Patriarchale Annahmen bei der Erfassung von Daten müssen hinterfragt werden. Ohne gibt es keinen geschlechtergerechten Wiederaufbau nach COVID-19.
Die COVID-19-Pandemie hat bestehende Geschlechterungleichheiten verschärft und viele Fortschritte hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit zunichte gemacht. Nur mit gezielten, evidenzbasierten Maßnahmen, die die vielfältigen Lebensumstände von Frauen, Männern, nichtbinären und geschlechterdiversen Personen reflektieren, kann dieser Trend umgekehrt werden. Es mangelt jedoch an quantitativen Daten. Oft werden nur unzureichende Parameter erhoben, und die Instrumente und Methoden schreiben patriarchale Annahmen über Armutserfahrungen fort. Damit der Wiederaufbau geschlechtergerecht ablaufen kann, müssen die G7 und alle Länder, die sich einer feministischen Außenpolitik verschrieben haben, Initiativen zur Nutzung neuer Datenquellen fördern, die über die Ebene der Privathaushalte hinausblicken. Eine multidimensionale Erfassung der Lebensumstände von Menschen muss ermöglicht werden; intersektionale Analysen sind unerlässlich.
Die Pandemie hat geschlechterpolitische Fortschritte zunichte gemacht
COVID-19 und die resultierenden wirtschaftlichen Erschütterungen haben bestehende gesellschaftliche und wirtschaftliche Verwerfungslinien innerhalb von und zwischen Ländern deutlich offengelegt. Ungleichheiten in Bezug auf Vermögen, Geschlechtergerechtigkeit, Armut und Marginalisierung haben sich weiter verschärft. Eine kürzlich durchgeführte Studie des Institute for Health Metrics and Evaluation der Universität Washington berichtete, dass die negativen Auswirkungen der Pandemie Frauen stärker betreffen als Männer. Das gilt insbesondere für die Bereiche Arbeitsmarktpartizipation, unbezahlte Sorgearbeit, Bildungserfolg und geschlechtsspezifische Gewalt. Im Jahr 2021 kam das World Economic Forum zu dem Schluss, dass die Auswirkungen von COVID-19 das Erreichen vollständiger Geschlechtergerechtigkeit um weitere 36 Jahre auf nunmehr 136 Jahre verzögern. Laut Schätzungen von Oxfam International belaufen sich allein für das Jahr 2020 die Einbußen für Frauen auf dem formellen Arbeitsmarkt weltweit auf 800 Milliarden US-Dollar an Einkommensverlusten und 64 Millionen an verlorengegangenen Arbeitsplätzen. Die tief verankerten Geschlechternormen, die diesen Auswirkungen zugrunde liegen, werden deutlich, wenn wir uns ansehen, wer wofür wie viel Zeit aufwendet: Fast zwei Drittel aller Mütter berichten, dass sie die zusätzliche unbezahlte Sorgearbeit infolge der Pandemie allein oder fast allein übernommen haben. Eine türkische Studie besagt, dass die Gesamt-Arbeitszeit (bezahlt und unbezahlt) während des Lockdowns für Frauen angestiegen und für Männer gesunken ist.
