Als Mitglied des Kuratoriums der FES bin ich gebeten worden, die heutige Veranstaltung zur Erinnerung an den Vereinigungsparteitag vor genau 30 Jahren zu eröffnen.
Hintergrund dafür war das Bewusstsein, dass in diesem Zusammenhang nicht nur das Ende der Ost-SPD, sondern auch ihr Anfang und ihre kurze, aber wichtige Geschichte in diesem deutschen und europäischen Schicksalsjahr 1989/90 zur Sprache kommen muss.
Hier sei an die große Rede Gorbatschows vor der UNO am 7. Dezember 1988 erinnert. Er bekannte sich zum internationalen Recht und zu den Menschenrechten und rief zur Zusammenarbeit bei globalen Problemen auf. Gorbatschow kündigte den Rückzug von 500 000 Soldaten aus Mitteleuropa an und erklärte die Wahlfreiheit des „sozialen Systems“, wie er es nannte – faktisch die Rücknahme der Breschnew-Doktrin. Anfang Juli wurden diese Aussagen vom Warschauer Pakt bekräftigt.
Doch inzwischen war viel geschehen: Polen hatte nach dem Runden Tisch im Juni gewählt und wenige Wochen später sollte Tadeusz Mazowiecki der erste nicht kommunistische Ministerpräsident im Ostblock werden. Das reformkommunistisch regierte Ungarn hatte die Grenzanlagen an der Grenze zu Österreich abgebaut und die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet. 50 000 DDR-Bürger verließen in den kommenden Wochen über Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen die DDR.
Auch in der DDR hatte es angefangen zu brodeln.
Anfang Februar, kurz vor dem Start des Runden Tisches in Polen, von dem wir natürlich nichts wussten, beschlossen Martin Gutzeit und ich, die Sozialdemokratische Partei in der DDR neu zu gründen. Wir wollten uns in die Geschichte der Sozialdemokratie stellen, mit welcher im 19. Jahrhundert die Arbeiter von Opfern der Unterdrückung zum politischen Subjekt der Befreiung wurden. Für die DDR hieß das: Aus Untertanen der kommunistischen Diktatur sollten Bürger werden, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
In den folgenden Monaten zeigte sich jedoch, wie schwer es sein würde, in den Kreisen der Opposition für eine solche Parteigründung Mitstreiter zu finden. Die wenigsten wollten eine parlamentarische Demokratie westlichen Musters, wie sie uns vorschwebte.
Im Juli 1989 stellten Martin Gutzeit und ich den Aufruf fertig, mit welchem wir zur Mitarbeit an der Gründung der Partei aufriefen und wesentliche politische Grundorientierungen vorgaben. Am 26. August 1989, dem 200. Jahrestag der Proklamation der Bürger- und Menschenrechte während der Französischen Revolution, gingen wir dann in die Öffentlichkeit. Damit waren wir die ersten, die ihre Köpfe erhoben. In den kommenden Wochen folgten das „Neue Forum“, „Demokratie Jetzt“ und der „Demokratische Aufbruch“, doch unter all diesen Oppositionsbewegungen stellten wir den absoluten Macht- und Wahrheitsanspruch der SED am radikalsten infrage. Am 7. Oktober 1989 vollzogen wir im Pfarrhaus von Schwante am Rande Berlins unsere formelle Gründung. Mit Stephan Hilsberg an der Spitze wurde eine Führung gewählt, ich hielt einen programmatischen Vortrag und es wurden zehn programmatische Artikel beschlossen, die Martin Gutzeit verfasst hatte.
Von diesem Tage an gab es nach der Zwangsvereinigung von 1946 erstmalig wieder eine Sozialdemokratie im Osten Deutschlands und damit die Chance für jeden Bürger, sich ihr anzuschließen. Ihre Gründung war eine Kampfansage an die Diktatur und ein kraftvolles Zeichen der Zuversicht, demokratische Verhältnisse zu schaffen.
Am 9. November 1989 fiel im Zuge der Friedlichen Revolution die Mauer. Die SED verlor immer mehr Macht und Initiative. Wir hatten mit der Gründung der SDP, wie die Ost-SPD erst hieß, einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Sozialistischen Internationale gestellt. Mitte Oktober gab es einen ersten Kontakt mit der SPD in Bonn. Unmittelbar nach dem Mauerfall und in direktem Anschluss an die Kundgebung am Schöneberger Rathaus, besuchten am 11. November 1989, Hans-Jochen Vogel und Willy Brandt Vertreter der neugegründeten SDP in Ostberlin. Schon am 9. November hatte uns Willy Brandt einen Brief geschrieben und zur Ratssitzung der SI nach Genf eingeladen, bei der wir einen Beobachterstatus erhielten. Am 13. Dezember 1989 vereinbarten beide Parteien eine Partnerschaft und intensive Zusammenarbeit. Am 18. Dezember hielt ich in Westberlin beim Programmparteitag der SPD im ICC ein Grußwort.
Schon am 6. Dezember hatte Willy Brandt Rostock besucht und auf einer Kundgebung geredet. Als Helmut Kohl mit Hans Modrow am 19. Dezember Dresden besuchte, sprachen Willy Brandt und ich auf einer Kundgebung in Magdeburg vor Zehntausenden von Menschen auf dem Domplatz. Die Delegiertenversammlung Mitte Januar 1990 fand schon mit Unterstützung der SPD statt, ähnlich dann der 1. Ordentliche Parteitag in Leipzig im Februar, bei dem dann Willy Brandt zum Ehrenvorsitzenden auch der Ost-SPD gewählt wurde.
