25 Jahre Bundespräsident Johannes Rau

„Versöhnen statt spalten“. Diesem, auch aus seinem christlichen Glauben entstandenem Motto, blieb Johannes Rau während seines politischen Lebens treu. Gemeinsam mit dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann wechselte Rau 1957 von der Gesamtdeutschen Volkspartei zur SPD. Sein bemerkenswerter und schneller Aufstieg in der Partei führte ihn über die Stadt Wuppertal zum Amt des Wissenschaftsministers Nordrhein-Westfalens 1970. Von 1978 bis zu seinem Amtsantritt als Bundespräsident war er 20 Jahre lang Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens. Seine auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit fokussierte Politik führte Rau auch als Bundespräsident fort. Einen weiteren Fokus setzte er auf die Erinnerungskultur und die Aussöhnung mit den Opfern des Nationalsozialismus.

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Archiv der sozialen Demokratie

 


Johannes Raus Weg in die Sozialdemokratie

Am 16. Januar 1931 wurde Johannes Rau als drittes Kind eines Blaukreuzpredigers in Wuppertal geboren. Der Politik näherte er sich zunächst aus publizistischer Sicht. Tief im christlichen Glauben verwurzelt, interessierte sich Rau für Wissenschaft, Kultur und Kunst. Vor diesem Hintergrund strebte er eine Karriere als Buchhändler und Verleger an. Die unmittelbare Wirkungsweise der kleinen, vom späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann aus Protest gegen Adenauers Politik der Wiederaufrüstung und Westbindung gegründeten Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) überzeugte ihn von der Sinnhaftigkeit, auf politischem Wege gesellschaftlich wirken zu können. Politik wurde für Rau das Mittel, um an gesellschaftlicher Entwicklung zu arbeiten. Als sich die GVP aufgrund ausbleibenden Wahlerfolgs 1957 auflöste, trat Rau gemeinsam mit Gustav Heinemann und Erhard Eppler der SPD bei. Hier legte er einen rasanten Aufstieg hin. So wurde er bereits ein Jahr später Vorsitzender der Wuppertaler Jungsozialisten und Abgeordneter im Düsseldorfer Landtag.

Dennoch erhielt sich der belesene Autodidakt bis zur Übernahme des Fraktionsvorsitzes der SPD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1967 eine berufliche Bindung ins (christliche) Verlagswesen. Neben der SPD engagierte sich Rau in der evangelischen Kirche, wodurch er zur personifizierten Verbindung von evangelischer Kirche und Sozialdemokratie wurde. Für ihn verbanden sich christliches und politisches Anliegen in einem kongruenten Menschenbild des Sich-um-einander-Kümmerns, der Herausforderung, Vertrauen zu schaffen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Der Spitzname „Bruder Johannes“ schuf keine Abgrenzung zum „Genossen“, sondern war vielmehr auch auf seine spezifische Rhetorik gemünzt: „Wir brauchen die Hinwendung vom Stärkeren zum Schwachen, des Glücklichen zum Unglücklichen, des Erfolgreichen zum Notleidenden.“

Ministerpräsident in NRW

Der Strukturwandel im Ruhrgebiet führte seit den 1950er-Jahren zum Verlust hunderttausender Arbeitsplätze mit entsprechenden Folgen für die Menschen, stellte zahlreiche Kommunen vor immense wirtschaftliche und soziale Probleme und war die größte und zentrale Herausforderung für Raus Politik. Als Wissenschaftsminister unter Heinz Kühn war Rau maßgeblich an der Gründung zahlreicher Gesamthochschulen, heute Universitäten, beteiligt. Neben Duisburg, Essen, Paderborn, Siegen und Wuppertal ist hier auch die erste staatliche Fernhochschule, die Fernuniversität Hagen, zu nennen. Nicht nur eine höhere Chancengerechtigkeit, sondern auch die Ansiedlung neuer Unternehmen und Kulturbetriebe standen im Fokus dieser Politik. Rau versuchte nicht, den Strukturwandel, also den Wandel insbesondere des Ruhrgebiets von einem Zentrum des Steinkohlebergbaus und der Stahlindustrie hin zu modernen Dienstleistungen, aufzuhalten. Vielmehr zielte er darauf, diesen sozial- und regionalpolitisch gerecht zu gestalten und den Menschen neue Perspektiven zu geben. Aus den Erfahrungen des industriellen Strukturwandels sprach er in seinen Parteitagsreden seit den späten 1970er-Jahren viele Aspekte des 1989 verabschiedeten Berliner Programms der SPD an. Die Aufgabe, soziale und wirtschaftliche Bedürfnisse mit der ökologischen Herausforderung auszugleichen, stand ihm dabei schon 1979 klar vor Augen: „Das sozial und ökologisch Wünschbare muß mit dem ökonomisch Möglichen sinnvoll verbunden und in allen wichtigen Lebensbereichen übersetzt werden.“ Als Ministerpräsident setzte Rau gegen viele Widerstände die Gesamtschule als vierte Schulform durch. Daneben führte auch die Verlängerung der Schulpflicht zu einer größeren Durchlässigkeit zwischen den Schulformen. Zusatzangebote für Kinder aus migrantischen Familien, etwa muttersprachlicher Unterricht, sind mit heutigem Wissen als vielfach nicht zielführend anzusehen. Sie zeigen aber Raus große Sensibilität, die er diesem Bereich der Bildungsgerechtigkeit beimaß. Die Vorstellung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, wurde zur der Zeit nur von wenigen Politiker:innen geteilt.

