um grundlegend verschiedene Auffassungen davon, was Kultur überhaupt ist.
In den westlichen Gesellschaften kam es seit den 1970er Jahren zu einer Abkehr von der Orientierung an traditionellen Kulturinstitutionen des Bildungsbürgertums wie Theatern, Konzerthäusern und Museen. Stattdessen rückte eine Vielfalt kultureller Güter in den Fokus, die auf globalen Märkten zirkulieren und den Individuen Ressourcen für die Selbstentfaltung bieten. Im Kontext dieser „Hyperkultur“ sind Individuen daran interessiert, kulturelle Elemente in ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit kennenzulernen und sich anzueignen. Dies kann die Einzigartigkeit einer Stadt, einer Landschaft, eines Events, einer Marke, eines Objekts, einer Glaubensüberzeugung oder einer Bewegungskultur sein. Indem sie die Angebote der globalen Kultur verarbeiten und miteinander kombinieren, entwickeln Individuen ihre persönlichen Identitäten als einzigartige Persönlichkeiten. Im Gegensatz zur klassischen bürgerlichen Kultur bewertet die Hyperkultur das Populäre nicht mehr abwertend zugunsten einer auf Bildung basierenden Hochkultur; stattdessen sind Individualismus, Diversität und Kosmopolitismus ihre Leitbilder.
Im Gegensatz zu dieser „Hyperkultur“ herrscht in Ländern wie China, Russland oder Indien ein kulturessenzialistisches Modell vor. Hier basiert das Verständnis von Kultur auf der kollektiven Identität einer Gesellschaft. Im Kulturessenzialismus wird das als Kultur empfunden, was die Gemeinschaft zusammenhält. Während der Ort der Singularität in der „Hyperkultur“ das Individuum ist, betrachtet der Kulturessenzialismus die Gemeinschaft als Ganzes, beispielsweise die Nation, als singulär.
Im Kontext des Kulturessenzialismus entstehen aber auch „Neogemeinschaften“, die keine traditionellen Kollektive mehr sind, sondern bewusst gewählte Gemeinschaften. Dabei wird die Peripherie der Gesellschaft in Abgrenzung zum gesellschaftlichen Zentrum mobilisiert. Insbesondere Menschen, die sich als Verlierer der Modernisierung betrachten, fühlen sich von diesen neuen Kollektiven angesprochen und versuchen, durch die Teilhabe an kollektiver Identität Überlegenheit zu erlangen. Die Mitglieder dieser „Neogemeinschaften“ betrachten die „Hyperkultur“ und ihren Kosmopolitismus oft als Angelegenheit der „Eliten“. Dabei kommt es vor, dass Gruppen, die verfeindete Ansichten vertreten, wie beispielsweise Salafisten, Rechtspopulisten oder russische Nationalisten, in ihrer Ablehnung der „Hyperkultur“ eine Gemeinsamkeit haben und ihre Ablehnung in ähnlicher Weise zum Ausdruck bringen, indem sie die radikale Andersartigkeit ihrer Kultur und der „Hyperkultur“ in einem Freund-Feind-Schema dramatisieren.
Eine Alternative dazu bietet die Idee des „doing universality“ als eine Kultur des Allgemeinen. Das Konzept basiert auf der Teilhabe aller an einer Gemeinschaft und auf gleichzeitig stattfindenden Bemühungen zur Enkulturation. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Institutionalisierung der Schule als Lernort, an dem Bildung und Gemeinschaft in äußerst heterogen zusammengesetzten Lerngruppen gefördert werden.
Reckwitz‘ Analysen zum kognitiv-kulturellen Kapitalismus sind überzeugend. Mithilfe soziologischer Terminologie führt er konkret vor Augen, in welcher Vielschichtigkeit sich gesellschaftliche Transformationsprozesse in den letzten Jahrzehnten ereignet haben und welche Konsequenzen daraus erwachsen sind. Reckwitz‘ eigene Vorschläge für einen dritten Weg zwischen Liberalismus und Antiliberalismus bleiben allerdings zu vage; sie bewegen sich auf einer eher allgemeinen Ratgeberebene. Das Konzept seines einbettenden Liberalismus wurde zwar von Politikern verschiedenster Couleur positiv aufgenommen; genau dies zeigt aber den amorphen Charakter seines Ansatzes, der noch weiter geschärft und konkretisiert werden muss.
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