Die unbekannten Auswirkungen der Pandemie
Wir wissen, dass es während der Pandemie schlecht um die Geschlechtergerechtigkeit bestellt war – aber wie schlecht genau, bleibt unklar. Laut einem Bericht von UN Women mit dem Titel Gender Equality in the Wake of COVID-19 lässt die begrenzte Verfügbarkeit von Daten „viele Fragen offen.“ Die Weltbank kam zu dem Schluss, dass diese anhaltende Datenlücke dazu führt, dass „die Grundlage für die Formulierung effektiver Maßnahmen, die Frauen und Männern, Mädchen und Jungen zugutekommen, […] oft unvollständig, methodisch fehlerhaft oder gar nicht erst vorhanden ist.” Teils geht das sicher auf die Unterfinanzierung von Erhebungen geschlechtsspezifischer Daten zurück, aber methodische Mängel im Studiendesign sind ebenfalls nach wie vor verbreitet. Wenn beispielsweise Armut auf Haushaltebene gemessen wird, werden Unterschiede zwischen den zu diesem Haushalt gehörenden Individuen sowie zwischen Kohorten verschleiert. Eine Aufschlüsselung nach Geschlecht bildet die Vielfalt der Lebensrealitäten von Frauen auch nur unzureichend ab, denn Frauen sind keine homogene Gruppe. Um zu verstehen, wie Geschlecht mit Faktoren wie Alter, Behinderung oder ethnischer Zugehörigkeit korreliert und wie dies die Ergebnisse beeinflusst, müssen Daten auf der Ebene des Individuums erhoben werden. Rein finanzielle Parameter können einige der vergeschlechtlichten Aspekte von Armut maskieren, und Erhebungen lediglich auf Haushaltebene verschleiern, dass es sich bei schätzungsweise einem Drittel der weltweiten Ungleichheit um Ungleichheiten innerhalb von Haushalten handelt. Im Gegenzug überschätzen solche Ansätze, inwieweit ein höheres BIP sich in Verbesserungen auf der Ebene des Individuums niederschlägt.
Was brauchen wir, um ein klareres Bild zu bekommen?
Wenn wir die Datenlöcher stopfen wollen, die eine evidenzbasierte geschlechtersensible Politik behindern, müssen wir die Finanzierung und die Kapazitäten der datenproduzierenden Stellen (wie z. B. nationale Statistikämter) sowie die Regelmäßigkeit und Frequenz der Datenerhebungen erhöhen. Zudem braucht es methodische Innovationen.
Kurz gesagt: Wie müssen verändern, was, wie und warum wir messen, wenn wir Daten zu Armut und Ungleichheit erheben.
Was wir messen
Momentan konzentrieren Armutserhebungen sich hauptsächlich auf finanzielle Aspekte. Multidimensionale Messungen berücksichtigen mehr Bereiche: Der Global Multidimensional Poverty Index (MPI) etwa misst Deprivation in drei Dimensionen (Gesundheit, Bildung, Lebensstandard) mit insgesamt zehn Indikatoren: Kindersterblichkeit, Ernährungsstatus, Schulbesuch in Jahren, Anwesenheit in der Schule, Brennstoff zum Kochen, sanitäre Anlagen, Trinkwasser, Strom, Baustoffe, Vermögenswerte. Wer allerdings Armut selbst erfährt, gibt deutlich mehr Faktoren als relevant an. Diese Einsicht liegt einem neuen Erhebungsinstrument namens Equality Insights zugrunde. Angaben von über 3.000 Männern und Frauen mit Armutserfahrung aus sechs Ländern wurden zur Entwicklung dieses multidimensionalen Rahmens herangezogen. Um die Beziehung zwischen multidimensionaler und finanzieller Deprivation zu verdeutlichen, wurden 15 Parameter einbezogen: Gesundheit, Wasser, Lebensmittel, Wohnung, sanitäre Anlagen, Kleidung, Sicherheit, Familienplanung, Möglichkeit zur Vertretung eigener Interessen, Energie, Beziehungen, Umwelt, Bildung, Zeitverbrauch und Arbeit. Die finanziellen Umstände werden in einer separaten Analyse der Vermögenswerte bewertet.
