Kernaussagen
- Die Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz bietet eine umfassende Analyse der spätmodernen, also gegenwärtigen Gesellschaft in ihrem Streben nach Singularisierung. Der Autor untersucht, wie sich dieses Streben im Strukturwandel von Ökonomie, Arbeitswelt, Technologie, Lebensstilen und Politik wiederfindet, und zeigt auf, welche teils widersprüchlichen gesellschaftlichen Dynamiken freigesetzt werden.
- Die spätmoderne Gesellschaft erhebt, anders als die Gesellschaften zuvor, das Besondere und Singuläre zum gesellschaftlichen Maßstab. Wie wir wohnen, essen, arbeiten, wohin und wie wir reisen, unser Körper, unser Konsum, unsere Freunde, selbst die Politik: Alles soll individuell, besonders, wertvoll sein; Selbstverwirklichung ist das vorherrschende Ziel. Wem sie gelingen kann und wem eher nicht, und welche gesellschaftlichen Unwuchten dies zeitigt, ist Teil dieser großen Gesellschaftsanalyse.
Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie
Das Werk mit dem Anspruch einer Theorie der Moderne zeigt auf, wo in der gegenwärtigen Gesellschaft die Chancen und Gefahren für gelingendes Leben liegen, ohne selbst normativ zu sein. Der Autor will „Sensibilität für die Konfigurationen des Sozialen (..) entwickeln, dafür, wie sie zu Strukturen der Herrschaft und der Hegemonie gerinnen“. Seine Analyse liefert also mögliche Hebel, an denen aus Sicht der Sozialen Demokratie politische und gesellschaftliche Akteur_innen ansetzen können, wenn sie eine gerechtere Gesellschaft gestalten wollen.
Einleitung: Die Explosion des Besonderen
Das Besondere, Einzigartige, Singuläre ist zum gesellschaftlichen Maßstab der Erwartungen in nahezu allen lebensweltlichen Bereichen geworden; für Individuen genauso wie für Objekte, Ereignisse, Orte und Kollektive. Vornehmlich gilt das in der neuen, hochqualifizierten Mittelklasse, die zur kulturell dominanten Trägergruppe geworden ist: Das eigene Leben wird sorgfältig kuratiert, um dann vor anderen performed zu werden. Menschen bewegen sich auf umfassenden sozialen Attraktivitätsmärkten, auf denen sie im Wettbewerb um Sichtbarkeit stehen. Der Definitionskampf darum, was nun als singulär gilt und was nicht, ist konstitutiver Bestandteil dieser Ökonomie des Besonderen.
In der Gesellschaft der klassischen Moderne, die ab etwa dem 18. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Westen vorherrschte, war der Wesenskern hingegen eine soziale Logik des Allgemeinen. Standardisierung, Rationalisierung, Formalisierung herrschten vor – vom Bildungskanon bis Fastfoodketten, von Technikanwendungen bis zu rechtsstaatlichen Normen.
Die Ursache für den Wandel sieht Reckwitz in Ökonomie und Technologie: Dinge, Dienste, Ereignisse, Medienformate sind dann erfolgreich, wenn sie als einzigartig anerkannt werden, und digitale Technologie leistet personalisierte Erfahrungen. Beispiel: Durch Data-Tracking der digitalen Profile jeder einzelnen gliedern sich angezeigte Suchergebnisse, Werbung, Inhalte und mehr.
Ein zentraler Begriff dieser Gesellschaft ist der der Kultur. Kultur ist immer dort, wo ein gesellschaftlicher Wert zugeschrieben wird. Das Soziale wird kulturalisiert, dadurch valorisiert und so singularisiert. Damit verbunden ist die extreme Relevanz der Affekte. Nur was Affekte auslöst, ist attraktiv und authentisch und gilt damit als wertvoll.
