Demokratischer Sozialismus: Das georgische Experiment

Georgien, ein kleines Land, eingezwängt zwischen Russland und der Türkei, war der unwahrscheinliche Schauplatz eines fast vier Jahre dauernden Experiments in demokratischem Sozialismus.

Nach dem Sturz des Zarenregimes im März 1917 löste sich Georgien von Russland und war bis zum Einmarsch der Roten Armee im März 1921 eine unabhängige Republik unter sozialdemokratischer Herrschaft. Im Gegensatz zu Sowjetrussland war es eine politische Demokratie mit einer starken Zivilgesellschaft, mächtigen Gewerkschaften und Genossenschaften und einer radikalen Agrarreform, die die Bauern des Landes zu begeisterten Unterstützern der Regierung machte. Der Gegensatz zwischen den georgischen Sozialdemokraten und den russischen Bolschewiki war so ausgeprägt, dass 1920 einige der führenden Sozialisten Europas ins Land kamen, um sich selbst ein Bild zu machen. Was sie sahen, erstaunte sie.

Vor 1917 war die Sozialdemokratische Partei in Georgien fast einzigartig im riesigen Russischen Reich. Sie war eine populäre Massenpartei mit einer großen Basis unter den Bauern. Keine andere marxistische Partei – weder die Bolschewiki noch die Menschewiki – erreichten jemals eine solche Popularität. Die einzige sozialistische Organisation, die annähernd eine derartige Ausstrahlung im Russischen Reich hatte, war der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund.

 

Erfahrungen von Selbstverwaltung


Einzigartig waren auch die georgischen Bauern. Ein Jahr vor der Revolution von 1905 übernahmen sie die Kontrolle über die gesamte Provinz Guria im Westen Georgiens und errichteten eine Art revolutionäre Selbstverwaltung unter der Führung der Sozialdemokraten. Graf Leo Tolstoi war einer von vielen, die beeindruckt waren von dem, was die gurischen Bauern erreicht hatten. »Was in Guria geschieht, ist ein Ereignis von immenser Bedeutung«, schrieb er. »Was getan werden sollte, ist genau das, was die Gurier tun, nämlich das Leben so zu organisieren, dass es keiner Regierung bedarf.« Als die Armee des Zaren diesem außergewöhnlichen Experiment der Selbstverwaltung ein Ende setzte, stieß sie auf den entschlossenen Widerstand der »roten Einsatztruppen« Gurias. Aber nachdem die Revolution überall niedergeschlagen war, richteten die Russen ihre volle Aufmerksamkeit auf Guria und zerstörten brutal ihre »Kommune«.

Die Gurier waren Anhänger der Sozialdemokratischen Partei. Vor 1917 gab es in Georgien kaum Bolschewiki – Josef Stalin war die Ausnahme. Die georgischen Sozialdemokraten neigten dazu, mit den russischen Menschewiki zu sympathisieren, und als die Revolution von 1917 kam, übernahmen einige von ihnen wichtige Rollen in Petrograd, sowohl in der Provisorischen Regierung als auch in den Sowjets. Einer von ihnen, Irakli Zereteli, wurde Minister in der Regierung Alexander Kerenskis.

 

Machteroberung der Bolschewiki


Vor 1917 waren die georgischen Sozialdemokraten keine Nationalisten. Sie rechneten fest damit, dass die russische Revolution zur Schaffung eines demokratischen, föderalen Staates führen würde, in dem Georgien ein gewisses Maß an Autonomie haben würde. In diesem Sinne hatten sie einige Ähnlichkeiten mit dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund, der ebenfalls Autonomie, aber nicht Unabhängigkeit für das jüdische Volk anstrebte.

Die Machtergreifung der Bolschewiki im November 1917 änderte alles. Es würde keinen demokratischen russischen Staat geben. Bereits vor Ende des Jahres 1917 und lange vor dem Ausbruch des blutigen russischen Bürgerkriegs hatte die Regierung von Lenin eine Geheimpolizei (die äußerst gefürchtete Tscheka) und ein System von Gefängnissen und Arbeitslagern (GULAG) eingerichtet. Oppositionsparteien wurden verboten – darunter die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre (die die populärste Partei des Landes waren). Lenins Schrift Staat und Revolution von 1917hatte das rasche »Absterben des Staates« versprochen, sobald seine Partei an die Macht käme. Aber das Gegenteil geschah – der sowjetische Staat wurde von Tag zu Tag stärker, während die Stimmen der Dissident:innen in ganz Russland zum Schweigen gebracht wurden.