Wie wir messen
Die am weitesten verbreitete finanzielle Messgröße für Armut ist die Internationale Armutsgrenze (IPL) mit ihren jeweiligen nationalen Versionen. Sie wird mittels Daten auf Haushaltsebene erhoben (z. B. Haushaltseinkommen und -ausgaben). Der Global MPI als meistverwendete multidimensionale Methode stützt sich ebenfalls auf Haushaltsdaten. Die Armutsmessung ist ein dynamisches Feld, das sich stark entwickelt. Es gibt Initiativen, die eine weiter gehende Analyse von Haushaltsdaten unterstützen, um disaggregierte Daten zu generieren. Nichtsdestotrotz können Haushaltsdaten immer nur begrenzte Einsichten liefern. Mit ihnen können wir nicht im Gesamtbild sehen, wie Armut die unterschiedlichen Angehörigen eines Haushalts betrifft – etwa aufgeschlüsselt nach Geschlecht, Lebensalter, Behinderung, ethnischer Zugehörigkeit, Wohnort oder anderen Merkmalen. Messungen auf individueller Ebene, die dies korrigieren, ermöglichen eine genauere Disaggregation sowie intersektionale Einblicke. Sie stärken die Evidenzbasis für Maßnahmen in Bezug auf die verschiedenen, sich überlagernden Barrieren, die Armut und Ungleichheit fortschreiben. Dateninnovationen wie etwa Equality Insights Rapid, das Gender Equality for Food Security Measure und das Water Sanitation and Hygiene Gender Equality Measure sind Schritte in diese Richtung.
Warum wir messen
Die mit herkömmlichen Methoden erhobenen Daten zu Armut und Ungleichheit können allzu oft lediglich solche Erfahrungen messen, die Männer und Frauen gleichermaßen betreffen. Nach Jahrhunderten im Patriarchat wissen wir jedoch: Damit wird die männliche Erfahrung zum Maß der Dinge gemacht. Es braucht Messverfahren, die die vergeschlechtlichten Aspekte von Armut anerkennen und sichtbar machen. Das bedeutet: mehr Disaggregation und einen geschlechtersensiblen Rahmen für die Armutsmessung. Andernfalls werden diejenigen Aspekte, die Frauen direkt betreffen und ihre Armutserfahrung grundlegend prägen, immer unsichtbar oder unterbewertet bleiben – zum Beispiel Zugang zu sanitären Anlagen, Zeitverbrauch, Familienplanung und die Möglichkeit, eigene Anliegen zu vertreten.
Die Rolle der G7
Drei G7-Länder (Kanada, Frankreich, Deutschland) verfolgen mittlerweile eine feministische Außenpolitik, im Zuge derer sie sich dazu verpflichten, im Sinne der Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit Rechte, Ressourcenausstattung und Repräsentation von Frauen zu fördern. In einer Mitteilung der Staats- und Regierungschef_innen der G7 von 2021 verpflichteten sich alle Mitglieder zu einem „besseren“ Wiederaufbau nach der Pandemie. Sie bekräftigten die Bedeutung von Geschlechtergerechtigkeit und betonten, wie wichtig „eine starke Evidenzbasis mit geschlechtsspezifischen Daten und Analysen“ ist, um die wirtschaftliche Befähigung von Frauen zu fördern. Dies sind wesentliche Ausgangspunkte, von denen aus die G7 einen Schwenk hin zu neuen, soliden, qualitativ hochwertigen Datenquellen initiieren kann, mit denen wir ein klareres und umfassenderes Bild der geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Pandemie bekommen. Diese Daten können politische Entscheidungen informieren, um vergeschlechtlichte Auswirkungen zu mildern und auch diejenigen zu erreichen, die bislang am meisten vernachlässigt wurden. Die G7 sollte die ersten Anwendungen innovativer Methoden wie etwa Equality Insights (z. B. in Ländern wie den Salomon-Inseln, Fidschi, Indonesien und Südafrika) weiter unterstützen. Ziel ist die Förderung geschlechtsspezifischer Datenerhebungen als Standardmethode für die Entwicklung geschlechtersensibler Maßnahmen, womit die Erweiterung der Verfügbarkeit und Nutzung qualitativ hochwertiger Datenquellen beschleunigt werden kann. Maßnahmen und Ressourcenallokation würden dadurch zielgenauer und effektiver – und der Wiederaufbau nach der Pandemie damit endlich geschlechtergerechter.