Der Prozess der Singularisierung begann allerdings etwa gleichzeitig mit der sozialen Logik des Allgemeinen: Die Romantiker_innen hoben als Erste die Einzigartigkeiten von Menschen, Natur, Orten, Augenblicken und damit die Vorstellung einer emphatischen Individualität des Subjekts hervor, die es zu entfalten und verwirklichen gelte. Sie legten damit den Grundstein für den postmaterialistischen Wertewandel in den 1970ern, der Ideen der Selbstverwirklichung nach vorne stellt. „Die Bedeutung der Epoche der Romantik für die Kultur der Besonderheit in der Moderne kann gar nicht überschätzt werden“, betont der Autor mehrfach im Buch.
Die hier von Andreas Reckwitz aufgefächerte Gesellschaft der Singularitäten lässt die Leser_innen aus der von ihm beschriebenen hegemonialen neuen Mittelklasse sicherlich ertappt zurück: Sie werden indirekt damit konfrontiert, wie sehr sie und ihre dem guten Leben verschriebenen Praktiken zur gesellschaftlichen Polarisierung und den gegenwärtigen Krisen beitragen. Welche politischen Konsequenzen können und sollten aus Sicht der Sozialen Demokratie daraus gezogen werden?
Ziel der Sozialen Demokratie ist seit jeher, eine freie und gerechte Welt zu schaffen. Wie gerecht ist nun die aktuelle? Reckwitz beschreibt eine Gesellschaft, in der Egozentrik, gelingende Performance und das Streben nach Distinktionsgewinnen quasi notwendige Eigenschaften der bei der Selbstverwirklichung Erfolgreichen sind. Als gleichzeitig entstehende Probleme beschreibt er einen dramatischen Anstieg von sozialer Ungleichheit, psychischer Überforderung und globaler Kulturkämpfe um Deutungshoheit über das, was wertvoll und wertlos sei. Denjenigen Menschen, die ihr Leben nicht im Dauerwettbewerb performen können oder wollen, wird der gesellschaftliche Respekt aberkannt – unabhängig von ihrer Arbeit, ihrer Leistung, ganz zu schweigen von ihrer Würde als Mensch. Gerechtigkeitsnormen der industriellen Leistungsgesellschaft gelten nicht mehr. Aufstiegsversprechen werden nicht erfüllt, weil vor allem das inkorporierte kulturelle Kapital der Herkunftsmilieus entscheidet. Dazu kommt: Leistung zählt nicht nur nicht, sondern Menschen in einfachen Dienstleistungsjobs werden für ihre geleistete und gerade auch von der neuen Mittelklasse notwendig gebrauchte Arbeit sogar abgewertet – und damit gleichzeitig auch für ihre Art zu leben. Das lässt gesellschaftlichen Zusammenhalt massiv erodieren.
Die Bildungsexpansion trägt überdies paradoxerweise dazu bei, dass diejenigen mit mittlerer Bildung zur Gruppe der Bildungsverlierer_innen zählen – als müsse nunmehr jede Person die höchstmögliche formale Bildung anstreben und sei nicht „gut genug“, wenn sie „nur“ einen Ausbildungsberuf ergreift. Diese Bewertungs-, Kultur- und Verteilungskämpfe führen die Gesellschaft immer weiter weg von einem gemeinsamen Allgemeinen.
All das muss die Soziale Demokratie beschäftigen, wenn das Urversprechen weiter gelten soll, für eine solidarische, progressive Gesellschaft mit gleichen Teilhabemöglichkeiten für alle einzustehen. Solidarität ist letztlich nichts anderes als Respekt, Anerkennung und – wo nötig – Hilfe. Es braucht (wieder) ein gemeinsames gesamtgesellschaftliches Interesse an der Wertschätzung des Beitrags jedes Individuums für die Gesellschaft, materiell und sozial.
Reckwitz’ Analyse der Gegenwartsgesellschaft liefert damit einen Überblick über die mehr oder auch weniger Erfolg versprechenden Hebel, über die gesellschaftliche Änderungen gesteuert werden könnten.
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