 

Unabhängigkeit und freie Wahlen


Nachdem die Bolschewiki die gewählte Verfassungsgebende Versammlung mit der Gewalt der Bajonette aufgelöst hatten, wussten die Georgier:innen, dass ihre Zukunft nicht mehr in der Zugehörigkeit zu Russland liegen konnte. Nach dem kurzen Versuch einer Föderation mit den Nachbarländern Armenien und Aserbaidschan erklärte Georgien am 26. Mai 1918 seine Unabhängigkeit. Was dann folgte, war außergewöhnlich. Während das Regime in Russland immer diktatorischer wurde, bewegte sich Georgien in eine ganz andere Richtung.

Vor allem: Im Gegensatz zu den Bolschewiki schufen die georgischen Sozialdemokraten unter der Führung des talentierten Noe Zhordania eine Mehrparteiendemokratie. Im Februar 1919 fanden die Wahlen zur neuen georgischen Verfassungsgebenden Versammlung statt. Das Wahlrecht war allgemein, gleich und geheim, und Frauen durften wählen (was in den meisten Ländern noch nicht der Fall war). Das strikte Verhältniswahlrecht bestimmte die Zusammensetzung der Versammlung. Die Wahlbeteiligung war mit etwa 60 Prozent trotz starker Schneefälle hoch. 15 Parteien stellten Kandidaten auf, aber die Sozialdemokraten errangen mit 109 von 130 Sitze einen überwältigenden Sieg. Andere Parteien, die kandidierten, waren die Sozialföderalisten, die Nationaldemokraten und die Sozialrevolutionäre.

 

Verteidigung der demokratischen Republik


Die neu gegründete Demokratische Republik Georgien war vom ersten Tag an bedroht. Noch tobte der Erste Weltkrieg. Eine Invasion türkischer Truppen stand unmittelbar bevor und die Georgier:innen baten Deutschland um Hilfe. Für einige Monate besetzten deutsche Truppen Teile des Landes und halfen, das Osmanische Reich in Schach zu halten. Mit dem Ende des Weltkriegs lösten britische Truppen die Deutschen ab. Georgien behielt seine Unabhängigkeit, auch wenn ausländische Truppen auf seinem Boden blieben.

Im Norden wurden die Georgier:innen ebenfalls von beiden Seiten des russischen Bürgerkriegs bedroht. Die Weißen betrachteten Georgien als eine abtrünnige Provinz, die wieder unter die imperiale Herrschaft Russlands gebracht werden musste. Die Roten sahen Georgien in ähnlicher Weise und verfolgten das Ziel, Länder die sich von Russland losgesagt hatten, als sie die Chance dazu hatten – wie die Ukraine –, wieder unter sowjetische Kontrolle zu bringen.

Die wichtigste Aufgabe der georgischen Sozialdemokraten war neben der Landesverteidigung die Bodenreform, und ihre erfolgreiche Umsetzung stand in krassem Gegensatz zu den Misserfolgen der Bolschewiki in Russland. In Georgien war es nicht nötig, bewaffnete Einheiten aufs Land zu schicken, um Lebensmittel für die Städte zu beschlagnahmen. Eine Hungersnot wurde vermieden. Die Unterstützung der Bauern für die sozialdemokratische Regierung blieb ungebrochen.

 

Eine starke Zivilgesellschaft entsteht


Die georgische Zivilgesellschaft blühte auf. Eine starke, unabhängige Gewerkschaftsbewegung überzeugte die Regierung, das Streikrecht in die neue Verfassung des Landes aufzunehmen. Streiks waren jedoch selten, da mächtige Gewerkschaften in der Lage waren, in dreigliedrigen Gremien zusammenzuarbeiten. Sie nahmen damit den Sozialstaat vorweg, der in Europa erst ein Vierteljahrhundert später entstehen sollte.

Die Genossenschaftsbewegung blühte. 1920 waren nur 19 Prozent der georgischen Arbeiter in der Privatwirtschaft beschäftigt. Die Mehrheit – 52 Prozent – war beim Staat angestellt, weitere 18 Prozent arbeiteten in kommunalen oder genossenschaftlichen Unternehmen. Das Land ging allmählich von einer auf Profit ausgerichteten Produktion zu einem System über, das sich der traditionellen sozialistischen Vision eines genossenschaftlichen Gemeinwesens annäherte. Und das ohne Diktatur.

