FES: Häufig versuchen Desinformationskampagnen den Ton und Inhalt der öffentlichen Debatte zu bestimmen. Ängste in der Bevölkerung werden genährt und Berichten, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt untergraben sollen, wird Nachdruck verliehen. Gibt es hierbei wiederkehrende Themenmuster, insbesondere bei Falschinformationen über Migration?
Herr Neidhardt: Migration ist seit 2015 in politischen Diskussionen in Europa ein immer sensibleres Thema geworden und steht seitdem im Mittelpunkt von Desinformationskampagnen. Unsere Recherchen ergaben, dass Desinformationskampagnen Migrierende vor allem als Invasionsmacht darstellen, die nationale Traditionen unterminieren, oder als Quelle von Gewalt oder wirtschaftlicher Bedrohung. Dahinter steckt fast immer der Dreiklang aus Angst um Gesundheit, Wohlstand und Identität. Desinformation über Migration zielt also auf die Wertesysteme und Grundbedürfnisse der Lesenden ab und verstärkt diese Bedürfnisse durch gezielte Botschaften. Das Narrativ von Desinformationskampagnen entwickelt sich außerdem stetig weiter und passt sich rasend schnell neuen Situationen und Gegebenheiten an. Diese Dynamik wird besonders mit Blick auf die Zunahme gesundheitsbezogener Falschinformationen nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie deutlich, und in jüngster Zeit erneut auftauchenden Invasions-Diskursen im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan und aufgrund der anhaltenden Krise an der Grenze zu Belarus.
FES: Was haben die EU, ihre Mitgliedstaaten und andere Akteure bisher unternommen, um derartigen Desinformation entgegenzuwirken und einen inklusiveren, stärker faktenbasierten Ansatz in Bezug auf Migration zu fördern?
Herr Butcher: Bisher war die Reaktion auf Bedrohungen durch Desinformation vor allem reaktiv. Anstatt die Debatte von Grund auf zu ändern, versuchen zahlreiche Initiativen Desinformation durch die Überprüfung ihres Wahrheitsgehaltes und „debunking“ zu bekämpfen: Das heißt, wenn eine Falschmeldung oder eine Behauptung anfängt zu zirkulieren, greift eine zivilgesellschaftliche Organisation oder eine Journalist_in diese auf, führt Recherchen dazu durch und schreibt einen Artikel mit einer entsprechenden Klarstellung. Ein Beispiel ist die Website „EU vs. Disinfo“ des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD), die darauf abzielt, Desinformationskampagnen Russlands zu identifizieren und ihnen entgegenzuwirken.
Darüber hinaus stützen sich die EU-Institutionen und Mitgliedstaaten eher auf ‚technische‘ Ansätze, um gegen Desinformation vorzugehen. So verpflichten sie beispielsweise soziale Medien, sich stärker um das Aufspüren und Neutralisieren von Bots zu bemühen, hart gegen die manipulative Verwendung ihrer Plattformen vorzugehen, die Transparenz der Werbung zu erhöhen und so weiter.
FES: Reichen diese Bemühungen, um wirksam gegen Desinformation und deren Folgen anzukämpfen?
Herr Butcher: Wir wissen, dass falsche und irreführende Berichte sich sehr schnell verbreiten können – oft schneller als faktenbasierte Informationen. Das liegt vor allem daran, dass sie unsere Emotionen ansprechen. Deshalb plädieren wir in unserer jüngsten Studie „From debunking to prebunking: How to get ahead of disinformation on migration in the EU“ dafür, dass „debunking“, also die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes von Falschmeldungen durch eine vorbeugende Strategie, „prebunking“, ergänzt werden sollte. In anderen Worten: Wir müssen der Verbreitung von Desinformationen zuvorkommen.
In der EU beginnt man sich zu diesem Ansatz Gedanken zu machen. Der EAD verfügt beispielsweise über ein Frühwarnsystem (‚Rapid Alert System‘, RAS), das die Mitgliedsstaaten vor drohenden Desinformationskampagnen warnen soll. Dieses System funktioniert allerdings nur bei Bedrohungen durch ‚externen‘ Quellen, außerhalb der EU, z. B. durch Russland oder China, da das Mandat des EAD auf diese Quellenart beschränkt ist. Wir fordern daher einen quellenunabhängigen Ansatz, der ein rechtzeitiges Einschreiten ermöglicht, egal woher die Falschinformationen stammen.