Schon die kurze Geschichte der Ost-SPD kann nicht ohne den ständigen Bezug zur SPD in der Bundesrepublik erzählt werden
Diese wenigen Daten machen deutlich: Schon die kurze Geschichte der Ost-SPD kann nicht ohne den ständigen Bezug zur SPD in der Bundesrepublik erzählt werden. Das gilt für die Führungsebene genauso wie für den Parteiaufbau an der Basis in den Regionen. Wie viele spontane Kontakte, Hilfen und Kooperationen führten später dann auch zu kommunalen Partnerschaften!
Bis zur freien Wahl am 18. März gab es ständige Abstimmungsgespräche zwischen den Sozialdemokrat_innen in Ost und West. Wir trafen uns dazu mehrfach am Flughafen Tegel. Hervorzuheben ist, dass Hans-Jochen Vogel und Johannes Rau, um insbesondere diese beiden zu nennen, uns, als noch recht chaotische Parteiführung, mit Achtung und Respekt und auf Augenhöhe begegneten. Gerade dies ist der SPD in dieser Phase hoch anzurechnen!
Seit Anfang 1990 wurden wir intensiv von der West-SPD unterstützt: durch Gespräche und Beratung, Versuche, unsere Organisation zu professionalisieren und Wahlkampfhilfe, nicht mit Geldkoffern, aber mit Kundgebungen bekannter Sozialdemokrat_innen.
Verhandlungen zur Deutschen Einheit
Natürlich bekamen wir die heftigen Spannungen mit, die die westliche Sozialdemokratie zwischen den Positionen Willy Brandts und des Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine schier zerriss. Das machte Führung für den Vorsitzenden fast unmöglich. Dieser Kanzlerkandidat machte unser Leben schwerer, als es ohnehin schon war. Während für Willy Brandt und die ältere Generation die deutsche Einheit die Erfüllung eines Lebenstraums war, geriet sie für Helmut Kohl wie für Oskar Lafontaine unter die Perspektive der kommenden Bundestagswahl – wenn auch mit völlig entgegengesetzten Positionen.
Großer Dank gilt der bewährten Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion für die SPD-Volkskammerfraktion, die Dietrich Stobbe mit Besonnenheit und Augenmaß moderierte. Ich denke, davon wird später noch gesprochen.
Auch von Ibrahim Böhme ist zu reden – sowie von Wolfgang Schnur, langjähriger Agent der Stasi gegen die Opposition in der DDR. Nach der Veröffentlichung unserer Initiative zur Parteigründung, wurde er, da er als einziger unter uns einen Berliner Wohnsitz hatte, erster Ansprechpartner westlicher Journalist_innen, die von ihm fasziniert waren. Er eroberte die Herzen der Sozialdemokrat_innen im Westen auf allen Ebenen und auch vieler im Osten. Dieses Ansehen überdauerte auch seinen Rücktritt, der auf das Bekanntwerden seiner Arbeit für die Staatssicherheit folgte. Er blieb – gemeinsam mit Käthe Woltemath aus Rostock – gewissermaßen Sprecher einer starken Minderheit in der Fraktion gegen die Regierungsbeteiligung nach der freien Wahl. Beim Vereinigungsparteitag delegierte die Ost-SPD nicht etwa Richard Schröder, Martin Gutzeit oder mich in den gemeinsamen Bundesvorstand, sondern Böhme und Woltemath. Auch das gehört zur Geschichte der Ost-SPD.
Man kann rückblickend schon sagen, dass die Ost-SPD in ihrer politischen Kultur recht schnell in die westliche SPD gefunden hat. Willy Brandt berichtete mir früh vom Streit über die Große Koalition in den 60er-Jahren – und bestärkte uns in unserem Streit, den wir zu führen hatten, in die Regierung zu gehen und die Deutsche Einheit mitzugestalten.
So kann heute gesagt werden, dass die ostdeutsche Sozialdemokratie die einzige politische Kraft in der DDR war, die in allen Phasen des Jahres 1989/90 gestaltend mit von der Partie war. Im Herbst 1989 gehörte sie an der Seite der neuen demokratischen Initiativen zu den führenden Kräften der Friedlichen Revolution, während die Blockparteien noch lange an der Seite der SED standen und erst am Runden Tisch langsam von ihr abrückten. Nach der freien Wahl gestalteten Sozialdemokrat_innen die Verhandlungen zur Deutschen Einheit mit, während die neuen demokratischen Initiativen wegen ihrer gespaltenen Position zur Einheit wie zu parlamentarischen Abläufen stark marginalisiert waren.
Diese Ost-SPD, die heute vor 30 Jahren mit der westdeutschen verschmolz, war ein schwieriges Stück sozialdemokratischer Geschichte, aber eines, auf das die Sozialdemokratie bei aller notwendigen kritischen Auseinandersetzung stolz sein kann.
Heute wird es jedoch nicht nur um dieses Jahr gehen dürfen, es gilt, die letzten 30 Jahre in den Blick zu nehmen. Das betrifft die Entwicklung in Ostdeutschland ebenso wiedie Neugestaltung Europas, die seitdem stattgefunden hat.
Aber diese Brücken zwischen der sozialdemokratischen Zukunft 1990, ihren Hoffnungen und Themen, und den heutigen Herausforderungen und Gestaltungsideen der Zukunft, sind Thema des nun folgenden Gesprächs.
Markus Meckel, 27.9.2020