 

Internationale Strahlkraft


1920 besuchte eine Delegation führender Sozialist:innen Europas Georgien. Ihr gehörten einige der prominentesten Politiker der damaligen Zeit an. James Ramsay MacDonald war einer der Führer der britischen Labour Party und weniger als vier Jahre später führte er die erste britische Labour-Regierung. Zur belgischen Delegation gehörten Emile Vandervelde und Camille Huysmans. Huysmans wurde nach dem Zweiten Weltkrieg belgischer Premierminister. Vandervelde, der während des Ersten Weltkriegs als Minister in der Regierung gedient hatte, war bis zu seinem Tod 1938 Präsident der Sozialistischen Arbeiterinternationale.

Das bekannteste Mitglied der Delegation war Karl Kautsky von der deutschen Sozialdemokratischen Partei. Seine Feindseligkeit gegenüber den Bolschewiki war zu dem Zeitpunkt bereits recht bekannt. Kautsky schrieb seine ersten kritischen Kommentare über die Bolschewiki nur eine Woche nach ihrer Machtergreifung 1917. Im Sommer 1918 erschien sein Buch mit dem provokanten Titel Die Diktatur des Proletariats. Diese vernichtende Kritik an den Bolschewiki machte Lenin rasend vor Wut. Er setzte sich hin, um eine Widerlegung Kautskys zu schreiben und die Bolschewiki zu verteidigen – und dieses war das einzige Buch, für das Lenin Zeit fand, während er die Revolution anführte. Kautsky ließ dem weitere Bücher und zahlreiche Artikel folgen, in denen er die marxistische Argumentation gegen die Bolschewiki darlegte.

Nach einer langen Reise quer durch Europa kamen die Delegierten schließlich in Tiflis an. »Es kam mir sehr seltsam vor«, schrieb MacDonald. »Da waren wir nun, nachdem wir einige Tage lang alles hinter uns gelassen hatten, was westlich schien, nachdem wir den Basar und die Moscheen von Konstantinopel durchquert hatten und weit in Richtung der aufgehenden Sonne vorgedrungen waren, und am Ende unserer Reise wurden wir schließlich von einem Präsidenten der Republik Georgien empfangen, in einem Wartesaal des Bahnhofs von Tiflis, der mit den prächtigsten orientalischen Teppichen bedeckt war, aber behängt mit den Porträts von Karl Marx und seinen bekanntesten Schülern.«

MacDonald beschrieb später, wie er »das Herz der kaukasischen Berge besuchte, umgeben von der wildesten und fröhlichsten Schar ungezähmter Bergbewohner, die mit Schwert, Schild und Gewehr bewaffnet waren«, und dann ehrfürchtig dastand, »während ein alter Priester im Schein von Altarkerzen, die im Wind flackerten, uns eine Begrüßungsrede vorlas, die mit ›Lang lebe die Internationale‹ endete.«

Die britische Labour-Abgeordnete Ethel Snowden, das einzige weibliche Mitglied der Delegation, wurde nach ihrer Rückkehr nach London von der Times interviewt. Sie zog eine durchweg positive Bilanz ihres Besuchs. Das georgische Volk, sagte sie, sei »voller Hoffnung und Entschlossenheit. Sie haben den vollkommensten Sozialismus in Europa errichtet.«

Auch Ramsay MacDonald wurde nach seiner Rückkehr nach England vom Manchester Guardian interviewt. Der Labour-Chef sprach von einem »glücklichen Land unter einem sozialistischen Regime«. MacDonald erzählte dem Journalist:innen von der georgischen Agrarreform. Diese Initiative, die von Noe Khomeriki, dem sozialdemokratischen Landwirtschaftsminister, geleitet wurde, war ein enormer Erfolg. Während Sowjetrussland jahrelang mit dem Agrarproblem kämpfte und eine Reihe völlig unterschiedlicher Ansätze ausprobierte, war das Ergebnis oft Hunger in den Städten und Bürgerkrieg auf dem Land. Nicht so in Georgien.