FES: In Ihrer jüngsten Studie beschreiben Sie drei kurz- und mittelfristige Methoden, die Kommunikationsakteuren helfen könnten, einen Vorsprung vor Desinformationsakteuren zu erlangen: Beobachtung (monitoring), Vorwarnung (early warning) und Vorausschau (foresight). Wie würden diese Methoden in der Praxis aussehen?
Herr Neidhardt: Falschinformationen verbreiten sich schnell, deshalb müssen wir besser vorbereitet sein. Der erste Schritt besteht darin, die konstant die aktuellsten Desinformationstrends zu beobachten. Diese Beobachtung sorgt dafür, dass alle Beteiligten verstehen, um was es bei der Falschmeldung geht, wie sie sich verbreitet und wie man wirksam reagieren kann. Vorwarnung und Vorausschau bauen auf diesen Beobachtungen auf. Die Vorwarnung ermöglicht es Faktencheckenden und Kommunikationsakteuren zum einen zu beurteilen, ob die mögliche Tragweite und Auswirkungen von Falschinformationen Handeln erfordert und zum anderen bei Bedarf schnell zu reagieren. Obwohl schnelle Reaktionen wichtig sind, bleibt dieser Ansatz ‚reaktiv‘ und ist auch mit dem Risiko verbunden, Falschmeldungen mehr Sichtbarkeit zu geben.
Dagegen zeigen die jüngsten Ereignisse in Afghanistan und Belarus – die verschiedene Analyst*innen für vorhersehbar hielten – wie wichtig es ist, nicht nur besser vorbereitet zu sein, sondern auch über proaktive Strategien zu verfügen. Hier kommt die Vorausschau ins Spiel: Durch die systematische Analyse potenzieller zukünftiger Szenarien wird es möglich sein, herauszufinden, welche Desinformationsnarrative und -rahmen als Reaktion auf bestimmte Ereignisse eingesetzt werden und auf welche Bevölkerungssegmente sie zugeschnitten sind. Kommunikationsakteure könnten durch diese Analyse potenzielle Risiken identifizieren und bei Bedarf Falschinformationen durch gezielte faktenbasierte Informationen und Meldungen zuvorkommen und diese somit entschärfen bevor sie sich verbreiten.
FES: Sie haben bereits im Jahr 2020 eine Studie dazu durchgeführt, wie man Falschinformationen über Migration bekämpfen kann und haben empfohlen, Desinformation faktenbasierte, alternative Narrative entgegenzustellen. Behält diese Strategie angesichts der erwähnten Ideen ihre Gültigkeit?
Im besten Fall würden Desinformationskampagnen gar nicht erst in der Gesellschaft verfangen, da von vorneherein geringes Interesse an ihr bestünde. Zum Teil scheint das auch dadurch erreicht werden zu können, indem man einfach das Thema ändert. Anstatt sich um die Frage zu drehen, ob eine Information nun falsch oder richtig ist, könnte man beispielsweise aus einer anderen, das heißt, einer alternativen, ausgewogeneren, faktenbasierten Perspektive berichten, die die Aufmerksamkeit von populären Desinformationsnarrativen ablenkt. Unsere vorbeugenden kurz- und mittelfristigen Strategien könnten dazu beitragen den Inhalt, Zeitpunkt und das Publikum solcher Mitteilungen zu identifizieren und diese vorzubereiten. Das würde denjenigen, die gegen Desinformation ankämpfen, nicht nur mehr Möglichkeiten geben zu agieren, sondern auch ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Falschinformationen schwerer verbreiten können.
FES: Neben kurz- und mittelfristigen Ansätzen erwähnen Sie auch langfristige Strategien, um die Resilienz der Gesellschaft gegen Desinformation zu erhöhen, z. B. durch Bildung in Bezug auf Medien und Information. Wie könnte Resilienz helfen?