„Versöhnen statt spalten“

Der auf sein Politikverständnis abzielende Slogan „Versöhnen statt Spalten“, mit dem er als Kanzlerkandidat der SPD 1987 in den Wahlkampf ging, ist seitdem emblematisch mit ihm verbunden. Paradoxerweise wurde diese Zuspitzung seines Handlungsimperativs zu Raus größter Enttäuschung. Die der Botschaft mitschwingende Überparteilichkeit ließ sich nicht ohne Weiteres auf Bundesebene übertragen und in Stimmen ummünzen. Als „Landesvater“ hingegen schlug sich diese von ihm verkörperte Generalisierung der Grundwerte in einem erweiterten Verständnis von Sozialdemokratie nieder. Dies sprach viele Menschen an, da er ganz in der alltäglichen Sprache und damit anschlussfähig für viele blieb. Sein ausgleichender, moderierender politischer Stil trug zu einer Wahrnehmung der Überparteilichkeit bei – die Kampagne zur Landtagswahl 1985, die zur Festigung der absoluten Mehrheit der SPD in Nordrhein-Westfalen führte, hieß nicht von ungefähr „Wir in NRW“. Er wollte über seine Worte in Reden wirken, die Menschen direkt erreichen. Zugleich schuf dieser Stil die Voraussetzung, auch interne Auseinandersetzungen zu befrieden und programmatische Debatten zu begleiten.

In einer von neoliberalen Ansichten geprägten Zeit blieb Rau als Bundespräsident klassischen sozialdemokratischen Werten wie Gerechtigkeit und Solidarität treu. So warnte er in seiner letzten Berliner Rede 2004 davor, dass gesellschaftliche und ökonomische Kräfte „die Freiheit des Einzelnen längst stärker bedrohen, als jede Obrigkeit.“ Der demokratische Staat müsse hierfür Schutz bieten und sei „mehr als ein Dienstleistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts.“ Die andauernde und tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stellte für Rau einen der wichtigsten Bausteine seines politischen Denkens dar. Aus ihr folgte sein Engagement für eine freiheitliche und tolerante Demokratie und das Bestreben nach Aussöhnung und Verständigung, insbesondere mit Israel, mit den Jüdinnen und Juden und mit Polen. Dazu gehörte aber auch der Kampf gegen Intoleranz, Rassismus und Rechtsextremismus. Auch aus gesundheitlichen Gründen lehnte Rau eine zweite Amtszeit ab. Mit 75 Jahren verstarb er am 27. Januar 2006.

Bildergalerie

Rau mit mit Hund und Hut

Johannes Rau 1933, AdsD/Nachlass Johannes Rau, 6/FOTA137051
Rau vor einem Zelt

Bei einer Fereinfahrt der Bekennden Kirche 1947, AdsD/Nachlass Johannes Rau, 6/FOTA130577
Johannes Rau in der Mitte, zwei Junge Frauen neben ihm

Geschäftsführer des Jugenddienst-Verlags, ca. 1954, AdsD/Nachlass Johannes Rau, 6/FOTA144539
Porträt

Beim Parteitag 1962 in Köln, AdsD/fpa, 6/FOTA013626
Rau und Neuberger vor einer Gruppe

Mit NRW-Justizminister Josef Neuberger am 22.2.1968, AdsD/Darchinger, 6/FOTA006436
Christina und Johannes Rau vor einer Wiese mit einem Auto im Hintergrund