 

Beobachtungen von Karl Kautsky


Karl Kautsky kam etwas später als die anderen und blieb mehrere Monate. Er schrieb ein kurzes Buch über Georgien, das unter dem Titel Georgien. Eine sozialdemokratische Bauernrepublik. Eindrücke und Beobachtungen veröffentlicht wurde. Kautsky fasste alle Errungenschaften der regierenden georgischen Sozialdemokraten zusammen, darunter die starke Gewerkschaftsbewegung und das Wachstum der Genossenschaften. Kautsky übte zwar Kritik an der georgischen Regierung. Aber in seiner Zusammenfassung hätte er nicht deutlicher sein können.

»Verglichen mit der Hölle, die Sowjetrussland darstellt«, schrieb er, »erschien Georgien wie ein Paradies

Die Zweite Internationale und die in ihr vereinten sozialdemokratischen und Arbeiterparteien repräsentierten nach Ansicht der georgischen Sozialdemokrat:innen eine Weltmacht, die nicht weniger wichtig war als Italien oder Belgien. Deshalb war es ihnen so wichtig, die Delegation zu empfangen. Diese Ansicht wurde nicht von allen geteilt, und einige Georgier:innen hatten das Gefühl, dass die Führer ihres Landes ihre Zeit mit sozialistischen Politiker:innen verschwendeten, die keine wirkliche Macht darstellten. Leo Trotzki nahm die Delegation der Sozialistischen Internationale in Georgien aber so ernst, dass er zu dem Thema ein ganzes Buch schrieb, während er im Bürgerkrieg die Rote Armee kommandierte. Es erschien auf Englisch unter dem Titel Between Red and White und war seine Antwort auf Kautskys Buch.

Falls Zhordania und seine Genoss:innen unter der Illusion litten, dass die sozialistischen Politiker:innen der Zweiten Internationale von Bedeutung seien, so waren sie nicht allein, denn die sowjetische Führung teilte die gleiche Fantasie.

 

Niederschlagung des sozialistischen Experiments


Aber wie sich herausstellte, konnten weder die Zweite Internationale noch die alliierten Mächte viel für Georgien tun, als Sowjetrussland beschloss, es sei an der Zeit, Georgiens Experiment des demokratischen Sozialismus zu beenden. Truppen der Roten Armee marschierte von allen Seiten in Georgien ein, und nach einer blutigen Schlacht um die Hauptstadt Tiflis zog sich die sozialdemokratische Regierung in die Schwarzmeer-Hafenstadt Batumi zurück. Dort bestand die letzte Amtshandlung der georgischen Regierung vor dem Gang ins Exil darin, die neue Verfassung zu verabschieden und zu drucken – ein Musterdokument, das eine Gesellschaft beschrieb, die noch nicht entstanden war.

In den folgenden Jahren errichteten Stalin und seine Genoss:innen in Georgien eine Diktatur nach dem Vorbild Sowjetrusslands. Die Gewerkschaften und Genossenschaften wurden unter staatliche Kontrolle gestellt und die Sozialdemokratische Partei sowie alle anderen Parteien wurden verboten. Die Bolschewiki erklärten der georgisch-orthodoxen Kirche, die unter der georgischen Republik Autonomie von der russischen Kirche erlangt hatte, den Krieg. Viele Kirchen wurden zerstört und Priester inhaftiert und ermordet. Als der Katholikos Ambrosius, das Oberhaupt der Kirche, einen Protestbrief an die Welt schrieb, wurde er nach einem Schauprozess inhaftiert.

Die georgische Frage blieb bestehen und die Wut der europäischen Sozialdemokraten auf die Kommunisten war groß. Der Versuch, auf einer Versammlung im Berliner Reichstag 1922 die verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Parteien wieder zu vereinen, scheiterte, als die Delegierten über Georgien debattierten. Das Treffen sollte eine Einheitsfront gegen den aufkommenden Faschismus und die rechten Diktaturen in Europa bilden, artete aber schnell in einen verbalen Schlagabtausch über Georgien aus. MacDonald und Vandervelde sprachen leidenschaftlich über alles, was die georgische Sozialdemokratie in ihren kurzen Jahren an der Macht erreicht hatte. Führende Vertreter der kommunistischen Parteien, darunter Karl Radek, konterten mit ihren eigenen Argumenten. Am Ende kam es seltsamerweise zu einer Einigung – aber nur auf dem Papier. Die sozialistische und die kommunistische Führung trafen sich nie wieder, und die Kluft zwischen den beiden Bewegungen wurde immer größer.

