Am 16. Oktober 1918 trat der Reichsgesundheitsrat ein zweites Mal im Jahr 1918 wegen der Influenza zusammen. (Seine erste Zusammenkunft anlässlich der Pandemie am 10. Juli wurde in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.) Ausschlaggebend für die Einberufung soll Reichskanzler Max von Baden gewesen sein, der vermutlich selbst an der Grippe erkrankt war. Es galt nun, Gerüchten in der Bevölkerung entgegenzutreten, wonach es sich bei der auftretenden Seuche um die Lungenpest handelte. Der Vorwärts berichte vier Tage später über die Sitzung. So habe die Grippe nach ihrer ersten Welle im Juni und Juli wieder stark zugenommen, erstrecke sich „auf das ganze Reichsgebiet“ und sei nun auch „mit schwereren Erscheinungen verbunden“ (Vorwärts, 20.10.1918, S. 3). Insbesondere verlaufe die Grippe bei jüngeren Personen „ziemlich heftig“ und ende „nicht selten tödlich“, aber es handele sich nicht um die Lungenpest: „Bakteriologische Untersuchungen, die in zahlreichen Fällen vorgenommen worden sind, haben mit Sicherheit ergeben, daß jene Annahme unbegründet ist.“
Der Reichsgesundheitsrat empfahl zwar die Schließung von Schulen, verabschiedete aber keine konkreten Maßnahmen. Im Gegenteil, die Schließung von Veranstaltungsorten wie Kinos, Theatern und anderen hielt der Rat nicht für erforderlich, da sonst die Bevölkerung verunsichert werden könne. Die ökonomische und soziale Lage war schwierig und die Stimmung an der Heimatfront sollte nicht unterminiert werden. Allerdings sah man auch kaum Möglichkeiten, der Grippe entgegenzutreten, da diese sich leicht übertrage und „vorbeugende Maßnahmen auf erhebliche Schwierigkeiten“ stießen. Die Berichterstattung im Vorwärts machte deutlich, dass die Gesellschaft von der Regierung und den staatlichen Stellen mehr erwartete: „Die von der Öffentlichkeit geforderte Schließung der Schulen rechtfertigt sich zweifellos da“, so wird aus dem Reichsgesundheitsrat referiert, „wo unter Schülern und Lehrern die Krankheit herrscht oder wo nach Lage der Verhältnisse eine Einschleppung der Krankheit aus der Familie in die Schule zu befürchten ist.“ (Vorwärts, 20.10.1918, S. 3)
Trotz öffentlich geäußerten Unmuts über das staatliche Nichthandeln wurde die Seuchenbekämpfung seitens der Reichsregierung den lokalen Behörden überlassen. Diese reagierten sehr unterschiedlich. Während beispielsweise die Stadt Dresden unmittelbar mit der Schließung von Veranstaltungsorten reagierte, lief in Leipzig das Leben weiter. In Köln gelang es immerhin nach Kriegsende, also gegen Ende der Pandemie, die Schulen zu schließen. In manchen Städten wurden die Versuche, Theater und Schulen zu schließen, von den Innenministerien der Länder blockiert. Die Schulschließungen gehorchten schließlich dem Zwang des Faktischen: der Pandemie. Am 22. Oktober 1918 wusste der Vorwärts, dass in Berlin bereit 100 Schulen aufgrund der Grippewelle geschlossen waren (Vorwärts, 22.10.1918, S. 3). Nicht ganz zwei Wochen später berichtete das Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend, dass die Stadtverordnetenversammlung noch immer über die Schulschließungen streite, obgleich „von den 300 Gemeindeschulen bereits 216 geschlossen“ seien (Mitteilungs-Blatt, 3.11.1918, S. 3). Die Sozialdemokraten kritisierten, dass die „Seuche mit dem Kriege und der schlechten Ernährung in Verbindung“ zusammen hinge, was man von anderer Seite nicht wahrhaben“ wolle. Die Redakteure des Vorwärts und ganz allgemein die Arbeiter_innenbewegung unterschieden sich in ihrer Wahrnehmung der Spanischen Grippe nicht von bürgerlichen Akteuren. Trotz der vielen Toten erlebten die Menschen den Herbst 1918 nicht als Phase einer todbringenden Pandemie. Vier Jahre Krieg und seine Folgen dominierten das Leben. Aber, und das war durchaus ein Problem, auch die Medizin war noch nicht auf einem Stand, wo sie gegen eine virale Grippe hätte agieren können. Sie verstand sie noch nicht einmal.