Rückkehr von der Hochzeitsreise mit Christina Rau 1982, AdsD/dpa, 6/FOTA105426
Rau am Renderpult, hinter ihm Menschenmenge mit Bannern

Spatenstich zum Bau der Gesamthochschule Duisburg am 14.8.1978, AdsD/unbekannt, 6/FOTA003692
Rau und Schamir im Gespräch

Mit dem israelischen Außenminister Schamir am 28.3.1986 in Israel, AdsD/dpa, 6/FOTA105192
Rau sitzend und Schmidt stehend. Beide klatschen

Mit Helmut Schmidt bei der Landesdelegiertenkonferenz in Bochum am 2.2.1980, AdsD/Darchinger, 6/FJHD000922
Plakat mit dem Slogan "Damit Gerechtigkeit regiert, nicht soziale Kälte"

Plakat zur Bundestagswahl 1987, AdsD, 6/PLKA013205
Johannes Rau im Kameralicht, umringt von Journalist:innen

Am 25.1.1987 nach der Bundestagswahl im Erich-Ollenhauer-Haus, AdsD/Darchinger, 6/FJHD004925
Porträt Rau

Porträt von Bundespräsident Johannes Rau am 16.8.1999, AdsD/Darchinger, 6/FJHD007630

Ausgewählte Publikationen

Johannes Rau: Grundsatzfragen politischer Arbeit, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 17.7.1957, S. 7. Volltext

Johannes Rau: Neuland in der Hochschulpolitik: Fernuniversität in NRW - ein Dienstleistungsbetrieb für die Bundesrepublik, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 15.10.1974, S. 1. Volltext

Johannes Rau: Der Staat für alle Bürger, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 16.8.1961, S. 6. Volltext

Johannes Rau: Aus Schwertern wirklich Pflugscharen machen: Unsere Friedenspolitik braucht die Chance der Vernunft, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 23.4.1982, S. 3. Volltext

Johannes Rau: "Unsere Partei kann und muß begründete Zuversicht vermitteln", in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 18.5.1984, H. 96, S. 5. Volltext

Johannes Rau: Einmischen ist das Gebot der Stunde, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 20.11.1992, S. 2. Volltext

Johannes Rau: Mit der Ostpolitik haben die Kirchen begonnen, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 1.2.1994, S. 7. Volltext

Johannes Rau: 75-jähriges Jubiläum der Friedrich-Ebert-Stiftung. Rede von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich des 75. Jahrestages der Gründung der Friedrich-Ebert-Stiftung, 7.3.2000, Berlin. Volltext

Johannes Rau: Montan-Mitbestimmung heute, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 52 (2001), 7, S. [402]-407. Volltext

Johannes Rau im Archiv

Die zentrale Überlieferung zur politischen, aber auch zur Privatperson Johannes Rau befindet sich im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn Bad-Godesberg. Überliefert ist hier – ausgenommen der Akten zur SPD-Landtagsfraktion – vor allem Raus Tätigkeit für die SPD. So finden sich im AdsD etwa Unterlagen des SPD-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen, des SPD-Parteivorstandes und vor allem der Nachlass Johannes Rau. Dieser beinhaltet Akten aus den Jahren 1950 bis 2006 und ist mit 116 laufenden Metern besonders umfangreich. Daneben hat Johannes Rau während seiner mehr als 50 Jahre währenden politischen Karriere Spuren in zahlreichen anderen Archiven hinterlassen. Zu nennen ist neben dem Stadtarchiv Wuppertal, das Raus Ämter als Stadtverordneter sowie als Oberbürgermeister dokumentiert, auch das Landesarchiv Nordrhein-Westfalens, welches Unterlagen zu Raus Tätigkeiten als Minister und Ministerpräsident verwahrt und das Bundesarchiv, das über die Akten zu Raus Amtszeit als Bundespräsident verfügt.

Fachtagung

Die Videos der Beiträge der Tagung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Johannes Rau und sein Wirken in politischer und wissenschaftlicher Perspektive" aus dem Jahr 2023 finden Sie hier. weiter

Reden, Interviews und Zeitungsbeiträge Raus

Das Bundespräsidialamt bietet sämtliche Reden, Interviews und Zeitungsbeiträge aus der Amtszeit Johannes Raus zum Download an. weiter

Denkanstoß Geschichte

Versöhnen statt spalten: Eine immerwährende Aufgabe für jede Demokratie

Rau

Der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau wäre am 16. Januar 2021 90 Jahre alt geworden. Zum Jubiläum erinnern wir an ihn in unserem Blog.


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