Ein von den Sozialdemokratien angeführter nationaler Aufstand in Georgien im August 1924 konnte das sowjetische Regime nicht stürzen – aber die Massaker, die darauf folgten und von einem jungen und ehrgeizigen Tscheka-Offizier, dem späteren Geheimdienstchef Lawrentij Berija orchestriert wurden, schockierten die Welt. Sie brachten viele Sozialist:innen im Ausland zu der Überzeugung, das Sowjetregime sei keine Form des Sozialismus, sondern des Faschismus. Die georgischen Sozialdemokrat:innen gehörten zu den ersten, die diesen Vergleich zogen und die bolschewistische Diktatur als eine Form des »roten Faschismus« bezeichneten.

Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands von 1924 traf sich die Führung der Sozialistischen Arbeiterinternationale, um eine gemeinsame Position zu finden, was mit Sowjetrussland geschehen sollte. Als sich dies als unmöglich erwies, bot Karl Kautsky an, etwas zu formulieren. Was er schrieb und was von der Internationale angenommen wurde, bedeutete einen grundlegenden Wandel in der Sichtweise der Sozialdemokratie auf den Kommunismus.

 

Der endgültige Bruch zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus


Anstatt den Sowjetstaat als eine Art deformierte oder unvollkommene Form des Sozialismus zu betrachten, zog Kautsky einen Vergleich mit dem neuen faschistischen Regime in Italien mit Benito Mussolini an der Spitze. Kautsky rief nicht zu bewaffneten Aufständen gegen das Sowjetregime auf, weil er sie für zum Scheitern verurteilt hielt. Er überzeugte die Internationale jedoch von der Auffassung, dass die Sozialdemokrat:innen im Falle solcher Aufstände diese unterstützen und die Führung übernehmen sollten.

Kautskys Ansichten wurden angenommen, waren aber umstritten. Unter anderem waren die russischen Menschewiki anderer Meinung. Doch in den folgenden Jahren, als das stalinistische Regime immer totalitärer wurde, wuchs die Unterstützung für Kautskys Ansichten. Als die Internationale 1951 in Frankfurt wiedergegründet wurde, war Kautsky seit 13 Jahren tot. Aber es war seine Stimme, die in den Worten ihrer Gründungserklärung »Ziele und Aufgaben des demokratischen Sozialismus« zu hören war. Dieses Dokument fand keine Gemeinsamkeiten zwischen der sozialistischen und der kommunistischen Bewegung. Es verurteilte den sowjetischen Imperialismus und versprach jedem Volk, das sich gegen die kommunistische Herrschaft erhob, seine Unterstützung. Diese Position wurde 1953 in der Praxis erprobt, als sich die ostdeutschen Arbeiter im ganzen Land gegen den neu gegründeten kommunistischen Staat erhoben. Die Sozialistische Internationale setzte sich entschieden für diese Arbeiter ein.

Die Schaffung einer einzigartigen demokratischen sozialistischen Bewegung erwuchs direkt aus der Reaktion der Sozialdemokrat:innen auf die blutige Niederschlagung des Aufstands im August 1924 in Georgien. Und dieser Aufstand wiederum erwuchs aus den Hoffnungen des georgischen Volkes, die während seines allzu kurzen Experiments des demokratischen Sozialismus geweckt worden waren.

70 Jahre nach dem sowjetischen Einmarsch in Georgien erklärte das Land 1991 erneut seine Unabhängigkeit. Es nahm die Verfassung von 1921 an und machte sie zur Grundlage für seine Unabhängigkeit. Die neue Regierung hat den 26. Mai zum wichtigsten Feiertag erklärt. Und die blutrote Fahne der Demokratischen Republik Georgien wehte wieder in den Straßen der Hauptstadt Tbilisi.

Eric Lee

Eric Lee ist ein Gewerkschaftsaktivist, Journalist und Historiker. Seine Geschichte der georgischen Revolution wurde kürzlich auf Deutsch veröffentlicht (Das Experiment – Georgiens vergessene Revolution 1918–1921, Berlin, Metropol-Verlag, 2023)

Dieser Beitrag ist eine Übersetzung. Das englischsprachige Original steht zum Download zur Verfügung.

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