Herr Neidhardt: Europäische Bürger_innen sollten darin unterstützt werden, die Medienwelt und die besondere Rolle, die Desinformation darin spielt, zu verstehen. Wenn sich die Bürger_innen der Risiken in Verbindung mit Desinformation nicht bewusst sind und Manipulation nicht identifizieren können, werden sie auch in Zukunft Falschmeldungen teilen und weiterverbreiten, was zu einer Polarisierung der Debatte beiträgt.
Daher sollten wir uns um Bildung in Bezug auf Medien und Informationen bemühen. Anstatt über einzelne falsche Berichte informiert zu werden, sollten Bürger_innen über wichtige Kompetenzen verfügen, die sie selbst in die Lage versetzen, einseitige Berichterstattung und Manipulation zu identifizieren und nicht darauf hereinzufallen. Wir denken, dass das auch helfen würde, andere zu schützen, denn ‚wachsame‘ Lesende wären auch in der Lage andere auf manipulative Inhalte hinzuweisen.
FES: Sie empfehlen auch, auf ein besseres Verständnis von Migration hinzuwirken. Was meinen Sie damit?
Herr Neidhardt: Die kritischen Kompetenzen, die erforderlich sind, um Falschinformationen zu erkennen und abzuwehren, sind je nach Themenbereich unterschiedlich. Bei Migration handelt es sich um ein von Natur aus komplexes Thema, das leicht manipuliert oder falsch dargestellt werden kann. Darüber hinaus besteht ein Zusammenhang mit allgemeineren sozialen und politischen Themen, die von großer symbolischer und historischer Bedeutung sind, z. B. Religion, Identität und Grenzen.
Fakten und Beweise in Bezug auf Migration sind oft schwer zugänglich und verständlich. Wir fordern daher, auch die Bildung im Zusammenhang mit Migration zu verbessern, um für ein besseres Verständnis und ein erhöhte Aufmerksamkeit zu sorgen. Unserer Ansicht nach sollten sich solche Maßnahmen an Personen mit ‚Vermittlerrolle‘ und an Multiplikator_innen richten, insbesondere Journalist*innen und Lehrende. Ein besseres Verständnis von Migration würde diese in die Lage versetzen, als Wächter gegen Desinformationen zu agieren. Außerdem würde das die Voraussetzungen für eine ausgewogenere, besser informierte öffentliche Diskussion schaffen.
FES: Mit Blick auf Ihre Forschung, was sind die Herausforderungen für politische Entscheidungsträger, wenn es um die Bekämpfung von Desinformation geht und welche nächsten Schritte empfehlen Sie?
Herr Neidhardt: Das ist nicht so einfach. Wir sind mit zahlreichen praktischen und politischen Herausforderungen konfrontiert. Allen voran muss der Kampf gegen Desinformation Hand in Hand gehen mit dem Schutz der freien Meinungsäußerung und der Förderung einer demokratischen, inklusiven öffentlichen Debatte.
Bildung im Zusammenhang mit Migration, Medien und Information ist so wichtig, weil sie alle Bürger_innen – unabhängig von deren Ansichten und Überzeugungen – in die Lage versetzt, informierte Entscheidungen zu treffen, ohne sie in eine bestimmte Richtung zu drängen.
Herr Butcher: Die Förderung der Medien- und Migrationskompetenz in der Schule hängt allerdings weitgehend von den Lehrplänen in den einzelnen Mitgliedstaaten und von den Kenntnissen und dem Bewusstsein der Lehrenden ab. Um bestimmte andere Bevölkerungsgruppen, z. B. Senior_innen zu erreichen und diejenigen, die bereits unter dem Einfluss von Desinformation stehen, werden nachhaltige und langfristige Bemühungen erforderlich sein, um Barrieren abzubauen und Zugänge zu schaffen. Dennoch muss das Ziel lauten, leicht zugängliche Informationen zur Verfügung zu stellen und alle Bürger_innen, unabhängig von ihren Ansichten, Überzeugungen und ihrem Hintergrund, in die Lage zu versetzen, informierte Entscheidungen zu treffen. Nur auf diese Weise können wir uns dauerhaft gegen Desinformation behaupten und eine ausgewogenere und besser informierte Debatte führen.
Übersetzung: Voxeurop
Quellen:
Studie 2020: Fear and lying in the EU: Fighting disinformation on migration with alternative narratives
Studie 2021: From debunking to prebunking: How to get ahead of disinformation on migration in the EU